Gott, du mein Retter! Du hast mir Raum geschaffen, als mir angst war.

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Gott, du mein Retter! Du hast mir Raum geschaffen, als mir angst war.
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Weiter Raum
Predigt zu Psalm 4 am 22. September 2013 in Wädenswil
Kanzellesung Ps. 4, 2b:
„Gott, du mein Retter! Du hast mir Raum geschaffen, als mir angst war.“ (EÜ)
Liebe Gemeinde, bei den Abenden unter dem Titel „Bibel im Gespräch“, die jeden zweiten
Mittwoch stattfinden, lesen wir zurzeit die Flutgeschichte aus dem Buch Genesis. Dabei
haben wir festgestellt, dass es sich nicht einfach um eine Katastrophe in grauer Vorzeit
handelt. Es ist eine Urgeschichte. Sie erzählt von Ur-Erfahrungen, die alle Menschen
machen. Eine dieser Ur-Erfahrungen ist die Angst. Die Angst etwa zu versinken und zu
ertrinken; die Angst, dass der Boden unter mir nicht mehr trägt, dass Fluten über mir
zusammenschlagen, dass mir das Wasser bis zum Hals steht, dass ich keine Luft mehr
bekomme. Solche Angst gibt es im direkten und übertragenen Sinn. Die Flut kann vielerlei
Gestalt haben – eine Flut von Anforderungen, Anfeindungen, Mobbing, Leistungsdruck,
körperliche Leiden, dass das Chaos einbricht in die eigene kleine Welt.
Und da tauchte dann in unserem Kreis die Frage auf, ob der Glaube, ob überhaupt Religion
ein Mittel gegen die Angst sein kann. Es ergab sich ein interessantes Gespräch. Jemand
wandte ein, dass Angst ja auch eine wichtige Schutzfunktion habe, weil sie uns von zu
großen Risiken abhält. Angesichts der von Menschen gemachten Klimaveränderung ist
sogar eine erschreckende Angstlosigkeit zu registrieren – alle machen weiter wie bisher.
Trotzdem: Es gibt auch eine Angst, die quälend sein kann, die lähmt, die uns die Kehle
zuschnürt. Das Wort Angst ist ja verwandt mit dem Wort „Enge“. Wer Angst hat, kann
nicht frei atmen. Manche Menschen haben eine krankhafte Angst, man spricht von
Angststörungen. Nicht wenige leiden unter der zwanghaften Vorstellung, sie könnten etwas
kaputtmachen, einen Unfall verursachen, jemanden verletzen. Sie brauchen in der Regel
psychotherapeutische Hilfe. Die gibt es auch. Wir bieten als Kirchen Beratung dafür an.
Wie aber ist es mit den vielen Ängsten, die darüber hinaus noch übrig bleiben? Mit der
Angst vor der Zukunft, vor dem Alter, vor Krankheit, Schmerzen, Sterben, der Angst vor
Demenz, der Angst um andere, der Angst jemanden zu verlieren, der Angst verletzt oder
beschämt zu werden, der Angst nicht geliebt zu werden, übergangen zu werden, der Angst
vor eigenem Versagen, der undefinierbaren Lebensangst, die uns manchmal – besonders
nachts – ergreift, und und und…?
© Stefan Weller, Predigt zu Psalm 4 am 22.9.2013 in Wädenswil
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Da müssen wir zunächst feststellen: Der Glaube, die Religion kann die Gründe für all
diese Formen der Angst nicht einfach beseitigen. Für einige dieser Ängste gibt es gute
Gründe – unser Leben ist vergänglich, wir sind verletzlich, angreifbar, fragil. Es trifft eben
nicht immer nur die anderen oder die im Fernsehen. Und wenn uns eines Abends oder
eines Morgens die Angst anfällt – viele von uns wissen was ich meine – wenn sie uns des
nachts nicht zur Ruhe kommen lässt oder uns am Tage lähmt; dann kann auch der Glaube
sie nicht einfach in Luft auflösen, dann kann man sie nicht einfach wegbeten – selbst wenn
das von sehr eifrigen Gläubigen gelegentlich behauptet wird. Man kann Angst auf
verschiedene Weise betäuben, aber auf Dauer ist kein Kraut gegen sie gewachsen. Das ist
die Realität.
Trotzdem ist – gerade durch den Glauben – ein befreiender, entlastender Umgang mit der
Angst möglich. Auf die Spur bringt uns dabei der vierte Psalm. Dort wird Gott nicht dafür
gepriesen, dass er etwa die Angst in Luft aufgelöst hätte. Es heißt aber:
„Du hast mir Raum geschaffen, als mir angst war.“
„Du hast mir Raum geschaffen…“ – Man hat festgestellt, dass das hebräische Wort, das hier
mit „Raum schaffen“ übersetzt wird, aus der Sprache der Nomaden stammt, die seit
Jahrtausenden im vorderen Orient mit ihren Herden umherziehen und in Zelten wohnen.
Sie sind darauf angewiesen, dass sie genug Raum haben, wo ihre Tiere weiden und wo sie
Wasser finden können. Vorhin haben wir diesen Abschnitt aus der Geschichte von Isaak
gehört. Isaak ist der von den Erzvätern, über den am wenigsten erzählt wird. Sohn von
Abraham und Vater von Jakob. Bekannt ist er vor allem als Brunnenbauer. Verschüttete
Brunnen grub er wieder auf. Er hatte ein Gespür dafür, an welchen Stellen man neue
Brunnen graben muss. Und wenn es Konflikte um diese Brunnen gab, an die natürlich viele
heranwollten, so löste er sie nicht mit Gewalt, sondern zog weiter und grub an anderer
Stelle nach Wasser. Am Ende jenes Abschnittes hörten wir ihn sagen: „Nun hat uns der
HERR weiten Raum geschaffen, und wir werden fruchtbar im Land.“ (Gen. 26, 22) Und da steht
dasselbe Wort wie in unserem Psalm: „Du hast mir Raum geschaffen, als mir angst war.“
Wir können diese Geschichte als ein Bild für unser Inneres , für unsere Seelen verstehen. In
uns gibt es Brunnen, aus denen quillt Angst. Wir können diesen Brunnen nicht einfach
verschließen. Aber: Wir können uns bewusst machen, dass Gott uns Raum schafft –und
das heißt: Wir müssen nicht ängstlich auf diesen Angstquell starren, sondern wir können
unseren Blick weiten und uns zu den anderen Brunnen wenden, die es auch gibt. Wenn wir
© Stefan Weller, Predigt zu Psalm 4 am 22.9.2013 in Wädenswil
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auf unsere Angst starren, wenn wir sie gar bekämpfen, dann wird sie nur immer größer. Sie
wächst, je wichtiger man sie nimmt. Wenn wir aber – wie Isaak – vom Brunnen des Streits
weiterziehen, wenn wir entdecken, dass es in uns und um uns nicht nur Anlass zur Angst
gibt, sondern noch vieles andere, dann bekommen wir den Hals erst einmal wieder frei und
können aufatmen. Dann finden wir auch die Brunnen, aus denen Hoffnung, Zuversicht,
Freude und Gelassenheit quellen.
Haben wir uns auf diese Weise aus dem Würgegriff der Angst befreit, dann werden wir eine
weitere Entdeckung machen: Unsere Angst kommt nicht einfach von den äußeren Dingen.
Sie entsteht vielmehr in uns. Sehr treffend hat das einst der griechische Philosoph Epiktet
(ca. 50 – 138 n.Chr.) beschrieben. Er sagte: „Nicht die Dinge selbst beunruhigen die Menschen,
sondern die Meinungen und Urteile über die Dinge.“ Wir sagen in der Regel: „Das macht mir
Angst.“ – und meinen vielleicht ein Krankheitsrisiko, einen Weg durchs Dunkel oder auch
bestimmte Personen. In Wahrheit ist es aber unser eigener Reflex, der die Angst auslöst. Ob
die Angst wirklich begründet ist, steht auf einem ganz anderen Blatt. Sie ist irrational. Sie
kommt einfach. Ganz einleuchtend wird mir das bei der sogenannten Flugangst. Flugreisen
sind rein statistisch die sicherste Art, sich fortzubewegen. Das Unfallrisiko mit tödlichem
Ausgang ist beim Autofahren viel größer. Trotzdem haben zahlreiche Menschen mehr
Angst in ein Flugzeug zu steigen als in ein Auto. Ich übrigens auch.
Liebe Gemeinde, Gott nimmt uns die Angst nicht einfach ab. Aber er schafft uns Raum, so
dass wir nicht auf unsere Angst fixiert sein, uns nicht von ihr bestimmen lassen müssen. In
diesem Raum können wir vielmehr selber bestimmen, wovon wir uns leiten lassen. Viktor
Frankl sagt es so: Wir müssen uns von uns selber nicht alles gefallen lassen, erst recht nicht
von unserer Angst. Manche Leute haben das schon gelernt, auch wenn sie viel Angst
haben. – Sie geben ihrer Angst einen Namen und sagen dann gelegentlich zu ihr: „Angsthase
oder Schnürli, geh mal für eine Weile vor die Tür, du nervst, ich kann dich jetzt überhaupt nicht
brauchen!“ – Das hilft wirklich.
Von Nelson Mandela, der 38 Jahre lang auf Robben Island in einer fünf Quadratmeter
großen Zelle eingekerkert war, bevor der der erste schwarze Präsident Südafrikas wurde,
wird berichtet, dass er sich und seinen Mitgefangenen immer wieder ein Gedicht
vorgesprochen hat, das ihm half, seine Ängste und seine Verzweiflung zu überwinden. Es
stammt von William Ernest Henley und trägt den Titel „Invictus/Unbezwungen“, darin
heißt es:
© Stefan Weller, Predigt zu Psalm 4 am 22.9.2013 in Wädenswil
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Ob zornerfüllt, ob tränenvoll,
ob Jenseitsschrecken schon begann:
das Grauen meines Alters soll
mich furchtlos finden, jetzt und dann.
Egal wie schmal das Tor, wie groß,
wie viel Bestrafung ich auch zähl.
Ich selber meistere mein Los,
Ich bin der Käpt‘n meiner Seel'!
„I am the captain of my soul.“ – Wenn Gott einem die Seele weit gemacht hat, dann kann
der Menschen selber entscheiden, wovon er sich bestimmen lässt, aus welchem Brunnen er
schöpfen will. Dem Brunnen der Angst, des Selbstmitleids – oder dem Brunnen der Freude,
der Dankbarkeit oder gelegentlich auch der Trotzmacht des Geistes und der Tapferkeit.
Spielraum gibt es immer – noch in der engsten Zelle und noch im letzten Moment.
Zurück zu Psalm 4: Dort steht noch einiges mehr darüber, was den Betenden zur Angst
hätte veranlassen können – geschändete Ehre, Ungerechtigkeit, Lügen, Armut, auch
eigenes Versagen. In Vers 7 zitiert er Menschen in ähnlicher Situation wie er selber. Die
aber sind immer noch fixiert auf den Brunnen, aus dem ihre Angst quillt. Sie beten zwar
auch, aber das klingt dann so: „Wer lässt uns Gutes schauen? / Entschwunden ist über uns das
Licht deines Angesichts, HERR.“ – fixiert auf das eigene Schicksal, auf Verluste und Ängste
bleiben nur die Klage und das Selbstmitleid.
Der Betende des Psalms aber, der den weiten Raum überblickt, der Kapitän seiner Seele
geblieben ist, der bekennt: „Du hast mir Freude ins Herz gegeben,/mehr als in der Zeit, da es Korn
und Wein gibt in Fülle. / In Frieden will ich mich niederlegen und schlafen, / denn du allein,
HERR, lässt mich sicher wohnen.“ (V.8f)
Hier ist noch einmal sehr schön zu sehen, dass nicht nur die Angst, sondern auch die
Freude nicht unbedingt eines äußeren Anlasses bedarf. Es muss nicht unbedingt Erntezeit
sein, in der Korn und Wein, Essen und Trinken, Gründe zum Feiern reichlich vorhanden
sind. Der Brunnen der Freude kann auch ohne all das in unserer Seele sprudeln. Und an
diesem Brunnen lässt sich sogar friedlich einschlafen – in Frieden. Denn seit Christus die
Welt sogar den Tod überwunden hat gibt es nichts, das wirklich ein Grund wäre, uns den
Schlaf zu rauben. Amen.
© Stefan Weller, Predigt zu Psalm 4 am 22.9.2013 in Wädenswil

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