1 Dementia Care Mapping: Wahrnehmen und Beschreiben

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1 Dementia Care Mapping: Wahrnehmen und Beschreiben
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Dementia Care Mapping: Wahrnehmen und Beschreiben
Christian Müller-Hergl
(Langfassung des Artikels aus Dr. med. Mabuse 152, November/Dezember 2003)
Einführung
Dementia Care Mapping1 ist ein an der Universität Bradford von Tom Kitwood und Kathleen
Bredin entwickeltes Verfahren zur Evaluation der Pflege und Betreuung von Menschen mit
Demenz. Der Sozialpsychologe Tom Kitwood beschäftigte sich mit dem Themenfeld der
Demenz und gründete die Bradford Dementia Group, deren zentrales Anliegen die
Entwicklung eines personzentrierten Umgangs für Menschen mit Demenz in
unterschiedlichen Arbeitsfeldern ist.2 Der personzentrierte Ansatz zeichnet sich durch vier
Hauptmerkmale aus: Orientierung an Menschen- und Bürgerrechten, konsequente
Individualisierung des professionellen Bezuges und der Maßnahmen, alle Entscheidungen und
Maßnahmen werden aus der Perspektive des Klienten gegengelesen, zentraler Aspekt aller
professionellen Arbeit ist der Aufbau einer professionellen Beziehung.3 Aufbauend auf
diesem personzentrierten Verständnis von Demenz4 nehmen geschulte DCM-Beobachter am
Leben von Menschen mit Demenz teil und versuchen, einen Tag lang "in ihren Schuhen" zu
gehen und ihr Handeln und Befinden in der Einrichtung zu beschreiben. DCM ist „ein
ernsthafter Versuch, unter Anwendung einer Kombination von Empathie und
Beobachtungsgabe den Standpunkt der dementen Person einzunehmen“.5 Diese
Beschreibungen geschehen in stark vorstrukturierter Form (Kodierungen). Sie werden zu
Daten und Profilen aufgearbeitet und in zentralen, qualitativen Aussagen verdichtet.
Anschließend gibt der Beobachter dem Team eine Rückmeldung über seine Wahrnehmungen
und entwickelt mit dem Team einen Handlungsplan, der bei der nächsten Beobachtung
überprüft werden kann. Im Jahr 1992 begann die Bradford Dementia Group, die ersten DCMKurse abzuhalten. DCM hat sich seitdem fortlaufend weiterentwickelt, die achte überarbeitete
Fassung des Instrumentes wird zur Zeit erarbeitet. DCM wurde 1997 in Deutschland
eingeführt. Seit dieser Zeit wurden an die 1000 Personen in dem Verfahren ausgebildet. DCM
findet zur Zeit Anwendung nicht nur in Großbritannien, sondern auch in Dänemark,
Schweden, Norwegen, Finnland, Schweiz, USA, Japan, Australien, Neuseeland und vereinzelt
auch in anderen Ländern.
Grundlegende Annahmen
Menschen werden durch Demenz in psychologischer, spiritueller und sozialer Hinsicht in
ihrem Personsein bedroht. „Personsein“ wird in diesem Kontext als soziales Konstrukt
verstanden inklusive der damit verbundenen verinnerlichten Anerkennungserfahrungen. Die
Retrogenesis6 bewirkt den Verlust einer gemeinsamen, erwachsenen Wirklichkeit7 und der
1
Für weitere Informationen zu den technischen Details des Verfahrens und Literaturangaben siehe: www.dcmdeutschland.de
2
Zur Geschichte und Entwicklung der Methode siehe: A. Innes (Hrsg), Die Dementia Care Mapping Methode
(DCM): Anwendung und Erfahrungen mit Kitwoods person-zentriertem Ansatz, Hans Huber 2004
3
D.Brooker, What is person-centred care in dementia? In: Reviews in Clinical Gerontology, 13(2004) 215-222
4
Tom Kitwood, Demenz: Der person-zentrierte Ansatz im Umgang mit verwirrten Menschen, 3. Auflage, Hans
Huber 2004
5
ebd. S. 21
6
B. Reisberg, S. Kenowsky, E.H.Franssen, S.R.Auer, L.E.M. Souren, Towards a Science of Alzheimer`s
Disease Management: A model based upon currant knowledge of retrogenesis, in: International Psychogeriatrics
11(1999) 1 pp 7-23
7
J.Bauer, Psychobiologie der Alzheimer-Krankheit: Wirklichkeitskonstruktion und Beziehungsgestaltung, in:
Integrierte Medizin: Modell und klinische Praxis, Hrsg: T.v.Uexküll, W.Geigges, R.Plassmann, Schattauer2002
2
damit einhergehenden erwachsenen Rollen zusammen mit einer unfreiwilligen Wiederkehr
kindhafter (nicht kindlicher) Bedürfnisse nach Bindung und Geborgenheit8. So wie Personsein
sich aus Bindung entwickelt, so kann in dieser Lebensphase Personsein nur durch andere
gehalten werden im Sinne eines Hilfs-Ichs. Nicht umsonst wird diese Rolle oft mit
„mothering“ umschrieben.9
Beachtung und Anerkennung werden durch die Hürden der Fremdheit erschwert, die
Menschen mit Demenz entgegengebracht wird: eine Krise des Übergangs, die nicht auf
natürliche, benevolente Regression zugunsten des Klienten rechnen kann, sondern einer
kulturellen, reflektierten Gestaltung bedarf. Umfassende Abhängigkeit in der Hochaltrigkeit
ist ein Angst- und Todesthema10, in das alle Beteiligten zusammen mit ihren eigenen
Abhängigkeitserfahrungen verstrickt sind. Besonders im Zusammenhang mit großen
Versorgungsbetrieben entsteht die Gefahr einer „malignen“ Pflegekultur , die Klienten ohne
genügende Bemühung um Verstehen versorgt11. Wünschenswerte Haltungen wie Parallelität,
Synchronizität, wachsame Aufmerksamkeit und (Be)Achtung können in solchen Kulturen
eher selten gelebt werden.
Obwohl Demenzen unstrittig als unterschiedliche Krankheiten konzipierbar sind, greift dieser
Begriff zu kurz, um den existenziellen, spirituellen und sozialen Veränderungsprozess aller
Beteiligten verständlich zu machen.12 Ein rein medizinisches und neuropsychologisches
Verständnis begünstigt eine technisch-funktionale Differenzierung in den
Annäherungsweisen, die zwar im Grundsatz korrekt sind, dennoch aber nur auf dem
Hintergrund hermeneutischen, existenziellen, also personzentrierten Verstehens von Demenz
wirksam werden können, um nicht in Manipulationen zu entarten: sonst resultiert „technisch
richtiges“ Verlangsamen, Validieren, Absenken der Stimmhöhe etc., ohne dass die Person und
ihr Erleben, ihr Lebensgefüge und die eigene Rolle im Geschehen gründlich reflektiert und
verstanden worden sind. Die Betroffenen spüren dies, ziehen sich zurück und der Kontakt
bricht ab. Demenz als Behinderung begriffen, rechnet mit nicht ableitbaren Besonderheiten
als Regelfall, betont den je neuen Suchprozess im Beziehungsgeschehen (Ressourcen- und
Kompetenzorientierung), reflektiert die hohe Emotionalität als primäres Handlungsfeld aller
BegleiterInnen, priorisiert Kontakt vor Funktion in der Begleitung und rechnet damit, dass
Menschen mit Demenz in angemessenen Beziehungen ihr Leben als sinnvoll beurteilen und
sich wohl fühlen können.13 Die Arbeit mit Menschen mit Demenz kann alle Beteiligten
emotional tief berühren und markante Spuren für das eigene Leben hinterlassen. Eine
personzentierte Sichtweise konzeptualisiert Demenz als eine mögliche Form (und nicht
Zerrbild) menschlichen Lebens, die der Akzeptanz und der Gestaltung und nicht (nur) der
„Bekämpfung“ bedarf. Innerhalb der bio-psycho-sozial-ökologisch aufgefassten
Erkrankungen sind positive Entwicklungen der Klienten in ihrem Personsein möglich; nicht
alles an diesem Geschehen ist unter dem Aspekt der Krankhaftigkeit erfassbar.14 In diesem
8
S.G.Schröder, Medizinische Grundlagen der Demenz, in: Demenz und Pflege: eine interdisziplinäre
Betrachtung, Hrsg.: P.Tackenberg, A.Abt-Zegelin, Mabuse 2000
9
T.Perrin, H.May, Wellbeing in Dementia: An Occupational Approach for Therapists and Carers, Harcourt
Publishers 2000
10
K.Gröning, Entweihung und Scham, Mabuse 1998
11
C.Cantley, Understanding people in organizations, in: A Handbook of Dementia Care, C.Cantley(ed), Open
University Press 2001, pp220 - 239
12
J.Bell, I.McGregor, A challenge to stage theories of dementia, in: The new culture of dementia care, eds.
T.Kitwood & S.Benson, Hawker Publications, 1995, 12-14; NHS Scotland, Needs Assessment Report, Dementia
& Older People, October 2003, 15-18
13
C.Müller-Hergl, Demenz zwischen Angst und Wohlbefinden, in: Demenz und Pflege, Hrsg. P.Tackenberg &
A.Abt-Zegelin, Mabuse 2004, 248 -262
14
vgl Concepts of Alzheimer`s Disease: Biological, Clinical and Cultural Perspectives, eds.: P.J.Whitehouse,
K.Maurer, J.Ballenger, John Hopkins University Press 2000; The Person with Alzheimer`s Disease: Pathways to
Understanding the Experience, ed. P.B.Harris, John Hopkins University Press 2002; Dementia and Social
3
Verständnis ist die Person wichtiger als die Krankheit und sind die Fähigkeiten,
personzentrierte Beziehungen aufzubauen grundlegender, als einzelne, spezifische
Herangehensweisen zu trainieren, auch wenn das Wissen um diese unverzichtbar bleibt. Das
Besondere an der Demenz ist darin zu suchen, dass die Auseinandersetzung in diesem
Arbeitsfeld zur Konfrontation mit den eigenen Abhängigkeits- und Bindungsthemen führt und
dadurch u.a. die Beziehungs- und Reflexionsfähigkeiten sowie das Menschenbild sich zeigen
und auf die Probe gestellt werden. In dem Sinne, in dem psychische Entwicklung als
Auseinandersetzung mit Abhängigkeits- und Autonomiethemen beschrieben werden kann, ist
Demenz eine Herausforderung an die eigene Personalität das allgemeine Thema psychischer
Entwicklung wird durch Demenz in radikaler Form fokussiert.15 Begleiter und Begleitete sind
in ihrer Menschlichkeit aufeinander angewiesen. Kommt unter nährenden Bedingungen das
Personsein des Kranken zur Geltung, dann wachsen Begleiter (auch) in ihrer Freiheit und in
ihrer Würde. Gelingt es, zuweilen auch lustvoll an den Welten eines Kindes oder von
Menschen mit Demenz zu partizipieren, so wachsen beiden in ihrer Personalität. 16
Wahrnehmen und Beschreiben
Die zentrale Rolle der Einzigartigkeit der Person und ihres Erlebens der Demenz (im
Unterschied zur Annahme eines einheitlichen Krankheitsprozesses, resultierend in einer
„uniformen Alzheimerpersönlichkeit“ und einer daraus abgeleiteten universellen Morphologie
der Versorgungsformen) für die Begleitung erfordert eine bewusst gemachte, reflektierte,
methodische Wahrnehmung der Klienten. Die Wahrnehmung des „Fremden“ im Bestreben
einer Annäherung beginnt mit dem Eigenverstehen. Bedingung für Kontakt ist Wahrnehmung
und Selbstwahrnehmung: Den eigenen Anteil an der Situation erkennend, wird der andere und
sein Bezugsrahmen wahrgenommen. Eben dies erst ermöglicht Akzeptanz, oder genauer:
Beachtung, Kontakt ohne Absicht mit der Chance der Begegnung. 17
Der hier zugrunde liegende phänomenologische Begriff der Wahrnehmung rechnet damit,
dass „abschließende Vokabulare“ (z.B. diagnostische Kategorien und die auf diesen
aufbauenden Assessmentinstrumente das Verstehen des Konkreten nicht nur erhellen, sondern
auch blockieren. (Etikettierung, Stigmatisierung) Der Beginn präziser Beschreibungen ist
darin zu suchen, unterschiedliche Vokabulare und damit Betrachtungsweisen zuzulassen,
sowie Perspektiven und damit Vokabulare möglichst oft zu wechseln – z.B. Defizite als
Ressourcen umzuformulieren oder herausforderndes Verhalten als Selbstausdruck. Neue
Beschreibungen haben die Macht, neue und andere Dinge möglich zu machen. Je genauer,
präziser, detaillierter die Beschreibungen seiner selbst und anderer Menschen ausfallen, desto
schwerer fällt es, andere auszugrenzen oder sich selbst fremd zu bleiben: die Wahrnehmung
der Ähnlichkeiten in der Verletzbarkeit durch Demütigungen begründen Verstehen und im
günstigen Fall Solidarität.18
Daraus lässt sich umgekehrt fragen: Wenn abschließende Vokabulare und Urteile
Wahrnehmung mitunter blockieren, wie kann man dann einen Perspektivenwechsel einleiten
und andere Wahrnehmungen ermöglichen? Es gilt, die „inneren Bilder“ von Menschen mit
Demenz in der begleitenden Person selbst zu bearbeiten durch das Angebot der
Inclusion: Marginalised Groups and Marginalised Areas of Dementia Research, Care and Practice, eds.: A.Innes,
C.Archibald, C.Murphy, Jessica Kingsley Publishers 2004
15
ähnlich: Ralph Skuban, Der Mensch an der Grenze, Pflege Impuls 6(2004)4 91-95
16
K.Gröning, Institutionelle Mindestanforderungen bei der Pflege von Dementen, in: Demenz und Pflege, Hrsg.
P.Tackenberg & A.Abt-Zegelin, Mabuse 2000, 83-96
17
Der Zusammenarbeit mit Kirsten Margraf sind viele Einsichten in diesem Zusammenhang verdankt.
18
R.Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, Suhrkamp Verlag 1989
4
Auseinandersetzung mit anderen Beschreibungen, anderen Vokabularen, die dann auch
andere Wahrnehmungen möglich machen:
anstelle der Kommunikationsdefizite Fragen wir nach kommunikativen und interaktiven
Fähigkeiten und Besonderheiten (z.B. welcher Humor kommt an?); wir fragen nach
Unterstützungsmöglichkeiten für emotionale Zufriedenheit und damit zusammenhängend,
nach der Art der taktilen Nähe, die Sicherheit (attachment) ermöglicht; wir versuchen zu
erfassen, was physische Zufriedenheit und für die Person Bequemlichkeit ausmacht; wir
fragen nicht nach Verhaltensauffälligkeiten, sondern nach verhaltensbezogenen Antworten
und thematisieren dabei attachment, Miteinbeziehung, Orientierung und Bequemlichkeit und
die Rolle der Berührung.19
Erst auf diesem Hintergrund haben spezifische, neuropsychologisch fundierte Empfehlungen
für Beziehung und Beschäftigung - wenn man sie dann überhaupt noch benötigt - eine
Chance, kontext- und personengerecht umgesetzt zu werden.
Eine Möglichkeit der Neubeschreibung und anderer Wahrnehmung von Menschen mit
Demenz und ihrer institutionellen Lebenswelten stellt das DCM-Verfahren dar. Anstelle einer
weiteren Vorstellung technischer DCM-Details20 soll in einigen Zügen beispielhaft ein DCMProzess vorgestellt werden.
Beispiel
Nachmittags, Aufenthaltsraum einer stationären Einrichtung. Frau Meier steht im Rhythmus
von 2 Minuten auf und umkreist den Tisch, an dem sie ansonsten alleine sitzt. Sie wirkt dabei
unruhig, ängstlich, getrieben. Frau Schulte, etwa 5 Meter weiter sitzend, weist Frau Meier
wiederholt mit lauter Stimme zurecht: „Bleib sitze`, sei ruhig, hör`doch auf!“ Frau Henning,
im Rollstuhl sitzend, wird hereingefahren und an den Tisch von Frau Meier gesetzt, die sich
sichtlich irritiert etwas seitwärts rutscht. Frau Henning erhält ein Getränk. Kaum ist die
Begleiterin weg, nimmt Frau Meier das Getränk an sich: Frau Henning greift danach und
bekommt von Frau Meier einen Schlag auf die Finger. Frau Meier nimmt das Getränk nicht
zu sich, sondern platziert es außer Reichweite. Frau Henning sinkt in sich zusammen und
stöhnt, starrt auf den Boden. Frau Fuchs, wird hereingefahren und an einen anderen Tisch
gesetzt, ebenfalls im Rollstuhl. Wiederholend ruft sie „Baaah, Hmmm“, reibt dabei in
ausladenden Bewegungen über den Tisch. Frau Schulte schimpft nun abwechselnd mit Frau
Meier und Frau Fuchs, die nun öfter, lauter und eindringlicher ruft. Frau Meier umkreist den
Tisch nun beständig, wringt dabei ihre Hände und schaut angstvoll(weite Augen, gekrümmte
Haltung, rasche Schrittfolge) auf Frau Schulte, die immer eindringlicher zur Ordnung ruft.
Diese Konstellation hält für mehr als 3 Stunden fast unverändert an, wird mal leiser, mal
lauter. Frau Meier und Frau Schulte verlassen den Raum nicht, obwohl sie mobil sind.
BegleiterInnen kommen herein, führen zur Toilette, verabreichen Getränke, verlassen den
Raum. Ein Einwirken auf die Situation erfolgt nicht. Erst das Abendbrot beendet diese.
Die Beobachterin hat in dieser Zeit lange Reihen Typ 2 Kategorien im Abstand von 5 Minuten
kodiert (nicht personenförderndes Handeln): lange Reihen von B(stilles Beobachten),
K(Kommen und Gehen), C(Starren), D(Distress) und W(repetitive Selbststimulation), die in
Kombination miteinander Degenerationsketten(aus –1 wird nach ½ Stunde –3, nach einer
weiteren –5) bilden. Kategorien mit personenförderndem Potential (Typ 1) kommen selten
und wenn, dann oft in Kombination mit negativem Wohlbefinden21 vor: hier stehen F (Essen
und Trinken), A (Interaktion) und X (Toilettengänge) im Vordergrund. Eine einzige positive
19
vgl die Assessmentbögen von Brightwater, Perth, Western Australia (unveröffentlicht)
siehe downloads unter www.dcm-deutschland.de
21
Zum Begriff des Wohlbefindens vgl.: C.Müller-Hergl, Wohlbefinden und Methode: Dementia Care Mapping,
Zur Analytik zentraler Begriffe, in: S.Bartholomeyczik & M.Halek, Assessmentinstrumente in der Pflege,
Schlütersche 2004, 115- 129
20
5
Situation wurde vermerkt, in der eine Pflegekraft unter Wahrung der Kompetenzen von Frau
Fuchs dieser ein Getränk reichte. Das beständige Rufen nahm in dieser Zeit deutlich ab und
der nonverbale Kontakt mit den Händen zu Beginn und am Ende erfolgte langsam,
nachhaltig mit zugewandter Körperhaltung und warmen Blickkontakt. Elemente von
Parallelität und Gleichzeitigkeit in Atmung, Rhythmus und Taktgebung konnten identifiziert
werden. Negativ fiel auf, dass MitarbeiterInnen hinein- und hinausgingen, ohne Kontakt
aufzunehmen, die Geschwindigkeit der Interaktion, das kontaktlose Abräumen und Eindecken.
Besonders beeindruckte der Kontakt- und Stimulationsmangel. Die Umgebung machte einen
funktionalen, sterilen Eindruck ohne gezielte Angebote zur Selbstbeschäftigung.
Die Beobachterin(Altenpflegerin aus einer anderen Einrichtung) hat sich notiert, wie sie in
dieser Zeit mit ihrer Rolle zu kämpfen hatte. Die Affekte und Affektansteckungen zwischen den
Personen griffen auf sie über und sie spürte ein deutliches Bedürfnis, die Flucht zu ergreifen.
Sie beobachtet, dass sie selbst sehr oft zur Toilette ging. Immer wieder fragt sie sich, ob die
beteiligten Personen ähnliche Affekte wie sie selbst erlebt haben: Angst, Wut, Ärger,
Hilflosigkeit. Sie kann sich nicht vorstellen, dass dieser Nachmittag den Personen gut getan
haben könnte. Am Ende der Beobachtungszeit spürt sie eine tiefe, abgründige Erschöpfung,
sie ist mehr verschwitzt als nach harter Pflegearbeit und spürt den dringenden Wunsch, sich
etwas Gutes zu tun oder sich zurückzuziehen. Bilder von Gefangensein, von ewig sich
wiederholenden, quälenden Schleifen (Sisyphus), von Verlassenheit, Verlorenheit und
Ausgeliefertsein steigen in ihr hoch.
In der Reflexion mit einer anderen Beobachterin gelingt es ihr, die eigenen Affekte von der
beobachteten Situation deutlicher zu trennen und bei sich nachzuspüren, welche inneren
Themen beim Erleben solcher Situationen bei ihr mitschwingen. Sie kann auch anerkennen,
dass sich MitarbeiterInnen und Bewohnerinnen im wesentlichen nicht anders verhalten
haben, als sie es von der eigenen Einrichtung her kennt. Für das Feedback nimmt sie sich vor,
neben den üblichen Auswertungen und Anhaltszahlen einige komplexe Situationen wie die
oben genannte vorzustellen und dabei – deutlich getrennt – auch das eigene emotionale
Erleben deutlich zu machen.
In dem sich anschließenden Teamgespräch wird deutlich, dass kaum einer im Team sich
bislang Gedanken darüber gemacht hat, was zwischen den Personen im Aufenthaltsraum am
Nachmittag vor sich geht. Es gibt ein stilles Wissen einzelner darüber, aber es ist nicht Thema
im Team. Die Wahrnehmungen der Beobachterinnen lösen Betroffenheit, aber auch Abwehr
aus. Im Kern der Auseinandersetzung steht die Frage, ob „Pflege“ hier einen Auftrag hat und
wenn, wie der hier aussehen könnte. Es verdichtet sich die Einsicht, dass dieser Auftrag nicht
allein von der Pflege, sondern von allen Bereichen mit Klientenkontakt wahrzunehmen ist,
aber eben auch von der Pflege. Am Ende reift eine Idee heran, wie unter den sehr begrenzten
Möglichkeiten durch Veränderungen von Tisch- und Sitzordnungen, durch die Vermehrung
kleiner, aber gezielter Selbstbeschäftigungsmöglichkeiten und durch gezielte Kurzkontakte
(“Bienchendienst“) die Situation im Aufenthaltsraum entspannt werden könnte. Einige dieser
Elemente sind ohne großen Aufwand realisierbar, andere bedürfen weiterer Kommunikation.
Mit der Skizze eines rudimentären Handlungsplans wird die Rückmeldung abgeschlossen.
Das Beispiel verdeutlicht, dass Wohlbefinden situations- und kontextabhängig ist.
Wohlbefinden umfasst nicht nur Affektabilien22, sondern soziale Rolle, Tätigkeit und
22
Hacker&Bennett, Philosophical Foundations of Neuroscience, Blackwell 2003, “Affectabilia”
6
Interaktion. Es ist wichtig, den Zusammenhang von Wohlbefinden, konkreter Situation,
Interaktionssequenzen und Interventionsmächtigkeit der MitarbeiterInnen abzubilden.23
Befragungen oder Affektbeobachtungen unter Laborbedingungen unabhängig vom realen
Alltagskontext lassen wenig Rückschlüsse auf die Weiterentwicklung einer Dienstleistung
zu.24 Die Frage muss beantwortet werden können, wie welche Situationen gezielt bereichert
werden könnten. Eine von der Situationsdynamik getrennte Einschätzung von Befinden ist
wenig hilfreich. Mimik muss immer im Gesamtkontext „gegengelesen“ werden und bedarf
zur Eindeutigkeit primär körpersprachlicher Markierungen (Atmung, Körpertonus,
Bewegungstakt, Position der Körperteile im Raum).25
Die Beobachterin nimmt am Leben einer Gruppe von Menschen mit Demenz teil ohne
einzugreifen: sie erlebt und erleidet das Geschehen, wie wenn sie der Situation genauso
ausgesetzt wäre wie die Menschen, die hier leben. Sie versucht nach Möglichkeit zu trennen
zwischen dem, was sie bei den Menschen sieht und dem, was sie bei sich an Gefühlen,
Werturteilen, inneren Bildern, Erinnerungen wahrnimmt.
Das Kodierungssystem 26 in DCM ist ein Hilfsmittel, klientenbezogene Beobachtungen im
Zusammenhang des Tagesverlaufes möglichst effizient zu Papier zu bringen. Eine Fülle von
Feldnotizen zu unterschiedlichen Situationen ergänzen die Beschreibung: einige in Form von
vorgegebenen negativen und positiven Ereignisbeschreibungen, einige in freier Form. Ein
wissenschaftliches Niveau kann, muss aber nicht angestrebt werden.27 Ziel ist es,
Informationen mit möglichst zumutbarem Aufwand an Training und Beobachtungszeit mit
möglichst für die Entwicklung der Einrichtung und des Teams wichtigen Details zu
gewinnen.28
Im Fallbeispiel wird deutlich, dass die Emotionalität der Beobachterin im Prozess hinsichtlich
der Wirksamkeit für Veränderungen eine wesentliche Rolle spielt. Ein affektiv-neutraler
Expertenhabitus wäre wenig dienlich. Wohlbefinden „der anderen“ kann nur über Reflexion
des eigenen Wohlbefindens beobachtet werden, d.h. Identifikation von Emotionen ist immer
ein dialogischer und hermeneutischer Prozess und keine quantitative Zählung von
Lacheinheiten.29
Je fremder die anderen, desto ausgeprägter die eigenen Phantasien, Projektionen,
Wunschvorstellungen:30 eben darum ist Selbstwahrnehmung Voraussetzung der
Fremdwahrnehmung. DCM ist damit ein mit der Supervision vergleichbares
Reflexionsinstrument und bedarf reflektierter Praktiker, die ihre eigene Emotionalität gut
einschätzen und von der der KlientInnen unterscheiden können.
Der Prozess in DCM nimmt seinen Ausgang nicht bei den Fallpräsentationen der
SupervisandInnen, sondern im Fremdbild des Beobachters hat. Dieser sollte dem Team auf
Augenhöhe 31 begegnen und möglichst aus dem Berufsstand der Pflege stammen. Auch daran
23
vgl Stewart,N.J., Hiscock,M., Morgan, D.G., Murphy,P., Yamamoto, M, Development and Psychometric
Evaluation of the Environment-Behavior Interaction Code (EBIC) In: Nursing Research 48(1999) 5, pp 260-268
24
Jennings, B., A life greater than the sum of its sensations: Ethics, Dementia, and Quality of Life
In:Assessing Quality of Life in Alzheimer’s Disease, Albert,S.M. & Logsdon, R.G. (eds) Springer 2000
25
so mündlich Kirsten Margraf
Zu den eher technischen Details siehe: www.dcm-deutschland.de
27
vgl D.Brooker, Dementia Care Mapping, a review of the research literature, Gerontologist forthcoming
28
P.Edelman, B.R.Fulton, D.Kuhn, Comparison of dementia-specific quality of life measures in adult day
centers, in: Home Health Care Services Qualterly, 23 (2004) 1 pp 25 – 42, here p. 40
29
vgl C.Müller-Hergl, Wohlbefinden und Methode: Dementia Care Mapping, Zur Analytik zentraler Begriffe,
in: S.Bartholomeyczik & M.Halek, Assessmentinstrumente in der Pflege, Schlütersche 2004, 115- 129
30
Jan Sonntag, Klanglandschaft Pflegeheim, in: Dr.med.Mabuse 28(2003)144, 48-50
26
31
E.Wolber, Von der ritualisierten Distanz in Pflegepraxis und Pflegetheorie zu einer Begegnung auf
Augenhöhe, in: Pflege 11(1998)3
7
ist die Qualität eines Evaluationsinstrumentes zu messen, dass Rückmeldungen eines
vertrauten Fremden eher als die einer Amtsperson oder eines externen Experten angenommen
werden. Daher bietet sich DCM als Methode für regionalen peer-review als Form der
Qualitätsentwicklung an.
Eine nur auf gelingende, positive Interaktionen gerichtete Rückmeldung würde dem Team mit
einer den Klienten des Teams vergleichbaren Schonhaltung entgegentreten: das Team sei zu
validieren und in seiner Realitätskonstruktion zu stärken. Darin drückt sich eine
Geringschätzung bezüglich der Reflexionsfähigkeit der Teams aus und tendenziell die
Verweigerung einer symmetrischen, erwachsenen Position. Das Team wird in kindlich, der
Rückmeldende elterlich „positioniert“. 32 Feedbacks können unangenehm werden und
dennoch fruchtbar sein. Entscheidend ist, wie sie ausgehen.
DCM zielt auf die Ergebnisse der Begleitung (Pflege und Betreuung) und ignoriert zunächst
die formalen Aspekte von Struktur und Prozess: Entscheidend ist, wie es den KlientInnen
geht, wie sie den Tag und ihren Lebensraum erleben.
DCM ist eine Möglichkeit, das Leben und die Lebenswelt von Menschen mit Demenz neu zu
beschreiben und damit neue Wahrnehmungen anzuregen. Seine Stärke liegt in der Darstellung
von Wohlbefinden im Tagesverlauf. Video-gestützte Analysen haben den Vorteil, einzelne
Situationen gründlicher zu analysieren und verstärkt an der Differenz zwischen
Wahrnehmung und Interpretation zu arbeiten. Wichtig an beiden ist die Auseinandersetzung
mit den Details der Interaktion mit dem Ziel, genauere Wahrnehmung und in ihrer Folge,
gelingenden Kontakt in homöopathischen Dosen anzuregen.
In fast allen Industrienationen ist Wohlbefinden kein outcome, von dem das Überleben der
Einrichtungen abhängt. Als „Kunde“ oder „wertvolles Objekt“ fehlbeschrieben dominieren
objektivistische Formen der Qualitätssicherung, bei denen die Subjekte, wenn überhaupt,
dann nur am Rand erscheinen. Geld fließt für Wiederherstellen sozialer Präsentabilität (vgl.
die Diskussion um „Verhaltensauffälligkeit“), nicht für die Entwicklung von Lebenswelten.
Solang dies so bleibt, werden Instrumente, die den Standpunkt des Klienten einnehmen, eine
Randerscheinung bleiben und von nur wenigen, engagierten Einrichtungen wahrgenommen
werden. Immerhin: In der angloamerikanischen Diskussion ist die Patientenperspektive nicht
nur in der Forschung, sondern auch in der Qualitätssicherung und amtlichen Erklärungen
angekommen. Dies lässt hoffen.
C. Müller-Hergl, Kritische Betrachtungen des DCM in Deutschland, in: Die Dementia Care Mapping
Methode(DCM), Hrsg. A. Innes, Hans Huber 2004, 71-86;
C. Müller-Hergl, The role of the `trusted stranger`in DCM feedback, in: Dementia Care Mapping: Experience
and Insights into Practice, eds. D.Brooker, P.Edwards, S.Benson, Hawker Publications 2004, pp 65-67
32
Parker,I, Georgaca,E., Harper,D, McLaughlin,T,Stowell-Smith,M., Deconstructing Psychopathology, Sage,1995

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