Zürich, mon amour
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Zürich, mon amour
GESELLSCHAFT Freitag, 17. Juni 2016 WOCHENENDE 53 BESONDERE KENNZEICHEN Zürich, mon amour Kindern gewidmet; so nennt sie als zentralen politischen Wert «Familie». Aber sie baute sich auch ein Netzwerk auf, in den Institutionen der Auslandsfranzosen. Schmid, aufgewachsen im grenznahen Annemasse, kann und will ihre Herkunft nicht verleugnen. Sie wurde Präsidentin der Association des Français de Zurich, Mitglied der konsultativen Versammlung der Auslandsfranzosen und Vizepräsidentin der weltweiten Union des Français de l’Etranger, deren Präsident ihre Parlamentskandidatur unterstützte. Die hiesigen Franzosen wählten sie im zweiten Wahlgang mit gut 57 Prozent. Die Wahlbeteiligung betrug allerdings ähnlich wie in anderen Auslandswahlkreisen nur 22 Prozent. Sie sah, was alle andern übersahen Claudine Schmid, Abgeordnete in der französischen Nationalversammlung. G. BASIC / NZZ Claudine Schmid vertritt die rund 200 000 Franzosen, die in der Schweiz leben, im Parlament in Paris. Die Franko-Schweizerin muss bei der EM nicht zum ersten Mal ihre Seite wählen. VON MATTHIAS SANDER Jetzt könnte Monsieur le Premier Ministre wirklich einmal kommen. Es ist 19 Uhr 12, im Salon des Hôtel de la Paix in Lausanne warten gut 200 Franzosen. Claudine Schmid hat ihnen allen die Hand geschüttelt, nun steht die französische Parlamentarierin vor dem Saal und schaut auf ihr Smartphone. Immerhin, schön, kommt der einstige Premierminister François Fillon, der wie üblich weiter als solcher angeredet wird, überhaupt hierher. Denn der «Big Boss» etwa meide die Schweiz, sagt Schmid: Nicolas Sarkozy, Ex-Präsident und Parteichef der konservativen Les Républicains, wolle sich im Wahlkampf um die Präsidentschaftskandidatur nicht «beschmutzen», werde erzählt. So also steht es nach diversen Schwarzgeld-Affären noch immer um Helvetiens Ruf in Gallien. Auf Fillons Website fehlt in der vollen Agenda die Visite in Lausanne. Mais bon, le voilà: Fillon betritt schnellen Schrittes den Saal, macht einem Paar mit Baby ein Kompliment und setzt sich unter Applaus in die erste Reihe. Claudine Schmid steigt zum Pult. «Monsieur le Premier Ministre!», beginnt sie ihre Ansprache. Ihre Stimme zittert. Die Lage in Frankreich unter dem sozialistischen Präsidenten Hollande sei gravierend, ja «vor-aufständisch». Gewerkschafter blockieren Öllager, Züge fallen aus. Schmid spricht von der internationalen Politbühne – wo ist Frankreich geblieben? Ihre Stimme zittert weiter. Erleichtert überlässt sie Fillon das Pult. Eine diskrete Problemlöserin Der grosse Auftritt ist nicht Schmids Sache. Die 60-Jährige hat zwar schon dem Regierungschef Valls in der Nationalversammlung in Paris vorgehalten, seine Worte seien eines Premierministers unwürdig. Aber seit sie 2012 ins Parlament einzog, sagt sie, meide sie den «Saal der vier Säulen», wo Journalisten knackige Zitate sammelten. Viel lieber vertieft sie sich in Dossiers und löst diskret die Probleme der rund 200 000 Franzosen in der Schweiz und Liechtenstein, dem kleinsten der weltweit elf Wahlkreise für Auslandsfranzosen. Claudine Schmid passt also gut in die Schweiz, wo sie seit der Heirat mit einem Zürcher mehr als die Hälfte ihres Lebens verbracht hat. «Sie ist die schweizerischste Französin», behauptet Schmids Stellvertreter und einstiger Wahlkampfchef Sébastien Brack. Der Superlativ mag eine Zuspitzung des Spin doctor sein, jedenfalls hat Schmid offenbar verinnerlicht: besser unter- als überschätzt werden. Ihre Rolle als konservative Abgeordnete aus der Schweiz im sozialistisch regierten Frankreich ist doppelt delikat. Als Schmid für den erstmals zu vergebenden Sitz der hiesigen Auslandsfranzosen kandidierte, kam die Zürcherin für die grosse französische Diaspora in der Romandie wie aus dem Nichts. Ihre damalige Konkurrentin, die Genfer Sozialistin Nicole Castioni, sagt: «Links wie rechts waren wir alle sehr überrascht, dass sie von ihrer Partei nominiert wurde.» Man habe gemunkelt, dass sie vielleicht Kontakte zu Sarkozy habe, der damals ein gewichtiges Wort bei den Nominierungen mitredete. Schmid bestreitet das: In Paris habe niemand sie gekannt. Der damalige Parlamentspräsident habe sie gar empfangen, «um sicherzugehen, dass ich kein Zombie bin, von dem noch niemand gehört hatte». Ganz aus dem Nichts kam Schmid natürlich nicht. Ja, sie hatte seit 1985 nicht mehr ihren Beruf als Sekretärin ausgeübt und sich ganz ihren drei Im Parlament, wo Schmid dienstags bis donnerstags arbeitet, gilt sie als «die Schweizerin», und tatsächlich lag nach der Heirat mit Urs Schmid, einem langjährigen Zürcher FDP-Gemeinderat, ungebeten der rote Pass im Briefkasten. Als die Schweizer die Zuwanderungsinitiative annahmen, bat Schmids Fraktion sie um eine Erläuterung – und stellte dann nur halb scherzhaft fest: Die Franzosen hätten der Initiative wohl deutlicher zugestimmt. Schmids Rolle als konservative Abgeordnete für die Schweiz im sozialistisch dominierten französischen Parlament ist delikat. Sie muss hierzulande französische Interessen vertreten oder zumindest um Verständnis werben, auch wenn sie inhaltlich nicht einverstanden ist und etwa in der Wirtschaftspolitik pragmatisch-liberal, eben schweizerisch, denkt. So wünscht sie sich, dass Frankreich sein Arbeitsrecht in Grenzregionen lockert, damit mehr Schweizer Firmen nach Frankreich gehen. Zugleich verweist die Präsidentin der parlamentarischen Freundschaftsgruppe Frankreich-Schweiz auf die Verfassung: Die Republik ist «unteilbar», ihr Gesetz gilt überall. Frankreich ist eben kein föderaler Staat mit autonomen Kantonen. Beim Streit um den Flughafen Basel-Mülhausen fragte sich Schmid, auf welcher Seite sie stehe. Sie wehrte sich dagegen, dass die Firmen im Schweizer Sektor dem französischen Steuerrecht unterstehen sollten. «Aber ich kann nicht Schweizer Unternehmen verteidigen.» Also warnte sie davor, dass direkt und indirekt 8000 Arbeitsplätze von Franzosen in Gefahr seien. Nachdem beide Staaten ihren Streit beigelegt hatten, liessen Schmid und andere Abgeordnete sich die Vereinbarung erklären – vom Schweizer Botschafter in Paris. «Wir vertrauen den Schweizern mehr als unseren eigenen Eliten.» Schmid sass im Parlament zunächst in der Kommission für Kultur und Bildung, wo Neulinge hinkommen. Im Januar rückte sie in die prestigeträchtige Finanzkommission nach. Was war passiert? «Ich habe kandidiert und wurde genommen», sagt sie lächelnd, in einer Mischung aus Bescheidenheit und Stolz. Auf Nachfrage erzählt sie eine Anekdote: Eines Morgens sollte die Nationalversammlung wie üblich ein Dutzend Abkommen ratifizieren, darunter eines mit Andorra. «Normalerweise ist das eine Sache von fünf Minuten», sagt Schmid. «Niemand meldet sich zu Wort, es wird nur abgestimmt.» Schmid meldete sich zu Wort. Sie hatte eine Klausel entdeckt, die die Besteuerung von in Andorra lebenden Franzosen ermöglichte. Das wollte sie verhindern. Das Abkommen wurde erst nach vier Monaten ratifiziert. Zwar in der Originalfassung, denn sonst hätte die Regierung erneut mit Andorra verhandeln müssen, und die Republikaner haben nun einmal keine Mehrheit. Aber die Regierung sagte öffentlich zu, keineswegs die generelle Besteuerung aller Auslandsfranzosen vorzubereiten. So sehen Erfolge oppositioneller Parlamentarier in einem Mehrheitssystem aus. Nach Fillons Rede in Lausanne kommen Gäste zu Schmid und bedanken sich für Hilfe in Steuerfragen; das Thema beansprucht Schmids Arbeitszeit fast komplett. Im kleinen Kreis fühlt sie sich sichtlich wohler als vor dem vollen Saal. Später, im Zug, legt die klassisch-elegant gekleidete bourge – eine typische Bourgeoise – ihre Steifheit ganz ab. Sie nutzt umgangssprachliche Wörter wie gars, nana, bouquin: Kerl, Mädel, Schmöker. Sie isst einen Cookie und einen Donut. Und sie lächelt wie frisch verliebt, als sie erzählt, wie sie ihren Mann an einer Hochzeit kennenlernte und ihm an die Limmat folgte. «Ich habe die Schweiz und Zürich mit den Augen der Liebe gesehen.» Nach klassischen Anlaufproblemen spricht sie Züritüütsch à la française und fühlt sich in der unterkühlten Stadt längst zu Hause. «Ich bin auch nicht sehr herzlich. Vielleicht habe ich eine Stadt gefunden, die zu meinem Temperament passt.» Wenn am Sonntag an der Fussball-EM die Schweizer gegen die bereits qualifizierten Franzosen um den Einzug in die Achtelfinals spielen, wird Schmid erstmals einen Match im Stadion sehen. Natürlich drückt sie beiden die Daumen. Es muss nicht immer Entweder-oder sein. IN JEDER BEZIEHUNG Zutreffendes ankreuzen Von Birgit Schmid Sie erwachen heute als Mann, morgen als Frau, manchmal als beide. Je nachdem, als wer sie sich gerade fühlen, tragen sie ein Kleid oder eine Krawatte, sie erhöhen ihre Stimme, dann wieder schieben sie das Becken vor oder geben gar nicht zu erkennen, welchem Geschlecht sie zugehören. Denn sie wissen es selber nicht. Das aber wird weniger als Problem erlebt, sondern als Befreiung – und das ist neu. Das Erleben nennt sich «Gender Fluidity», auf Deutsch weniger flüssig: «nichtbinäre Geschlechtsidentitäten». Und alle reden davon. Die Generation der zwischen 1980 und 1999 Geborenen bekam schon manchen Namen: Generation Y, Digital Natives, Millennials und jetzt noch «Gender-fluid Generation». Kürzlich machte der «Guardian» eine Umfrage, wie man sein Geschlecht definiert. Es gingen Hunderte von Antworten aus 65 Ländern ein, die meisten Leute waren um die zwanzig Jahre alt. Eine Vielzahl legte sich nicht fest und gab bis zu zehn verschiedene Geschlechter an. Als «agender» bezeichnete sich, wer sich als geschlechtslos wahrnimmt. Es gibt weiter «genderqueer», «bigender», «trans», «asexuell», «androgyn», um nur einige zu nennen. Einer stellte sich als «Fluid Flux» vor: Das meint mehrere Identitäten, die aber in der Intensität variieren. Das Wort hatte er im Internet gefunden. Die Frage stellt sich wie so oft, ob etwas nur deshalb spürbar wird, weil es die passenden Begriffe dafür gibt. Oder ob es sich um einen Trend handelt, also ansteckend ist: Es ist cool, seine Individualität auf diese oszillierende Weise auszudrücken. Wobei die Coolness einmal mehr aus der Welt der Mode kommt. Auf dem Laufsteg verschwimmen die Grenzen zwischen weiblich und männlich. Bereits eröffnen die ersten Transgender-Modelagenturen. Auch Tamy Glauser, eine Bernerin mit nigerianischen Wurzeln und Louis-Vuitton-Model, wird sowohl als Mann wie als Frau gebucht. Sie betont ihre Androgynität und sagt: «Bloss in Geschlechtern zu denken, heisst, sich unnötig einzuschränken. Ich finde es grossartig, dass die Modeindustrie das begriffen hat. Warum sich auf zwei Varianten festlegen, wenn es so viele Möglichkeiten dazwischen gibt.» Was lange als krankhaft galt, wird zur Auszeichnung. In der Pop-Kultur zeigen das die Sängerin Miley Cyrus oder die «Orange Is the New Black»-Schauspielerin Ruby Rose. In der sehr erfolgreichen Fernsehserie «Transparent» (von Trans-Parent) erlebt ein Familienvater im Pensionsalter sein Comingout, kleidet sich fortan als Frau und nennt sich «Moppa» (von Mom und Papa). Auch seine drei Kinder orientieren sich fliessendsexuell. Jill Soloway, die kühne Regisseurin, feiert hier ihr Ideal: Sie sieht in der Verflüssigung der Geschlechter eine Revolution hin zur Befreiung vom Typischen. Irgendwann wird keiner mehr sagen können, Frauen seien so und Männer so anders. Man sagt dann auch nicht mehr «she» oder «he», sondern eine Person wird als «they» bezeichnet. Denn alle sind jetzt viele. Dabei hilft natürlich auch das Internet. Hier findet die Generation Y alle Informationen zum Umbau und kann Befindlichkeiten anprobieren wie Kleider. In diesem Spiel liegt auch das Zwiespältige. Wer sich als Transgender gibt, ist oft bloss «Transtrender» (von Trend) – ein noch fehlender Begriff im Geschlechterspektrum. Denn wird Gender Fluidity zum Lifestyle verklärt, den man frei wählen kann, hilft das jenen überhaupt nicht, die tatsächlich an ihrem angeborenen Geschlecht leiden und sich im falschen Körper gefangen fühlen. Das ist keine Mode, es ist eine Qual.