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Der kleine 29 — Donnerstag, 4. Februar 2016 Berner Woche Veranstaltungen Mehr Angaben unter: www.agenda.derbund.ch Von 4. bis 10. Februar 2016 Sounds Kaos Protokoll Akustisches Actionpainting Sauber protokolliertes Chaos: Das Berner Trio Kaos Protokoll klingt reifer und braver, verteidigt aber den Punk-Jazz. Kann verdammt gut erzählen: Angel Haze. Foto: zvg Sounds Angel Haze Bitches mit Botschaft Sie ist jung, wild und rappt um ihr Leben: Angel Haze hat mit «Back to the Woods» endlich wieder gute Musik herausgebracht. Milena Krstic Die Moderatorin schürzt die erdbeerrot angemalten Lippen, ein Septum-Piercing ziert ihr zartes Näschen. Ihr gegenüber sitzt die schmale Angel Haze und beantwortet Fragen wie: «Welche Art von Kunst konsumierst du?» Es ist eine dieser Hochglanz-Sendungen, in der sie gelandet ist, die schöne, wilde Angel Haze. Aber wahrscheinlich ist sie genau dort gelandet, weil sie schön und wild ist. Und sicherlich ist sie auch dort gelandet, weil sie mit der auch schönen Ireland Baldwin, der Tochter von Kim Basinger, liiert war. Es wäre erfreulich, müsste man sich solche Sendungen gar nicht erst ansehen bei der Recherche zu Angel Haze, einer Frau, die mit ihren rattenscharfen Reimen und dem bösen Blick den Wunsch weckt, mit erhobener Faust für irgendwelche Rechte zu kämpfen. Wenn auch nur für das Recht auf eine ordentliche Party. Irgendwann im Jahr 2013 hat die damals 22-Jährige eine eigene Version von Eminems «Cleaning out My Closet» ins Netz geschickt, eine magenumdrehende Dokumentation der Vergewaltigungen, die ihr als Kind widerfahren sind. «Das wird jetzt vielleicht etwas persönlich», rappt sie da und tut dann, was der Titel verspricht: Sie mistet ihren Schrank aus, erzählt das Schreckliche, schnappt nach Luft und ist verdammt gut, stets lyrisch, auch wenn sie das Wort «Shit» spuckt. «Mein Herz, es pumpte und schlug gegen meine tonnenschwere Angst.» Oder: «Stell dir vor, du bist sieben Jahre alt und siehst Sperma in deiner Unterwäsche.» Hässlich. Und trotzdem ist das verdammt gut erzählt. In derselben Schaffenszeit veröffentlichte sie «New York», eine Neuinterpretation von Gil Scott-Herons «New York Is Killing Me». Während ScottHeron über die Rastlosigkeit New Yorks klagt, übernimmt Haze das Zepter und erklärt sich zur Königin der Stadt. Über den genialen, maximal reduzierten HändeKlatsch-Beat rappte sie zusammenfassend so etwas wie: «Sorry, Bitches, aber ich kann es halt besser.» Da waren die klassischen Rap-Gesten, Angel Haze gab den Tarif durch und hatte den zärtlichen Blick eines Bambi-Rehs – eine unwiderstehliche Mischung. Motivationstrainer-Kitsch Dann setzte das grosse Warten ein. Wird sie ihr Talent ausschöpfen? Wann kommt das Debüt? Es erschien etwa ein Jahr später, hiess «Dirty Gold» und war eine Enttäuschung. Und das, obwohl Produzenten wie Markus Dravs mitgewerkelt haben (der Amerikaner hat auch Platten von Bands wie Arcade Fire, Björk, Brian Eno und Coldplay geprägt). Da gab es zu viel Hitparaden-Klimbim, käsige Gib-niemalsauf-Parolen über kitschigen Piano-Dramen (ganz schlimm: «Planes Fly»). Was war passiert? Wahrscheinlich war es der Klassiker: junger, talentierter Mensch, hops entdeckt und flugs in Form gepresst. Kanye West soll es gewesen sein, so erzählt es Angel Haze der Moderatorin mit dem Erdbeer-Mund, der ihr den entscheidenden Tipp gegeben habe: «Nimm bei deiner nächsten Platte alles weg, was diese Person verdeckt, die du sein willst.» Kanye meinte wohl den Bombast, der «Dirty Gold» erstickte wie ein synthetisches Kleidungsstück, das den Schweiss zurückhält. Und siehe da, letzten Herbst erschien «Back to the Woods», ein hippes ClubSound-Werk, das Raum lässt für Haze’ kecke Raps und ihre samtene Singstimme. Produziert wurde es von einem noch mässig bekannten Typen aus Los Angeles, Tk Kayembe. Er hat für Haze eine Kulisse aus künstlichen Waldgeräuschen kreiert und die Beats so hingespickt, als wären sie mit chinesischen Essstäbchen eingespielt worden. «Impossible» ist eines der kleinen Meisterwerke: Haze rappt mit der Geschwindigkeit einer Kalaschnikow über krosse Elektronik-Beats. Oder da ist auch «The Wolves», das Stück mit dem todsicheren Mitsing-Refrain, der die Kids im Club wild werden lässt. «Das ist der Teil, in dem die Wölfe heulen, a-uuuh!» Der gepiercten Moderatorin erzählt sie auch, was es ist, das sie so schnell reimen lässt: die Angst vor dem Versagen. Zurückzukehren nach Hause und sich von ihrer Mutter anhören zu müssen: «Ich habe dir ja gesagt, dass du es nicht schaffen wirst.» Aber Angel Haze, die in Detroit aufgewachsen und irgendwann die Königin von New York wurde, hat es schon lange geschafft. Nur reicht ihr das natürlich nicht. So wird uns ihre Rastlosigkeit noch lange gute Musik bescheren – mit Bitches, Bling und allem, was zum Rap dazugehört. Dachstock Reitschule Sa, 6. 2., 22 Uhr. «Ein Akkord ist in Ordnung», sagte Lou Reed. «Zwei gehen schon an die Grenze. Mit drei Akkorden bist du dann im Jazz.» Man müsste demnach manche Genregrenzen überdenken. Die drei Klang-Provokateure von Kaos Protokoll haben den «elektronisch infizierten Punk-Jazz» erfunden und verteidigen diesen mit ihrem zweiten Album «Questclamationmarks», das im Be-Jazz-Club getauft wird. Die im November erschienene Platte feiert tatsächlich den Punk, zumindest was die Nonchalance betrifft. Kaos Protokoll liefern zuverlässig die protokollierte Unordnung, die Florian Reichle (Schlagzeug), Benedikt Wieland (Bass) und Marc Stucki (Tenor-Sax) im Bandnamen versprechen. Die elf Kompositionen beginnen nicht selten in der freien Schwebe und explodieren nach dreieinhalb Minuten. Die drei Profis beherrschen ihr Instrument und, was fast erwähnenswerter ist, ihre Effektgeräte. Und mit der enormen Sound-Palette, die so zur Verfügung steht, betreiben sie akustisches Actionpainting. Abrissbirnen zerschmettern das Klanggerüst, aus der Ruine kriechen liebestolle Amphibien und atmen gasförmigen Nektar. Jeder der drei versteht es, seine eigenen Kreaturen zu beschwören. Abrissbirnen-Jazz: Wieland, Reichle und Stucki sind Kaos Protokoll. Foto: zvg Eine besonders vielfältige Klangquelle ist der Schaltkreis Stucki-Saxofon-Effektgerät. Der Einsatz von Effekten ist im Jazzbereich gerade beim Saxofon anspruchsvoll und viel weniger üblich als beim Gesang. Hall-, Delay- und Harmonisierungseffekte bekommen aber dem sonst etwas trocken aufgenommenen Instrument auf «Questclamationmarks» prächtig: «Good Morning Krasnoyarsk!» durchbricht zielstrebig die Erdatmosphäre in Richtung Weltraum. Der Titel entsprang wohl der ausgedehnten Russland-Tournee, auf welcher die Band reifer (und auch etwas braver) wurde. Nach dem Stück «Pathos Ratlos», dem Baze seinen Sprechgesang leiht, folgt «Ein Stück zum Mitsingen». Wer wirklich versucht, einzustimmen, sei aber gewarnt. Es ist etwas komplizierter als «Blitzkrieg Bop». (max) Be-Jazz-Club Donnerstag, 4. Feb., 20.30 Uhr. Sounds Sonic Boom / E.A.R. Visuals von innen Als Spacemen-3-Frontmann war Pete Kember Pionier des ungemütlichen Drone-Rocks. Nun kann man ihm bequem im Liegestuhl lauschen. Er steht nahezu unbeweglich an seinen Synthesizern, wird mit Fraktalen bestrahlt und öffnet nur selten die Augen. Wozu auch? Die tollsten Licht-Effekte sind vermutlich nichts gegen das, was Sonic Boom vor dem inneren Auge sieht und zu Musik verarbeitet. Der 50-jährige Brite ist unter diversen Pseudonymen tätig, aber seine Mutter nennt ihn Pete Kember. Am ehesten fällt der Groschen, wenn man ihn als Gründungsmitglied der legendären Drone-Rocker Spacemen 3 entlarvt. Ausgerechnet in den frühen Achtzigern stiessen die Pioniere auf Wasser inmitten eines endlosen musikalischen Brachlandes. Von Velvet Underground beeinflusst, türmten sie massive Gitarren- und Synthesizer-Fassaden zu psychedelischen Ein-Akkord-Monstern und brachten damit das ins Rollen, was später Shoegaze genannt wurde. Das Motto «Taking Drugs To Make Music To Take Drugs To», welches Spacemen 3 1990 mit einem gleichnamigen Album verewigten, sollten sie ebenso wenig loswerden wie ihre quasireligiöse und bis heute treue Anhängerschaft. Im Interview bekennt Kember, sie hätten dieses Motto natürlich nicht erfunden, aber immerhin ziemlich gut artikuliert. Die Rauschgifte wirkten sich nicht nur produktiv aus und waren letztlich einer der Faktoren, welche die Band 1991 auseinanderbrechen liessen. Kember blieb bis heute als Klangforscher umtriebig, etwa unter dem Akronym E.A.R. (Electronical Audio Re search). Fasziniert sei er von der Unkenntlichkeit elektronischer Klänge, die man keinem Instrument zuordnen kann. Dem kann man sich in der Dampfzentrale in Liegestühlen widmen, es wird keine Bühne geben, dafür umso mehr Visuals. Meistens ist er alleine auf Tour, baut alles selbst auf und taucht dann einfach ab. Weil er so sehr bei sich selbst war, buhte ihn 2012 in einem Londoner Club ein (mehrheitlich jugendliches) Publikum aus. Nicht nur in solchen Momenten muss er sich manchmal fühlen wie der junge Wilde, als der er vor 30 Jahren für kollektives Unverständnis sorgte. (max) Dampfzentrale Mi, 10. Februar, 20.30 Uhr. Bühne «Hi, How Are You?» Bühne Nico Semsrott Biederkeit, Ade! Held ohne Motivation Die Gruppe Kraut-Produktion legt in «Hi, How Are You?» unsere verklemmte Gesellschaft auf die Couch. Denise Bucher Worum geht es eigentlich im Leben? Diese Frage liegt dem Stück «Hi, How Are You» von Kraut-Produktion zugrunde. Zusammen mit Phil Hayes hat der Berner Schauspieler Thomas «Hoschi» Hostettler (siehe Interview in der letzten «Berner Woche») «Innereienforschung an der Jetztzeit» betrieben, diese bringt er in Bern zwar ohne Hayes, dafür mit der «phänomenalen Wahnsinnsband», bestehend aus René Schütz und Herwig Ursin, auf die Bühne. Dabei lässt Kraut-Produktion sämtliche Mauern zusammenbrechen: «Wir gehen fast zu nah ans Publikum ran. Es ist, als ob du zu uns nach Hause kommen und dich auf unseren Schoss set- zen würdest», sagt Michel Schröder, der Regisseur. Ein Punk-Rock-Performer erzählt aus seinem Leben, legt einen Seelen-Strip hin mit seinen kruden, abgedrehten Weltsichten, die er verbreitet. Ab und zu spielt eine Band Songs von Iggy Pop oder Suicide. Der Abend will dem Seelenzustand unserer G esellschaft auf den Zahn fühlen: «Wir wollen Lust darauf machen, sich von seinem eingespielten, eingefrästen Leben zu entfernen. Wir versuchen, die Leute ins Abseits hineinzuziehen, damit sie zu unterlaufen anfangen, was wir gemeinhin als gegebene Strukturen akzeptiert haben», sagt Schröder. «Hi, How Are You» ist ein wildes Plädoyer gegen Biederkeit, gegen die Normen und Genormtes. Und für das vermeintlich Unmögliche. Sie wollen «zusammen abheben. Sich zerstreuen. Sich auflösen.» Zusammenfügen könne man sich dann nachher wieder. Tojo-Theater Fr, 5., und Sa, 6. Februar, jeweils 20.30 Uhr. Ist das Leben einfach nur eine Krankheit, die per Sex übertragen wird? Solche Fragen zu stellen ist der Job von Nico Semsrott, schliesslich ist er der erfolgreichste Loser Deutschlands. Betreibt «Innereienforschung an der Jetztzeit»: Thomas U. Hostettler. Foto: zvg «Auf debil zu machen, ist seit Jahren Mode in der deutschen Kabaretscene, wers mag für den ist das bestimmt ne grosse Sache, für mich ist Semsrott auf jeden Fall nichts.» Die Antwort von Nico Semsrott auf diesen Diss im Netz ist klar: «Man soll mit mir ja auch nichts anfangen, man soll mit mir aufhören.» Und er weiss, wovon er redet: Der Hamburger, der bereits nach sechs Wochen sein Studium schmiss, ist der erfolgreichste Loser Deutschlands. Auch Dominic Deville, der im Schweizer Fernsehen auf das Ende von Giacobbo/Müller folgt, bezeichnete Semsrott kürzlich als einen seiner «neuen Helden». Dabei ist Semsrott ja eher das Gegenteil, nämlich selbst ernannter Demotivationstrainer. Wer auf Youtube das Wort Scheitern eingibt, bekommt als Allererstes das Video des bleichen jungen Mannes serviert, der ein Gesicht macht, als hätte er grade sein Kaninchen beerdigt und damit seinen einzigen Freund verloren. In der neuesten Fassung des Programms «Freude ist nur ein Mangel an Information» hat sich Semsrott sogar die Regel auferlegt, dass er 5 Euro an die Junge Union spenden muss, falls er denn doch einmal lachen sollte. Warum? Ein guter Zweck würde ihn zu sehr motivieren. «Update 2.0» steht neuerdings hinter dem Programmtitel, und das hat Konzept: Für das Jahr 2075 ist bereits Fassung 32.0 geplant. Bis es so weit ist, wird Semsrott weiter seine düstere Sicht auf das Leben verbreiten, ein Leben, das seiner Meinung nach einfach nur «eine Krankheit ist, die per Sex übertragen wird und in jedem Fall tödlich endet». Nie hat Pessimismus mehr Spass gemacht. (xen) La Cappella Mi, 10., bis Sa, 13. 2., 20 Uhr.