Multiple Räume und theatrale Freiheiten

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Multiple Räume und theatrale Freiheiten
discussions 5 (2010)
Juliane Howitz
Multiple Räume und theatrale Freiheiten
Zum Dilemma frühneuzeitlicher Himmelskartographie
Zusammenfassung:
Die Konstituierungsphase frühneuzeitlicher Wissenschaften im 16. und 17. Jahrhundert offenbart in der Vermessung und Kartographierung des Himmels auf exemplarische Weise eine generelle Fragwürdigkeit überkommener Räume, Instrumentarien und Praktiken des Wissens. Im Wirkungskreis einer zutiefst theatralen Gesellschaft fällt dabei im Zusammentreffen von ›neuem‹ Himmel, fragwürdig gewordenen (Wissens)Räumen und neuen Datenmengen den himmelskartographischen Werken als Theatri eine besondere Rolle bei der Sammlung und Darstellung von Wissen zu.
Résumé:
Aux XVIe et XVIIe siècles, moment où les sciences de l 'époque moderne se sont constituées, la manière de mesurer et de cartographier le ciel révèle de façon exemplaire une remise en question générale des espaces, instruments et pratiques cognitives. Au cœur d 'une société profondément théâtrale, alors que les connaissances sont ébranlées et confrontées à une nouvelle conception du ciel et à de nouvelles données scientifiques, il incombe ainsi aux travaux de cartographie du ciel un rôle particulier dans la constitution et la présentation du savoir.
»Nous avons naturellement plus d 'admiration pour les choses qui sont au­dessus de nous, que pour celles qui sont à pareille hauteur ou au­
dessous.«
(Descartes, Les Météores, 1637)
<1>
Im Jahre 1610 findet sich in Johannes Keplers Auseinandersetzung mit den gerade erst veröffentlichten, revolutionären Erkenntnissen seines Kollegen Galilei zur Gestalt des Mondes, der Planeten sowie der Milchstraße der folgende enthusiastische Aufruf: »Schafft nur Fahrzeuge oder Segel, die der Himmelsluft angepasst sind, dann kommen schon Leute, die sich nicht einmal vor jener weiten Öde fürchten werden. Inzwischen wollen wir, sozusagen kurz vor der Ankunft dieser kühnen Himmelsfahrer, Himmels­Länderkarten ausarbeiten, ich für den Mond, Du, Galilei, für den Jupiter1!«
<2>
Diese Passage deutet exemplarisch auf viele der Elemente frühneuzeitlicher Wissenskultur, die für das hier vorgestellte Thema von größter Bedeutung sind. Im Blick auf eine neue Erscheinungsfülle der erfahrbaren Welt verbindet sich das Moment der Selbstbeobachtung mit dem energischen Versuch, die Beobachtung des Weltganzen in seiner ambivalenten Bewegtheit zu organisieren und zu fixieren. Johannes Kepler, Dissertatio cum Nuncio Sidereo, Prag 1610, in: Johannes Kepler, Gesammelte Werke, Bd. 4, hg. von Max Caspar, München 1941, S. 287.
1
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Im Hinblick auf die kartographische Erfassung des Himmelsraums gehen vom 16. bis zum 18. Jahrhundert fortschreitende wissenschaftliche Präzisierung und gesteigerte Inszenierung Hand in Hand. Die von Kepler hier geforderten Himmels­Länderkarten stünden in einem fiktiven Schnittpunkt zwischen Imagination und Rationalität, Poesie und Mathematik, zwischen grenzenlosem Schweifen im Einbildungsraum und berechenbarer Fixierung von Systemraum in Skizze, Formel und Begriff.
<3>
Die realen Werke frühneuzeitlicher Himmelskartographie finden sich genau an den genannten Schnittstellen wieder. Sie offenbaren in der Vermessung und Kartographierung eines erneut unbekannt gewordenen Himmels eine generelle Fragwürdigkeit überkommener Räume des Wissens, der Darstellung und Anschauung. In beeindruckender Synthese aus künstlerischem und wissenschaftlichem Ausdruck wird Himmelskartographie zum Schauplatz der Versuche, das sich seit Galilei im unendlichen Raum befindliche ›Objekt‹ Himmel räumlich zu fixieren. Ausgehend von der durch die Forschung gut dokumentierten sogenannten kartographischen Wende der Landkartographie, kann angenommen werden, dass sich ein ähnlicher Prozess der mathematischen Präzisierung, Entmystifizierung und berechenbarer Objektivierung des Raums ebenfalls für die europäische Himmelskartographie zwischen 1500 und 1800 nachzeichnen ließe. Dies ist jedoch nicht der Fall, vielmehr sind Vorgänge des Auseinanderfallens des Himmelsraums in multiple Räume, Prozesse der Überlagerung von Darstellungs­ und Benennungsstrategien und eine generelle Orientierungslosigkeit feststellbar. Praktiken der theatralen Inszenierung, phantasievolle Ergänzungen oder die Thematisierung des Himmels in der Kunst können als Versuche verstanden werden, sich diesen Tendenzen der Entwertung, Überforderung und Hilflosigkeit entgegenzustellen. Die hier vorgestellten kartographischen Himmelsräume konstruieren ein möglichst genaues Bild des Himmels, um es im gleichen Zuge wieder einzureißen.
<4>
Der »Ort der Welt«2 musste im 16. und 17. Jahrhundert neu vermessen werden. Die Frühe Neuzeit erzwingt die kritische Auseinandersetzung mit den seit dem zweiten Jahrhundert kaum veränderten Weltkarten des Ptolemäus'. Erst im Zuge einer allmählichen Loslösung von diesen überlieferten Daten sowie einem christlich geprägten Weltbild entsteht eine historisch zunehmend autonome zeitgenössische Kartographie in Europa. Der Wechsel von der Abbildung eines imaginären Raumes in Betonung eines symbolisch­allegorischen, insbesondere religiösen Weltbildes hin zur Darstellung von Vermessungsergebnissen mit (natur)wissenschaftlichem Anspruch ist in der Forschung als kartographische Wende bekannt und bezeichnet eine grundlegend neue Ausrichtung der kartographischen Praxis. Im politisch, wissenschaftlich und kulturell aufgeladenen Spannungsfeld der beginnenden Neuzeit wagt diese neue Kartographie die Deutung einer sich neu gestaltenden Welt. 2
Valentin Weigel, Ein nützliches Tractätlein vom Ort der Welt, Halle 1613, S. 1.
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Während diese Entwicklung für die Landkartographie gut erforscht und belegt ist, stehen umfassende Untersuchungen der Himmelskartographie noch aus. Dabei verspricht der forschende Blick auf dieses Feld der Kartographie ganz eigene Erkenntnisse über Notationsverfahren historischer Räume, deren Darstellungsformen und der sich daraus entwickelnden Mechanismen von Wissensdarstellung und ­vermittlung.
<5>
Ein zuvor christlich­religiös besetzter sowie vorwiegend metaphorisch gedeuteter Himmelsraum wird im Zuge der zunehmend wissenschaftlichen Erforschung zum unendlichen, die Erde umgebenden, physikalisch­astronomischen Raum. Ein neuer Himmelsraum entsteht und stellt grundlegend neue Anforderungen an seine kartographische Darstellung. In beeindruckender Synthese aus künstlerischem und wissenschaftlichem Ausdruck werden Himmelskarten zum Schauplatz der epistemologischen Herausforderungen der Zeit.
<6>
Eine neue Himmelskartographie – beginnend mit Piccolominis Delle Stelle Fisse (Von den Fixsternen)3 – stellt sich dieser Herausforderung. Die Himmelskarten der Frühen Neuzeit sind visuell spektakulär oder wissenschaftlich ambitioniert, selten beides. Sie sind um eingehende Darstellungen bemüht, oft sind sie Teil eines größeren enzyklopädischen Projekts (Münster4 / Gallucci5). Neuerungen wie die Einführung von Koordinaten­ (Gallucci) und neuen Nomenklatursystemen (Bayer 6) sind Ausdruck des wissenschaftlichen Fortschritts der Zeit. Trotzdem bleiben die Karten in erster Linie einer mythologisch­astrologischen Abbildung von Sternbildern verhaftet. Piccolomini beispielsweise bleibt im Verzicht auf die figürliche Darstellung eine seltene Ausnahme. So werden Himmelskarten des 16. und 17. Jahrhunderts in der Forschung auch oft wegen ihres ästhetischen Wertes gewürdigt (de Vorkin7 / Barber8 / van Gent9) und die Werke Cellarius'10 und Schillers11 waren als farbenprächtig ausgestattete Bände schon zu Zeiten der Veröffentlichung mehr Kunst­ als Gebrauchsgegenstände. Diese Betonung des Figürlich­Ästhetischen in der neuzeitlichen Himmelskartographie geht oft einher 3
Alessandro Piccolomini, Sfera del mondo e Delle stelle fisse, Venedig 1540.
4
Sebastian Münster, Cosmographia, Basel 1544.
5
Giovanni Paolo Gallucci, Theatrum mundi et temporis, Venedig 1588.
6
Johann Bayer, Uranometria, Augsburg 1603.
7
David H. De Vorkin, Beyond Earth. Mapping the Universe, Hannover 2002.
8
Peter Barber, The Map Book, New York 2005.
Robert Van Gent, Cellarius Atlas. The Divine Sky. History's Most Beautiful Celestial Atlas. Harmonia Macrocosmica of 1660, Köln 2006.
9
10
Andreas Cellarius, Harmonia Macrocosmica, Amsterdam 1660/61.
11
Julius Schiller, Coelum stellatum christianum, Augsburg 1627.
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mit dem bald schon typischen Verfahren der Rahmung und dadurch der Isolation einzelner Sternbilder auf einem Kartenblatt.
<7>
Übersichtstabellen sowie die Einführung neuer Konstellationen und Projektionsverfahren sind weiterer Ausdruck eines Bemühens um Präzisierung in der wissenschaftlichen Darstellung. Im dynamischen Wissensraum der Frühen Neuzeit versucht die Himmelskartographie durch diese multiplen, mitunter gegenläufigen Strategien den veränderten zu kartographierenden Gegenstand zu fassen. Die Werke werden dadurch womöglich zum Symptom und Ausdruck für den Neuentwurf einer Disziplin und ihrem gleichzeitigen partiellen Scheitern auf höchstem ästhetischem Niveau. So entscheiden sich die Himmelskartographen im 16. und 17. Jahrhundert etwa zwischen heliozentrischem (Copernicus 12, Münster13, Bayer14) und geozentrischem (Gallucci15, Schiller16, Hevelius17) Weltbild, es herrscht Unentschlossenheit ob des zu kartographierenden Raumes. Es ist zu vermuten, dass diese symptomatische Unentschlossenheit ein Ausdruck der Schwierigkeiten der Wissens(ab)bildung der Zeit ist.
<8>
Gerade zum speziellen Zusammenspiel zwischen nunmehr verändertem Gegenstand der Himmelskarten in der Frühen Neuzeit und der von der landkartographischen Forschung bereits ausführlich bearbeiteten kartographischen Wende als Beginn des Goldenen Zeitalters der Kartographie liegen noch keine Arbeiten vor. Dabei erfolgt im Zuge des spatial turn der Geschichtswissenschaften bzw. des topographical turn der Kulturwissenschaften seit einigen Jahren eine erneute Hinwendung zum Raum als grundlegend konstituierendem Element menschlicher Wissens­ und Kulturpraxis18.
<9>
Auch zu Fragen der neuzeitlichen Kartographie wurde in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend 12
Nicolaus Copernicus, De Revolutionibus orbium coelestium, Nürnberg 1543.
13
Münster, Cosmographia (wie Anm. 4).
14
Bayer, Uranometria (wie Anm. 6).
15
Gallucci, Theatrum mundi (wie Anm. 5).
16
Schiller, Coelum stellatum (wie Anm. 11).
17
Johannes Hevelius, Firmamentum Sobiescanum sive Uranographia, Danzig 1690.
Sigrid Weigel, Zum ›topographical turn‹. Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften, in: KulturPoetik 2,2 (2002), S. 151–165; Karl Schlögel, Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München 2003.
18
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gearbeitet, wobei die Landkartographie im Mittelpunkt des Interesses stand (Barber 19 / Harwood20 / Baynton­Williams21 / Monmonier22 / Schneider23 / Black24 / Brotton25 / Edson26 / Dipper27). Auch die Auseinandersetzungen mit metaphorischen Karten in der Literatur (Stockhammer 28 / Conley29 / Klein30 / Peters31 / Gillies32), der Bildenden Kunst (Alpers33 / Hedinger34 / Büttner35 / Berg36 / Bianchi37) oder im Bereich von Bewegung / Tanz (Brandstetter38 / Behnke39) wurden im Hinblick auf Praktiken und Verfahren der Landkartographie erstellt. Dieter Blume 40 und Sara Schechner41 verweisen auf den Einfluss astronomischer Darstellungen auf populärwissenschaftliche Denkmodelle im Übergang zwischen Mittelalter und Neuzeit, setzen sich aber nicht explizit mit Karten auseinander. Andere 19
Barber, Map Book (wie Anm. 8).
20
Jeremy Harwood, To the Ends of the Earth. 100 Maps That Changed the World, Devon 2006.
21
Ashley Baynton­Williams, Miles Baynton­Williams, New Worlds. Maps from the Age of Discovery, London 2006.
Mark S. Monmonier, From Squaw Tit to Whorehouse Meadow. How Maps Name, Claim, and Inflame, Chicago 2006.
22
Ute Schneider, Die Macht der Karten. Eine Geschichte der Kartographie vom Mittelalter bis heute, Darmstadt 2004.
23
24
Jeremy Black, Visions of the World. A History of Maps, London 2003.
25
Jeremy Brotton, Trading Territories. Mapping the Early Modern World, London 1997.
Evelyn Edson, Mapping Time and Space. How Medieval Mapmakers Viewed Their World, London 1997 (The British Library Studies in Map History, 1).
26
Christof Dipper, Ute Schneider (Hg.), Kartenwelten. Der Raum und seine Repräsentation in der Neuzeit, Darmstadt 2006.
27
28
Robert Stockhammer (Hg.), Kartierung der Erde. Macht und Lust in Karten und Literatur, Paderborn 2007.
29
Tom Conley, The Self­Made Map. Cartographic Writing in Early Modern France, Minneapolis 1996.
30
Bernhard Klein, Maps and the Writing of Space in Early Modern England and Ireland, Hampshire 2001.
31
Jeffrey N. Peters, Mapping Discord. Allegorical Cartography in Early Modern French Writing, Newark 2004.
32
John Gillies, Shakespeare and the Geography of Difference, Cambridge, New York 1994.
33
Svetlana Alpers, Kunst als Beschreibung. Holländische Malerei des 17. Jahrhunderts, Köln 1985.
Bärbel Hedinger, Karten in Bildern. Zur Ikonographie der Wandkarte in holländischen Interieursgemälden des 17. Jahrhunderts, Hildesheim 1986.
34
Nils Büttner, Die Erfindung der Landschaft. Kosmographie und Landschaftskunst im Zeitalter Bruegels, Göttingen 2000.
35
36
Stephan Berg, Martin Engler (Hg.), Die Sehnsucht des Kartografen, Hannover 2004.
Paolo Bianchi, Sabine Folie (Hg.), Atlas Mapping. Künstler als Kartographen. Kartographie als Kunst, Wien 1998.
37
Gabriele Brandstetter, Kartographie als Choreographie in Texten von Elias Canetti, Hugo von Hofmannsthal, Bruce Chatwin, ›Ungunstraum‹ und William Forsythe, in: Gerhard Neumann, Sigrid Weigel (Hg.), Lesbarkeit der Kultur. Literaturwissenschaft zwischen Kulturtechnik und Ethnographie, München 2000, S. 465–483.
38
Christoph Behnke, Christoph Schlosser, Anna Schlosser, Diethelm Stoller, Ulf Wuggenig (Hg.), Atlas. Spaces in Subjunctive, Lüneburg 2004.
39
40
Dieter Blume, Regenten des Himmels. Astrologische Bilder in Mittelalter und Renaissance, Berlin 2000.
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Untersuchungen haben Kartographie als Denkmodell benannt und die Bedeutung des kartographischen Blicks als ganz spezielle Perspektive auf die Welt herausarbeiten können (Buci­
Glucksman42/ Hieber43), beziehen sich in ihren Argumentationen und Vergleichen jedoch allein auf die Landkartographie.
<10>
Speziell himmelskartographische Forschung fand im allgemeinen Interesse der Mapping­Thematik bislang weniger Resonanz. Jahrzehntelang galt das Werk Basil Browns 44 als maßgeblich für einen ersten Überblick zu frühneuzeitlicher Himmelskartographie, bis Deborah Warner45 schließlich einen in seinem Umfang bis jetzt konkurrenzlosen Band zur Erschließung frühneuzeitlicher Himmelskarten veröffentlichte. Während Warners Leistung in der Katalogisierung und detailreichen Erfassung relevanter Werke liegt, stellt Nick Kanas46 in seinem 2007 erschienenen Buch vor allem die historische Entwicklung kartographischer Werke des sogenannten Goldenen Zeitalters der Himmelskartographie sowie deren Position innerhalb der sich neu formierenden frühneuzeitlichen Astronomie dar. Die Publikationen Warners und Kanas sind als Standardwerke Ausgangspunkt der Materialerschließung bzw. Quellenerschließung. Als Übersichtswerke meist sammelnd­abbildender Art liegen außerdem die Arbeiten Snyders47, Johnstons48, Stotts49 und Ashworth'50 vor. Himmelskartographische Studien wurden bislang entweder unter wissenschaftsgeschichtlich­astronomischen (Brown 51 / de Vorkin52 / Kopal53 / 41
Sara J. Schechner, Comets, Popular Culture, and the Birth of Modern Cosmology, Princeton 1997.
42
Christine Buci­Glucksmann, Der kartographische Blick in der Kunst, Berlin 1996.
Lutz Hieber, Hans­Joachim Jürgens, Eva Koethen, Gertrud Schrader, Florian Vaßen, Nicole Wilk (Hg.), Der kartographische Blick, Hamburg 2006.
43
44
Basil Brown, Astronomical Atlases, Maps & Charts, London 1932.
45
Deborah Jean Warner, The Sky Explored. Celestial Cartography, 1500–1800, New York 1979.
46
Nick Kanas, Star Maps. History, Artistry, and Cartography, Chichester 2007.
47
George S. Snyder, Maps of Heavens, New York 1984.
Boston University Art Gallery (Hg.), Celestial Images. Astronomical Charts from 1500 to 1900, Boston, Mass. 1985.
48
49
Carole Stott, Celestial Charts. Antique Maps of the Heavens, London 1995.
50
W. B. Ashworth Jr., Out of this World. The Golden Age of the Celestial Atlas, Kansas City 1997.
51
Brown, Astronomical Atlases (wie Anm. 44).
52
De Vorkin, Beyond Earth (wie Anm. 7).
53
Zdenêk Kopal, Robert C. Carderer, Mapping of the Moon, Dordrecht 1974.
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Snyder54 / Warner55 / Whitfield56) oder kunsthistorisch­ästhetischen (Mendillo57 / van Gent58 / Friedmann59) Aspekten erstellt. Insbesondere Fragen der Konstruktion und Performanz von Raum / Räumen wurden bisher in der Forschung vernachlässigt.
<11>
Beschreibung und Erfassung von Räumen unterliegen dabei in der Frühen Neuzeit nicht nur im Kontext astronomisch­kartographischer Studien der Spannung zwischen vermessbarem, geometrischem Systemraum und paradoxem, amorphem Erfahrungsraum 60. Doch die Relevanz und Brisanz der Notwendigkeit des Findens neuer Navigationsstrategien in diesem Feld zeigen sich insbesondere in der Betrachtung des Himmels, welcher seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert als ein erneut fremder, dadurch bedrohlicher Raum neu gedacht und konstruiert werden muss.
<12>
Himmelskartographische Werke sind immer eine Darstellung der Vereinigung mindestens dreier Ausprägungen von Raum: Sie erfassen einen kartographierten Raum (den Himmel), sind selbst in ihrer Medialität kartographierender Raum (das Kartenblatt), und sind Bestandteil der Bildung von Wissensräumen. In der Frühen Neuzeit ist jeder der genannten drei Räume der Himmelskartographie grundlegenden Veränderungen unterworfen. Diese amorphe und instabile Form von Raum auf multiplen Ebenen resultiert in einem ›Dilemma der Himmelskartographie‹.
<13>
Der erste dieser genannten Räume – der kartographierte Raum – stellt für die frühneuzeitliche Kartographie eine enorme Herausforderung dar. Dieser Himmelsraum wird von zeitgenössischen Astronomen vor allem unter zwei Aspekten beschrieben: Zum einen wird das zu kartographierende Objekt erneut fremd. Zum anderen zerfällt der zu kartographierende Raum in multiple Räume, in mehrere Himmel.
54
Snyder, Maps of Heavens (wie Anm. 47).
55
Warner, The Sky Explored (wie Anm. 45).
56
Peter Whitfield, The Mapping of Heavens, Petaluma 1995.
Michael Mendillo, Patricia M. Burnham, Deborah Jean Warner (Hg.), Celestial Images. Antiquarian Charts and Maps from the Mendillo Collection, Seattle 2005.
57
58
Van Gent, Divine Sky (wie Anm. 9).
Anna Felicity Friedmann, Awestruck by the Majesty of the Heavens. Artistic Perspectives from the History of Astronomy Collection, Chicago 2000.
59
Helmar Schramm, Ludger Schwarte, Jan Lazardzig (Hg.), Kunstkammer, Laboratorium, Bühne. Schauplätze des Wissens im 17. Jahrhundert, Berlin 2003 (Theatrum Scientiarum, 1), S. XVIII.
60
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<14>
Hans Blumenberg schilderte bereits in seiner grundlegenden Studie zur Genese der kopernikanischen Welt, wie sich das Verhältnis des Menschen zum Himmel zu Beginn der Frühen Neuzeit verändert und letzterer erneut zum Unbekannten wird61. Der zuvor christlich­religiös besetzte sowie vorwiegend metaphorisch gedeutete Himmelsraum wird im Zuge der zunehmend wissenschaftlichen Erforschung zum unendlichen, die Erde umgebenden, physikalisch­astronomischen Raum. Die Berichte der großen Entdeckungsfahrten, die systematische Durchführung naturwissenschaftlicher Experimente, die umfassenden Fortschritte und neuen Erkenntnisse der Astronomie sowie ein neues Raumbewusstsein und die Möglichkeit seiner mathematischen Berechnung schaffen einen neuen Himmel.
<15>
So bringt beispielsweise 1686 Bernard De Fontenelles Heldin des fiktiven Dialogs über die Vielzahl der Welten die Verwirrung über eben diese Neuerungen zum Ausdruck: »Bei meiner Treue, ich finde jetzt die Welten, den Himmel und die himlischen [!] Körper so vielen Veränderungen unterworfen, daß ich von selbigen ganz zurückgekommen bin«62. Auch der Pariser Philosoph und Astronom Claude Gadroys konstatiert 1675 »une nouvelle face du ciel63.« Diese Neuheit des Himmelsraums spiegelt sich gleichermaßen beispielhaft im inflationären Gebrauch des Begriffes ›neu‹ in der Betitelung astronomischer Werke des 16. und 17. Jahrhunderts wider. Keplers Astronomia Nova64 ist dabei wohl der programmatischste Titel in einer ganzen Reihe von angekündigten Neuheiten65.
<16>
Dieser nun neu zu kartographierende Himmel ist zudem nicht homogen, sondern steht den Astronomen und Kartographen als Gruppierung multipler Räume gegenüber. Als Beispiel lassen sich hier die Ausführungen des deutschen Astronomen Christoph Gottfried Semler aus dem Jahre 1742 61
Hans Blumenberg, Die Genesis der kopernikanischen Welt, Frankfurt a. M. 1975.
Bernhard De Fontenelle, Dialog über die Mehrheit der Welten, Auflage Christian Friedrich Himburg, Berlin 1780, S. 320.
62
Claude Gadroys, Le Système du Monde selon les trois hypothèses/ oú conformement aux loix de la Mechanique l 'on explique dans la supposition du mouvement de la Terre/ Les Apparances des Astres/ La Fabrique du Monde/ La Formation des Planetes/ La Lumiere/ la Pesanteur/ etc./ Et cela par de nouvelles demonstrations, Paris 1675, S. 7.
63
64
Johannes Kepler, Astronomia Nova, Prag 1609.
Es gibt die ›neuen‹ Atlanten (beispielsweise Matthias Seutter, Atlas Novus Sive Tabulae Geographicae, 1730), die ›neuen Sterne‹ (Tycho Brahe: De nova et nullius aevi memoria prius visa stella), die ›neuen‹ Kometen (Andreas Grothius, Kurtzer Bericht und Observation Des neuen Cometen, 1596), die ›neuen‹ Instrumente (Benedictus Hedraeus: Nova et accurate Astrolabii Geometrici Structura, 1643) sowie die ganz grundsätzlichen, ›neuen‹ umfassenden Welterklärungsversuche (Helisaeus Röslin: Theoria Nova Coelestium Meteoron, 1578; Nicolaus Raimarus: Fundamentum Astronomicum, Id Est Nova Doctrina sinuum et triangulorum, 1588; Giovanni Battista Riccioli: Almagestum novum, 1651).
65
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heranziehen. Semler benennt den Himmel nicht nur explizit als Raum, wenn er schreibt: »Der Himmel ist der Raum darinne die Sterne stehen66.« Er nimmt außerdem eine Vielfalt von Himmeln an, die visuell nicht zu erkennen sei67. Da es mehrere Himmel gebe und der Himmel als Raum beschrieben wird, lässt sich demnach von multiplen Himmelsräumen sprechen. Neben mehreren astronomischen Himmeln, verweist Semler zudem auf weitere Himmel nicht­astronomischen Charakters.
<17>
In der in den Theorien Copernicus' begründeten Aufspaltung des Himmelsraums in einen wissenschaftlich­berechenbaren Systemraum einerseits und einen religiös­emotionalen Erfahrungsraum andererseits wurzelt nun eines der Grundprobleme frühneuzeitlicher Himmelskartographie. Welchen Himmel soll man kartographieren?
<18>
Der Himmelsraum nach Copernicus war durch Johannes Kepler bald weiteren Veränderungen unterworfen. 1609 entwirft dieser in seiner Astronomia Nova68 das innovative Modell eines physikalischen Himmelsraums, und obwohl seine Thesen bald als inhaltlich falsch gelten, ist sein Entwurf einer Himmels­Mechanik wegweisend für die weitere astronomische Forschung in Europa. Die Keplersche Physica Coelestis69 macht Astronomie zu einer physikalischen Disziplin und etabliert endgültig einen Himmelsraum, welcher sich als mathematisch­physikalischer Forschungsraum vom geschauten Raum beim bloßen Blick in den Himmel elementar unterscheidet.
In diesem Auseinanderfallen der Himmelsräume liegt eine der größten Herausforderungen der Himmelskartographie seit der Frühen Neuzeit. Der frühneuzeitliche Astronom und Kartograph sieht sich nicht allein mit einem neuen Himmel konfrontiert, sondern muss aus einer Reihe sich amorph gestaltender und gebender Himmelskonstrukte auswählen und zwischen ihnen vermitteln.
<19>
Frühneuzeitliche Himmelskartographie versucht demnach, einen Himmel darzustellen, welcher sich in ständigem Wandel befindet. Sowohl mathematisch­astronomische Theorien zur Erdbewegung und zum Aufbau der Himmelssphären als auch neue instrumentelle Verfahren in der Erschließung des Himmelsraums lassen diesen unstet erscheinen. Als amorpher Gegenstand erscheint er nur schwer kartographisch fassbar. Jede Himmelskarte fordert daher die Notwendigkeit der Festlegung, die eigene Stellungnahme, im Versuch, einen neuen Himmel in seiner temporären Undarstellbarkeit 66
Christian M. Semler, Ausführliche Beschreibung des ganzen Fixstern­ und Planeten­Himmels, Halle 1742, S. 6.
»Wenn einem jeden Planeten, ein eigener Himmel zu geeignet wird, kan es nicht anders sein, als das viele Himmel müssen angenommen werden.« Semler, Ausführliche Beschreibung (wie Anm. 66), S. 6
67
68
Kepler, Astronomia Nova (wie Anm. 64).
Kepler gab seiner Astronomia Nova den Alternativ­ oder Untertitel Physica Coelestis (Astronomia Nova seu Physica Coelestis).
69
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darstellbar zu machen.
<20>
In der Benennung frühneuzeitlicher himmelskartographischer Werke lässt sich ebenfalls die Unsicherheit einer sich neu entwerfenden, in diesem Sinne noch jungen Disziplin erahnen. Die bisher untersuchten Quellen wurden unter verschiedensten Titeln veröffentlicht. Einige der Karten sind Teil umfangreicher Werke und wurden speziell für dieses angefertigt, andere wurden als eigenständiges Werk erstellt und vertrieben. Die sich aus diesen unterschiedlichen Formen der Publikation ergebenden Titel der untersuchten Werke reichen vom klassischen, auf Ptolemäus verweisenden, Almagestum70, über Anleitung71, Catalogus72, Coelum73, Cosmographia74, Description75, Mythographi76, Phaenomena77 und Spectacle78 bis schließlich zum einfachen Verzeichnus79. Von großer Bedeutung ist in dieser Aufzählung der Begriff des Theatrums (›Schauplatz‹), welchen Giovanni Paolo Gallucci als Titel für die erste wegweisende himmelskartographische Publikation der Frühen Neuzeit gewählt hat.
<21>
1588 erscheint mit Galluccis Theatrum mundi, et temporis in Venedig der erste moderne Himmelsatlas80. Als Theatrum bezeichnet steht das Buch in der reichen neuzeitlichen Tradition gleichnamiger Werke, die in dieser enzyklopädischen Metapher in einer epistemologischen 70
Giovanni Battista Riccioli, Almagestum Novum (wie Anm. 65).
Christian Friedrich Rüdiger, Anleitung zur Kenntniß des gestrinten Himmels, Leipzig 1786; Johann Elert Bode, Anleitung zur Kenntniß des gestirnten Himmels/ mit 15 Kupfertafeln und 1 allgemeinen Himmelscharte, Berlin 1788.
71
72
Christoph Grienberger, Catalogus veteres Longitudines, ac Latitudines conferens cum nouis, Rom 1612.
73
Schiller, Coelum stellatum (wie Anm. 11); Christoph Semler, Coelum Stellatum, Magdeburg 1739.
74
Münster, Cosmographia (wie Anm. 4).
75
Alain Manesson Mallet, Description de l'Univers, Paris 1683.
76
Thomas Munckerus, Mythographi Latini, Amsterdam 1681.
77
Aratus Solensis, Phaenomena et Prognostica, Paris 1559.
78
Noël­Antoine Pluche, Spectacle de la Nature, Paris 1732–50.
M. Casparus Hersbach, Eigentliche Verzeichnus dieses im Jahr 1618 erscheinenden Cometen/ welcher Lauff oder Bewegung durch die Zeichen des 8. Himmels/ alhie vor Augen gestellet wirdt, Köln 1618. Die meisten der eigentlichen Kartenblätter in den genannten Werken sind wiederum nicht ihrer Form nach benannt, sondern nach dem Gegenstand, den sie abbilden. Diese fehlende Benennung des verwendeten Formats sowie die Vielfalt der Quellenbegriffe macht es daher erforderlich, zu definieren, was unter einer ›Karte‹ zu verstehen sein soll. Eine Möglichkeit wäre die Charakterisierung nach dem abgebildeten Gegenstand. Dementsprechend ließe sich beispielsweise unterscheiden zwischen: Konstellationskarten (die Abbildung von Sternen in Gruppen, verbunden durch figurgebende Linien zur allegorische Darstellung klassischer und schließlich neuer Konstellationen), Systemkarten oder kosmologischen Überblickskarten (Diagramme von Himmelskörpern, gegebenenfalls in ihrer Beziehung zueinander, oder vom ganzen Sonnensystem), Karten einzelner Himmelskörper und schließlich Kometenkarten (zumeist die Darstellung des Verlaufs einer Kometenbahn).
79
80
Gallucci, Theatrum mundi (wie Anm. 5).
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Umbruchszeit Wissen zu bündeln versuchen. William N. West hat die besondere Bedeutung des Theatrum­Begriffs als Organisationsmodell von Wissen in der Frühen Neuzeit deutlich herausgearbeitet und weist die gegenseitige Beeinflussung von Theatrum als Buch und Theatrum als Bühne nach81. Noch bevor das Theatrum ein Haus des Schauspiels war, war es eine Art von Enzyklopädie82: Conrad Lycosthenes verfasst in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts die Grundlagen des Theatrum Vitae Humanae83, Gaspard Bauhin präsentiert in seinem Pinax Theatri Botanici 1596 ein System der binominalen Nomenklatur für die Botanik84, im selben Jahr erscheint das Theatrum Vitae Humanae von Jean­Jacques Boissard mit Episoden aus der Bibel sowie den römischen, griechischen und altägyptischen Mythologien85. Im 17. Jahrhundert erscheinen unter anderem Matthäus Merians mehrbändiges Theatrum Europaeum86 und das Theatrum Botanicum von Parkinson87.
<22>
Und auch Galluccis Theatrum ist nicht allein eine Kartensammlung, sondern ebenfalls ein enzyklopädisches Werk, welches den ersten modernen Himmelsatlas umfasst und in dieser Dopplung versucht, das sich verändernde Wissen der Zeit durch die gleichzeitige Anwendung verschiedener Strategien zu fassen. Bereits der nur kurz zuvor publizierte erste Landatlas Theatrum Orbis Terrarum88 des niederländischen Geo­ und Kartographen Abraham Ortelius bedient sich des Theatrum­Begriffs, unter anderen die kartographischen Werke Bourguereaus89 und Lubienieckis90 folgen dieser Tradition. Seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts sind diese kartographischen Theatri ein symptomatischer Ausdruck für die Instabilität und Dynamisierung von Wissensräumen in der Frühen Neuzeit91.
<23>
Gleichzeitig verweisen sie auf eine ebenso grundlegende wie tiefgreifende Entwicklung europäischer 81
William N. West, Theatres and Encyclopedias in Early Modern Europe, Cambridge, New York 2002.
West, Theatres and Encyclopedias (wie Anm. 82); Helmar Schramm, Karneval des Denkens. Theatralität im Spiegel philosophischer Texte des 16. und 17. Jahrhunderts, Berlin 1996.
82
83
Conrad Lycosthenes, Theodor Zwinger der Ältere, Theatrum Vitae Humanae, Basel 1565–1604.
84
Gaspard (Caspar) Bauhin, Pinax Theatri Botanici, Basel 1596.
85
Jean­Jacques Boissard, Theatrum Vitae Humanae, Metz 1596.
86
Matthäus Merian, Theatrum Europaeum, Frankfurt a. M. 1633–1650.
87
John Parkinson, Theatrum Botanicum, London 1640.
88
Abraham Ortelius, Theatrum Orbis Terrarum, Antwerpen 1570.
89
Maurice Bourguereau, Le Théâtre François, Tours 1594.
90
Stanislaw Lubieniecki, Theatrum Cometicum, Amsterdam 1666–68.
West, Theatres and Encyclopedias (wie Anm. 81); Helmar Schramm, Hans­Christian von Hermann, Florian Nelle, Wolfgang Schäffner, Henning Schmidgen, Bernhard Siegert (Hg.), Bühnen des Wissens. Interferenzen zwischen Wissenschaft und Kunst, Berlin 2003.
91
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Gesellschafts­, Erfahrungs­ und Lebensräume in der Wandlung zum öffentlich inszenierten Theatralraum. Spätestens im Barock hat die Idee der Welt als Bühne und als großes, allumfassendes Theater sämtliche Lebensbereiche durchdrungen. Die Entwicklung einer Repräsentationskunst des Staates geht einher mit dem Modell des Theaters als vollkommenes Sinnbild der Welt. »All the world 's a stage, And all the men and women merely players« bringt es Shakespeare auf den Punkt. Die 92
gleichermaßen philosophisch wie auch geometrisch­mathematisch fundierte Konstruktion einer Wahrnehmungsperspektive, die dem Beobachter eine ideale Sicht auf das große ›Theatrum Mundi‹ sichern sollte, war zugleich auch ein großangelegter Inszenierungsvorgang. Die umfassende und tiefgreifende Theatralisierung der frühneuzeitlichen Gesellschaft in allen Lebensbereichen zielte darauf ab, dem trügerischen Schein spontaner Erfahrung eine beherrschbare Ordnung der Dinge entgegenzustellen.
<24>
Gerade tiefgreifende Umbrüche von Wissenssystemen scheinen demnach stets verbunden mit einer gesteigerten Theatralisierung von Wissen. In den letzten Jahren wurde in den Geistes­ und Sozialwissenschaften zunehmend die Bedeutung des Performativen in den großen europäischen Kommunikationsumbrüchen im Mittelalter, der Frühen Neuzeit und der Moderne erkannt und untersucht. In diesen Zusammenhängen wurde aus theaterwissenschaftlicher Perspektive auch der Begriff des Theatrums erforscht, welcher als Organisationsmodell von Wissen insbesondere im 16. und 17. Jahrhundert eine spezifische Form der Wissensdarstellung, ­sammlung und ­präsentation verkörperte. Aus dem Verständnis einer wissenschaftsgeschichtlich orientierten Theaterwissenschaft heraus wird der Begriff der ›Theatralität‹ (und die entsprechende Ableitung ›theatral‹) im hier entworfenen Projekt als charakterisierendes Merkmal innerhalb einer performativ­orientierten Wissenschaftsgeschichte verwendet.
<25>
Disziplinübergreifend wurde belegt, dass eine Performanz von Wissen existiert und dementsprechend die Begriffe des Theaters und der Inszenierung als wesentliche Kategorien in entsprechenden Untersuchungen herangezogen werden müssen (Blair93 / Rheinberger94 / Schramm95 / Quecke96 / 92
William Shakespeare, As You like it, London 1623, Akt II, Szene VII, Vers 139.
93
Ann Blair, The Theatre of Nature. Jean Bodin and Renaissance Science, Princeton 1997.
Hans­Jörg Rheinberger, Michael Hagner, Bettina Wahrig­Schmidt (Hg.), Räume des Wissens. Repräsentation. Codierung. Spur, Berlin 1997.
94
95
Schramm, Karneval des Denkens (wie Anm. 82); Schramm u.a., Bühnen des Wissens (wie Anm. 91).
Ursula Quecke, Quod erat demonstrandum. Schauplätze der Wissenschaft des 16.–18. Jahrhunderts, in: Ulf Küster (Hg.), Theatrum Mundi. Die Welt als Bühne, München 2003, S. 17­21.
96
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Matussek97 / Baars98 / Laurel99). Insbesondere in der Konstituierungsphase neuzeitlicher Wissenschaften im 16. und 17 Jahrhundert fällt der performativen Wissenserschließung im Rahmen verschiedener Schauplätze eine entscheidende Rolle zu. Das Theatrum entwirft in dieser Zeit »offener Epistemologien«100 einen Ordnungsversuch, der totalen Überblick und Beherrschbarkeit des Wissens suggeriert, dabei aber selektiv bleibt; der Gestus umfassender Ganzheit bleibt eine Illusion 101. Diese Wissensräume theatraler Ausprägung entstehen in der Frühen Neuzeit im Spannungsfeld zwischen rational­berechnendem Systemraum und subjektiv­performativem Erfahrungsraum 102. Dirk Evers103 hat eine der wenigen Arbeiten präsentiert, die den Konflikt zwischen religiösem, transzendentem Raum und mathematisch­berechnetem Raum seit der Frühen Neuzeit umfassend beleuchtet.
<26>
Zur Thematik der Performanz von Wissen in der Frühen Neuzeit und speziell der Rolle des Theatrum­
Begriffs in diesem Zusammenhang liegen umfangreiche Arbeiten aus den letzten Jahren vor. Insbesondere in Form von interdisziplinären Sammelbänden wurde auf das enge Zusammenspiel von Raumkonstitution und Wissensproduktion­ bzw. ­evidenz verwiesen (Reichert 104/ Rheinberger, Hagner, Wahrig­Schmidt105/ Maresch, Werber106/ Schramm, Schwarte, Lazardzig107). Brendecke108 betont in Peter Matussek, The Performative Turn. Wissen als Schauspiel, in: Monika Fleischmann, Ulrike Reinhard (Hg.), Digitale Transformationen. Medienkunst als Schnittstelle von Kunst, Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft, Berlin, Heidelberg 2004, S. 90­95.
97
98
Bernard J. Baars, Das Schauspiel des Denkens. Neurowissenschaftliche Erkundungen, Stuttgart 1998.
99
Brenda Laurel, Computers as Theatre, Reading 1991.
Hans U. Gumbrecht, K. Ludwig Pfeiffer. Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologien, Frankfurt a. M. 1991.
100
Flemming Schock, Theater – und Wissenswelten in der Frühen Neuzeit, in: Flemming Schock, Ariane Koller, Oswald Bauer (Hg.), Dimensionen der ›Theatrum‹­Metapher in der Frühen Neuzeit. Ordnung und Repräsentation von Wissen, Hannover 2008 (Metaphorik, 14), S. IX­XVIII.
101
102
Schramm, Karneval des Denkens (wie Anm. 83); Schramm, Kunstkammer (wie Anm. 60).
Dirk Evers, Raum – Materie – Zeit. Schöpfungstheologie im Dialog mit naturwissenschaftlicher Kosmologie, Tübingen 2000.
103
104
Dagmar Reichert (Hg.), Räumliches Denken, Zürich 1996.
105
Rheinberger u.a., Räume des Wissens (wie Anm. 94).
106
Rudolf Maresch, Niels Werber (Hg.), Raum. Wissen. Macht, Frankfurt a. M. 2002.
Schramm, Bühnen des Wissens (wie Anm. 91); Schramm, Kunstkammer (wie Anm. 60); Helmar Schramm, Hans­Christian von Hermann, Florian Nelle, Wolfgang Schäffner, Henning Schmidgen, Bernhard Siegert (Hg.), Instrumente in Kunst und Wissenschaft. Zur Architektonik kultureller Grenzen im 17. Jahrhundert, Berlin 2006 (Theatrum Scientiarum, 2); Helmar Schramm, Hans­Christian von Hermann, Florian Nelle, Wolfgang Schäffner, Henning Schmidgen, Bernhard Siegert (Hg.), Spuren der Avantgarde. Theatrum machinarum. Frühe Neuzeit und Moderne im Kulturvergleich, Berlin 2008 (Theatrum Scientiarum, 3).
107
Arndt Brendecke, Tabellenwerke in der Praxis der frühneuzeitlichen Geschichtsvermittlung, in: Theo Stammen, Wolfgang Weber, Wissenssicherung, Wissensordnung und Wissensverarbeitung. Das europäische Modell der Enzyklopädien, Berlin 2004, S. 157–190.
108
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seiner Untersuchung frühneuzeitlicher Tabellenwerke die generellen Konsequenzen graphischer Darstellungsformen für den Leser und konstatiert eine gleichzeitige Interdependenz zwischen Material und Form (der Präsentation) speziell in frühneuzeitlichen Wissensräumen.
<27>
Gormans109 versteht den Gebrauch der Theatrum­Metapher in der Frühen Neuzeit als Ausdruck einer epistemologischen Unsicherheit in Zeiten tiefgreifender Umbrüche von Wissenssystemen. Auch Markus Friedrich110 erkennt hinter der gehäuften Benutzung der Theatrum­Metapher in der Frühen Neuzeit den Zugang zu einem generellen Verständnis des damaligen Umgangs mit Wissen und schließt auf die grundlegenden Momente frühneuzeitlicher Wissenskultur: Sammeln, Betrachten, Deuten. Nicht nur in diesen Schauplätzen des Wissens sind Theater und theatrale Anordnungen immer auch als spezifische Raumkonstruktionen zu verstehen. Im kürzlich erschienenen Sammelband Theatralität und Räumlichkeit111 wird auf diese Theater konstituierende Grundsätzlichkeit erneut deutlich hingewiesen. In konsequenter Weiterentwicklung der Ausführungen Friedrichs ließen sich frühneuzeitliche Wissensräume als Sammelräume, Betrachtungsräume und Deutungsräume verstehen.
<28>
Nun ist der Begriff der Theatralität in den letzten Jahren auch deshalb disziplinenübergreifend auf lebhaftes Interesse gestoßen, da sich mit ihm ein spezifisches Verhältnis von Sprache, Wahrnehmung und Bewegung als kultur­ und gesellschaftsprägende Konstellation seit der Frühen Neuzeit fassen lässt112. Spricht man also von neuen Räumen frühneuzeitlicher Himmelskartographie und Astronomie, so lassen sich diese insgesamt als theatrale Handlungsräume verstehen, deren Praktiken der Bewegung, Betrachtung und Darstellung einen gemeinsamen inszenatorischen Vorgang schaffen.
<29>
Der Versuch der Erfassung eines fast schon schizophrenen zu kartographierenden Objekts im konkreten Kartenblatt, verbunden mit der Tendenz theatraler Inszenierungsvorgänge sowie neuer Systeme der Ordnung und Darstellung von Wissen führt in frühneuzeitlichen himmelskartographischen Werken zu ganz unterschiedlichen Resultaten. In der Adressierung verschiedener Probleme bei der Andreas Gormans, Das Medium ist die Botschaft. Theatra als Bühnen des wissenschaftlichen Selbstverständnisses, in: Schock, ›Theatrum‹­Metapher (wie Anm. 101), S. 21­54.
109
Markus Friedrich, Das Buch als Theater. Überlegungen zu Signifikanz und Dimensionen der Theatrum­
Metapher als frühneuzeitlichem Buchtitel, in: Theo Stammen, Wolfgang Weber (Hg.): Wissenssicherung, Wissensordnung und Wissensverarbeitung. Das europäische Modell der Enzyklopädien, Berlin 2004, S. 205­232.
110
Jörg Dünne, Sabine Friedrich, Kirsten Kramer (Hg.), Theatralität und Räumlichkeit. Raumordnungen im theatralen Mediendispositiv, Würzburg 2009.
111
112
Schramm, Karneval des Denkens (wie Anm. 82).
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Darstellung von Himmelsraum und Himmelsräumen nutzen die Kartographen multiple Strategien der Konstruktion und Dekonstruktion dieser Räume. Im Folgenden sollen abschließend beispielhaft einige grundlegende dieser Probleme samt der im 16. und 17. Jahrhundert entwickelten kartographischen Lösungen vorgestellt werden.
<30>
Eine ganz augenscheinliche Aufgabe des Kartographen liegt in der Notwendigkeit der Verortung und Benennung von Himmelskörpern im Himmelsraum. Die Einnahme einer bestimmten Blickrichtung (welche in der Frühen Neuzeit natürlich auch zutiefst mit religiösen Fragen aufgeladen ist) ist Ausgangspunkt dieser Problematik. Ein Beispiel kann das weite Feld der zeitgenössischen Problematik nur andeuten: Albrecht Dürer113 kartographiert 1515 beispielsweise das Sternbild des Löwen, wie man es von der Erde aus sieht. Johann Bayers114 Löwe von 1603 jedoch blickt in die andere Richtung. Das Sternbild erscheint dem Betrachter, wie man es auch auf einem Himmelsglobus betrachten kann. Hier steht geozentrische Himmelskartographie heliozentrischer Himmelskartographie gegenüber. Man könnte annehmen, dass eine Abbildungsart die andere im Zuge der theoretischen Neustrukturierung des Sonnensystems durch Kopernikus und Keppler abgelöst hätte. Doch 1690 zeigt uns beispielsweise Johannes Hevelius115 wieder einen geozentrischen Löwen. Im 17. Jahrhundert werden beide dieser fiktiven Beobachterstandpunkte gleichermaßen für die Erstellung von Kartenblättern genutzt.
113
Albrecht Dürer, Imagines coeli Septentrionales/ Imagines coeli Meridionales, Nürnberg 1515.
114
Bayer, Uranometria (wie Anm. 6).
115
Hevelius, Uranographia (wie Anm. 17).
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Abb. 1: Kartenblatt »Leo« in Johann Bayers Uranometria, Augsburg 1603. (Linda Hall Library of Science, Engineering & Technology)
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Abb. 2: Kartenblatt »Leo« in Johannes Hevelius' Uranographia, Danzig 1690. (Linda Hall Library of Science, Engineering & Technology)
<31>
Diese Uneinigkeit führt zu enormen Problemen bei der Benennung von einzelnen Sternen innerhalb von Sternbildern. Bayer zeigt in seiner Uranometria116 viele der klassischen Konstellationsfiguren mit dem Rücken zum Betrachter gewandt, obwohl er geozentrisch kartographiert. Ausgehend von den Beschreibungen Ptolemäus' wurde zuvor meist entweder geozentrisch kartographiert, das heißt die Sterne wurden gezeigt, wie man sie von der Erde aus sehen kann – die bildlich dargestellten Konstellationsfiguren schauen den Betrachter in diesem Fall an – oder es wurde die heliozentrische Perspektive gewählt, in welcher man von einer imaginären Position von außen auf die Himmelssphäre blickt. In diesem Fall waren alle mythologischen Figuren mit dem Rücken zum Betrachter abgebildet. Die Navigation im Himmelsraum war bis zu Bayer stillschweigend an diese Konvention gebunden. Mit der Überwerfung des Systems durch Bayer wird dieser Raum nicht mehr eindeutig sprachlich adressierbar. Er wird unbenennbar und uneindeutig.
<32>
Die Einführung neuer Nomenklatursysteme in Sternkatalogen manifestiert zudem die zunehmende Bedeutungslosigkeit der namentlichen Benennung von Sternen. Wurde einem Stern zuvor ein Name gegeben, wird er nun mit einer Adresse innerhalb eines Koordinatennetzes versehen. In der zunehmenden Nutzung dieses neuen Verortungssystems verliert das einzelne Kartenblatt mitunter an Übersichtlichkeit und Gebrauchswert. John Flamsteed benutzte in seinem Atlas Coelestis117 beispielsweise ein doppeltes Koordinatennetz, welches den Kartenblättern ihr charakteristisches Aussehen verleiht. Zudem verzichtet Flamsteed aber nicht – und das tut keine der untersuchten Himmelskarten – auf die Benennung von Sternen in ihrer Position von Sternbildern. Es werden parallel mehrere Systeme der Benennung und Auffindung von Orten am Himmel verwendet.
116
Bayer, Uranometria (wie Anm. 6).
117
John Flamsteed, Atlas Coelestis, London 1729.
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Abb. 3: Kartenblatt »Taurus« in John Flamsteeds Atlas Coelestis, London 1729. (Linda Hall Library of Science, Engineering & Technology)
<33>
In der zeitgenössisch thematisierten Gegenüberstellung zwischen gesehenem Raum und ›echtem‹ Raum zeigt sich ein weiteres Problem, mit welchem sich Himmelskartographen konfrontiert sehen. Während die ptolemäischen Konstellationen ein zutiefst visuelles Ordnungssystem sind, wurden im 17. und 18. Jahrhundert Sternkataloge erstellt, welche die Position von Sternen an sich auflisten. Noch Piccolomini118 hatte darauf hingewiesen, dass er die Sterne zeigen wolle, wie er sie am Himmel sah und suggeriert damit eine Abbildung rein nach der Beobachtung. Flamsteeds Vorgehen aber beispielsweise war ein anderes: Er wollte in seinen Karten abbilden, was er berechnet hatte.
<34>
Christian Gottlieb Semler thematisiert dieses Auseinanderfallen von visueller Wahrnehmung und wirklichem Ort unter dem Abschnittstitel »Der wahre und scheinbahre Ort des Cometen119.« Der scheinbare Ort entspricht hier einem zweidimensionalen Abbild, welches rein visuell erfahrbar ist, der wahre Ort hingegen muss dreidimensional verortet werden und entzieht sich aufgrund der 118
Piccolomini, Stelle Fisse (wie Anm. 3).
Christian Semler, Vollständige Beschreibung Von dem Neuen Cometen Des 1742sten Jahres, Halle 1742, S. 36.
119
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Beobachterposition der eindeutigen Bestimmung.
<35>
Wenn demnach auf einer Himmelskarte eine bestimmte Sternenkonstellation so dargestellt ist, wie man sie am Himmel sieht, entspricht diese nicht der eigentlichen Position. Damit ist der Weg frei für fantasievolle Ausschmückungen der Karten, die mit dem Bild am Sternhimmel mitunter nicht viel gemein haben. Christian Semler schreibt dazu: »§.6. Die Gestalten [...] sind entweder erdichtet oder wahre«120 und in Zedlers Universallexikon wird zur Praxis barocker Sternenkarten rückblickend vermerkt, dass »Die Astronomi [...] hier zum Theil ihrer Imagination Raum gemacht« hätten121. Das Oszillieren zwischen Dichtung und Wahrheit, zwischen wissenschaftlicher Observation und Poesie, wird erst ermöglicht durch das Bewusstsein, dass Himmelskarten den Himmel zwar in seiner visuellen Erscheinung, aber eben nicht gemäß seiner geometrisch­räumlichen Organisation korrekt abbilden können.
<36>
Johannes Kepler versucht sich 1606 in seinem Traktat De Stelle nova in pede serpentarii diesem Dilemma auf eine andere Art und Weise zu entziehen. In der dem Werk beigefügten Karte122 versucht er etwas Revolutionäres: Anstatt die Sterne auf dem Kartenblatt so anzuordnen, wie sie dem Auge erscheinen, korrigiert er deren Position minimal, um sie abzubilden, wie sie am Himmel in ihrer berechneten, das heißt in ihrer ›echten‹ Lage zueinander stehen. Im Auseinanderfallen von Erscheinung und Astronomie zeigt diese Karte einen Himmel, den es zwar so gibt, aber den niemand so sehen kann. Im Versuch der mathematischen Rekonstruktion des Himmelsraums entsteht eine unmögliche Perspektive.
120
Semler, Vollständige Beschreibung (wie Anm. 119), S. 6.
Johann Heinrich Zedler, Grosses vollständiges Universallexicon aller Wissenschaften und Künste, Leipzig 1731–1754, S. 990 / Spalte 1952.
121
122
Johannes Kepler, De stella nova in pede serpentarii, Prag 1606, zwischen S. 76 und 77.
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Abb. 4: Kartenblatt aus Johannes Keplers De stella nova in pede serpentarii, Prag 1606. (Linda Hall Library of Science, Engineering & Technology)
<37>
Schließlich lassen sich bei Hinterfragung der medialen Konditionierung räumlich organisierten Wissens und gleichzeitig des Wissens über Raum weitere Konstruktions­ und Dekonstruktionsmechanismen beobachten. Beispielhaft sei an dieser Stelle die neue Form des Atlas' genannt, welcher nach Einführung durch Abraham Ortelius 1570123 in der Landkartographie auch schnell zum bevorzugten Publikationsmedium himmelskartographischer Werke im 17. und 18. Jahrhundert wurde. In der Verheißung und dem beispielsweise durch Flamsteed und Münster auch explizit genannten Anspruch einer allumfassenden Himmelsdarstellung scheint sich der Atlas einer besonders heiklen Aufgabe erfolgreich angenommen zu haben. Ein kurzer exemplarischer Blick auf den ersten Himmelsatlas De le Stelle Fisse offenbart jedoch den allein durch die Wahl des Mediums ausgelösten Fragmentcharakter der entsprechenden Karten.
<38>
Alessandro Piccolominis De Le Stelle Fisse124 gilt heute als der erste gedruckte Sternatlas und war doppelseitig bedruckt. Damit standen sich bei aufgeschlagenem Buch immer zwei Karten gegenüber 123
Ortelius, Theatrum (wie Anm. 88).
124
Piccolomini, Stelle Fisse (wie Anm. 3).
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und erweckten den Eindruck, als ob die entsprechenden Sternbilder in der nächtlichen Hemisphäre nebeneinander stehen würden. Dies ist in der von Piccolomini gewählten Reihenfolge der Karten nicht der Fall. Piccolomini bietet zudem keine Übersichtskarte mit allen Sternzeichen des nördlichen bzw. südlichen Sternhimmels an. So ermöglichen dieser und auch alle folgenden Himmelsatlanten zwar einerseits eine komplette Darstellung des Himmels, aber andererseits eben keinen kompletten Blick auf eben diesen. Die Fragmentierung des kartographierten Objekts verhindert den Gesamteindruck in gleichzeitiger paradoxer Behauptung einer umfassenden Darstellung.
<39>
Es lassen sich im noch anhaltenden Arbeitsprozess also bisher zusammenfassend folgende Ergebnisse festhalten:
1. Frühneuzeitliche Himmelskartographie sieht sich mit multiplen Räumen und einem unsteten zu kartographierenden Gegenstand konfrontiert. Darauf reagieren Kartographen und Astronomen mit der Entwicklung neuer und parallel angewandter Adressierungs­ und Darstellungsmechanismen.
2. Im Zusammentreffen von auf neue Weise ›unbekanntem Himmel‹, fragwürdig gewordenen (Wissens)Räumen und neuen Praktiken der Kartographie fällt himmelskartographischen Werken als Theatri eine besondere Rolle bei der Sammlung und Darstellung von Wissen zu.
3. Mit der Überwerfung des ptolemäischen Kartographie­Systems sowie der Einführung neuer Notationssysteme ist der kartographierte Raum nicht mehr eindeutig sprachlich adressierbar. Er wird unbenennbar und uneindeutig. Der in frühneuzeitlicher Himmelskartographie dargestellte Himmelsraum wird dabei nur zum scheinbar mythologisch befreiten Raum.
<40>
In der Erfassung des Himmelsraums wird paradoxerweise zunehmend auf das Bild des Himmels verzichtet. Es findet eine Verschiebung des Schwerpunkts astronomischer Arbeit von der Betrachtung zur Berechnung statt, das heißt auch von visuell wahrgenommenem Raum zum Raum mathematisch verifizierbarer Daten mit der Konsequenz einer ›Richtigkeit‹ oder ›Falschheit‹ von Raumerfassung. Die Idee der Wiedergabe eines Bildes von Raum, entsprechend einer subjektiven Wahrnehmung beim Blick in den Himmel, wird abgelöst durch die Wiedergabe eines vermessenen Raums, dessen einzelne Bestandteile nicht alle zwangsläufig vom subjektiven Auge erfassbar sind. Die berechnete Präzision eines mathematisch­erfassbaren, im wahrsten Sinne des Wortes kalkulierbaren Himmelsraums geht zu Lasten der bildlichen Anschaulichkeit.
<41>
Schließlich lässt sich somit eine Bedeutungsverschiebung in der Funktion von Himmelskarten feststellen. Der Himmelsatlas Flamsteeds war für Newton im Vergleich zum Sternkatalog so irrelevant, dass er ihn nicht einmal veröffentlichen wollte. Himmelskarten treten im Barock zunehmend ihre Lizenzhinweis: Dieser Beitrag unterliegt der Creative­Commons­Lizenz Namensnennung­Keine kommerzielle Nutzung­Keine Bearbeitung (CC­BY­NC­ND), darf also unter diesen Bedingungen elektronisch benutzt, übermittelt, ausgedruckt und zum Download bereitgestellt werden. Den Text der Lizenz erreichen Sie hier: http://creativecommons.org/licenses/by­nc­nd/3.0/de
Funktion als welterklärendes Modell an astronomische Kataloge und Tabellen ab. Diese Akzentverschiebung von Bildtheater zu Zahlentheater ermöglicht gestalterische Freiheiten im Bewusstsein einer in jedem Fall grundsätzlichen Unzulänglichkeit als raumabbildendes Medium.
<42>
Es lässt sich nicht sagen, ob sich Kepler bei seinem euphorischen Aufruf an Galilei seine Himmels­
Länderkarten so oder ähnlich wie die hier gezeigten Beispiele vorgestellt hat. Sicher ist, dass Himmelskartographie zu seiner Zeit vor großen Herausforderungen stand, deren Bewältigungsversuche zu bislang noch unzureichend erforschten Ausdrucksformen führten. Die exemplarische Betrachtung einzelner Karten soll daher auch weiterhin Rückschlüsse auf performative Mechanismen in der frühneuzeitlichen Darstellung von Himmelsraum und ­wissen erlauben. Die Betrachtung der Karten »als ergebnisoffene Bilder unter einem theatralen Mikroskop« 125 erlaubt dabei die Lösung von kartographiehistorischen Kriterien zugunsten einer Hinterfragung des Materials aus neuer Perspektive bei entsprechend historischer Kontextualisierung.
Autorin:
Juliane Howitz
[email protected]
Hendrik Müller, Theatrale Versuchsanordnungen. Aufzeichnungen zu meinen szenischen Skizzen, in: Nicola Gess, Tina Hartmann, Robert Sollich (Hg.), Barocktheater heute. Wiederentdeckungen zwischen Wissenschaft und Bühne, Bielefeld 2008, S. 65–69, hier S. 66.
125
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