Paradoxa der naiven Mengenlehre
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Paradoxa der naiven Mengenlehre
Paradoxa der naiven Mengenlehre 1 Paradoxa der naiven Mengenlehre von Ivo Hedtke, Jena Georg Cantor baute um das Jahr 1880 herum seine Mengenlehre (heute als naive Mengenlehre bezeichnet) zur Grundlage der Mathematik aus. Im Jahr 1903 veröffentlichte Bertrand Russell seine berühmte Antinomie1 , die wir später besprechen. Diese Publikation markierte den Beginn der Grundlagenkrise der Mathematik (die bis ca. 1930 andauerte). Wir wollen uns in diesem Artikel mit den Widersprüchen in Cantors naiver Mengenlehre auseinandersetzen und damit auf die Notwendigkeit der Axiomatisierung der Mengenlehre (wie sie z. B. durch Ernst Zermelo und Adolf Fraenkel geschah) hinweisen. 1 Grundlagen Wir greifen – wie auch in den Einstiegsvorlesungen in Mathematik üblich – auf die Mengendefinition von Cantor zurück: Definition. Unter einer „Menge“ verstehen wir jede Zusammenfassung M von bestimmten wohlunterschiedenen Objekten m unserer Anschauung oder unseres Denkens (welche die „Elemente“ von M genannt werden) zu einem Ganzen. Um einige Paradoxa aufzudecken, benötigen wir noch den Satz von Cantor über die Potenzmenge, der hier ohne Beweis aufgeführt wird. Satz (von Cantor). Sei M eine Menge und P(M ) = {X : X ⊆ M } die Potenzmenge von M . Dann gilt card(M ) < card(P(M )). 2 Prominente Paradoxa Allein aus den obigen Grundlagen können wir einige Beispiele für Paradoxa innerhalb der naiven Mengenlehre aufzeigen. 2.1 CANTORsches Paradoxon Das Cantorsche Paradoxon basiert auf Mengen, deren Potenzmenge eine bestimmte (paradoxe) Eigenschaft besitzen. Wir werden es in zwei Fassungen betrachten. 1 ein beweisbarer logischer Widerspruch √ WURZEL 1. 10. 2008 23:52 paradoxa.tex Paradoxa der naiven Mengenlehre 2 CANTORsches Paradoxon, 1. Fassung: Sei V := {x : x = x} die Menge aller Objekte. Wir betrachten P(V ). Nach dem Satz von Cantor gilt: card(V ) < card(P(V )). Nun gilt aber für diese spezielle Menge V , dass P(V ) ⊆ V . Hieraus folgt, dass card(P(V )) ≤ card(V ). Dies ergibt zusammen mit dem Satz von Cantor folgenden Widerspruch: card(V ) < card(P(V )) ≤ card(V ), sodass card(V ) < card(V ). Die zweite Fassung ist analog der ersten, wir betrachten nur eine andere Menge: CANTORsches Paradoxon, 2. Fassung: Sei V = {X : X ist eine Menge} die Menge aller Mengen. Rest: Analog zur ersten Fassung, denn auch hier gilt P(V ) ⊆ V . Allgemein gilt: Jede Inklusion P(M ) ⊆ M für eine Menge M ist ein Widerspruch zum Satz von Cantor. 2.2 RUSSELL–ZERMELOsches Paradoxon Russell ist durch das Studium dieser paradoxen Eigenschaft der Menge V aus dem Cantorschen Paradoxon auf sein berühmtes eigenes Paradoxon gestoßen. Es wurde unabhängig auch von Zermelo entdeckt. Wir werden auch hier mehrere Fassungen studieren und die paradoxe Eigenschaft mehrfach nutzen. RUSSELL–ZERMELOsches Paradoxon, 1. Fassung: Wir definieren R := {X : X ist Menge und X ∈ / X} als die Menge aller Mengen, die sich nicht selbst enthalten. Dann gilt für eine beliebige Menge Y : Y ∈ R ⇔ Y ∈ / Y . Insbesondere gilt dann für Y = R: R ∈ R ⇔ R ∈ / R. Dies ist ein Widerspruch. Der fleißige Barbier (RUSSELL–ZERMELOsches Paradoxon, 2. Fassung): In einem Dorf lebt ein Barbier, der folgendes Schild in sein Fenster gehängt hat: ICH RASIERE ALLE, DIE SICH NICHT SELBST RASIEREN. Die Frage ist nun, darf sich der Barbier selbst rasieren? Laut seiner Aussage muss er sich genau dann rasieren, wenn er sich nicht rasiert. Ein Widerspruch. Außermathematische Beispiele für Objekte, sie sich selbst als 1. 10. 2008 23:52 paradoxa.tex √ WURZEL Paradoxa der naiven Mengenlehre 3 Element enthalten sind: − Die „Menge aller Ideen“, denn sie ist selbst wieder eine Idee. − Ein Katalog, der alle Titel von Büchern listet, denn er listet stets selbst seinen eigenen Titel auf. In der axiomatischen Mengenlehre sind Mengen M mit der Eigenschaft M ∈ M durch das Fundierungsaxiom ausgeschlossen. Bemerkung: Frege versuchte eine Axiomatisierung der Mengenlehre. Bemerkenswert ist, dass die Russellsche Antinomie in Freges System stattfand. Als Reaktion auf den Brief von Russell an Frege, fügte dieser dem sich gerade im Druck befindenden zweiten Band der „Grundlagen der Arithmetik“ eine Bemerkung im Nachwort hinzu, die auf die Antinomie hinwies. Frege sah dadurch sein Lebenswerk als gescheitert an. 2.3 MIRIMANOFFsches Paradoxon Für das Paradoxon von D. Mirimanoff ist einiges an Vorarbeit zu leisten. Wir werden einige Definitionen kennenlernen, bevor wir auf das Mirimanoffsche Paradoxon stoßen, welches wir in zwei Fassungen ansehen wollen. Definition. Sei n ∈ N0 . Eine Menge X heißt n-reflexiv, falls es Mengen Y1 , . . . , Yn gibt, mit X ∈ Y1 ∈ . . . ∈ Yn ∈ X. Insbesondere gilt, eine Menge X ist 0-reflexiv ⇔ X ∈ X. Definition. Eine Menge X heißt fundiert, falls es keine Mengen Xn , n ∈ N0 gibt, mit X 3 X0 3 X1 3 X2 3 . . . Ist eine Menge X 0-reflexiv (es gilt X ∈ X), so ist X nicht fundiert, denn es gilt X 3 X 3 X 3 . . . Allgemeiner ist für n ∈ N0 jede n-reflexive Menge X nicht fundiert. Gilt X 3 X0 3 X1 3 X2 . . ., so ist nicht nur X nicht fundiert, sondern auch jedes Xn . Wir analysieren nun zwei Fassungen des Mirimanoffschen Paradoxons. Man kann auch feststellen, dass der Ausdruck „1. Version“ und „2. Version“ gerechtfertig ist, denn die beiden untersuchten Mengen sind gleich (siehe Quelle [3]). {hedtke} MIRIMANOFFsches Paradoxon, 1. Version: Wir definieren M := {X : X ist fundiert}. Ist M selbst fundiert oder nicht? 1. Annahme: M ist fundiert. Dann gilt M ∈ M . Aber dann ist M nicht fundiert. 2. Also ist M nicht fundiert. Dann existieren Mengen Xn , n ∈ N0 , mit M 3 X0 3 X1 3 X2 3 . . . Man sieht, dass dann auch X0 nicht fundiert ist. Aber wegen M 3 X0 ist X0 fundiert nach der Definition von M . Widerspruch! Für die zweite Version benötigen wir noch eine kleine Vorbemerkung: Definition. Eine Menge X heißt induktiv, falls für alle Y gilt: Ist Y ⊆ X, so ist Y ∈ X. √ WURZEL 1. 10. 2008 23:52 paradoxa.tex Paradoxa der naiven Mengenlehre 4 MIRIMANOFFsches T Paradoxon, 2. Version: Wir definieren U := {X : X ist induktiv}. Dann ist U selbst induktiv. Denn: Ist x ⊆ U , so ist x ⊆ X für jedes induktive X. Dann ist aber x ∈ X für jedes induktive X. Also x ∈ U . Da U induktiv ist, ist U ∈ U . U ist durch seine Definition auch die kleinste induktive Menge, sie ist Teilmenge jeder anderen induktiven Menge. Wir definieren U 0 := U \ {U }. Dann ist U 0 ( U . U 0 ist auch induktiv. Denn: Sei x ⊆ U 0 . Dann ist auch x ⊆ U . Da U induktiv, gilt auch x ∈ U . Es gilt auch x 6= U , da U ∈ / x und U ∈ U . Also ist x ∈ U 0 . Da U 0 induktiv ist, gilt U ⊆ U 0 . Somit gilt: U 0 ( U ⊆ U 0 , also U 0 ( U 0 . Widerspruch! 3 Semantische Paradoxa Semantischen Paradoxa können der Mathematik nicht wirklich gefährlich werden, denn setzt man diese semantischen Paradoxa mathematisch um, so führen sie nicht zu Widersprüchen, sondern zu fundamentalen Erkenntnissen. Der erste Gödelsche Unvollständigkeitssatz gipfelt in der Konstruktion einer formalen Aussage, die inhaltlich besagt: „Ich bin nicht beweisbar.“ 3.1 Paradoxon von EPIMENIDES Beim Paradoxon von Epimenides geht es um folgenden Satz: Paradoxon von EPIMENIDES: „Diese Aussage ist falsch.“ Ist er wahr, so ist er falsch und ist er falsch, so ist er wahr. Ein Widerspruch. Durch dieses Prinzip lassen sich noch weitere Paradoxa entwickeln, so z. B. das folgende Tonband. paradoxical meditation 120: Sprechen Sie auf ein leeres Tonband mit zwei Stunden Laufzeit genau einen Satz bei Minute 60, und zwar diesen: „Alle Sätze auf diesem Tonband sind falsch.“ Spulen Sie das Band zurück, und hören Sie es sich vollständig an. Haben Sie einen wahren Satz auf dem Tonband gehört oder nicht? Nimmt man an, dieser eine Satz, den man gehört hat ist wahr, so sagt er aus, dass alle Sätze falsch sind, also ist er selbst falsch. Setzen wir voraus, dass der Satz falsch ist, so ist er inhaltlich richtig und darum nicht falsch sondern richtig. Ein Widerspruch. 3.2 Paradoxon von J. RICHARD Das Paradoxon von Richard verwendet für die Bildung des Widerspruchs das Cantorsche Diagonalisierungsverfahren. 1. 10. 2008 23:52 paradoxa.tex √ WURZEL Paradoxa der naiven Mengenlehre 5 Paradoxon von J. RICHARD: Sei S = (Sn )n∈N0 die abzählbar unendliche Liste aller Sätze Sn , n ∈ N0 der deutschen Sprache, die eine reelle Zahl definieren. Diese Definitionen können lexikalisch geordnet und die definierten Dezimalzahlen nummeriert und in Form einer Liste S0 zusammengefasst werden. In dieser Liste S0 wird die n-te Ziffer p der n-ten Dezimalzahl durch die Ziffer p + 1 ersetzt, wenn p nicht gleich 8 oder 9 ist; andernfalls wird p durch die Ziffer 1 ersetzt. Hintereinander geschrieben bilden die ersetzten Ziffern eine Dezimalzahl. Diese Dezimalzahl ist in der ursprünglichen Liste S0 nicht enthalten, weil sie sich von jedem Listeneintrag an mindestens einer Stelle unterscheidet, nämlich von der n-ten Dezimalzahl an der n-ten Stelle. Sie kann aber durch einen Satz S der deutschen Sprache definiert werden (der kursive Satz). Es gilt dann aber, dass S ∈ S und somit die durch S definierte Zahl in S0 enthalten ist. Ein Widerspruch! 3.3 Paradoxon von G. BERRY Hinweis: In Quelle[1] ist das Paradoxon von Berry falsch wiedergegeben, {deiser} es darf unter den im folgenden beschriebenen Umständen nämlich kein Satz der deutschen Sprache sein.2 Paradoxon von G. G. BERRY: Sei A ⊆ N die Mengen der natürlichen Zahlen, die durch einen Satz der englischen Sprache definiert werden können, der höchstens 10 Worte lang ist. A ist endlich, da es nur endlich viele derartige Sätze gibt. Wir definieren: n := min(N \ A). Dann gilt aber: n = „The smallest positive integer not definable in under eleven words.“ Dann ist n aber durch einen Satz der englischen Sprache mit 10 Wörtern definierbar, also gilt n ∈ A. Ein Widerspruch! Schlusssatz Das Studium der Paradoxa der naiven Mengenlehre zeigt uns nicht nur die Notwendigkeit einer Axiomatisierung, es schärft auch unseren Sinn für logisches Denken und ist ein spannender Zeitvertreib. Literatur {deiser} [1] O. Deiser: Einführung in die Mengenlehre. 2. Aufl., Springer-Verlag, 2004. {frege} [2] G. Frege: Grundlagen der Arithmetik. Reclam-Verlag, 2001. {hedtke} [3] I. Hedtke: Warum axiomatische Mengenlehre?, 2007. http://users.minet.uni-jena.de/~hedtke 2 Denn in der deutschen Sprache ist ein Zahlwort wirklich ein Wort, in der englischen Sprache besteht es aber bis auf wenige Ausnahmen aus mehreren Wörtern. √ WURZEL 1. 10. 2008 23:52 paradoxa.tex