Kalenderkunst - Argelander

Transcrição

Kalenderkunst - Argelander
Kalenderkunst
Wilhelm Seggewiß
0 Vorwort ................................................................................................................................. 10
1 Einführung ........................................................................................................................... 11
2 Die astronomischen und physikalischen Grundlagen des Kalenders .....................
2.1 Der Tag ........................................................................................................................
2.2 Das Jahr .......................................................................................................................
2.3 Der Monat ...................................................................................................................
2.4 Die Sekunde ...............................................................................................................
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3 Die konventionellen Grundlagen des Kalenders ........................................................ 23
3.1 Die Woche ................................................................................................................... 23
3.2 Der Kalendermonat ................................................................................................... 25
4 Kalender ................................................................................................................................
4.1 Der ägyptische Kalender ..........................................................................................
4.2 Der islamische Kalender – ein Mondkalender ....................................................
4.3 Der jüdische Kalender – ein Lunisolarkalender .................................................
4.4 Der Julianische Kalender – ein Sonnenkalender ................................................
4.5 Der Gregorianische Kalender .................................................................................
4.6 Das Osterfest ..............................................................................................................
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5 Internet .................................................................................................................................. 40
6 Literatur ................................................................................................................................ 41
7 Anhang .................................................................................................................................. 43
8 Glossar .................................................................................................................................. 71
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Kalenderkunst
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Wilhelm Seggewiß
Vorwort
Es gibt viele Schriften über Kalender, über ihre Entstehung und ihre Geschichte. Vieles
läßt sich heute auch aus dem Internet entnehmen. Warum eine neue Einführung in den
Kalender?
Zum einen darf in einem Projekt, das den schillernden Begriff „ZEIT“ aus allen Perspektiven kultureller Standpunkte beleuchten möchte, eine Darstellung des Kalenderwesens nicht fehlen. Zum anderen möchte der Autor ein dreifaches Anliegen verwirklichen:
1. Es soll eine sehr straffe Darstellung des Kalenderwesens für den schnellen Überblick
gegeben werden.
2. Zugleich soll die zu Grunde liegende Astronomie für jeden, der sich näher mit ihr
einlassen möchte, verständlich und auch (fast) vollständig erläutert werden.
3. Außerdem soll neben der Technik des Kalenderherstellens ein wenig auch der faszinierende kulturelle Hintergrund des Kalendermachens der Völker über Jahrhunderte
eingebunden werden.
Technische Hinweise
– Jedes Kapitel und Unterkapitel beginnt
mit einer Zusammenfassung. Um einen
raschen Überblick zu erhalten, genügt
es, diese Kurzfassungen zu lesen.
– Kürzere Erklärungen (zumeist astronomischer Begriffe) finden sich im Glossar.
Im fortlaufenden Text wird auf eine Erläuterung durch Voranstellen des Zeichens → verwiesen (z. B. → Frühlingspunkt).
– Größere weiterführende, aber nicht unbedingt notwendige Abschnitte, die
den Lauf der Darstellung zu sehr unterbrechen würden, werden in einen Anhang gestellt (z. B. Anhang A: Die Zählung, der Beginn und die Einteilung des
Tages).
– Am Ende des Textteils ist eine Liste geeigneter Internetadressen und ein Literaturverzeichnis angefügt.
Apokalypse, Johannes verschlingt das Buch.
Albrecht Dürer, 1497/98
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Wilhelm Seggewiß
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Kalenderkunst
Einführung
Zusammenfassung: Der Kalender dient zur Einteilung der Zeit. Seine grundlegenden Elemente
basieren entweder auf Beobachtungen der Natur (Jahr, Monat, Tag, Sekunde) oder auf
Übereinkunft (Woche und Kalendermonat). Die Schwierigkeit bei der Erstellung eines Kalenders entsteht dadurch, daß Jahr und Monat keine ganzzahligen Vielfache des Tages sind
und zudem das Jahr kein ganzzahliges Vielfaches des Monats ist.
Unterschiedliche Kulturkreise haben das Problem des Kalendermachens in ganz unterschiedlicher und stets in höchst fesselnder Weise gelöst, so daß heute eine Vielzahl von
Kalendern nebeneinander existiert, die jedoch allesamt der Globalisierung des Gregorianischen Kalenders zum Opfer zu fallen drohen.
Ein Kalender ist die Einrichtung (das Instrumentarium, das System), das geschaffen
wurde, den Lauf der Zeit in einer Gemeinschaft von Menschen einzuteilen. Um ein
Zeitsystem einzurichten, muß man „im Prinzip“ zwei Größen definieren, nämlich
(ad I)
(I)
eine Einheit der Zeitdauer, wie z. B. die Sekunde oder den Tag, und
(II)
einen Nullpunkt der Zählung, auch Epoche 1 oder Ära 2 genannt.
Die Zeiteinheit eines Kalenders beruht auf periodischen (zyklischen, sich wiederholenden) Vorgängen, die man entweder
(1)
aus der Natur ablesen kann oder
(2)
über die man eine Übereinkunft (Konvention) treffen muß.
(ad 1) Periodische Vorgänge der Natur sind: Jahr, Monat, Tag, Sekunde (entnommen astronomischen Beobachtungen) und wiederum die Sekunde (aus der Atomphysik),
(ad 2) Übereinkünfte in der Gesellschaft sind z. B. Woche, Dekade, wiederum der
Monat als Kalendermonat und die Termine der wiederkehrenden religiösen (sakralen) und weltlichen (profanen, bürgerlichen) Feste, zusammengefaßt im Festkalender.
N. B.: Die Sekunde erscheint zweimal in der vorstehenden Liste, da sie zunächst
aus der Erdrotation abgeleitet wurde, seit 1967 aber atomphysikalisch definiert
wird. Ebenso ist der Monat zweimal aufgeführt, denn zum einen ist er im jüdischen und islamischen Kalender der die Mondphasen wiederspiegelnde Monat,
während er z. B. im ägyptischen, römischen und Gregorianischen Kalender nur
mehr eine Übereinkunft ist, losgelöst von den wechselnden Erscheinungen des
Himmelsobjekts Mond.
(ad II) Die Ära eines Kalenders beruht zumeist auf bedeutenden historischen Ereignissen der Gemeinschaft, die sich den Kalender schafft, wie z. B. die Erschaffung der
Welt, die Gründung der Stadt Rom, der Regierungsantritt eines Herrschers, die
Geburt des Jesus von Nazareth (siehe Kapitel 2.2).
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εποχη (epoche) (griech.): Haltepunkt
2
aera (lat.): Zeitalter
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Die grundsätzliche Schwierigkeit bei der Aufstellung eines Kalenders beruht auf zwei
Umständen:
(1)
Die großen grundlegenden Einheiten der Zeiteinteilung, Jahr und Monat, sind
keine ganzzahligen Vielfache der kleineren Einheiten, Woche und Tag. Beispielsweise enthält
– das Jahr 12,37 Monate oder 52,18 Wochen oder 365,24 Tage,
– der Monat enthält 4,22 Wochen oder 29,53 Tage.
(2)
Im 20. Jahrhundert wurde offenbar, daß die scheinbar so fest gegründeten Zeiteinheiten Jahr, Monat und Tag keineswegs konstant sind, sondern periodischen, säkularen und irregulären Schwankungen unterliegen. Es war dann aber möglich,
die Sekunde durch die Schwingungen atomarer Strahlung neu zu definieren – mit
der Hoffnung auf räumlich wie zeitlich universeller Konstanz – und durch tragbare Atomuhren jedem „in die Hand“ zugeben.
Unterschiedliche Kulturen haben gänzlich unterschiedliche Lösungen des Kalenderproblems erarbeitet, aber sich auch gegenseitig positiv beeinflußt. Innerhalb geschlossener Kulturräume gab es stets Fortentwicklungen und Verbesserungen des Kalenders.
Solche Entwicklungen sind begründet
(1)
in der Forderung nach höherer Genauigkeit des Kalenders durch fortschreitende
Differenzierung
– des Alltagslebens (Gewerbe, Handel),
– des religiösen Lebens (Zeit der Gottesdienste, Stundengebete) und
(2)
durch den Fortschritt in der Kenntnis der astronomischen Grundlagen zusammen
mit dem Wachsen der mathematischen Fähigkeiten.
Wissenschaft, Religion und Ökonomie gehen stets ein enges Bündnis ein.
So sind denn im Laufe der Menschheitsgeschichte viele Kalender entstanden – chinesischer, indischer, jüdischer, islamischer, ägyptischer, römischer, Gregorianischer Kalender etc. etc. Stets wandten die Kalendermacher viel Schöpferkraft und Phantasie auf, so
daß man durchaus berechtigt ist, von der Kalenderkunst zu sprechen. Es ist immer auch
höchst lohnenswert, ja geradezu spannend, den Gedanken und Techniken dieser Künstler nachzuspüren.
Im Zeitalter des Zusammenwachsens der Welt 3 in vielen Bereichen („Globalisierung“)
ist sicherlich ein einheitlichen Kalender zweckmäßig. Die Dominanz der „westlichen
Welt“ (durch Industrieproduktion, Handel, Verkehr, Touristik, Waffenübermacht) hat
den im Westen gebräuchlichen Gregorianischen Kalender „globalisiert“. Alle anderen
Kalender geraten in Gefahr, nur noch musealen Wert zu besitzen. Als kleine Rechtfertigung sollten wir aber doch anfügen, daß der Gregorianische Kalender sich durch eine
allgemein verständliche Einfachheit auszeichnet und daher kein Instrument von
Herrschaftsausübung werden kann.
3
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Man beachte, daß wir ganz selbstverständlich „Welt” sagen, wo wir nur „Erde” meinen. Unsere Sprache verrät, daß wir uns immer noch im Zentrum der Welt (= Weltall = Universum = Kosmos) fühlen!
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Kalenderkunst
Das Wort Kalender ist von lat. Kalendae (femin. plural; einziges lat. Wort mit K!), der
erste Tag des Monats, entlehnt. Dies wiederum ist wahrscheinlich abgeleitet von lat.
calare, ausrufen, den ersten Tag des Monats ausrufen, wie es im vorcaesarischen Rom
durch den obersten der Priesterschaft, den Pontifex Maximus, geschah.
Das Erstellen eines Kalenders, die „Kalenderrechnung“, ist in unserem Kulturkreis Teil
der Wissenschaft, die man „Chronologie“, also Lehre von der Zeitmessung, -einteilung,
-rechnung, nennt. Im Mittelalter gab es zur Zeitbestimmung innerhalb des Quadriviums der Artistenfakultät den Zweig „Computus“ (die Komputistik), dessen Hauptaufgabe darin bestand, den Termin des Osterfestes zu berechnen. Die Wissenschaftler
nannten sich „Computisten“ (Komputisten; siehe hierzu [Borst 1999]).
Titelblatt der Bulle „Inter Gravissimas” von Gregor XIII. 1582 zur Einführung des Gregorianischen Kalenders
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Die astronomischen und physikalischen Grundlagen des Kalenders
2.1 Der Tag
Zusammenfassung: Der Tag ist die Rotationsdauer der Erde um ihre Achse in Bezug auf die
Sonne. Der Tag wird in 24 Stunden zu 60 Minuten und die Minute in 60 Sekunden eingeteilt.
Der Tag ist sicherlich die auffälligste Periode in der Natur. Er durchläuft den Wechsel
des Lichtes von hell nach dunkel und wieder nach hell. Er erstreckt sich von der Morgendämmerung und dem Sonnenaufgang, dem Sonnenhöchststand zu Mittag über Sonnenuntergang mit Abenddämmerung und Mitternacht wieder zum Morgen hin.
Der (Sonnen-) Tag ist die Zeitdauer der Umdrehung (Rotation)
der Erde um ihre Achse in Bezug auf die Sonne.
Dieser Tag wird auch Sonnentag genannt. Dagegen ist der → Sterntag die Rotationsdauer der Erde in Bezug auf den → Frühlingspunkt. Der Sterntag spielt für das
Kalendermachen keine Rolle.
Die Einteilung des Tages folgt einer alten Tradition, die dem Hexagesimalsystem der
Babylonier verpflichtet ist:
1 Tag = 24 Stunden = 1.440 Minuten = 86.400 Sekunden
1 Stunde =
60 Minuten = 3.600 Sekunden
1 Minute =
60 Sekunden
In diesem Kasten stecken drei Definitionen, nämlich
(1)
die Definition der Stunde als 1/24 des Tages,
(2)
der Minute als 1/60 der Stunde und
(3)
der Sekunde als 1/60 der Minute oder auch als 1/86400 des Tages.
Aber Achtung: Die „Definitionsrichtung“ änderte sich ins Gegenteil im Jahre 1967, als
damals die Sekunde als grundlegende Zeiteinheit festgelegt wurde, und zwar durch
atomphysikalische Vorgänge. Seitdem sind die größeren Zeiteinheiten als Vielfache der
Sekunde zu betrachten. So ist z. B. der Tag jetzt das 86.400-fache der „Atomsekunde“.
Es muß aber mit allem Nachdruck festgehalten werden, daß dieser „Atomtag“ nicht
mehr der von uns gelebte Sonnentag ist (für Details siehe Kapitel 2.4).
Als Kurzzeichen werden (vor allem in Formeln und meist hochgestellt) benutzt:
d = Tag (von lat. dies),
h = Stunde (von lat. hora),
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m = Minute (von lat. minutus, die Kleinigkeit),
s = Sekunde (von lat. secunda, die Zweite).
Will man die Länge des Tages, des Sonnentages, durch Beobachtungen der Sonne bestimmen und aus ihrem Stand die Zeit ableiten („Sonnenuhr“), muß man die Zeitdauer
zwischen aufeinanderfolgenden Durchgängen der Sonne durch die Mittagslinie, den →
Meridian, fortlaufend beobachten. Man sieht sich dann mit der überraschenden Feststellung konfrontiert, daß dieser sogenannte „wahre Sonnentag“, verglichen mit einem
gleichlaufenden Zeitmaß, wie z. B. von einer guten Uhr gegeben, unterschiedliche Längen hat und bis zu ± 15 Minuten von einem (über das Jahr gemittelten) „mittleren
Sonnentag“ abweichen kann. Der Unterschied zwischen dem wahren und mittleren
Sonnentag wird als Zeitgleichung bezeichnet; siehe dazu → Sonnentag.
Außer dem Tag von 24 Stunden bezeichnen wir im Deutschen auch die helle, lichte
Periode als Tag im engeren Sinne, den dunklen Abschnitt als Nacht. Es ist bemerkenswert, daß die deutsche Sprache nur dieses einziges Wort „Tag“ besitzt, das sowohl den
hellen Tag als auch die Einheit von Tag-und-Nacht bezeichnet. Gleiches gilt auch für
das Englische („the day“) oder für das Französische („le jour“). Anders ist es in den
nordischen Sprachen. Im Dänischen etwa bezeichnet das Wort „dag“ nur den hellen
Tag; die Einheit Tag-und-Nacht wird mit dem Wort „døgn“ bezeichnet (schwedisch
„dag“ und „dygn“).
Die Tage wurden früher in ganz unterschiedlicher Weise gezählt, während sie
heute in Woche, Monat und Jahr schlicht
durchgezählt werden, siehe Anhang A.1.
Der Beginn des Tages ist im globalisierten
Gregorianischen Kalender auf Mitternacht
festgesetzt. In anderen Jahrhunderten und
anderen Kulturkreisen trifft man auf andere Festlegungen, siehe dazu Anhang
A.2.
Im Altertum und Mittelalter verwendete
man statt der Stunden gleicher Länge die
sogenannten Temporalstunden, indem
man den hellen Tag, der ja eine jahreszeitlich wechselnde Dauer hat, in jeweils 12
Stunden einteilte, siehe dazu Anhang A.3.
Astronomen und Astrologen der Antike
Mitteldeutschland, 14. Jahrhundert
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2.2 Das Jahr
Zusammenfassung; Das Jahr ist die Dauer des Umlaufs der Erde um die Sonne. Genauer: Das
tropische Jahr ist der Zeitraum zwischen zwei Durchgängen der Sonne durch den →
Frühlingspunkt. Das Jahr umfaßt 365,2422 Tage.
Die große Zeiteinheit der meisten Kulturen der Menschheit ist das Jahr. Im täglichen
Leben offenbart sich dieses Jahr durch den Wechsel der Jahreszeiten Frühling-SommerHerbst-Winter – verbunden mit den Wachstumsperioden Aussaat-Blühen-ErnteWinterruhe und mit dem periodischen Großwetterwechsel.
Astronomisch gesehen, handelt es sich bei dem so empfundenen Jahr um die Zeit des
scheinbaren (!) Laufs der Sonne von →Frühlingspunkt zu Frühlingspunkt an der
→Himmelssphäre, um das tropische Jahr 4. Es basiert auf dem Umlauf (der Revolution)
der Erde um die Sonne, wird aber mittels des scheinbaren Sonnenlaufs an der Sphäre
gemessen. Die exakte astronomische Definition lautet:
Das tropische Jahr ist das Zeitintervall zwischen zwei Durchgängen der → mittleren Sonne durch den → Frühlingspunkt.
1 tropisches Jahr = 365,2422 Tage = 365d 5h 48m 46s
Im folgenden ist immer dieses tropische Jahr gemeint, das „Sonnenjahr“ oder auch
„Jahreszeitenjahr“. Es sind aber, abhängig vom Bezugspunkt, andere astronomische
Definitionen des Jahres möglich (→ Jahr). In Gleichungen wird häufig als Abkürzung
der Buchstabe „a“ benutzt, von lat. annus, das Jahr.
Der Wechsel der Jahreszeiten ist nicht überall auf der Erde so ausgeprägt wie in den
mittleren und nördlichen Breiten Europas. In manchen Urwaldregionen der Tropen (!)
spürt man die Jahreszeiten kaum; dort gibt es zwei, manchmal sogar drei Wachstumsperioden innerhalb des Jahres. In Wüstengebieten, wie auf der arabischen Halbinsel,
treten die Jahreszeiten ebenfalls kaum in Erscheinung – und das hat Folgen für den
Kalender des Islam, dessen Jahr nicht auf dem tropischen Jahr beruht, sondern mit
wechselweise 354 und 355 Tagen deutlich vom tropischen Jahr abweicht (siehe Kapitel
4.2 Der islamischer Kalender).
Die fortlaufende Jahreszählung orientiert sich stets an einem herausragenden Ereignis –
und die Gemeinschaft lebt dann in der Ära, dem Zeitalter, dieses Ereignisses (siehe
Tabelle 1). Die Griechen zählten nach „Olympiaden“ und die Römer „von der Gründung der Stadt“ (lat. ab urbe condita, a.u.c.). Das Abendland lebt in der „christlichen Ära“
und stets in einem „Jahr des Herren“ (Anno Domini, A.D.). Die Ära wird auch
„Inkarnationsära“ genannt – nach lat. incarnatio, Fleischwerdung [„unseres Herrn Jesus
Christus“]. Unser Kulturkreis zählt folglich die Jahre „nach Christi Geburt“, kurz „nach
Christus“ (n. Chr.).
4
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Das Wort „tropisch” leitet sich von griech. τροποζ (trópos), Wendung, (Sonnen-) Wende ab.
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Diese Zählung wurde im Jahre 525 durch den Mönch Dionysius Exiguus eingeführt und
erst im späten Mittelalter um die Zählung „vor Christi Geburt“ („vor Christus“, v. Chr.)
ergänzt (siehe Anhang D) 5. Diese Ära kennt kein Jahr „0“, da sie von 1 v. Chr. unmittelbar nach 1 n. Chr. wechselt. Daraus ergibt sich bei Additionen über die Zeitenwende
hinaus eine kleines Rechenproblem. 6 Die Astronomie führt daher ein Jahr 0 ein, nämlich das Jahr 1 v. Chr. = 0, und zählt die Jahre vor und nach diesem Jahr 0 entweder
negativ oder positiv, also
Jahr 1 v. Chr. = 0, Jahr 2 v. Chr. = –1, … , Jahr 44 v. Chr. = – 43 etc.;
Jahr 1 n. Chr. = +1, Jahr 2 n. Chr. = +2, … , Jahr 44 n. Chr. = + 44 etc.
Im Altertum war die Zählung nach der Machtergreifung des Diadochen Seleukos I. in
Babylon (312 v. Chr.), die Seleukidenära, recht gebräuchlich. Das orthodoxe Judentum
zählt noch heute die Jahre seit „Erschaffung der Welt“ im Rahmen der Welterschaffungsära, kurz Weltära (Aera Mundi). Aufgrund von Geschlechterlisten im Alten Testament (z. B. Genesis 5 und 11), die bis hin zu Terach, dem Vater Abrahams, gehen und der
jüdischen Chronologie seit Abraham wird die Erschaffung der Welt auf das Jahr 3761 v.
Chr. gelegt. 7 Auch der Islam weist die christliche Ära natürlich streng zurück. Er lebt in
der Islamischen Ära und rechnet weiterhin die Jahre nach der Hidjra (Hedschra), der
Flucht Mohammeds im Jahre 622 n. Chr. von Mekka nach Medina. 8
In der letzten Spalte der Tabelle 1 sind alle Ären auf das Jahr 2000 n. Chr. der Inkarnationsära normiert. Man beachte, daß die Differenzen zur Römischen Ära und zur Weltund Seleukidenära nur 1999 Jahre betragen – als Folge des Fehlens eines Jahres 0 in der
Inkarnationsära. Die Summe mit der Islamischen Ära aber ergibt (622 + 1420 =) 2042,
also einen Wert größer als 2000 – als Folge des kürzeren islamischen Jahres (siehe
Kapitel 4.2).
Der Anfang Jahres wird im abendländischen Kulturkreis, im Islam und in der Astronomie sehr unterschiedlich festgelegt; siehe dazu Anhang B.1.
5
Um die Nennung des Namens „Christus” zu vermeiden, war es in der ehemaligen DDR üblich von
„v. u. Z.” bzw. „n. u. Z.” (vor/nach unserer Zeitrechnung) zu sprechen.
6
So sind beispielsweise vom 1. Januar 5 v. Chr. bis zum 1. Januar 5 n. Chr. nicht etwa 5 + 5 = 10 Jahre
sondern nur 9 Jahre verstrichen.
7
Da allerdings die unterschiedlichen Texte des Alten Testaments, Septuaginta und Vulgata, unterschiedliche Altersangaben liefern und auch über die spätere jüdische Chronologie keine Einigkeit besteht,
findet man Zahlen zwischen 6984 und 3483 für die Jahre seit Erschaffung der Welt bis auf Christus
[Meyers 1905, Ära]. Der Beginn des Jahres 5765 A. M. (Aera Mundi) geschieht am 15. September 2004
n. Chr. (bei Sonnenuntergang am Vorabend).
8
Der genaue Anfang der islamischen Zeitrechnung ist der erste Tag desjenigen arabisch-präislamischen
Mondjahres, in dem die Hidjra stattfand, der 16. Juli 622 n. Chr. [Khoury et al. 1991, S. 361]. Der Beginn
des Jahres 1425 geschieht am 21. Februar 2004 n. Chr. (jeweils bei Sonnenuntergang am Vorabend).
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Vergleich bekannter Ären
Name
Ereignis
Beginn
n. Chr.
Römische Ära
Ab urbe condita
753 v. Chr.
2752
Inkarnationsära
Geburt Christi
1 A. D.
2000
Weltära
Erschaffung der Welt
3761 v. Chr.
5760
Seleukidenära
Herrschaft in Babylon
312 v. Chr.
2311
Islamische Ära
Hedschra
622 n. Chr.
1420
Tabelle 1: Vergleich bekannter Ären
Gott als Architekt des Kosmos
Aus: Bible Moralisée, Paris, 2. Viertel 13. Jahrhundert
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2.3 Der Monat
Zusammenfassung. In der Kalenderkunst des Islams und des Judentums ist der Monat die
Zeitdauer zwischen zwei aufeinanderfolgenden Neumonden. Dieser sogenannte synodische
Monat beträgt etwas mehr als 29 1/2 Tage, nämlich 29,5306 Tage.
Die dritte aus der Natur entnommene Zeiteinheit ist der Monat. Auffällig für den Menschen war stets der Licht- und Gestaltwechsel des Mondes von Neumond, zunehmend
über das erste Viertel zum Vollmond und dann wieder abnehmend über das letzte
Viertel zurück zum Neumond. Man nennt diesen Ablauf der Mondphasen eine
„Lunation“ (lat. luna, der Mond) und die Zeiteinheit den synodischen Monat 9. Er basiert
auf dem Umlauf des Mondes um die Erde relativ zur Sonne und auf der wechselnde
Sichtbarkeit der von der Sonne beleuchteten Mondhemisphäre von der Erde aus.
Der synodische Monat ist das Zeitintervall von Neumond zu
Neumond.
1 synodischer Monat = 29,5306 Tage = 29d 12h 44m 2,8s
Eine andere Formulierung dieser Definition lautet: Der synodische Monat ist das Zeitintervall zwischen zwei Konjunktionen des Mondes mit der Sonne. Hier bedeutet Konjunktion, daß, bezogen auf die → Ekliptik, Mond und Sonne am Himmel in gleicher
Richtung stehen. Je nach Bezugspunkt, von dem der Mondumlauf gerechnet wird, sind
noch andere astronomische Definitionen des Monats möglich (→ Monat), die aber für
den Kalendermacher ohne Bedeutung sind. Die Dauer des synodischen Monats von
29,5306 Tagen ist ein Mittelwert; der tatsächliche Wert kann wegen der komplizierten
Eigenschaften von Erd- und Mondbahn erheblich schwanken, und zwar bis zu ± 7
Stunden. Möchte man den synodischen Monat durch einen Kalendermonat, der natürlich nur eine ganze Anzahl von Tagen haben kann, annähern, müßte man zwischen
Monatsdauern von 29 und 30 Tagen wechseln – mit im Mittel 29,5 Tagen –, gelegentlich
aber einen 30-Tage-Monat mehr einfügen.
Die erstmals sichtbare Sichel des „jungen“ Mondes am Abendhimmel nach Neumond
wird als Neulicht bezeichnet. Es tritt ungefähr zwei Tage nach Neumond ein. Man
bezeichnete diese Phase im Mittelalter als „Mondalter 1 Tag“ oder Luna I. Bei Vollmond
haben wir dann das Mondalter 14 (Luna XIV) und bei Neumond Mondalter 29 oder 30.
Heute bestimmt man das Mondalter „streng“ ab dem genauen Zeitpunkt des Neumonds, der gleich dem Mondalter 0,00 Tage gesetzt wird.
9
griech. συνοδοζ (synodos), Neumond. Vom Wortsinn her lassen sich Mond und Monat auf das indoeuropäische Wort für „messen” zurückführen.
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In unserem Klima mit ständig bedecktem Himmel ist die Lunation, i. e. der Ablauf der
Mondphasen, nur sehr schlecht zu beobachten. Und so ist es kein Wunder, daß der
Monat unseres Kalenders sich überhaupt nicht mehr um die Mondwechsel schert. Hinzu kommt die große kombinatorische Schwierigkeit, Jahr, Tag und auch noch den Monat zu einem Kalender zu vereinen. Schon die Ägypter und Römer ließen die Lunationen als Mittel der Zeitmessung außer acht. Wie bei uns heute war schon dort der Monat
vom Mondwechsel völlig abgekoppelt; siehe daher Kapitel 3.2 Der Kalendermonat.
Anders ist das im islamischen und insbesondere im jüdischen Kalender, der durch ein
geschicktes Schaltsystem den synodischen Monat schon über Jahrhunderte bewahrt
(siehe Kapitel 4.2 und 4.3).
Ausschnitt aus einem Kalender mit den Monatsbildern von Januar und Februar
Johannes von Gmunden, 2. Hälfte 15. Jahrhundert
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2.4 Die Sekunde
Zusammenfassung: Die Sekunde wird seit 1967 durch einen atomphysikalischen Vorgang definiert als das ca. 9 Milliarden-fache der Periodendauer der Strahlung des Cäsiums aus dem
Grundzustand.
Seit 1967 wird die Zeiteinheit im Système International (SI) der physikalischen Einheiten durch die Zeitdauer von Schwingungen der Strahlung des Cäsiumatoms (Zäsiumatoms) definiert, und durch Addieren dieser Sekunden entsteht die Internationale
Atomzeit TAI (Temps Atomique International). Es gilt für diese SI-Sekunde (siehe Anhang H.3):
Die Sekunde (SI-Sekunde) ist das 9.192.631.770–fache der
Periodendauer der beim Übergang zwischen den beiden Hyperfeinstrukturniveaus des Grundzustandes von Atomen des
Nukleids 133Cäsium entsprechenden Strahlung.
Diese Zeitdefinition war ein Bruch mit einer Jahrtausende alten Tradition, nämlich Zeit
durch einen astronomischen Vorgang zu definieren. Wie erinnerlich (siehe Kapitel 2.1)
war die Sekunde ursprünglich definiert als 1/86.400 des mittleren → Sonnentages, also
des über das Jahr gemittelten Tages. Die aufaddierten Sekunden bildeten zusammen
mit dem Nullmeridian als Ausgangspunkt der Zählung für die Tage die → Weltzeit oder
Universal Time (UT).
Schon zu Ende des 19. Jahrhunderts stelle es sich heraus, daß die Dauer des Tages, also
die Rotationsdauer der Erde um ihre Achse relativ zur Sonne, keineswegs konstant ist
(siehe Anhang H.1). Die Erde ist demnach keine gute Uhr. Versuchsweise wurde im
Jahre 1960 die Ephemeridensekunde eingeführt als der 31.556.925,974.7te Teil des tropischen Jahres für 1900, Januar 0, 12 Uhr. 10 (N. B.: ≈ 32 Millionen ist die Zahl der Sekunden pro Jahr.) Damit war zwar eine konstante Sekunde geschaffen, aber sie ist schwierig zu reproduzieren und löst auch das Problem der variablen Erdrotation und damit
des Auseinanderlaufens von Uhrzeit und Tag-Nacht-Rhythmus nicht. Das leistet auch
die Atomzeit nicht! Nur ist die Atomsekunde wunderbar genau zu reproduzieren. Die
Zahl der Cäsium-Schwingungen wurde übrigens in der Weise gewählt, daß die
Atomsekunde mit der Ephemeridensekunde im Rahmen der Meßgenauigkeit übereinstimmte.
10
Nun ja, da das Jahr sich kontinuierlich ändert, muß man deutlich machen, für welchen genauen Zeitpunkt man die Jahreslänge nehmen will – im vorliegenden Fall für den Zeitpunkt des Jahreswechsels
1899/1900, an dem die Sonne die mittlere Länge von 279°41’48,04” hatte. Diesen Zeitpunkt hat man
als Ausgangspunkt einer neuen Zeit, der Ephemeridenzeit, genommen und als 0. Januar 1900 (= 31.
Dezember 1899), 12 Uhr gesetzt.
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„Zur Zeit“ richten wir unsere Uhren nach der Koordinierten Weltzeit UTC (Universal
Time Coordinated), die im Grunde eine Atomzeit ist. Wenn jedoch aufgrund astronomischer Beobachtungen deutlich wird, daß die Atomuhr der „Erduhr“ eine Sekunde voroder nachläuft, wird diese Sekunde der UTC weggenommen oder hinzugefügt. Das
geschieht jeweils zum Jahresende, am 31. Dezember um 24 Uhr, wenn nötig auch zur
Jahresmitte. Seit 1972 mußten 32 Schaltsekunden hinzugefügt werden, was i. W. darauf
zurückzuführen ist, daß man die SI-Sekunde um ein paar Schwingungen zu kurz gemacht hat.
Für weitere Details siehe den Anhang H.3, [Internet (5)] und den Aufsatz von Keller
[2002].
Wasseruhr aus Alabaster
Ägypten, um 1400 v. Chr.
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Die konventionellen Grundlagen des Kalenders
3.1 Die Woche
Zusammenfassung: Die Woche ist ein fortlaufender Zeitabschnitt von sieben Tagen, der sich
seit dem babylonischen Exil des Judentums nachweisen läßt und in der Kaiserzeit von den
Römern übernommen wird.
Als erstes müssen wir wohl die Woche nennen. Ihr Ursprung läßt sich nicht mehr
genau zurückverfolgen. Zwar kannte bereits der babylonische Kulturkreis einen SiebenTage-Rhythmus. Als fortlaufende Zyklus ist die Woche der jüdischen Tradition verhaftet, wo sie sich mit Sicherheit seit dem babylonischen Exil im 6. Jahrhundert v. Chr.
nachweisen läßt. Die Juden verknüpften in ihrer Glaubensinterpretation die sieben Tage
mit dem Schöpfungswerk Gottes – folgend der Genesis, dem ersten Buch des Alten
Testamentes. 11 Der jüdische Glaube beeinflußte dann das junge Christentum; es übernahm die Woche, ersetzte aber als Fest- und Ruhetag den Sabbat, den siebten Wochentag, durch den Sonntag, den ersten Tag der Woche, an dem Christus auferstanden sei.
Seit 1975 wird aus praktisch-ökonomischen Gründen der Montag als der erste Wochentag geführt (DIN 1355), so daß der Donnerstag jetzt der mittlere Wochentag ist. Die
Wochen eines Jahres werden von 1 bis 52 oder 53 durchgezählt, wobei die erste Kalenderwoche eines Jahres diejenige ist, in die mindestens 4 der ersten 7 Januartage fallen.
Neben der religiösen Begründung spielten beim Entstehen der Woche sicherlich auch
die ungefähr jeweils sieben Tage dauernden Mondphasen eine Rolle, die in vier Wochen fast eine Lunation überdecken. Griechen und Römer kannten ursprünglich keine
Woche. Erst in der späten Kaiserzeit hat Rom die Woche von den Juden übernommen.
Dabei hat Rom, stark beeinflußt vom astrologischen Denken dieser Spätzeit der Antike,
die sieben Wochentage den sieben damals bekannten „Planeten“ und ihren Göttern
zugeordnet. Das läßt sich auch heute noch an den Namen der Wochentage in den
europäischen Sprachen ablesen (siehe Tabelle 2). Die letzte Spalte der Tabelle gibt die
den römischen Göttern äquivalenten germanischen Gottheiten an. Daraus werden Namen wie Dienstag = Tuesday = Ziusdag = Tiusdag, Donnerstag = Donarsdag etc. verständlich.
Es besteht die faszinierende, aber letztlich doch unbewiesene Behauptung, daß es seit
„biblischen“ Zeiten eine ununterbrochene Abfolge des Wochenzyklus bis auf den heutigen Tage gäbe. Immerhin wurde der Zyklus auch bei der Einführung des Gregorianischen Kalenders im Jahre 1582 beibehalten, da man bei der Streichung von 10 Tagen auf
Donnerstag, den 4. Oktober, sofort den 15. Oktober als einen Freitag folgen ließ.
11 Umgekehrt könnte man mit einiger Berechtigung den Beginn der Genesis (Kap. 1 bis Kap. 2.4a) eher
als Begründungsurkunde für den Sabbat, den Gott geweihten Ruhetag, bezeichnen denn als Schöpfungsbericht.
Phänomen Zeit
23
Kalenderkunst
Wilhelm Seggewiß
Die Woche
Planet
deutsch
Sonne
Sonntag
Mond
Montag
Mars
Dienstag Mardi
Merkur
franz.
spanisch
germ. Gott
Sunday
Lundy
Monday Lunes
Tuesday Martes
Mercredi Wednesd. Miércoles
Jupiter
Donnerst. Jeudi
Venus
Freitag
Saturn
englisch
Thursday Jueves
Vendredi Friday
Viernes
Ziu = Tiu
Wotan
Donar = Thor
Freya
Saturday
Tabelle 2: Die Zuordnung der Wochentage zu den „sieben” Planeten (-göttern) durch die Römer
Das Leben in unserer Gesellschaft ist vielfach dem Wochenrhythmus unterworfen, was
auf die ursprüngliche Einteilung in sechs Arbeits- und einen Ruhetag/Feiertag zurückzuführen ist. Arbeitspläne der Industrie, Stundenpläne der Schulen, Fahrpläne bauen
auf der Woche auf. Das arbeitsfreie Wochenende ist ein wichtiges Betätigungsfeld der
Freizeitindustrie.
Mondsichel mit Göttern der Wochentage
Von links nach rechts: Saturn (Samstag), Sonne (Sonntag), Mond (Montag), Mars (Dienstag),
Merkur (Mittwoch), Jupiter (Donnerstag), Venus (Freitag), siehe Tabelle 2
Römisch, nicht datiert
24
Phänomen Zeit
Wilhelm Seggewiß
Kalenderkunst
3.2 Der Kalendermonat
Zusammenfassung: Der Kalendermonat ist losgelöst vom Monat, den die Natur vorgibt. In
seiner heutigen Form wurde er bereits in der Julianischen Kalenderreform festgeschrieben.
Die Monate unseres Gregorianischen Kalenders sind völlig losgelöst von einem astronomisch bestimmten Monat – wie z. B. dem synodischen Monat (siehe 2.3). Unser
Kalender führt hier altrömische Traditionen fort, die in der Julianischen Kalenderreform zwar modifiziert wurden, sich aber im Grunde bis heute erhalten haben. Näheres
zu den Monaten siehe daher im Kapitel 4.4.
Gott als Architekt des Kosmos
Aus: Bibel Ferdinand III. von Kastilien und León, geschenkt von Ludwig IX. von Frankreich
Ile de France, Mitte 13. Jahrhundert
Phänomen Zeit
25
Kalenderkunst
4
Wilhelm Seggewiß
Kalender
Aus der Fülle der Kalender sollen im Folgenden nur diejenigen behandelt werden, die
in typischer Weise mit den astronomischen Grundlagen umgehen und die für unsere
abendländisch-christliche Kultur Bedeutung erlangt haben.
4.1 Der ägyptische Kalender
Zusammenfassung: Der ägyptische Kalender hatte als Grundlage ein Wandeljahr von 365
Tagen, verteilt auf 12 Monate mit je 30 Tagen und 5 Zusatztage. Das Eintreten der segensbringenden Nilfluten konnte durch die Beobachtung des Frühaufganges des Sirius, des hellsten Sterns, bestimmt werden.
Das Leben Ägyptens hing bis zum Bau des Staudammes von Assuan eng mit den
jährlichen Überflutungen der Talauen durch den Nil zusammen, der fruchtbaren
Schlamm und ausreichend Wasser auf die Felder brachte. Das Ansteigen der Nilflut
wird durch Schneeschmelze und Regen in seinem Oberlauf bestimmt, erfolgt also im
Rhythmus des Sonnenjahres (des tropischen Jahres). Aussaat und Ernte im Niltal waren
dem gleichen Takt unterworfen.
Dennoch gelang es nicht, einen Kalender zu entwickeln, der das Sonnenjahr gut abbildete! Von ältesten Zeiten an läßt sich ein Kalender mit einem Jahr („Wandeljahr“) von
365 Tagen nachweisen, nämlich 12 Monate zu je 30 Tagen, zuzüglich 5 Ergänzungstagen. Da das Sonnenjahr aber etwa 1/4 Tag länger ist, verschoben sich Überschwemmung mit Aussaat und Ernte ständig gegenüber dem Wandeljahr zu früheren Daten.
Nach 1508 ägyptischen Jahren (mit 365 Tagen) sind ziemlich genau 1507 Sonnenjahre
(mit 365,2422 Tagen) vergangen, so daß erst nach einer Periode von ca. 1500 Jahren die
Erscheinungen der Natur wieder grob mit dem Kalender zusammenfielen.
Dieser Mißstand war den Ägyptern wohl bewußt. Sie kannten aber ein vortreffliches
Zeichen am Himmel, das ihnen die bevorstehende Flut ankündigte, nämlich der
Frühaufgang oder → heliakische Aufgang 12 des hellsten Fixsterns, des Sirius. Dieser Aufgang bezeichnet das erste Sichtbarwerden eines Sterns in der Morgendämmerung kurz
vor Sonnenaufgang. Für Sirius geschah der heliakische Aufgang in altägyptischer Zeit
Mitte Juli (unseres Kalenders). Er kündigte also die steigenden Nilfluten an.
König Ptolemaios III. Euergetes (der „Wohltäter“, Herrscher von 246 – 221 v. Chr.)
versuchte, allerdings ohne durchschlagenden Erfolg, eine Verbesserung des ägyptischen Jahres durchzusetzen. Im Dekret von Kanopos 238 v. Chr. 13 verordnete er ein
Jahr von 365 Tagen mit einem zusätzlichen Schalttag in jedem vierten Jahr.
12 nach griech. ηλιοζ , helios, die Sonne
13 Das Dekret ist für die Sprachwissenschaft von Bedeutung, da es in Hieroglyphen, Demotisch und Griechisch abgefaßt ist.
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Phänomen Zeit
Wilhelm Seggewiß
Kalenderkunst
Es führt auf die mittlere Jahreslänge von 365,25 Tagen und war nach damaliger Kenntnis dem tropischen Jahr gut angepaßt. Dieser neue Kalender bleibt gegenüber dem alten
Kalender von 365 Tagen in 4 × 365,25 a = 1461 Jahren um ein volles Jahr zurück. Dieser
Zeitraum heißt wohl auch Sothis-Periode, benannt nach Sirius, griechisch Sothis, dem
ägyptischen Hundsstern. 14 Die Sothis-Periode entspricht ungefähr dem Zeitraum der
Wanderung der Jahreszeiten durch das Wandeljahr. 15
Die 30-tägigen Monate des Wandeljahres sind von denen der Lunation, die ja einem
Takt von 29,53 Tagen folgen, abgekoppelt. Je vier Monate wurden zu einer Jahreszeit
zusammengefaßt: Flut-, Saat und Erntezeit (auch Flut-, Winter-, Sommerzeit), was allerdings wegen des Wandeljahres nur in Abständen von 1500 Jahren für gewisse Zeiträume mit der Natur übereinstimmen konnte. Die Monate wurden in je drei Dekaden, also
Abschnitte von 10 Tagen, unterteilt.
Die Ägypter teilten den hellen Tag in 12 gleichlange Stunden; ebenso wurde die Nacht
in 12 Stunden unterteilt. Das führte im Laufe der Jahreszeiten zu ungleich langen Tageswie Nachtstunden; siehe die Diskussion dieser „Temporalstunden“ im Anhang A.3.
Für die Einordnung der Ereignisse des Niltales in den Lauf der Geschichte besteht das
Problem, daß die Ägypter keine durchlaufende Jahreszählung, keine generelle Ära,
kannten, sondern die Jahre nach den Regierungsjahren der jeweiligen Pharaonen zählten.
14 Die Bezeichnung „Hundstage” erinnert an die heißen Tage um den heliakischen Aufgang des Sirius.
15 Die Sothis-Periode ist eine späte Bezeichnung und war in der Pharaonenzeit als solche unbekannt.
Wegen der Präzession (→ Frühlingspunkt) wandert zudem der heliakische Aufgang des Sirius in einem
→ Platonischen Jahr durch alle Jahreszeiten.
Phänomen Zeit
27
Kalenderkunst
Wilhelm Seggewiß
4.2 Der islamische Kalender – ein Mondkalender
Zusammenfassung: Der islamische Kalender ist ein reiner Mondkalender. Er umfaßt 12 Monate
mit abwechselnd 30 und 29, im Mittel also 29,5 Tagen. Um mit dem Mondmonat, der 29,5306
Tage dauert, in Einklang zu bleiben, werden in einem 30-jährigen Zyklus 11 Schaltjahre mit
einem zusätzlichen Tag eingeschoben. Der Schalttag wird am Jahresende angefügt. Der Tag
beginnt bei Sonnenuntergang am Vorabend und der Monat bei Neulicht. – Das Jahr 1 der
islamische Ära begann im Jahre 622 n. Chr., dem Jahr der Flucht (Hidjra) des Propheten
Mohammed von Mekka nach Medina.
Der islamische (muslimische) Kalender beruft sich auf die Worte des Korans und auf
Überlieferungen aus dem Leben Mohammeds. In vielen Suren des Korans wird Allah als
der Schöpfer von Sonne und Mond und ihrer Anordnung am Himmel gepriesen. 16 In
der 2. und 9. Sure werden der Mondwechsel und die Zahl 12 der Monate als verbindlich erklärt.
Sie fragen dich [Mohammed] nach den Monden. Sprich: „Sie sind ein Mittel zum Messen
der Zeit für die Menschheit und für die Pilgerfahrt.“ (Sure 2.189)
Die Zahl der Monate ist nach göttlicher Vorschrift zwölf im Jahr. So ist es im Buch Allahs
aufgezeichnet, seit dem Tag, an welchem er Himmel und Erde geschaffen hat. Vier von
diesen Monaten sind heilig. So lehrt es die wahre Religion. (Sure 9.36)
Die folgenden Sätze der 9. Sure verurteilen alle Völker, die von diesen Regeln abweichen, als ungläubig und rufen zum Kampf gegen diese Völker auf!
Tagesbeginn ist der Sonnenuntergang am Abend – im Vergleich zum Gregorianischen
Kalender am Abend des Vortages! Der Beginn eines jeden Monats war in den Ursprüngen festgelegt auf den Abend desjenigen Tages, an dem die Sichel des jungen Mondes
tatsächlich von einem Zeugen gesehen und dies der Gemeinde mitgeteilt wurde, also
auf Neulicht 17. Das mag in der kleinen Urgemeinde Mohammeds praktikabel gewesen
sein, war aber unhaltbar in dem ausgedehnten Reich, das sich schon wenige Jahrzehnte
nach dem Tod des Propheten gebildet hatte. Neben praktischen Problemen (Kommunikationsschwierigkeiten, unbeständiges Wetter, größere Sichtbarkeitschancen im Westen
des Reiches), trat die Schwierigkeit, zukünftige Ereignisse, Festtage, Steuertermine exakt vorauszudatieren. Unter dem 2. Kalifen Omar (634 – 644 n. Chr.) wurden die Grundlagen eines zyklischen Kalenders gelegt.
Das Jahr des islamischen Kalenders besteht aus 12 Monaten von abwechselnd 30 und 29
Tagen. Der uns durch muslimische Mitbürger bekannte Fastenmonat „Ramadan“ ist
der 9. Monat des Jahres.
16 z. B. in den Suren 10.5, 13.2, 14.32–33, 21.33, 31.29, 35.13, 36.38–40, 39.5, 41.37, 55.5
17 Siehe die ausführliche Diskussion über den für den Islam so wichtigen Zeitpunkt des Neulichts bei Bär
[Internet (1)].
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Phänomen Zeit
Wilhelm Seggewiß
Kalenderkunst
Die mittlere Monatslänge von 29,5 Tagen ist etwas kürzer als die des Mondmonats
(synodischen Monats) von 29,53 Tagen. Daher führten die islamischen Astronomen
einen Zyklus von 30 Jahren mit 11 Schaltjahren ein, in denen jeweils dem letzten Monat
des Jahres ein Tag hinzugefügt wird. Schaltjahre sind die Jahre 2, 5, 7, 10, 13, 16, 18, 21,
24, 26, 29 des Zyklus. Die Schaltregelung ist recht gut, wie die Rechnung mit den
(übergenauen) modernen Werten zeigt:
30-jähriger Zyklus: 360 Monate zu 29,5 Tagen + 11 Tage
→ 10.631,000.00 d
360 synodische Monate zu 29,530.588.853.1 Tagen
→ 10.631,011.68 d
Die mittlere Länge des Kalendermonats eines Zyklus ist nur (0,011.68/360) Tage oder
2,8 Sekunden kürzer als der synodische Monat!
Das mittlere islamische Jahr hat 10.631/30 d = 354,3667 Tage und ist daher 10,8755 Tage
kürzer als das tropische Jahr (365,2422 d) bzw. 10,8758 Tage kürzer als unser Kalenderjahr, das Gregorianische Jahr (365,2425 d). Dies hat zur Folge, daß sich der Beginn des
islamischen Jahres und der Rhythmus seiner Feste jeweils um 11 Tage rückwärts zum
Sonnenjahr und zu unserem Kalenderjahr verschieben. Es macht auch die Steuereinziehung in Agrargesellschaften, deren Ertrag mit dem Sonnenjahr einhergeht, schwierig, so daß immer wieder Versuche zur Einführung eines Sonnenjahres auftreten, so
z. B. im osmanischen Reich seit 1677. In etwa 32,5 Jahren läuft das islamische Jahr
vollständig durch unser Jahr. Die Menschen im islamischen Kulturkreis altern daher
„scheinbar“ schneller, da sie in diesen 32,5 Jahren ein Jahr „gewinnen“. Ein „hübsches“
Beispiel: Wer am 12. Juli 2004 nach unserem Kalender 65 Jahre alt wird, kann am
gleichen Tage nach dem islamischen Kalender bereits seinen 67. Geburtstag feiern – wie
überhaupt der 65. und der 67. Geburtstag stets eng beieinander liegen (man benutze
den Datumsumrechner in [Internet (1)]).
Wie bereits im Zusammenhang mit den Ären erläutert (siehe Kapitel 2.2), beginnt das
Jahr 1 der islamische Ära am ersten Tag desjenigen Mondjahres, in dem die Übersiedlung (Hidjra) des Propheten Mohammed von Mekka nach Medina stattfand. Der Beginn ist der 16. Juli + 622 des Julianischen Kalenders bei Sonnenuntergang des Vorabends.
Phänomen Zeit
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Kalenderkunst
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4.3 Der jüdische Kalender – ein Lunisolarkalender
Zusammenfassung: Der jüdische Kalender kombiniert Mondmonate mit dem Sonnenjahr
(„Lunisolarkalender”) auf der Basis des Metonischen Zyklus, nach dem 235 synodische Monate 19 tropischen Jahren entsprechen. In sehr komplizierte Weise müssen Schaltage und ganze Schaltmonate in den 19-jährigen Zyklus eingefügt werden.
Der Tag beginnt bei Sonnenuntergang (jetzt 18 Uhr) am Vorabend und der Monat bei Neulicht (jetzt Neumond). – Die Jahre zählen seit der Erschaffung der Welt (Aera Mundi), die
dem Jahre 3761 v. Chr. entspricht.
Wie der Koran für den Islam, so bezeugt das Alte Testament für das Judentum an vielen
Stellen, daß Gott, der Herr, Sonne und Mond erschaffen und sie als „Zeitzeichen“ an
den Himmel gesetzt hat. So lesen wir schon in der Schöpfungsgeschichte, dem ersten
Buch der Schrift:
Dann sprach Gott: Lichter sollen am Himmelsgewölbe sein, um Tag und Nacht zu scheiden. Sie sollen Zeichen sein und zur Bestimmung von Festzeiten, von Tagen und Jahren
dienen …: vierter Tag. (Genesis, 1. Mose 1.14)
An anderer Stelle heißt es:
Du hast den Mond gemacht als Maß für die Zeiten, die Sonne weiß, wann sie untergeht.
(Psalm 104.19).
Der Mond führt die Zeiten herauf; er herrscht bis ans Ende und dient für immer als
Zeichen. Durch ihn werden Fristen und Festzeiten bestimmt, ist er erschöpft, freut er sich
wieder auf seinen Umlauf. (Jesus Sirach 43.6–7)
Die Texte geben keine sonderlich konkreten Anweisungen für den Kalender. Die jüdischen Kalenderbemühungen der Frühzeit müssen hier übergangen werden; Details findet man bei Ginzel [1991, Bd. II]. Die Reform, die zum heutigen Kalender führte, wird
zumeist auf den Patriarchen Hillel II. im 4. Jahrhundert n. Chr. zurückgeführt. Die
Grundlage des Kalenders beruht auf einem „kosmischen“ Zyklus, der dem Athener
Naturphilosophen Meton (2. Hälfte 5. Jahrhundert v. Chr.) zugeschrieben wird, einem
Rhythmus, der auch schon den Babyloniern bekannt war: 19 tropische Jahre entsprechen ziemlich genau 235 synodischen Monaten mit 6940 Tagen, oder: Nach 19 Jahren
fallen die Mondphasen in etwa wieder auf die gleichen Tage des Jahres. 18 Mit den
Daten aus dem Glossar ergibt sich:
Metonischer Zyklus (5. Jahrhundert v. Chr.)
19 tropische Jahre
= 6939,6016 Tage
235 synodische Monate
= 6939,6884 Tage
18 Nicht genau, da die Schalttage in unser Kalenderjahr unregelmäßig einschneiden.
30
Phänomen Zeit
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Kalenderkunst
Der Unterschied nach Ablauf von 19 Jahren beträgt also nur 0,0868 Tage oder 2h 04m 58s,
was sich in knapp 220 Jahren zu einem Tag aufsummiert.
Die jüdischen Weisen wagten dann den Spagat zwischen einem Mond- und einem
Sonnenkalender – Lunisolarkalender genannt – indem sie Jahr, Monat und Tag in einem
System vereinigten. Wie im Islam gibt es ein „ordentliches“ Gemeinjahr mit 12 Monaten
von abwechselnd 30 und 29, also insgesamt 354 Tagen. Mit Blick auf den Metonischen
Zyklus führt das in 19 Jahren nur zu 19 × 12 Monate = 228 Monate. Da man aber 235
Monate auf diese 19 Jahre verteilen muß, folgt als Konsequenz, daß man 7 Schaltjahre
mit einem zusätzlichen Monat einführen muß; dies sind die Jahre 3, 6, 8, 11, 14, 17 und 19
im Zyklus. Der Schaltmonat Veadar (gleich zweiter Monat Adar), der als siebter Monat
vor den Frühlingsmonat Nisan eingeschoben wird, hat stets 29 Tage. Man errechnet
schnell, daß ein 19-jähriger Zyklus nunmehr
19 × 354 + 7 × 29 Tage = 6929 Tage
hätte. Folglich müssen weitere 10 bis 11 Schalttage in den Zyklus eingefügt werden, um
auf die Zahl von 6939,6 Tagen in 19 tropischen Jahren zu kommen. Erschwerend
kommt hinzu, daß eine Reihe religiöser Bräuche weitere unüberschreitbare Bedingungen setzt. So darf z. B. der Neujahrstag (Rosh Haschana) nie auf die Tage 1, 4 und 6
(Sonntag, Mittwoch, Freitag) der jüdischen Woche und das Versöhnungsfest (Jom
Kippur) nie auf einen Tag vor oder nach Sabbat (Samstag) fallen. Letztlich gibt es im
jüdischen Kalender 6 unterschiedliche Jahreslängen (siehe Tabelle 3; zur Reihenfolge
der Jahresformen innerhalb des Zyklus und zu den Monatsnamen und -längen siehe
z. B. Meyers Handbuch Weltall [1994]).
Jahresformen des jüdischen Kalenders
abgekürztes Gemeinjahr
353 d
ordentliches Gemeinjahr
354 d
überzähliges Gemeinjahr
355 d
abgekürztes Schaltjahr
383 d
ordentliches Schaltjahr
384 d
überzähliges Schaltjahr
385 d
Tabelle 3: Die Jahresformen des jüdischen Kalenders
Die Monatsanfänge fielen ursprünglich auf Neulicht, und die Tage begannen bei Sonnenuntergang des Vorabends unseres Kalenderdatums. Heute ist der Monatsanfang auf
Neumond und der Tagesanfang auf 18 Uhr festgelegt. Die Woche ist ein durchgängiges
Zeitmaß.
Phänomen Zeit
31
Kalenderkunst
Wilhelm Seggewiß
Für den Ostertermin (siehe Kapitel 4.5) ist die Festlegung des jüdischen Passah-Festes19
von Bedeutung. In der Thora (oder besser Torá) heißt es:
Im ersten Monat, am vierzehnten Tag des Monats, zur Abenddämmerung, ist Pascha zur
Ehre des Herrn. Am fünfzehnten Tag dieses Monats ist das Fest der Ungesäuerten Brote
zur Ehre des Herrn. (Levitikus, 3. Mose 23.5)
Ursprung des Festes ist die Erzählung vom Auszug des Volkes Israel aus Ägypten
(Exodus, 2. Mose 12.1–11). Hier, im religiösen Kalender, ist der erste Monat des Jahres
der Nisan, während im bürgerlichen Kalender das Neujahrfest zu Anfang des Monats
Tischri (liturgisch der 7. Monat) gefeiert wird. Da der Neumond stets nahe des Monatsanfangs eintritt, wird Passah zur Vollmondzeit gefeiert.
Torquetum zur Bestimmung stellarer Koordinaten
Erworben von Nikolaus von Kues 1444 in Nürnberg
Bernkastel-Kues, Bibliothek des St.-Nikolaus-Hospitals
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Phänomen Zeit
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Kalenderkunst
4.4 Der Julianische Kalender – ein Sonnenkalender
Zusammenfassung: Das Julianische Kalenderjahr hat entweder 365 Tage (Gemeinjahr) oder
366 Tage (Schaltjahr). Schaltjahre sind die Kalenderjahre, deren Jahreszahl geteilt durch 4
eine ganze Zahl ergibt. Das Jahr beginnt am 1. Tag des Monats Januar. Die Monatslängen
variieren zwischen 28 und 31 Tagen und sind nicht an den synodischen Monat gebunden. –
Es gilt die Ära ab urbe condita, d. h. von der Gründung der Stadt Rom im Jahre 753 v. Chr.
Der römische Kalender vor der Herrschaft Caesars wird als der schlechteste gescholten,
den ein Kulturvolk je hervorgebracht habe. Die Kalendermacher Alt-Roms begannen
wohl in früher Zeit mit einem Jahr von 10 Mondmonaten, das sie bald auf 12 Monate
ausweiteten. Um eine Angleichung an das Sonnenjahr zu erzielen, schoben sie – ähnlich
wie die Juden, aber ohne tieferen astronomischen Hintergrund – Schaltmonate ein, die
jedoch gegen Ende der republikanischen Zeit durch die verantwortliche Priesterschaft
einer völligen Willkür unterworfen wurden. Zudem löste sich der Monat völlig von den
Lunationen. – Detailliertere Ausführungen sind kaum lohnend. Wer dennoch weitere
Details wissen möchte, muß (natürlich!) bei Ginzel [1911, Bd. II] nachschlagen oder
kürzere Zusammenfassungen aufsuchen (Ekrutt [Internet (2)] und Oertel [Internet (4)]).
Der Diktator Gaius Julius Caesar (100 – 44 v. Chr.) setzte im Jahre 47 v. Chr. dank seiner
Machtfülle und seines Amtes als Pontifex Maximus der Konfusion ein Ende. Dabei
versicherte er sich des Sachverstandes des alexandrinischen Astronomen Sosigines (1.
Jahrhundert v. Chr.). In Ägypten hatte Pharao Ptolemaios III. Euergetes (siehe Kapitel
4.1) eine Jahreslänge von 365 Tagen mit einem zusätzlichen Schalttag in jedem vierten
Jahr einzuführen versucht. Es wird vermutet, daß Caesar diese Praxis über die Vermittlung des Sosigines übernahm, obwohl die Quellenlage nicht eindeutig ist. Zu Ehren von
Gaius Julius Caesar nennt man den reformierten römischen Kalender den Julianischen
Kalender. Er zeichnet sich durch leicht verständlich Klarheit aus, die fortan der Priesterschaft die Macht über die Zeiteinteilung entwand und auf den „gemeinen Mann“ übertrug.
Um den alten Kalender von seinen gröbsten Fehlern zu befreien, vermehrte Caesar das
Jahr 46 v. Chr. (707 a.u.c.) um drei Monate auf 445 Tage („annus confusionis“, Jahr der
Verwirrung). Den Jahresbeginn legte er von Anfang März auf Anfang Januar (siehe
Anhang B.1). Mit dem Jahr 45 v. Chr. trat die neue Schaltregel in Kraft: Auf drei
Gemeinjahre mit 365 Tagen folgt ein Schaltjahr mit 366 Tagen. Die mittlere Jahreslänge
beträgt also 365,25 Tage. Das Julianische Jahr ist daher um 0,0078 Tage (oder 11 Minuten und 14 Sekunden) größer als das tropische Jahr von 365,2422 Tagen. Das summiert
sich in 1/0.0078 Jahren = 128 Jahren zu einem Tag auf und führte letztlich zur Gregorianischen Kalenderreform.
Nach Caesars Ermordung 44 v. Chr. wurde die Schaltregel zunächst falsch interpretiert.
Rückschauend kann man aber feststellen, daß im Jahre 8 n. Chr., welches als Schaltjahr
gesetzt wurde, die Schaltregel endgültig etabliert war. So ist, eher zufällig, jedes durch 4
teilbare Jahr ein Schaltjahr geworden! Wichtig für Osterdatum und Gregorianischer
Reform ist zu vermerken, daß Caesar das Konfusionsjahr so einrichtete, daß fortan der
Frühlingsanfang auf den 24. März fiel.
Phänomen Zeit
33
Kalenderkunst
Wilhelm Seggewiß
Die Monate des Julianischen Kalenders
Name
Dauer
Herkunft
Ianuarius
31 d
Gott Janus, doppelköpfig
Februarius
28/29 d
Monat des Reinigungsfestes februa
Martius
31 d
Kriegsgott Mars
Aprilis
30 d
lat. aperire, (den Frühling) eröffnen
Maius
31 d
Nymphe Maia, Plejade, Mutter Merkurs
Iunius
30 d
Göttin Iuno
Quintilis/Julius
31 d
5. Monat/Gaius Julius Caesar
Sextilis/Augustus
31 d
6. Monat/Octavianus Augustus
September
30 d
7. Monat des ältröm. Kalenders
October
31 d
8. Monat
November
30 d
9. Monat
December
31 d
10. Monat
Tabelle 4: Die Monate des Julianischen Kalenders
Caesar ließ die Länge der Monate zwischen 30 und 31 Tagen variieren – mit Ausnahme
des Februars, der nur 29 Tage erhielt (im Schaltjahr 30 Tage). Zu Zeiten seines Nachfolgers Augustus (63 v. Chr. bis 14 n. Chr.) wurde der Monat Quintilis, ursprünglich der 5.
Monat des altrömischen Kalenders, in Julius umgetauft und der Sextilis in Augustus.
Letzterer wurde zugleich um einen Tag auf 31 vermehrt, denn der neue Caesar („Kaiser“) sollte in der Zahl seiner Monatstage nicht geringer dastehen als der alte. Der Tag
wurde dem Februar weggenommen (siehe Tabelle 4).
Caesar fügte den Schalttag nach dem 23. Februar ein. Die heute verbindliche Normung
(DIN 1355 vom März 1975) vermeidet das Wort „Schalttag“, über den ja stets debattiert
und gewitzelt wird, indem sie an den Monat Februar die Fußnote anfügt: „im Gemeinjahr 28, im Schaltjahr 29 Kalendertage“; zu den Details siehe Anhang C.2.
Die römische Tageszählung, die Caesar in seiner Reform beibehielt und die sich durch
das gesamte Mittelalter hindurchzieht, ist in recht eigenartiger Weise „rückwärtsgewandt“. Man zählte beispielsweise die Tage bis zum Beginn des nächsten Monats, „5.
Tag, 4. Tag, 3. Tag, Vortag vor Beginn des März“ u. ä. (siehe Anhang C.1). Die heute
gebräuchliche durchlaufende Zählung der Monatstage war schon den Völkern Mesopotamiens geläufig, sie tritt aber erst im 6. Jahrhundert n. Chr. im Abendland auf. Sie wird
ab Heinrich VI. (Kaiser von 1190 – 1197) vermehrt in Königsurkunden benutzt und ab
dem 13. Jahrhundert bei den Chronisten allgemein verwendet.
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Phänomen Zeit
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4.4 Der Gregorianische Kalender
Zusammenfassung: Der Gregorianische Kalender übernimmt den Julianischen Kalender mit
der zusätzlichen Vorschrift, daß in Säkularjahren, die nicht durch 400 teilbar sind, der Schalttag ausfällt. Außerdem erneuert der Gregorianische Kalender die zyklische Berechnung des
Osterfestes. Es gilt die Inkarnationsära, die von der Geburt Jesu im Jahre 1 n. Chr. zählt. – Der
Kalender wurde durch Papst Gregor XIII. im Jahre 1582 eingeführt und von den meisten katholischen Ländern sofort übernommen. Die evangelischen Lande Deutschlands folgten erst
im Jahre 1700.
Obwohl der Julianische Kalender durch seine Einfachheit besticht, so hat er doch einen
Makel, den man vielleicht für belanglos halten könnte: Das Kalenderjahr ist mit 365,25
Tagen um 0,078 Tage länger als das tropische Jahr der Jahreszeiten (siehe Tabelle 5).
Diese kleine Differenz summiert sich in 128 Jahren zu einem vollen Tag auf – und das
bedeutet, daß der Frühlingspunkt um einen Tag im Kalender zurückbleibt, die Jahreszeiten sich also langsam gegen den Kalender verschieben. Das mag unbedeutend im
Leben eines Menschen sein. Aber von Caesars Zeiten bis zum Ende des 16. Jahrhunderts machten das doch schon 13 Tage aus; Frühlingsbeginn war vom 24. auf den 11.
März gerückt. Die Landwirtschaft hatte Probleme mit der Bestimmung des Zeitpunktes
für die Aussaat. Vor allem aber waren vielen Menschen bedrückt, daß immer häufiger
das Osterfest offensichtlich nicht mehr am korrekten Datum gefeiert wurde.
Schon der englische Historiker Beda Venerabilis und der Philosoph Roger Bacon bemerkten im 8. bzw. 12. Jahrhundert die allmähliche Verschiebung des Frühlingspunktes.
Nikolaus von Kues (1400 – 1464) verfaßte 1434/35 die Schrift „De Reparatione Calendarii“,
in der er die Streichung von einer Woche aus dem Kalender vorschlug. Der Papst ruft
1475 den berühmten Astronomen Johannes Regiomontanus (1436 – 1476, aus Königsberg
in Franken, daher Regiomontan(us)) nach Rom, um den Kalender zu reformieren, nachdem dieser nachgewiesen hatte, daß in den nächsten 76 Jahren das Osterfest 50 mal zur
falschen Zeit gefeiert werde. Aber Regiomontan stirbt kurz nach seinem Eintreffen in
Rom. Erst 100 Jahre später ist es dann soweit: Papst Gregor XIII. (Ugo Buoncompagni,
1502 – 1585, Papst seit 1572) ordnet in der Bulle „Inter gravissimas“ die Einführung eines
neuen, verbesserten Kalenders an – natürlich nach Beratung durch die führenden
Astronomen seiner Zeit wie den Jesuiten Christoph Clavius (1537 – 1612) aus Bamberg
und auf der Grundlage einer Idee des Arztes Luigi Lillo (um 1510 – 1576) aus Kalabrien.
Die Bulle verfügt, daß zwar der Julianische Kalender gänzlich abgeschafft werde, dennoch übernimmt sie den alten Kalender, jedoch mit der zusätzlichen Regel, daß in allen
Säkularjahren, die nicht durch 400 teilbar seien, der Schalttag ausfallen solle. Säkularjahre ohne Schalttag waren zufolge 1700, 1800 und 1900 – nicht aber die Jahre 1600 und
2000, die ihren Schalttag, da durch 400 teilbar, behalten haben. Das Gregorianische
Kalenderjahr besitzt also im Mittel
365 + 1/4 – 3/400 Tage = 365,2425 Tage
und ist daher nur noch 0,0003 Tage oder ca. 26 Sekunden länger als das Sonnenjahr,
eine Differenz, die sich erst in etwa 3300 Jahren zu einem Tag aufsummiert (siehe
Tabelle 5).
Phänomen Zeit
35
Kalenderkunst
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Unterschiede der Jahreslängen
Jahr
Tage
Diff. zum
trop. Jahr
tropisches Jahr (Sonnenjahr)
365,242.199 —
Julianisches Kalenderjahr
365,250.000 0,078
Gregorianisches Kalenderjahr
365,242.500 0,000.3
Griech.-Orthodoxes Jahr
365,242.222 0,000.023
summiert
zu 1 Tag in
—
128 a
3.300 a
43.000 a
Tabelle 5: Unterschiede der Kalenderjahre zum Sonnenjahr und Zeitdauer in Jahren, in denen
sich die Unterschiede zu einem Tag aufsummieren
Um den Frühlingsanfang auf den 21. März zu bringen, mußten 10 Tage aus dem Kalender gestrichen werden. Daher folgte auf Donnerstag, den 5. Oktober 1582, sofort Freitag, der 14. Oktober 1582. Bis zum heutigen Tag ist der Julianische Kalender um drei
weitere Tage vorgerückt, da er die Schalttage in den Jahren 1700, 1800 und 1900 nicht
ausfallen ließ. Daher stimmt der 14. Januar 2004 des Gregorianischen Kalenders mit
dem 1. Januar 2004, dem Neujahrsfest des Julianischen Kalenders, überein.
Die neue Schaltregelung ist jedoch nur ein kleiner Teil der Gregorianischen Reform. Die
päpstliche Bulle gibt zusätzlich detaillierte Anweisung zur verbesserten Berechnung
des Ostertermins auf der Grundlage lange bekannter Zyklen (siehe Kapitel 4.5).
Die Konstituierung des neuen Kalenders durch den Papst erfolgte im Jahrhundert der
Reformation. Es ist verständlich, daß es in der Folge zu ernsten Auseinandersetzungen
mit den evangelischen Ländern kam; siehe dazu Anhang E.
Eine Anmerkung muß angefügt werden: Es ist bemerkenswert und erstaunlich, daß
einige Zweige der orthodoxen Kirche in ihrem Kalender die beste Annäherung an das
tropische Jahr verwirklicht haben. Diese Kirchen begründen ab 1924 den „Revidierten
Julianischen Kalender“, der mit dem Gregorianischen Kalender fast übereinstimmt –
mit Ausnahme einer anderen Schaltregel, indem die Kirchen die Säkularjahre nur dann
Schaltjahre sein lassen, wenn sie durch 9 geteilt die Reste 2 oder 6 ergeben. Die erste
Abweichung zu unserem Kalender findet erst im Jahre 2800 (Rest 1 (!), im Osten also
kein Schaltjahr, wohl aber im Westen) statt. Die Zahl der Tage in 900 Jahren des orthodoxen Kalenders beträgt offensichtlich
N = 900 × 365 + 900/4 – 7 Tage = 3.228.718 Tage.
Damit beträgt die mittlere Jahreslänge N/900 = 365,242.222 Tage. Sie ist also nur
0,000.023 Tage oder fast genau 2 Sekunden länger als das Sonnenjahr, was sich erst in
etwa 43.000 Jahre zu einem Tag aufaddiert (siehe Tabelle 5).
36
Phänomen Zeit
Wilhelm Seggewiß
Kalenderkunst
4.5 Das Osterfest
Zusammenfassung: Fußend auf Vorschlägen des Ersten Ökumenischen Konzils von Nikaia 325
wird das Osterfest am Sonntag nach dem ersten Vollmond des Frühlings gefeiert. Die Berechnung des Datums geschieht durch die Anwendung astronomischer Zyklen.
Die Berechnung des Ostertermins ist der Höhepunkt und die absolute Herausforderung
der Kalenderkunst. Das Osterfest ruft den Christen das Heilsereignis der Auferstehung
Jesu Christi in Erinnerung. Nach dem Neuen Testament fand die Auferstehung am 1.
Tag der Woche statt, heute Sonntag genannt. Vorausgegangen war das jüdische Passahfest, das am 14. des Monats Nisan, also zur Vollmondzeit gefeiert wird. Außerdem war
der Nisan der Frühlingsmonat. Es bildete sich daher als Regel für das Osterdatum
heraus:
Das Osterfest wird an demjenigen Sonntag gefeiert, der dem
Tag des ersten Vollmonds im Frühling folgt, kurz: am Sonntag
nach Frühlingsvollmond.
Es muß demnach zunächst der Frühling beginnen. Die Regel nimmt an, ja setzt geradezu fest, daß das Frühlingsäquinoktium am 21. März einzutreten habe. Als zweites muß
der Mond voll werden. Dann wird am folgenden Sonntag Ostern gefeiert. 20
Die Osterregel verknüpft in dreifacher Weise die Auferstehung mit dem Kosmos: Mit
der Sonne (Frühlingsanfang), dem Mond (Vollmond) und dem Sieben-Tage-Werk der
Schöpfung (Sonntag). So soll deutlich werden, daß Jesus Christus durch die Auferstehung Himmel und Erde miteinander versöhnt hat.
Die Regel wird dem Ersten Ökumenischen Konzil von Nikaia (lat. Nicaea, Nicäa, Nizäa,
heute türkisch Iznik) des Jahres 325 zugeschrieben. Die Konzilsakten sind jedoch nicht
mehr erhalten. Aufgrund von Sendschreiben, z. B. Kaiser Konstantins, geht hervor, daß
es dem Konzil vor allem um die Einigkeit im Osterdatum ging. Es wendet sich gegen
zwei Gruppen von Christen, die abweichende Ostertermine begingen,
– gegen die Quartodezimaner, die „Vierzehner“, die Ostern stets am 14. Nisan feierten – ohne Rücksicht auf den Wochentag. Ihnen wurde beschieden, daß Ostern
stets am Sonntag nach dem 14. Nisan zu feiern sei. Und
– gegen die Protopaschisten, die Ostern stets am Sonntag nach dem jüdischen Passahfest feierten. Da der jüdische Kalender das Äquinoktium aber nicht genau beachtete, feierten sie das Fest häufig einen Monat zu früh. Das Konzil ordnete daher
an, daß der 14. Nisan nie vor das Äquinoktium fallen dürfe.
20
Wollte der Verfasser nach demselben Grundgedanken seinen Geburtstag beschreiben, so ist er am
„Freitag vor dem letzten Vollmond des Sommers” geboren. Er würde dann diesen Geburtstag jährlich
variierend zwischen dem 15. August und dem 21. September unseres Kalenders feiern.
Phänomen Zeit
37
Kalenderkunst
Wilhelm Seggewiß
Erst in den folgenden Jahrhunderten bildete sich die Osterregel heraus. Die Gelehrten
des Patriarchats von Alexandrien waren führend in der Berechnung des Termins und
der Zusammenstellung der Daten zu Ostertafeln. Im 6. Jahrhundert berechnete Dionysius Exiguus in Rom Ostertafeln auf der Basis eines Zyklus von 532 Jahren (s. u. und
Anhang D) und führte dabei die Inkarnationsära ein. Durch den englischen Historiker
Beda Venerabilis wurden die Ideen des Dionysius im 8. Jahrhundert Allgemeingut im
christlichen Erdkreis.
Die genauen Zeitpunkte von Äquinoktium und Vollmond sind nur sehr schwierig
durch astronomische Beobachtungen zu bestimmen. Eine ad-hoc-Bestimmung des Festtermins kommt daher nicht in Frage. Außerdem möchte die Gemeinschaft für das Hohe
Fest und die damit zusammenhängenden beweglichen Nebenfeste (z. B. Karneval!) im
voraus planen. Die exakte Berechnung der Bahnen von Erde und Mond wurden jedoch
erst im Anschluß an Johannes Keplers (1571 – 1630) Harmonice Mundi, Harmonie der
Welt, des Jahres 1619 entwickelt. Es blieb daher nur die Möglichkeit, die altbekannten
Zyklen hervorzuholen und diese dem neuen Kalender mit verbessertem Kalenderjahr
und der besseren Kenntnis der Lunationsdauer anzupassen. Diese Zyklen sind
– der (Sonnenzyklus, in dem nach 28 Jahren auf jeden der Jahrestage wieder der
gleiche Wochentag fällt (7 Wochentage, jedes 4. Jahr ein Schaltjahr, also 7 × 4 = 28)
– bis ein Säkularjahr ohne Schalttag nicht mehr mitspielt, und
– der schon beschriebene → Metonische Zyklus (siehe Kapitel 4.3), bei dem nach 19
Jahren an jedem Tag des Jahres beinahe die gleiche Mondphase wieder eintritt. 21
Die Zahl, die ein Jahr im Sonnenzyklus einnimmt, wird als dessen → Sonnenzirkel
bezeichnet; die Ordnungszahl innerhalb eines Zyklus des Meton ist die → Goldene Zahl
des Jahres. Offensichtlich ist, daß im Julianischen Kalender nach einem „Osterzyklus“
von
19 × 28 = 532 Jahren
die Osterfeste jeweils wieder auf das gleiche Datum fallen.
Die Osterrechnung der Gregorianischen Reform ist ziemlich schwierig. Im Prinzip läuft
bei den Berechnungen „im Hintergrund“ immer das Mondjahr von 354 Tagen unter
gelegentlichen Einschüben ganzer Monate mit, wie wir es in ähnlicher Art beim jüdischen Kalender nachvollziehen können. Wichtig wird die Zahl der Tage, um die das
Gemeinjahr das Mondjahr übersteigt, die → Epakte. 22 Carl Friedrich Gauß (1777 – 1855)
ist es im Jahre 1800 gelungen, die Berechnung des Osterdatums in einer Formel, der
Gaußschen Osterformel, zusammenzufassen.
21 Gelegentlich wird auch der Zyklus des Kallippos (4. Jahrhundert v. Chr.) zugrunde gelegt, der vier
Perioden des Meton zu einem verbesserten Zyklus von 76 Jahren mit 940 Monaten und 27,759 Tagen
zusammenfaßt.
22 griech. επακτοζ (epaktos), herbeigeholt
38
Phänomen Zeit
Wilhelm Seggewiß
Kalenderkunst
Das Osterdatum kann frühestens auf den 22. März fallen (Häufigkeit von 0,25 %). Wenn
nämlich am 21. März, dem gesetzten Frühlingsanfang, der Vollmond eintritt und dieser
Tag ein Samstag ist, dann wird am nächsten Tag Ostern gefeiert. Tritt der Vollmond
aber am 20. März ein, dann ist erst 29 Tage später, also am 18. April, Eintritt des
Frühlingsvollmonds. Ist dieser Tag ein Sonntag, dann wird erst am folgenden Sonntag,
dem 25. April Ostern gefeiert (1,00 % aller Fälle, das nächste Mal im Jahre 2038). Am
häufigsten wird mit 4,25 % der 31. März als Osterdatum angenommen.
Die Osterfestrechnung der orthodoxen Kirchen ist ziemlich unübersichtlich. Interne
Versuche zur Vereinheitlichung und eventuellen Anpassung an die (westliche) Gregorianische Regel schlugen bisher fehl. Diejenigen Kirchen, die den Revidierten Julianischen Kalender (siehe Kapitel 4.4) übernommen haben, ziehen zumeist den (wahren)
astronomischen Vollmond für den Meridian von Jerusalem heran. Viele Kirchen bleiben
jedoch beim Osterdatum im Rahmen des Julianischen Kalenders. Da aber zur Zeit der
Julianische 21. März (als Fixdatum für den Frühlingsanfang) dem Gregorianischen 3.
April entspricht, feiert die Ostkirche zumeist das Osterfest später als Katholiken und
Protestanten im Westen. Im Jahre 2004 fiel das Osterfest ausnahmsweise gemeinsam auf
den 11. April – nach Passah am 6. April. Im Jahre 2005 jedoch feiert der Westen am 27.
März und der Osten erst am 1. Juni, während Passah zwischen diesen Terminen am 24.
April begangen wird.
Eine vorzügliche und detaillierte Einführung in die Osterrechnung, Übersetzung der
Bulle Inter gravissimas und eine Erläuterung der Gaußschen Formel gibt N. A. Bär [Internet (1)].
Sonnenquadrant Kaiser Friedrich III.
Johannes von Gmunden, 1438
Wien, Kunsthistorisches Museum
Phänomen Zeit
39
Kalenderkunst
5
Wilhelm Seggewiß
Internet
Es gibt eine kaum übersehbare Fülle von Internetseiten zum Thema Kalender. Herbert
Metz (3) hat sich die Mühe gemacht, über 250 Links wohlgeordnet zusammenzustellen.
(1)
Bär, Nikolaus A.: Chronologie und Kalender
http://www.nabkal.de
(Bär bietet einen einfachen Umrechner zwischen unterschiedlichen Kalendern und
einen Osterfestrechner. Neben einer guten Abhandlung über den islamischen Kalender gibt er eine unglaublich profunde Einführung in den „Abendländischer
Kalender“)
(2)
Ekrutt, Joachim W.: Der Kalender im Wandel der Zeiten – 5000 Jahre Zeitberechnung
http://www.geocities.com/CapitolHill/Lobby/2554/kalender.htm
(HTML-Version des gleichnamigen Bandes 274 der Kosmos-Bibliothek, FranckhKosmos, Stuttgart 1982)
(3)
Metz, Herbert: Kalender – Computus
http://www.computus.de
(Wichtig wegen der umfangreichen Seiten mit Literaturlisten und Internetlinks
zum Thema Kalender; dazu ein Kalenderrechner und eine gute Einführung in den
Julianischen und den Gregorianischen Kalender)
(4)
Oertel, Holger: Verschiedene Kalender
http://www.ortelius.de/kalender/index.php
(Übersichtliche, kurze Einführung in viele Kalendersysteme der Weltkultur)
(5)
Phyikalisch-technische Bundesanstalt (PTB): Wissenswertes zur Zeit
http://www.ptb.de/de/blickpunkt/infoszurzeit/index.html
(Wirklich Wissenswertes aus „erster Hand“ über die Sekunde als Maßeinheit,
Atomuhren und die Funkübertragung des Zeitsignals)
Bestimmung einer Turmhöhe durch Triangulation
Aus: Collectanea astronomica
Johannes de Gmundia et alii, Wien, Mitte 15. Jahrhundert
40
Phänomen Zeit
Wilhelm Seggewiß
6
Kalenderkunst
Literatur
Wiederum bietet Herbert Metz [siehe Internet (3)] eine lange Liste von Publikationen,
die er zumeist auch kommentiert. Hier folgt eine kurze Liste von Büchern, die der
Verfasser gern zu Rate zieht.
Borst, Arno: Computus. Zeit und Zahl in der Geschichte Europas. dtv 30746. München:
dtv 1999
Doggett, L. E.: Calendars. In: Seidelmann, P. K. (Herausgeber): Explanatory Supplement to the Astronomical Almanac. Mill Valley, CA: Univ. Sci. Books 1992, S. 575
Dohrn-van Rossum, G.: Die Geschichte der Stunde. München: Carl Hanser Verlag 1992
Ginzel, F. K.: Handbuch der mathematischen und technischen Chronologie – Das
Zeitrechnungswesen der Völker. Bde I – III. Leipzig: Hinrisch’sche Buchhandlung
1906 (Bd I), 1911 (Bd II), 1914 (Bd III)
Grotefend, H.: Zeitrechnung des deutschen Mittelalters und der Neuzeit. 2 Bde. Hannover 1891 – 1898; im Internet unter
http://www.manuscripta-mediaevalia.de/gaeste/grotefend/grotefend.htm
Grotefend, H.: Taschenbuch der Zeitrechnung. Hannover: Hahnsche Buchhandlung
1991. 13. Auflage
Katalog Geburt der Zeit. Ausstellung der Staatl. Museen Kassel im Museum
Fridericianum Kassel, 1999/2000. Wolfratshausen: Edition Minerva 1999
Keller, H.-U.: Kosmos Himmelsjahr 2002. Stuttgart: Franckh-Kosmos 2001 (und alle
weiteren Jahrgänge)
Keller, H.-U.: Zeitdefinition heute: Die Dynamische Zeit. In: Astronomie + Raumfahrt
39 (2002), 8
Khoury, A. Th.; Hagemann, L.; Heine, P.: Islam-Lexikon. Spektrum TB 4036. Freiburg:
Herder Verlag 1991
Lange, Ludwig: Paradoxe Osterdaten im Gregorianischen Kalender. Sitzungsber. Bayer.
Akad. Wiss., Philosoph.-philolog. hist. Klasse, 9. Abh. (1928)
Lichtenberg, Heiner: Das anpassbar zyklische, solilunare Zeitzählungssystem des gregorianischen Kalenders. Math. Semesterberichte 50 (2003), 45
Maier, H.: Die christliche Zeitrechnung. Spektrum TB 4018. Freiburg: Herder Verlag
1991
Meyers Großes Konversations=Lexikon. Leipzig und Wien: Bibliogr. Institut 1905 –
1908. 6. Auflage
Meyers Handbuch Weltall. Krautter, J. et al. (Herausgeber). Mannheim: Meyers
Lexikonverlag 1994. 7. Auflage
Phänomen Zeit
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Kalenderkunst
Wilhelm Seggewiß
Seidelmann, P. K. (Herausgeber): Explanatory Supplement to the Astronomical
Almanac. Mill Valley, CA: Univ. Sci. Books 1992, S. 575
Whitrow, G. J.: Die Erfindung der Zeit. Hamburg: Junius 1991
Darstellung der Himmelssphäre
Johannes von Gmunden, 1428
42
Phänomen Zeit
Wilhelm Seggewiß
Kalenderkunst
Anhang
A
Zählung, Beginn und Einteilung des Tages..............................................................
A.1 Zählung der Tage ..................................................................................................
A.2 Tagesbeginn ...........................................................................................................
A.3 Einteilung des Tages ...........................................................................................
B
Beginn und Einteilung des Jahres .............................................................................. 48
B.1 Jahresbeginn .......................................................................................................... 48
B.2 Einteilung des Jahres ........................................................................................... 50
C
Römische Tageszählung und Schalttag ..................................................................... 52
C.1 Römische Tageszählung ...................................................................................... 52
C.2 Schalttag ................................................................................................................. 53
D
Entstehungsgeschichte der Inkarnationsära ............................................................. 55
E
Kalender- und Osterstreit ............................................................................................. 57
F
Außergewöhnliche Osterdaten ................................................................................... 59
G
Weltzyklen ....................................................................................................................... 61
H
Erdrotation, Polbewegung und Atomzeit..................................................................
H.1 Erdrotation .............................................................................................................
H.2 Polbewegung .........................................................................................................
H.3 Atomzeit .................................................................................................................
I
Zonenzeiten ..................................................................................................................... 68
Phänomen Zeit
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44
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46
64
64
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66
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Kalenderkunst
A
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Zählung, Beginn und Einteilung des Tages
A.1 Zählung der Tage
Homer zählte die Tage nach der Zahl der Morgendämmerungen. So heißt es in der
„Ilias“, seinem berühmten Epos der Eroberung der Stadt Troja:
Die zwölfte Morgenröte leuchtet mir erst, seitdem ich in Ilios’ Mauern zurückkam.
(Homer, 8. Jahrhundert v. Chr., Ilias, Gesang XXI, 80–81)
Im Englischen werden die „14 Tage“ als „fortnight“ bezeichnet, also „14 Nächte“; hier
wurde früher die Zahl der verflossenen Nächte gezählt. Im modernen Kalender werden
die Tage durchgezählt, und zwar in der Woche von 1 bis 7 (siehe Kapitel 3.1), im Monat
von 1 bis 28 oder 31 (siehe Kapitel 3.2) und im Jahr von 1 bis 365 oder 366 (siehe Kapitel
2.2).
Eine Sonderstellung nehmen die Astronomen ein: Sie zählen die Tage fortlaufend seit
dem
1. Januar 4713 v. Chr. 23
Sie kümmern sich dabei gar nicht um größere Zeiteinheiten wie das Jahr. Dieses sogenannte Julianische Datum JD, ursprünglich auf Vorschlag von Joseph Scaliger im Jahre
1581 eingeführt (und nicht nach Julius Caesar sondern nach Scaligers Vater Julius benannt), beginnen die Astronomen um 12 Uhr Mittag der Weltzeit UT (Universal Time).
Der Grund ist einfach: Astronomen arbeiten nachts, und sie möchten während ihrer
Arbeitseinheit, d. h. in einer fortlaufenden Beobachtungsreihe, einen Datumswechsel
vermeiden. 24 Am
1. Januar 2004 um 1200 Uhr Weltzeit begann der Julianische Tag JD 2.453.006.
23
Warum gerade dieses Jahr 4713 v. Chr.? In diesem Jahr waren die → Goldene Zahl, die → Römerzinszahl und der → Sonnenzirkel alle gleich 1 – und das geschieht nur alle 19 × 15 × 28 Jahre = 7.980
Jahre.
24
Seitdem jedoch überall auf der Erde, insbesondere an den Großobservatorien in den USA, in Chile,
Australien und auf Hawaii der Himmel beobachtet wird, trifft dieses Argument allerdings nicht mehr zu.
44
Phänomen Zeit
Wilhelm Seggewiß
Kalenderkunst
A.2 Tagesbeginn
Der Tagesbeginn wird in unterschiedlichen Kulturen sehr unterschiedlich festgesetzt –
das ist eine Frage der Übereinkunft (siehe Tabelle 6). Aus der Bibel wissen wir, daß im
Judentum der Tag mit der Dämmerung des Vorabends beginnt. Gleiches gilt für den
religiösen Kalender des Islam. Die Römer begannen im „täglichen“ Leben den Tag mit
der Morgendämmerung – und so hielt man es auch im Mittelalter. Der genaue Zeitpunkt des Tagesbeginns war nicht festgelegt. Wenn der Mesner die Morgenglocke läutete, begann für den Bauern und den Handwerksmeister der Tag. Die Mägde, Knechte,
Gesellen und Lehrbuben mußten allerdings schon beim ersten Hahnenschrei, also noch
in der Dunkelheit, aus den „Federn“! Im antiken Rom begann der Tag offiziell, d. h. im
sakralen und juristischen Bereich, um Mitternacht, so wie es heute im globalisierten
Gregorianischen Kalender wieder geschieht.
Der Tagesbeginn
Judentum, Islam
Dämmerung des Vorabends
Rom, im Alltag
Morgendämmerung
Rom, juristisch, sakral
Mitternacht
Mittelalter
Morgendämmerung
Neuzeit
Mitternacht –
jeweils um 1 Stunde versetzt in den
25 Zeitzonen rund um die Erde
Astronomie
Julianisches Datum
Mittag Weltzeit (UT)
z. B. 18.01.2002, 12 Uhr UT =
JD 2 452 293.0
Tabelle 6: Der Tagesbeginn in der geschichtlichen Entwicklung
Phänomen Zeit
45
Kalenderkunst
Wilhelm Seggewiß
A.3 Einteilung des Tages
Mit der Beschreibung der Tageseinteilung betreten wir ein weites, aber höchst interessantes Feld. Die Römer führten zunächst größere Abschnitte der Nacht ein, indem sie
diese in vier Wachen (lat. vigiliae) einteilten. Dahinter steckt natürlich das Militär! Wachen sind auch in der Schifffahrt eine stete Notwendigkeit. Dort gibt es Wachen zu je
vier Stunden, bei denen jede halbe Stunde durch das Schlagen einer Glocke eingeläutet
wird. Man nennt den Halbstundenschlag das „Glasen“, denn ursprünglich maß man auf
See die Zeit mit einem Stundenglas, also einer Sanduhr mit einer etwa halbstündigen
Rieseldauer. Bei „acht Glasen“ war dann eine vierstündige Wache beendet.
Die den Landratten geläufige Einteilung des Tages ist die „Stunde“. Sie hat eine lange
Geschichte, sie geht auf die altägyptische Zeit zurück. Die Ägypter nämlich teilten den
hellen Tag von der Morgendämmerung bis zur Abenddämmerung in 12 gleichlange
Stunden. Mit der dunklen Nacht machten sie das gleiche: 12 Nachtstunden (siehe Kapitel 2.1). Wohlgemerkt, der helle Tag wurde in 12 gleiche Stunden eingeteilt. Das bedeutet aber, daß die Stunde eines Sommertages viel länger währte als die Stunde eines
Wintertages. Für unsere Breiten dauert diese „ungleiche Stunde“ (lat. hora inaequalis) 25
im Sommer 1h 22m
im Winter
0h 40m
bzw. einschließlich Dämmerung 26
1h 29m,
bzw. einschließlich Dämmerung
0h 46m.
Man spricht hier von den Temporalstunden. Das europäische Mittelalter hat bis ins 14.
Jahrhundert – bis zum Aufkommen der Räderuhren mit Schlagwerk – die Temporalstunden beibehalten. Sicherlich, für die Naturwissenschaft, für Physik und besonders
für die Astronomie, waren die Temporalstunden völlig unbrauchbar. Aber im Mittelalter mußte man im Sommer sehr lange arbeiten, nämlich solange es tageshell genug war,
um Arbeiten verrichten zu können. Demgegenüber waren an trüben Wintertagen die
Arbeitsstunden recht kurz, und man verbrachte die langen Nachtstunden im Bett –
während ja heute unsere Schlafenszeiten im Sommer und im Winter sich eigentlich
nicht unterscheiden. Man muß allerdings anmerken, daß in Ägypten, dem Ursprungsland der Temporalstunden, wie überhaupt näher am Äquator, der Unterschied zwischen den Sommer- und den Winterstunden weit weniger groß ist.
Im einigen Bereichen des christlich-religiösen Leben wird der Tageslauf durch die Stundengebete in Abschnitte von je etwa drei Stunden geteilt. Grundlage bildet die Regula
Sancti Benedicti, die Regel des hl. Benedikts von Nursia (um 480 – 547), die der Vater des
abendländischen Mönchtums um 529 seiner religiösen Gemeinschaft auf dem Monte
Cassino gab. 27
25
Die Zahlenangaben beziehen sich auf die geographische Breite von 50° N (z. B. auf den Ort Mainz)
26
Dämmerung bezeichnet hier die sogenannte „bürgerliche” Dämmerung, i. e. Sonne 6.5° unter dem
Horizont.
27
Die Regel läßt sich leicht im Internet finden und herunterladen!
46
Phänomen Zeit
Wilhelm Seggewiß
Kalenderkunst
Vorgeschrieben werden sieben Gebetszeiten mit Psalmengesang: Matutin, Prim, Terz,
Sext, Non, Vesper und Komplet. Die Matutin 28 sollte bei Tagesanbruch gesungen werden und zur „ersten Stunden“, lat. prima hora, also etwa gegen 6 Uhr unserer Tageseinteilung, die Prim und dann folgend in jeweils etwa drei Stunden Abstand die übrigen
Gebetszeiten. Dazu verfügte Benedikt, daß zur achten Nachtstunde, also gegen 2 Uhr
nachts, die Vigilien zu beten und singen seien. Natürlich mußte es im Winterhalbjahr
Verschiebungen der Nacht- und Frühgebete gegenüber der Sommerzeit geben. So folgt
im Sommer auf die Vigilien schon „nach einer kurzen Pause für die natürlichen Bedürfnisse der Brüder“ (Kap. 8, 4) die Matutin; im Winter rücken dann Matutin und Prim
aneinander.
28
Zur Matutin werden die Lobgesänge, lat. laudes, gesungen. Deshalb werden Matutin und Laudes
meist synonym als Bezeichnung des Frühgebetes gebraucht.
Phänomen Zeit
47
Kalenderkunst
B
Wilhelm Seggewiß
Beginn und Einteilung des Jahres
B.1 Jahresbeginn
In Laufe unserer Geschichte waren recht unterschiedliche Anfänge des Jahres in Gebrauch.
Wenn wir in der Geschichte der Zeitrechnung unseres Kulturraumes zurückgehen,
dann sehen wir zunächst einmal, daß in Rom vor Gaius Julius Caesar und seiner Kalenderreform das Jahr am 1. März begann. Denn nur so machen ja die Monatsnamen
September, Oktober, November und Dezember, also der 7., 8., 9. und 10. Monat des
Jahres, einen Sinn. Im Jahresbeginn „März“ kommt wohl der Beginn der Feldarbeit
nach der Winterruhe zum Ausdruck. Plutarch berichtet, daß schon der altrömische König Numa Pompilius den Januar an die Spitze gestellt habe; der März ist ja nach dem
Kriegsgott Mars benannt, er wolle aber der Verehrung des friedliebenden Gottes Ianus
(daher „Januar“) den Vorzug geben. Außerdem ist Janus der Gott mit den zwei Gesichtern (lat. Deus biceps, doppelköpfiger Gott), der gleichzeitig in die Vergangenheit und in
die Zukunft, ins alte und ins neue Jahr schaut.
Caesar bestimmte dann den Januar als ersten Kalendermonat, wie wir ihn heute auch
begehen. Man beachte aber, daß der 1. Januar 0 Uhr, also „Neujahr“, auf den Uhren der
Menschen in Abhängigkeit von der → Zonenzeit schrittweise in Abständen von 1 Stunde eintritt und von Ost nach West über den Globus wandert (siehe dazu Anhang I). Um
diese Mehrdeutigkeit auszuschließen, hat die Astronomie nach einem Jahresbeginn gesucht, der zum gleichen Moment auf der ganzen Erde eintritt. Zu Ehren des großen
deutschen Astronomen Friedrich Wilhelm Bessel (1784 – 1846) wurde der Jahresbeginn
dieses Besselschen Jahres (auch annus fictus genannt) auf den Zeitpunkt gelegt, an dem
der Mittelpunkt der → Mittleren Sonne die → Rektaszension 18h 40m (= 280°) hat. Dieser
Zeitpunkt liegt stets nahe dem 1. Januar; so begann z. B. das Besselsche Jahr 2004 am
0. Januar (= 31. Dezember 2003) um 7h 32m UT.
Andere Jahresanfänge (siehe Tabelle 7):
– Der Weihnachtsanfang am 25. Dezember: Die kaiserliche Kanzlei (im Hl. Römischen
Reich Deutscher Nation) begann das Jahr stets am Weihnachtstag, und zwar von den
Karolingern bis in die 1. Hälfte des 16. Jahrhunderts.
– Der Osteranfang: In Frankreich begann bis zum Jahre 1564 das Jahr stets mit dem
Osterfest, so daß man unterschiedliche Jahreslängen hatte.
– Der byzantinische Jahresanfang: In Byzanz/Konstantinopel, solange es denn christlich
war, begann man das Jahr am 1. September.
– Das Marienjahr (Jahresbeginn am 25. März, „Annunciationsstil“): Neun Monate vor
Weihnachten feiert die Kirche das Fest der Verkündigung der Geburt Jesu an Maria,
neun Monate währt ja eine Schwangerschaft. Das Fürstbistum Trier (mit seinem
Suffraganbistum Metz) begann das Jahr am 25. März. Man nannte das den „Mos
Treverensis“, also den Trierer Stil – und dieser Stil wurde bis zum Jahre des Westfälischen Friedens 1648 befolgt.
48
Phänomen Zeit
Wilhelm Seggewiß
Kalenderkunst
Trier war nicht allein mit seinem „mos Treverensis“, denn auch in England begann
man seit dem 12. Jahrhundert das Jahr am 25. März, und das bis zum 1. Januar 1752,
dem Jahr der Einführung des Gregorianischen Kalenders in England.
– Das Kirchenjahr tritt hinzu – mit dem 1. Adventssonntag als Anfang.
– Der Beginn des jüdischen Weltjahres schwankt zwischen Anfang September und Anfang Oktober unseres Jahres, da es im jüdischen Kalender Schaltmonate gibt.
– Das islamische Jahr ist ca. 11 Tage kürzer als unser Jahr. Sein Beginn wandert in 33
Jahren rückwärts durch unser Jahr.
Der Jahresbeginn
Rom, vor Caesar
1. März
Rom, seit dem Jahre 45 v. Chr.
1. Januar
Weihnachtsanfang
25. Dezember
Osteranfang
22. März bis 25. April
Byzanz
1. September
Marienjahr (Mos Treverensis)
25. März
Kirchenjahr
1. Adventssonntag
Besselsches Jahr
Sonnenrektaszension = 280°
***
Beginn des Weltjahres
Anf. Sept. bis Anf. Oktober
Islamisches Neujahr
wandert in 33 Jahren
rückwärts durch unser Jahr
Tabelle 7: Der Jahresbeginn
Wir stellen also fest, daß bis ins 18. Jahrhundert hinein in unserem Kulturraum eine
große Vielfalt beim Jahresbeginn bestand, die größte Aufsplitterung, zeitlich wie räumlich, finden wir natürlich in deutschen Landen – in denen zudem noch der Gregorianische Kalender zu recht unterschiedlichen Zeiten eingeführt wurde. Für den Historiker
gibt es hier eine echte Herausforderung, wenn er Angaben aus unterschiedlichen Chroniken miteinander vergleichen muß. Ein Beispiel: Der „1. Februar 1601“ in einer Trierer
Chronik bedeutet nach Datierung der Reichskanzlei und nach heutiger Rechnung
„1. Februar 1602“, da die Trierer ja erst an ihrem Neujahrstag, dem 25. März, die Jahreszahl um 1 erhöhten.
Phänomen Zeit
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Kalenderkunst
Wilhelm Seggewiß
B.2 Einteilung des Jahres
Neben den Monaten, die an mehreren Stellen ausführlich diskutiert werden (siehe Kapitel 2.3, 3.2, 4.4), sind für uns die vier Jahreszeiten eine geläufige Einteilung des Jahres.
Die Jahreszeiten gründen auf der Neigung der Erdachse von 23,5° relativ zur Erdbahnachse. Sie bringen uns den Großwetterwechsel und die Fruchtfolge in der Landwirtschaft. Durch die elliptische Bahn, die die Erde mit wechselnder Geschwindigkeit
durchläuft, sind Frühling und Sommer einige Tage länger als Herbst und Winter (siehe
Tabelle 8).
Dauer der Jahreszeiten
Beginn der Jahreszeit
Datum
MEZ Dauer
von
Frühlingsanfang
2004 März 20
0749
92,76 d
Frühling
Sommersonnenwende 2004 Juni 21
0157
93,65 d
Sommer
Herbstanfang
2004 Sept. 22
1730
89,84 d
Herbst
Wintersonnenwende
2004 Dez. 21
1342
88,99 d
Winter
Frühlingsanfang
2005 März 20
1333 365,24 d
Jahr
Tabelle 8: Die Jahreszeiten 2004/2005 und ihre Dauer
Ein kurzer Blick auf die astrologische Praxis ist hier angebracht: In der Astrologie wird
das Jahr nach der Verweildauer der Sonne in den 12 Tierkreiszeichen geteilt. Die in
unserer Gesellschaft herumirrende Astrologie kann bis in die Anfänge der altmesopotamischen Reiche zurückgeführt werden. Die Horoskop-Astrologie entstand im neubabylonischen Reich der Chaldäer-Dynastie um 600 v. Chr. und erhielt ihre dogmatische
Ausformung durch den Tetrabiblos des Klaudios Ptolemaios um 150 n. Chr. in Alexandrien. Damals wurde die → Ekliptik, der scheinbare Lauf der Sonne vor den Sternen, in 12
gleiche Teile, „Zeichen“, zu je 30° geteilt, beginnend im → Frühlingspunkt. Die Zeichen
entsprachen damals annähernd der Lage von 12 Sternbildern längs der Ekliptik, die
zumeist Tiere symbolisierten, daher der Name Tierkreissternbilder. Zu chaldäischer
Zeit trat die Sonne bei Frühlingsanfang in das Sternbild Widder, daher wird der Frühlingspunkt (das Frühlingsäquinoktium) bis heute Widderpunkt genannt. Sommersonnenwende (Solstitium) der Nordhemisphärenbewohner der Erde ereignete sich beim
Eintritt der Sonne in das Sternbild Krebs; daher der Name Wendekreis des Krebses für
die geographische Breite 23,5° auf der Nordhalbkugel der Erde. Entsprechend kennen
wir den Waagepunkt zu Herbstanfang und den Wendekreis des Steinbocks im Süden.
50
Phänomen Zeit
Wilhelm Seggewiß
Kalenderkunst
Tierkreiszeichen und ihre Sternbilder in den Jahren 2003/2004
Nr. Name
(lat.)
Aufenthaltszeitraum
Tage
der Sonne
im Zeichen
im Sternbild
1
Widder
Aries
21.03. – 20.04.
19.04. – 14.05.
25
2
Stier
Taurus
20.04. – 21.05.
14.05. – 22.06.
39
3
Zwillinge
Gemini
21.05. – 21.06.
22.06. – 21.07.
29
4
Krebs
Cancer
21.06. – 23.07.
21.07. – 11.08.
21
5
Löwe
Leo
23.07. – 23.08.
11.08. – 17.09.
37
6
Jungfrau
Virgo
23.08. – 23.09.
17.09. – 31.10.
44
7
Waage
Libra
23.09. – 23.10.
31.10. – 23.11.
23
8
Skorpion
Scorpius
23.10. – 22.11.
23.11. – 30.11.
7
9
Schlangenträger
Ophiuchus –––
30.11. – 18.12.
18
10
Schütze
Sagittarius
22.11. – 22.12.
18.12. – 20.01.
33
11
Steinbock
Capricornus 22.12. – 20.01.
20.01. – 16.02.
27
12
Wassermann
Aquarius
20.01. – 18.02.
16.02. – 12.03.
25
13
Fische
Pisces
19.02. – 20.03.
12.03. – 18.04.
37
Tabelle 9: Die Aufenthaltsdauer der Sonne in den Tierkreiszeichen im Vergleich zur ihrem Aufenthalt
in den Tierkreissternbildern der Jetztzeit am Beispiel 2003/2004 (Daten für 2004 in kursiver Schrift),
nach Keller [2001]
Nun präzediert allerdings die Erdachse, und der Frühlingspunkt schreitet pro Jahr um
ca. 50" auf der Ekliptik zurück (i. e. gegen die Laufrichtung der Sonne). Das bedeutet
aber, daß nach ca. 70 Jahren die Sonne erst einen Tag später eine bestimmte Position auf
der Ekliptik einnimmt. Seit der Zeit der Chaldäer hat sich die Sonne also um ca. 23 Tage
vom damaligen Frühlingspunkt entfernt. Er liegt nicht mehr im Sternbild Widder, sondern in den Fischen und wandert auf den Wassermann zu, den er in etwa 700 Jahren
erreichen wird. Insgesamt haben sich die Tierkreiszeichen um ungefähr ein Sternbild
relativ zur ursprünglichen Lage verschoben. Berücksichtigt man auch die recht unterschiedliche Ausdehnung der Sternbilder und die Tatsache, daß auch das Sternbild
Schlangenträger in die Ekliptik hineinragt, so ergeben sich für die heutige Zeit die
Eintrittsdaten der Sonne in die Tierkreissternbilder nach Tabelle 9.
Einerseits beharrt die Astrologie auf den obsoleten Eintrittsdaten aus chaldäischer Zeit.
Andererseits bereiten sich manche esoterische Kreise schon jetzt auf den Eintritt des
Frühlingspunktes in das (tatsächliche!) Sternbild Wassermann vor – als den Beginn des
Wassermann- oder Aquarius-Zeitalters, einer Art Endzeit voll Friede, Freude, Harmonie (siehe auch Anhang G). Warten wir die 700 Jahre ab!
Phänomen Zeit
51
Kalenderkunst
C
Wilhelm Seggewiß
Römische Tageszählung und der Schalttag
C.1 Römische Tageszählung
Die Tage eines Monats wurden von den Römern her bis ins Mittelalter (siehe Kapitel
4.4) nicht einfach von 1 bis 30 durchgezählt. Man zählte die Tage auf gewisse Fixpunkte
des Monats hin. Diese Punkte waren
– der Monatsanfang (die „Kalenden“, Kalendae),
– die Monatsmitte (die „Iden“, Idus) und
– die Nonen (Nonae).
In den Monaten März, Mai, Juli und Oktober waren die Nonen der 7. und die Iden der
15. Tag, in den übrigen Monaten die Nonen der 5. und die Iden der 13. Tag. Die Tage
unmittelbar vor diesen Fixtagen hießen stets pridie, Vortag.
Beispiele:
– 28. Januar = ante diem quintum Kalendas Februarias (abgekürzt: a.d.V Kal. Febr.);
auch: dies quintus ante Kalendas Februarias.
N. B.: Start- und Zieltag, also 28. Januar und 1. Februar, werden mitgezählt, daher
„5 Tage vor Anfang/Kalenden des Februars“;
– 29. April = ante diem tertium Kalendas Maias (a.d. III Kal. Mai.);
– 24. Februar = ante diem sextum Kalendas Martias (a.d. VI Kal. Mart.);
– 12. März = ante diem quartum Idus Martias (a.d. IV Id. Mar.); aber
– 12. Juni = pridie Idus Iunias (pr. Id. Iun.);
– 3. September = ante diem tertium Nonas Septembres (a.d. III Non. Sept.).
Es werden unterschiedliche Ursachen zur Entstehung der die römischen Tageszählung
genannt. Zum einen könnte es sich auf ein Hinzählen auf die ursprünglich im Monat
verankerten Mondphasen handeln. Die Kalenden bezeichnen dann den Neumond, die
Nonen das 1. Viertel und die Iden den Vollmond. Zum anderen könnte auch auf die
Tage bis zum nächsten Steuer- und Abgabentermin hin gezählt worden sein.
52
Phänomen Zeit
Wilhelm Seggewiß
Kalenderkunst
C.2 Schalttag
Caesar ließ den Schalttag seines Julianischen Kalenders nach dem 23. Februar, also vor
dem 24. Februar (a.d. VI Kal. Mart., der 6. Tag vor den Kalenden des März; s. o.)
einfügen. An dieser Stelle wurden schon in vorcaesarischer Zeit die Schaltmonate eingeschoben. Am 23. Februar (a.d. VII Kal. Mart.) wurde zudem der hohe Festtag der
Terminalien (lat. terminus, der Grenzstein) gefeiert, ein Fest für Jupiter als Schützer von
Recht und Treue – und ein Ruhetag danach war sicher wünschenswert. Wenn wir die
rückwärts gewandte Zählung berücksichtigen, ist der Schalttag also ein „zweiter“ 6.
Tag vor Anfang März: ante diem bis sextus Kalendas Martias 29 (oder dies bis sextus ante
Kalendas Martias), also der 24. Februar und keineswegs der 29. Februar (siehe Tabelle
10). Der 29. Februar ist der gleiche Tag wie in den Gemeinjahren der 28. Februar,
nämlich der letzte Februartag = der Tag vor Anfang März = pridie Kalendas Martias.
Römische Zählung
im Schaltjahr
Normaljahr
Schaltjahr
VIII ante Kal. Martias
22. Februar
22. Februar
VII
23. Februar
23. Februar
VI bis
24. Februar
VI
24. Februar
25. Februar
V
25. Februar
26. Februar
IV
26. Februar
27. Februar
III
27. Februar
28. Februar
Pridie Kal. Mart.
28. Februar
29. Februar
Kalendae Martiae
01. März
01. März
VI ante Nonas Martias
02. März
02. März
Tabelle 10: Der Kalender in der Umgebung des Schalttages
29
In Frankreich heißt noch heute das Schaltjahr année bissextile.
Phänomen Zeit
53
Kalenderkunst
Wilhelm Seggewiß
Der kirchliche Festkalender bestätigte früher diese Regelung. So wurde z. B. das Fest
des hl. Matthias, der als einziger der Apostel sein Grab nördlich der Alpen, nämlich in
Trier, haben soll, in den Gemeinjahren am 24. Februar, in den Schaltjahren folgerichtig
am 25. Februar, also jeweils a.d. VI Kal. Mar., gefeiert. Allerdings folgte Deutschland
1975 mit der DIN 1355 der von der International Organization for Standardization (ISO)
vorgegebenen Regel, strich das Wort „Schalttag“ und verordnete dem Februar „im
Gemeinjahr 28, im Schaltjahr 29 Kalendertage“ – und ließ damit die Frage nach dem
Schalttag offen. Und die „römische“ Kirche? Sie folgte bereits in ihrem Römischen
Generalkalender von 1969 der ISO und (oh Schreck für Trier!) verlegte das Fest des hl.
Matthias kurzerhand auf den 14. Mai; doch sie erlaubt der Diözese (oh Glück für Trier!),
weiterhin den hl. Matthias am 24. Februar feiern zu dürfen – doch auch im Schaltjahr an
diesem Datum.
54
Phänomen Zeit
Wilhelm Seggewiß
D
Kalenderkunst
Entstehungsgeschichte der Inkarnationsära
Der Frage nach der Entstehung der Inkarnationsära soll hier kurz nachgegangen werden. Im Jahre 525 erhielt der römische Abt Dionysius Exiguus (ca. 470 – 550), ein Skythe
von Geburt, von Papst Johannes I. den Auftrag, die Ostertafeln ab dem Jahre 532 neu zu
berechnen – eigentlich müßte man sagen: ab dem Jahre 248 der Diokletianischen Ära.
Denn Kaiser Diokletian (regierend 284 – 305) hatte mit seinem Regierungsantritt im Jahre
284 n. Chr. eine neue Jahreszählung (Ära) begründet, die zu Beginn des 6. Jahrhunderts
immer noch gebraucht wurde 30 – wie z. B. in den nunmehr auslaufenden Ostertafeln
des Kyrillos, Patriarchen von Alexandria 412 – 444. Diokletian hatte eine letzte große
Christenverfolgung inszeniert, und Dionysius argumentiert:
Wir wollen unseren Osterzyklus nicht mit der Erinnerung an diesen Gottlosen und
Christenverfolger verbinden, sondern haben es vorgezogen, zu Beginn die Zeit nach Jahren
seit der Geburt unseres Herrn Jesus Christus zu notieren.
(Libellus des Dionysius Exiguus, zitiert nach Maier, 1991)
Es galt daher für Dionysius, den genauen Zeitpunkt der Geburt Jesu zu bestimmen.
Dabei hat er sich nun keineswegs verrechnet, wie viele Historiker immer wieder behaupten. Denn Dionysius betrieb „Geschichtsforschung“ nicht auf Grund von Königslisten, mit Auszählen von Baumringen oder der Carbon-14-Methode. Für ihn vollzog
sich Geschichte nicht nach der „Atomuhr“, d. h. im Sinne eines ständig fortschreitenden, präzisen Zeitmaßes, sondern für ihn vollzog sich nachchristliche Geschichte in
Zyklen, in einer ewigen Wiederkehr von Kreisläufen, die der Schöpfergott selbst vorgegeben hatte und die man aus der Natur ablesen konnte. 31 Er kombinierte den (Sonnenzyklus, bei dem nach jeweils 28 Jahren des Julianischen Kalenders jeder Tag des Jahres
wieder den gleichen Wochentag besitzt (siehe Tabelle 14), mit dem → Metonischen
Mondzyklus von 19 Jahren, bei dem nach 19 Jahren auf jeden Jahrestag ungefähr wieder
die gleiche Mondphase fällt. Dann fällt nach 28 × 19 Jahren, also nach 532 Jahren, das
Osterfest wieder auf den gleichen Tag des Jahres. Als Tag der Auferstehung, Ostern,
galt für die kirchlichen Autoritäten der 25. März. Dionysius suchte daher nach einem
Osterdatum, das auf den 25. März fiel; das war im Jahre 563 nach heutiger Zählung und
1316 a.u.c. der Fall. Also mußte Christus am 25. März des Jahres 1316 – 532 = 784 a.u.c.,
entsprechend 31 der neuen Zeit, auferstanden sein. Da weiterhin die Mehrzahl der
Kirchenväter annahm, daß Jesus Christus 30 Jahre alt geworden sei, 32 mußte seine
Geburt auf das Jahres 784 – 30 = 754 a.u.c. fallen.
30
Die diokletianische Aera (auch Aera Martyrum genannt – wegen der diokletianischen Christenverfolgung) beginnt formal am 29. August 284 n. Chr, dem Regierungsantritt Diokletians.
31
Aber natürlich: Diese Zyklen sind eingebettet in den linearen Gesamtverlauf der Weltgeschichte – von
der Schöpfung über Geburt, Tod und Auferstehung Christi bis hin zum Weltgericht.
32
Der Evangelist Lukas berichtet: „Jesus war bei seinem ersten Auftreten ungefähr 30 Jahre alt” (Lk 3.23).
Nach dem ältesten, dem Markusevangelium, hat das Wirken Jesu nicht einmal ein Jahr gedauert.
Johannes Kepler dagegen tritt, fußend auf dem Johannesevangelium, in seiner Streitschrift „Ad
Epistolam Sethi Calvisii” 1614 energisch für 33 Lebensjahre Jesu ein.
Phänomen Zeit
55
Kalenderkunst
Wilhelm Seggewiß
Mit diesem Jahr beginnt die christliche Ära, die Zählung der Jahre „1 nach Christus“,
„ab incarnatione domini nostri Iesu Christi“, „nach der Fleischwerdung unseres Herrn
Jesus Christus“, daher auch Inkarnationsära. Gebräuchlich werden Kurzbezeichnungen
wie AD (Anno Domini, im Jahre des Herrn), nach Christi Geburt oder nach Christus (n.
Chr.).
Sonnenzyklus – 28 Jahre (Julius Caesar, 45 v. Chr.)
7 Wochentage; jedes 4. Julianische Jahre besitzt einen Schalttag
→ nach 7 × 4 = 28 Jahren fällt auf jeden Jahrestag wieder
der gleiche Wochentag
Mondzyklus – 19 Jahre (Meton, Ende 5. Jahrhundert v. Chr.)
235 synodische Monate entsprechen 19 Sonnenjahren
→ nach 19 Jahren fällt auf jeden Jahrestag wieder die gleiche
Mondphase
Osterzyklus – 532 Jahre (Dionysius Exiguus, 6. Jahrhundert n. Chr.)
Kombination beider Zyklen
→ nach 28 × 19 = 532 Jahren fällt Ostern auf den gleichen Tag
des Jahres
Auferstehung und Geburt Christi (Dionysius Exiguus, 6. Jh. n. Chr.)
Ostern am 25. März des Jahres 1316 a.u.c. (heute 563 n. Chr.)
→ Auferstehungs-Ostern 1316 – 532 = 784 a.u.c. (= 31 n. Chr.)
→ Geburt Christi im Jahre 784 – 30 = 754 a.u.c. (das sei 1 n. Chr.!!!)
Tabelle 14: Der Osterzyklus mit Auferstehung und Geburt Christi
Die Vorgehensweise des Dionysius Exiguus ist in sich schlüssig – auch wenn wir nach
heutigen historischen Maßstäben wohl ein anderes Geburtsjahr für Jesus annehmen
müssen als 1 AD. 33
Mit den Ostertafeln des Dionysius zu Beginn des 6. Jahrhunderts war aber diese Inkarnationsära noch keineswegs Allgemeingut geworden. Vor allem zählte die Geschichtsschreibung die Jahre „vor Christi Geburt“ noch lange nach anderen Ären, meist nach
der Welterschaffungsära, deren Beginn meist auf das Jahr 3761 v. Chr. angesetzt wurde.
Erst im Hochmittelalter, gegen Ende des 13. Jahrhunderts wurde die retrospektive
Inkarnationsära, das Zählen „vor Christi Geburt“, zunächst noch sehr zögerlich, dann
mehr und mehr in die Geschichtsschreibung eingeführt. Populär wurde sie jedoch erst
mit dem Buchdruck, also zu Ende des 15. Jahrhunderts.
33
56
Aber Achtung: Der Stern von Bethlehem der Magiererzählung des Matthäus (Kap. 2) ist keine verschlüsselte astronomisch-astrologische Festlegung des Geburtsjahres dieses Jesus von Nazareth. Die
Kindheitsgeschichte Jesus des Lukas (ebenfalls dessen Kap. 2) gibt keine chronologische Einordnung
des Geburtsjahres. Beides sind heilsgeschichtliche Erzählungen, aber keine historischen Darstellungen.
Phänomen Zeit
Wilhelm Seggewiß
E
Kalenderkunst
Kalender- und Osterstreit
Der Gregorianische Kalender wird 1582 in den katholischen Ländern praktisch sofort
eingeführt. In den protestantischen Ländern jedoch erhebt sich ein Sturm der Entrüstung. Die einfachen Leute befürchten, daß ihnen 10 Tage ihres Lebens gestrichen würden. Die protestantische Intelligenz erkennt zwar die Qualität des neues Kalenders an,
kann aber das Vorpreschen des Papstes nicht akzeptieren. Kurfürst August von Sachsen
(1526 – 1586) bringt es in einem Schreiben an den Landgrafen Wilhelm IV. von HessenKassel (1532 – 1592), übrigens ein ausgezeichneter Astronomen und Erbauer der ersten
Sternwarte Deutschlands in Kassel, auf den Punkt:
Wan aber gleichwol die Kayserliche Maiestet … unns unnd andern Stenden Augßburgischer Confession befehlen würde, solchen Calendarium in unsern Land vorzustellen, so
hette es keines bedenckens. [Kat. Geburt der Zeit 1999]
Denn, so argumentiert August, auch das Konzil von Nikaia, das die Osterregel festgelegt habe, sei schließlich nicht durch den Papst sondern durch den Kaiser einberufen
worden. Nach langen Diskussionen führen die deutschen protestantischen Länder auf
Rat der Theologen des Corpus Evangelicorum ab dem Jahre 1700 den Gregorianischen
Kalender unter dem Titel „Verbesserter Kalender“ ein. 11 Tage müssen nun gestrichen
werden; auf den 18. Februar folgt der 1. März des Jahres 1700. – Wie bekannt, fand die
russische „Oktober“-Revolution nach unserem Kalender erst am 7. November 1917 statt.
Aber schon im Januar des folgenden Jahres bestimmte der Volkssowjet die Übernahme
des nicht mehr gar so neuen Kalenders (vom 31. Januar auf den 14. Februar 1918, denn
13 Tage müssen nun gestrichen werden):
Zum Zwecke der Einführung der mit fast allen Kulturvölkern gleichen Zeitrechnung auch
in Rußland … [Kat. Geburt der Zeit 1999]
Die Berechnung des Osterdatums wird jedoch im Jahre 1700 nicht zusammen mit dem
Gregorianischen Kalender von den Protestanten übernommen. Führende Astronomen
und Mathematiker, darunter Erhard Weigel (1625 – 1699) aus Jena und sein berühmter
Schüler Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 – 1716), fordern, Frühlingsanfang und Ostervollmond nicht aufgrund von Zyklen sondern astronomisch streng zu berechnen. Als
Grundlage sollen die von Johannes Kepler berechneten Tabulae Rudolphinae (1627) der
Örter von Sonne, Mond und Planeten und der Meridian von Tycho Brahes Sternwarte
Uranienborg auf der Insel Hven gelten.
So kam es in den Jahren 1704, 1724 und 1744 34 zu unterschiedlichen Festtagsdaten, was
vor allem zwischen den „Herren Katholici und den Herren Augsburger-Confession-Verwandten“ am Reichskammergericht in Regensburg, aber auch in Landesteilen mit gemischtkonfessioneller Bevölkerung zu ernsten Auseinandersetzungen Anlaß gab.
34
Im Jahre 1724 beispielsweise fiel der astronomische Vollmond auf Samstag, den 8. April, der zyklische
aber auf Sonntag, den 9. April. Die Evangelischen feierten demnach am 9. April, die Katholischen am
16. April 1724 das Osterfest.
Phänomen Zeit
57
Kalenderkunst
Wilhelm Seggewiß
Sie alle hatten vergessen, was Johannes Kepler 35 im Jahre 1613 in seinem Dialog über den
Gregorianischen Kalender den unparteiischen Mathematicus sagen ließ: „Ostern ist ein
Fest vnd khein Stern“. Durch Einwirkung Friedrichs des Großen gingen die Protestanten
dann im Jahre 1775 doch auf die zyklische Osterfestrechnung über, nannten den Kalender aber nicht den Gregorianischen, sondern den „Verbesserten Reichkalender“. – Mehr
zum Kalenderstreit findet man bei J. Hamel in [Kat. Geburt der Zeit 1999, S. 292]
Darstellung von Mondfinsternissen
Al-Qazwini, Mitte 13. Jahrhundert
35
58
Kepler, Johannes: Opera Omnia, Bd. 4. Herausgeber Ch. Frisch. Frankfurt a. M. und Erlangen 1863
Phänomen Zeit
Wilhelm Seggewiß
F
Kalenderkunst
Außergewöhnliche Osterdaten
Das Datum des Osterfestes wird nach Vorschriften des Gregorianischen Kalenders aufgrund von Zyklen und der Festsetzung des Frühlingsanfangs auf den 21. März berechnet (siehe Kapitel 4.5). Hier soll überprüft werden, ob es Abweichung von streng astronomischer Rechnung, wie Weigel und Leibniz sie gefordert hatten (siehe Anhang E), gibt.
Als erstes Beispiel sei das Jahr 1974 gewählt (alle Angaben in MEZ, Wochentage sind
nach dem Datum in Klammern vermerkt).
Beispiel 1: Das Jahr 1974
Frühlingsäquinoktium, astron.
März 21 (Do.)
01h 07m
Frühlingsvollmond, astron.
April 06 (Sa.)
22h 00m
Osterdatum folglich
April 07 (So.) ???
Ein Blick in den Kalender zeigt aber, daß das Osterfest erst am 14. April gefeiert wurde.
Es liegt also ein Verstoß gegen die Osterregel vor, wenn wir sie streng astronomisch
interpretieren, denn der 7. April ist bereits der erste Sonntag nach dem Frühlingsvollmond. Das Osterdatum ist anormal.
Ein weiteres Beispiel, das Jahr 1967:
Beispiel 2: Das Jahr 1967
Frühlingsäquinoktium, astron.
März 21 (Di.)
08h 37m
Frühlingsvollmond, astron.
März 26 (So.)
04h 21m
Osterdatum
März 26 (So.)
Im Jahre 1967 wurde Ostern also bereits am Tag des Frühlingsvollmonds gefeiert und
nicht, wie die Regel es verlangt, am Sonntag danach.
Und schließlich findet man für 1962:
Beispiel 3: Das Jahr 1962
Frühlingsäquinoktium, astron.
März 21 (Mi.)
03h 30m
Frühlingsvollmond, astron.
März 21 (Mi.)
08h 56m
Osterdatum
April 22 (So.)
Phänomen Zeit
59
Kalenderkunst
Wilhelm Seggewiß
Hier treten Äquinoktium und Vollmond nacheinander am 21. März auf. Ostern müßte
bereits am 25. März gefeiert werden; offensichtlich ergab die zyklische Rechnung als
Frühlingsvollmond den 20. April (Fr.), so daß eine anormale Verspätung von 4 Wochen
eintrat. Im Jahre 1666, als Frühlingsanfang und -vollmond nacheinander am 20. März,
einem Samstag, eintraten, hätte Ostern bereits am 21. März gefeiert werden müssen,
wurde aber mit fünfwöchiger Verspätung erst am 25. April begangen. Schließlich setzt
die Regel ja den 21. März zum Frühlingsäquinoktium, auch wenn astronomisch gesehen
eine starke Tendenz zum 20. März besteht.
Übrigens sieht man leicht, daß das Osterdatum von 1974 nicht für alle Erdbewohner
außergewöhnlich war. Denn bei Eintritt des Frühlingsvollmondes am Samstag, dem 6.
April, 22 Uhr MEZ oder 21 Uhr UT schrieb man z. B. in Moskau bereits Sonntag, den
7. April, 0 Uhr; das Osterdatum fällt also dort zurecht erst auf den 14. April. Die Grenze
des anormalen Datums liegt bei genau 45° östl. Länge, entsprechend den 3 Zeitstunden
zwischen Frühlingsvollmond und April 07, 0h in Greenwich bei 0° Länge. In fast ganz
Asien, Australien und östlich bis zur Datumsgrenze ist das Osterdatum normal. – Ähnlich sieht man bei Beispiel 2, daß für alle Orte westlich von 50,25° westl. Länge (entsprechend 3h 21m) das Osterdatum normal ist, weil dort noch der 25. März als Datum
geschrieben wird. – Das Osterdatum des Jahres 1962 (Beispiel 3) ist offensichtlich für
alle Orte der Erde anormal.
Ludwig Lange 36 hat alle Osterdaten von 1582, dem Jahr der Einführung des Gregorianischen Kalenders, bis zum Jahre 2200 n. Chr. untersucht und 52 anormale Daten gefunden, im Mittel also für jedes 12. Jahr eine Anormalität. Wegen der „Ortsabhängigkeit“
einiger Anormalitäten (s. o.) sind seine Angaben auf den „Gregorianischen“ Meridian
von Venedig (12,5° östl. Länge, wie übrigens auch für Leipzig) bezogen.
36 Lange, Ludwig: Paradoxe Osterdaten im Gregorianischen Kalender. Sitzungsber. Bayer. Akad. Wiss.,
Philosoph.-philolog. hist. Klasse, 9. Abh. 1928
60
Phänomen Zeit
Wilhelm Seggewiß
G
Kalenderkunst
Weltzyklen
Hier sollen einige Bemerkungen zum größten Zeitzyklus überhaupt, zur „Weltzeit“,
folgen. Gemeint sind damit die Ideen der Völker über den Lauf der Zeit als Ganzes –
über Jahrzehnte, Jahrtausende hinweg, über die gesamte Geschichte ihrer „Welt“.
Ganz generell kann man sagen, daß sich die meisten alten Völker und Kulturen den
Verlauf der Weltgeschichte zyklisch dachten: eine ständige Wiederholung eines Kulturabschnittes, dessen Zeitdauer zumeist aus Himmelsereignissen abgeleitet war. Man findet
– recht kurze Perioden, wie den 19-jährigen → Metonischen Zyklus der Griechen, der
eine Eigenschaft des Mondes repräsentiert,
– lange Zyklen, wie die ägyptische Sothis-Periode von 1460 Jahren, die die Dauer angibt, nach der Sirius im altägyptischen Kalender wieder an einem bestimmten Tag
aufgeht (siehe Kapitel 4.1),
– oder sehr lange Perioden, wie den kosmischen Zyklus von 4.320.000 Jahren der Inder, gebildet aus 12.000 göttlichen Jahren zu je 360 Sonnenjahren, wobei 1000 kosmische Zyklen eine kalpa ergeben, die wiederum nur einem Tag im Leben des Brahma
entspricht (vgl. Whitrow 1991).
Eine alte Kultur aber macht eine dezidierte Ausnahme von dieser zyklischen Geschichtsvorstellung, nämlich das Judentum. Die Juden sehen in der Geschichte einen
linearen Prozeß, der mit der Weltschöpfung Gottes beginnt und hinführt auf die Ankunft des Messias, des Gesandten Gottes, der ein herrliches, freud- und friedvolles
Endreich Israel errichten wird. Das Christentum hat den Messiasgedanken übernommen, jedoch ist für die Christen der Messias in der Geburt des Jesus von Nazareth
bereits erschienen. Das (End-) Reich Gottes ist bereits angebrochen, derzeit gleichwohl
noch verborgen in den Herzen der Gläubigen. Aber die Geschichte treibt auf die Wiederkehr des Messias zu, der dann nach einem großen Endgericht das Gottesreich endgültig aufrichten wird. Die Weltgeschichte ist also zweigeteilt; die Zäsur ist die Geburt
des Messias, des Christos, und folglich nimmt das christliche Abendland diesen Wendepunkt als Ausgang seiner Jahreszählung und zählt die Jahre vor und nach Christi Geburt. Innerhalb des linearen Gesamtverlaufs kann die Zeit durchaus in Zyklen ablaufen,
wie die Berechnung des Geburtsjahres Jesu durch Dionysius Exiguus (siehe Anhang D)
lehrt. Zyklisch ist das Gedenken an das einmalige Geschehen von Geburt, Tod und
Auferstehung Christi.
Augustinus lehnt zyklische Geschichtstheorien, die sich ohne Anfang und Ende stetig
wiederholen, leidenschaftlich ab. 37
37
„So also rechnen diese Philosophen mit Zeitumläufen, in denen sich in der Natur der Dinge das Gleiche immer wieder erneuert und wiederholt habe, und so auch fürderhin und ohne Unterlaß der Ring
der Welten, wie sie kommen und vergehen, sich schließen müsse; (…) Und von diesem Spiel vermögen
sie nicht einmal die unsterbliche Seele auszunehmen, selbst wenn sie schon die Weisheit gekostet: als
laufe sie ohn Unterlaß zur falschen Seligkeit und laufe von ihr wieder ohn Unterlaß zurück ins echte
Elend. (…) So ließen sich dann doch die Zeitumläufe, so seltsam falsch, von falschen, trügerischen
Weisen ausgedacht, vermeiden, auf graden Weg und in gesunder Lehre.”
(Augustinus, Civitas Dei XII, 14)
Phänomen Zeit
61
Kalenderkunst
Wilhelm Seggewiß
Aber, unserer innere Zeitvorstellung stellt dann an ihn sofort die Frage: Was war vor
dem Anfang, dem Zeitpunkt der Schöpfung, welche Zeit herrschte denn dort. Unsere
Anschauung treibt uns ja immer weiter zurück in die Vergangenheit, ohne einhalten zu
können – und ebenso vorwärts in eine nicht endende Zukunft: und danach, und danach
…? Immerhin drosselt Augustinus seine Leidenschaft ein wenig und sagt:
Ich antworte nicht mit dem oberflächlichen Scherz anderer Theologen, die der Wucht der
Frage ausweichen wollen: „Gott hat die Hölle für die Leute eingerichtet, die solche dummen Fragen stellen.“ (Augustinus, Confessiones XI, 12, 14)
Augustinus antwortet schlicht:
Gott hat mit dem Kosmos auch die Zeit erschaffen. (Augustinus, Conf. XI, 12 und 13)
Zwei Phasen der Weltgeschichte also ursprünglich! Aber: Es gab und gibt noch immer
eine folgenschwere Variante. Gemeint sind die Ideen des Abtes Joachim aus dem süditalienischen Zisterzienserkloster Fiore. Dieser Joachim von Fiore – er lebte in der 2.
Hälfte des 12. Jahrhunderts (um 1130 – 1203) – sah die Weltgeschichte in drei Reiche
eingeteilt: Das erste Reich unter der Herrschaft Gottes, des Vaters, war für Joachim das
bereits vergangene Reich des Alten Testamentes, des Judentums. Das zweite Reich, das
Joachim Jesus Christus zuordnet, ist das Reich des Neuen Testamentes – unter der Führung der Papst- und Klerikerkirche. Am Horizont sieht Joachim ein Neues Reich heraufkommen, ein Reich des Hl. Geistes, ohne ein geschriebenes Testament, unter Führung
einer Mönchskirche.
Dieses Reich des Hl. Geistes (mit einer nicht-hierarchisch aufgebauten, dagegen in
Gleichheit und Armut lebenden Kirche) scheint immer noch nicht angebrochen. Aber
die Idee eines Dritten Reiches von tausendjähriger Dauer ist seit nunmehr 800 Jahren
nicht mehr aus den Köpfen des Abendlandes wegzudenken. 38 Die Idee wird auch als
Chiliasmus 39 bezeichnet. Selbst Newton beschäftigt sich mit Joachim von Fiore. Lessing
beispielsweise sieht ein 3. Reich anbrechen, in dem die philosophische Wahrheit regieren wird. Hegel und Nietzsche wären zu nennen. Selbst Lenin denkt im Jahre 1919 bei
seiner Gründung der Dritten (sic!) Internationalen Arbeiterbewegung auch an die Vorstellung einer nun endgültigen Verwirklichung des Kommunismus. Und, natürlich, die
unselige Zeit des Dritten Reiches der Nationalsozialisten; sie hat der Erde tiefe Wunden
aufgeprägt – obwohl das Reich nicht 1000, sondern nur 12 Jahre überdauert hat; aber
auch das waren 12 Jahre zuviel.
Heute spukt die Idee eines 3. Reiches, eines Gottesreiches, noch in den Köpfen mancher
Randgruppen des Christentums, wie etwa der Mormonen oder der Zeugen Jehovas.
Freilich sehen sie inzwischen davon ab, sich auf ein Übergangsdatum festzulegen, das
für uns die Katastrophe, für sie selbst aber den Beginn des herrlichen Endreiches bedeuten würde.
38
Für Einzelheiten siehe K. Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Urban-Bücher 2. Stuttgart: Kohlhammer 1953
39
griech. χιλιοι (chilioi), tausend
62
Phänomen Zeit
Wilhelm Seggewiß
Kalenderkunst
Anzumerken ist auch, daß Eugen Drewermann auf dem Katholikentag in Ulm, Juni 2004,
energisch die Abschaffung der Klerikerkirche forderte, nachdem er 1991 bereits auf
genau 900 Seiten seine Abrechnung mit den Klerikern publiziert hatte. 40
Neuerdings glauben einige esoterische Kreise an das Heraufziehen des Wassermann(Aquarius-) Zeitalters, wenn der Frühlingspunkt aus dem Sternbild Fische in das
Tierkreissternbild Wassermann tritt (siehe Anhang B.2). Nach dem ersten Zeitalter, dem
des Widders, werde nun das zweite Zeitalter der Fische als eine Epoche des Schwertes,
einer Ära von „Aberglaube (sic!), geistiger Knechtschaft und blindem Glauben“, abgelöst von einer Ära der „Liebe und Selbstlosigkeit“, von „Wissenschaft und Altruismus“
(siehe Tausende von Seiten im Internet, oder siehe besser nicht, denn: „Getretener
Quark wird breit, nicht stark!“).
Tierkreis
Aus: Breviari d’amor,
Matfre Ermengaud, Toulouse 1354
40
Eugen Drewermann: Kleriker. Olten: Walter-Verlag 1991
Phänomen Zeit
63
Kalenderkunst
H
Wilhelm Seggewiß
Erdrotation, Polbewegung und Atomzeit
Zwei terrestrische Effekte erschweren die Festlegung eines konstanten Zeitmaßes (z. B.
des Tages und der Sekunde) und die Einrichtung eines allgemeinen Zeitsystems (z. B.
der Universal Time, der Weltzeit): die variable Rotationsdauer der Erde um ihre Achse
und die ständige Verlagerung der Erdachse im Erdkörper, bekannt auch als Polbewegung.
H.1 Erdrotation
Schon vor 1878 bemerkte der große amerikanische Astronom Simon Newcomb (1835 –
1909), daß er den Mond am Himmel nicht dort fand, wo er aufgrund der Berechnungen
der Mondbewegung hätte stehen sollen. Er schloß auf eine ungleichförmige Rotation
der Erde. Die Gemeinschaft der Astronomen (in der Astronomischen Gesellschaft und
der Internationalen Astronomischen Union) richtete ständige optisch-astronomische Beobachtungen ausgewählter Himmelskörper (Mond, Planeten, Sterne, Galaxien) ein. Seit
Mitte der 1960er Jahre sind diese abgelöst durch Laser Ranging des Mondes und künstlicher Satelliten (i. e. Entfernungsbestimmung mittels Laufzeiten reflektierten Laserlichts) und durch Radiobeobachtungen der Positionen entfernter Galaxien mittels
erdweiter Zusammenschaltung großer Radioteleskope (Very Long Baseline Interferometry, VLBI). Kleinste Effekte der variablen Erdrotation können zwar erfaßt werden,
aber generell ist es nicht möglich, verläßliche Vorhersagen zu machen. Das Wesentliche
kann man so zusammenfassen:
– Es gibt eine langzeitige Abbremsung der Erdrotation, für die die Gezeitenreibung
durch Ebbe und Flut verantwortlich gemacht wird. Sie beläuft sich auf etwa 2,5
Millisekunden pro Tag in 100 Jahren. 41 Formal würde damit der Tag in 144 Millionen Jahren um eine Stunde länger.
– Unvorhersehbar sind irreguläre Änderungen, für die man tektonische Bewegungen
im Erdinneren verantwortlich macht.
– Schließlich gibt es kleinere jahreszeitliche Schwankungen, wohl meteorologisch bedingt, z. B. durch die Verlagerung von Wasser auf der Erdoberfläche.
Durch Vergleich von heute berechneten Finsternissen von Sonne und Mond mit Datierungen der Babylonier um 600 v. Chr. kann abgeschätzt werden, daß sich die Verlangsamung der Erdrotation in diesen 1400 Jahren zu etwa 5 Stunden aufsummiert hat
(Seidelman 1992).
41
64
Die Änderung ω der Winkelgeschwindigkeit ω der Erdrotation beträgt ω / ω = (29 ± 2) · 10–9 / 100 a
(H. Enslin, in: Landolt-Börnstein, N. S., Gruppe VI, Bd. 2a. Berlin 1981)
Phänomen Zeit
Wilhelm Seggewiß
Kalenderkunst
H.2 Polbewegung
Der Bonner Astronom Friedrich Küstner (1856 – 1936) entdeckte im Jahre 1884, 42 daß die
Erdpole nicht festliegen und die Erdachse ständig im Erdkörper wandert. Seit 1899
wird die Polbewegung systematisch verfolgt. In einem erdumspannenden Netz von
Beobachtungsstationen längs des Breitengrads 39° 08' N wurde zunächst ständig die
Zenitdistanz des Nordpols gemessen. Heute benutzt man geodätische Messungen mittels Raumsonden. Man findet eine periodische Bewegung des Nordpols um einen mittleren Pol innerhalb eines Kreises von etwa 10 m Radius. Daneben bemerkt man unregelmäßige Schwankungen aber auch säkulare Bewegungen des mittleren Pols. Die Polbewegung bewirkt als unangenehmer „Sekundäreffekt“, daß sich die geographischen
Koordinaten aller Erdorte ständig ändern, also auch die Koordinaten des Royal
Observatory in Greenwich, dessen geographische Länge der Nullmeridian für die Weltzeit darstellt.
42
Bonner Astronomen haben sich 1984 vergeblich bemüht, zum 100. Jahrestag dieser bedeutenden Entdeckung die Herausgabe einer Sonderbriefmarke zu erwirken.
Phänomen Zeit
65
Kalenderkunst
Wilhelm Seggewiß
H.3 Atomzeit
Ein erstes von Himmelserscheinungen unabhängiges, aber ziemlich brauchbares Zeitmeßgerät war die Wasseruhr. Älteste Exemplare sind aus der 18. Pharaonendynastie
Ägyptens, also etwa aus dem Jahre 1400 v. Chr. erhalten. Im antiken Griechenland
wurden Wasseruhren zwischen dem 8. und 2. Jahrhundert v. Chr. zu verläßlichen
Chronometern fortentwickelt. Erst seit Beginn des 14. Jahrhunderts n. Chr. sind in Europa mechanische Uhren in Gebrauch. Großen Fortschritt brachte 1656 die Einführung
des Pendels als Taktgeber durch den niederländischen Physiker Christiaan Huygens
(1629 – 1695). Die Entdeckung des piëzoelektrischen Effekts bei Kristallen 1880 durch
die Brüder Jacques (1855 – 1941) und Pierre Curie (1859 – 1906) legte die Grundlage für
die Entwicklung der Quarzuhren, von denen brauchbare Exemplare allerdings erst
1933/34 entwickelt wurden.
Mit Quarzuhren erreicht man eine Genauigkeit von etwa 1 : 1.000.000. Dieser Wert
erscheint im Hinblick auf neuere Phänomene aus Physik, Astrophysik und Kalenderkunst, die nunmehr die variable Erdrotation und die variabler Lage der Erdachse zu
berücksichtigen hat, als zu gering. Als Zeitgeber bietet sich noch die elektromagnetische
Strahlung an. Man muß daher nach einer geeigneten Strahlung als Frequenzgeber suchen und die technische Handhabung entwickeln. Nach mancherlei Versuchen fiel die
Wahl auf das Cäsiumatom und eine seiner Möglichkeiten, Strahlung zu erzeugen. Andere gelegentlich benutzte Frequenzgeber sind z. B. Wasserstoff-Maser und Rubidiumdampf-Zellen.
Das Spektrum des Cäsiums zeigt neben Strahlung im sichtbaren, ultravioletten und
infraroten Spektralbereich auch Strahlung bei einer Wellenlänge von 3,3 cm, also im
Bereich der Radiostrahlung. Es handelt sich, physikalisch gesprochen, um die Strahlung
beim Übergang innerhalb der sogenannten „Hyperfeinstruktur des Grundzustandes“ –
Strahlung von 3,3 cm Wellenlänge oder 9.192.631.770 Hz (kurz: ca. 9.2 GHz), und das
mit „beliebig“ hoher Stabilität.
Ein kurzer Ausflug in die Physik des Cäsiumatoms sei erlaubt (siehe Penselin 43): Das
Atom besitzt in seinem Grundzustand außerhalb abgeschlossener Schalen ein 5s-Elektron, so daß sein Grundzustand mit 2S1/2 beschrieben ist. Die Quantenzahl des Gesamtdrehimpulses des Atoms ist also J = 1/2. Die Kerndrehimpulsquantenzahl ist I = 7/2. Es
gibt nun eine magnetische Dipolwechselwirkung, bei der das magnetische Kerndipolmoment des 133Cs-Kerns an das atomare Magnetfeld gekoppelt ist, das von dem Valenzelektron des Cäsiumatoms am Ort seines Kern erzeugt wird. Die Kopplung bewirkt,
daß sich die Drehimpulse von Hülle (J) und Kern (I) zu einem Gesamtdrehimpuls des
Atoms (F) zusammensetzen, wobei die Quantenzahl F nur die Werte F = I + J = 4 und
F = I – J = 3 annehmen kann („Hyperfeinstruktur“). Das Kernmoment kann sich also
parallel oder antiparallel zum Magnetfeld der Elektronenhülle einstellen.
43 Penselin, S.: Probleme der Zeitmessung. In: AG für Forschung des Landes NRW, Heft 188, S. 37. Köln und
Opladen: Westdeutscher Verlag o. J.
66
Phänomen Zeit
Wilhelm Seggewiß
Kalenderkunst
In diesen beiden Orientierungen besitzt das Atom eine unterschiedliche Gesamtenergie,
wobei der Energieabstand ∆W der beiden Zustände als „HyperfeinstrukturWechselwirkungsenergie“ bezeichnet wird. Der Energieabstand beträgt ∆W = 3,8 · 10–5
eV. Beim Übergang zwischen den beiden Zuständen F = 4 → F = 3 wird diese Energie
als Strahlung von über 9 Milliarden Hertz ausgesendet.
Da die Erdrotation kein gutes Zeitmaß liefert (siehe Kapitel 2.4), ging die Naturwissenschaft im Jahre 1967 dazu über, die Sekunde durch die Hyperfeinstrukturschwingung
des Cäsiumatoms zu definieren. Die Physikalisch-Technische Bundesanstalt PTB in
Braunschweig ist in Deutschland mit der Wahrung der Sekunde betraut (siehe [Internet
(5)]). Die Atomuhren der PTB liefern per gesetzlichen Auftrag das Zeitmaß für Deutschland. Zeitsignale dieser Uhren werden über den Langwellensender DCF77, der in
Mainflingen bei Frankfurt steht, verbreitet (77,5 kHz Sendefrequenz). Damit werden
Funkuhren bis zu einem Radius von ca. 1500 km um Mainflingen gesteuert, heute sogar
Funkuhren am Armband. Die Genauigkeit der Schwingung der Cäsium-Atome ist besser als 5 · 10–12. Die Mutteruhr der PTB gibt ihre Sekunden mit einer Abweichung von
der idealen Sekunde von sogar nur 1,5 Nanosekunden pro Tag ab (1,5 · 10–9 s/d, also
eineinhalb Milliardstel Sekunde pro Tag). Dies ist rein rechnerisch das gleiche wie
1 Sekunde in 2 Millionen Jahren.
Phänomen Zeit
67
Kalenderkunst
I
Wilhelm Seggewiß
Zonenzeiten
Wir alle wissen durch unsere ausgedehnten Kontinental- und Weltreisen, daß die Sonne
bei unserem Aufbruch nach Westen später aufgeht als in unserer geliebten Heimat;
nach Osten gewandt, geht die Sonne früher auf. Oder: Wenn am Heimatort ein neuer
Tag (um Mitternacht) beginnt, dann hat er im Osten, etwa in Moskau, längst begonnen,
im Westen wird er später beginnen, beispielsweise 6 Stunden später in den nordamerikanischen Neuenglandstaaten.
Die Ursache ist klar: Die Erde rotiert um ihre Achse. Dadurch beschreibt die Sonne –
von einem festen Ort der Erde aus gesehen – eine scheinbare Bahn mit Aufgang im
Osten, Höchststand im Süden (im sogenannten → Meridian) 44 und Untergang im Westen. Schon ein kleines Schrittchen nach Ost oder West, und wir verschieben die Zeitskala, da die Sonne ein wenig früher oder später aufgeht, früher oder später im Süden
kulminiert und im Westen untergeht. Zu Glück (!) haben aber alle Orte auf einem festen
geographischen Längenkreis zum gleichen Zeitpunkt Mittag und Mitternacht; wir sagen: Sie haben die gleiche Ortszeit! Gerolstein beispielsweise liegt ca. 15 km westlich
von Daun auf einem anderen Längenkreis und beginnt daher in seiner Ortszeit den Tag
später, und zwar um ca. 20 Sekunden – und begann daher am 1. Januar 2001 n. Chr.
auch 20 Sekunden später das 3. Jahrtausend in seiner Ortszeit!
Noch in der Mitte das vorigen Jahrhunderts gab es in deutschen Landen ein unübersehbares Gewirr von Ortszeiten. Immerhin bestimmten die Landesfürsten in den kleineren
deutschen Gebieten die Ortszeit ihrer Hauptstadt als Richtschnur für die Zeit in ihrem
Reich, eine Art „Landeszeit“ also; Staatsgrenzen waren Zeitgrenzen – und das Deutsche
Reich hatte 25 Staaten! Aber z. B. Preußen, reichend von Memel bis Aachen, schien für
eine einheitliche Zeit viel zu ausgedehnt. Spätestens aber in einer Epoche, als die landeseigenen Eisenbahnnetze überregional verknüpft wurden, schienen die Zustände völlig unhaltbar. Man bedenke, es gab Bahnhöfe mit drei Uhren unterschiedlicher Zeiten,
z. B. in Westfalen mit der eigenen Ortszeit, der Ortszeit von Berlin, dem Königssitz, und
mit der Ortszeit von Münster, der Provinzhauptstadt. Verläßliche, klare, überregionale
Fahrpläne aufzustellen, war schier unmöglich, obwohl die Bahn damals noch das Synonym für Pünktlichkeit war.
Auch nach 1871, im kleindeutsch-bismarckischen Reich konnte man sich nicht einigen
auf eine gemeinsame Zeit. Der Anstoß kam vielmehr von außen: Im Oktober des Jahres
1884 trafen sich 41 Delegationen in Washington, D. C., zur International Meridian
Conference. Es war eigentlich die erste große internationale Staatenkonferenz auf unserer Erde. Man legte zunächst den Nullmeridian, also den Ausgangskreis für die Zählung
der geographischen Länge fest, nämlich als Meridian durch das Hauptinstrument der
Königlich-Britischen Sternwarte in Greenwich bei London – gegen den Willen Frankreichs, das für das Observatoire de Paris eintrat. In einer weiteren Resolution regte die
Konferenz die Einführung von Zonenzeiten an: Ein jeweils 15° breiter Abschnitt in geographischer Länge sollte eine Zeitzone mit einer einheitlichen Zonenzeit bilden.
44
68
Höchststand der Sonne im Süden für Bewohner der Nordhemisphäre der Erde, Höchststand im Norden
für alle „Südmenschen”.
Phänomen Zeit
Wilhelm Seggewiß
Kalenderkunst
Das ergibt dann zunächst 24 Zonenzeiten, jeweils um eine Stunde versetzt, die zusammen einen vollen Tag für eine Umdrehung der Erde relativ zur Sonne ausmachen. Eine
volle Achsdrehung der Erde bedeutet zugleich das Beschreiben eines Vollkreises von
360°, und 360° geteilt durch 24 Stunden ergibt 15° pro Stunde. Warum es dann doch 25
Zeitzonen gibt, folgt aus der notwendigen Teilung der Zone um 180° geographische
Länge (siehe unten).
Der Tagesbeginn
Ortszeiten
Mitternacht – je nach geogr. Länge zu ganz
unterschiedlichen Zeiten
Zonenzeiten
Mitternacht – in 25 Zonen
in Abständen von 1 Stunde
International Meridian Conference, Oktober 1884:
Nullmeridian
Royal Observatory in Greenwich bei London
Zonenzeiten
24 Zonen zu je 15° geogr. Länge
z. B. Weltzeit (Universal Time UT): England, Portugal, Westafrika
Mitteleuropäische Zeit (MEZ): Mitteleuropa, -afrika
Eastern Standard Time (EST): New York, Neuengland, Peru
Achtung: Die Zone um 180° Länge ist zweigeteilt: Die Uhren gehen
12 Stunden vor bzw. nach UT (haben also unterschiedliche Daten!)
Tabelle 11: Der Tagesbeginn nach Orts- und Zonenzeiten
Auf diese Weise wurde z. B. die Greenwich-Zeit als Zonenzeit eingerichtet, auch Weltzeit (engl. Universal Time UT) genannt; sie gilt in England, Portugal und einigen westafrikanischen Staaten. Oder auch die Mitteleuropäische Zeit MEZ um den 15. Längengrad Ost herum, der, wie man weiß, ziemlich genau durch Görlitz an der Neiße geht. 45
Als weiteres Beispiel sei die Eastern Standard Time EST genannt, die für die Neuenglandstaaten Nordamerikas, also auch für New York, und für einige südamerikanische
Staaten gilt. Im Deutschen Reich wurden am 1. April 1894 die Ortszeiten zugunsten der
MEZ abgeschafft. Seit diesem Datum messen alle Deutschen die Zeit nach einer einheitlichen Uhr.
45
Nun ist das kontinentale Europa ein großer zusammenhängender Kultur- und Wirtschaftsraum, so daß
viele Länder auch außerhalb eines 15° breiten Streifens um Görlitz sich der MEZ-Zone angeschlossen
haben. Sie erstreckt sich daher von der Ostspitze Nordnorwegens bis zum Cabo Finisterre in Galicien,
Spanien, über 40° in Länge. Das bedeutet z. B.: Wenn im Osten Polens oder Serbiens die Sonne aufgeht, ist es bei gleicher MEZ in Galicien noch stockdunkel, denn dort geht die Sonne etwa 2 1/2
Stunden später auf; andererseits haben wir die langen, hellen Abende in Santiago de Compostela,
denn die Sonne geht mehr als 2 Stunden später unter als in Nisch an Serbiens Ostgrenze.
Phänomen Zeit
69
Kalenderkunst
Wilhelm Seggewiß
Die Karte zeigt die Verteilung der Zeitzonen in einer Mercator-Projektion der Erdkugel.
Abb. 1: Die Zeitzonen der Erde: Die Zonen gruppieren sich um die zentrale Zone Z der UT um den Meridian
von Greenwich und zählen von dort nach Osten von A bis M und nach Westen von N bis Y. Die Zonen M
und Y zeigen dieselbe Zeit, unterscheiden sich aber um einen Tag im Datum. Einige Inselgruppen in der
sog. Zone M+ beginnen den Kalendertag sogar um 26 Stunden früher als die Bewohner der Zone Y.
Die minutengenaue aktuelle Karte findet man im Internet unter http://www.worldtimezone.com/
index24.html.
Wir wollen ein kleines Gedankenexperiment machen: Es sei mittags 12 Uhr in Greenwich, also 12 Uhr UT längs der geographischen Länge von 0° (Zone Z). Wir wenden uns
nach Osten. Dann ist es in Mitteleuropa 13 Uhr, in Moskau 15 Uhr, in Japan bereits 21
Uhr abends und in einem Streifen von Ostsibirien durch den Pazifik bis nach Neuseeland (Zone M) schlägt die Glocke Mitternacht 24 Uhr, gleich 0 Uhr und der neue, der
nächste Tag beginnt. Lassen wir nun unsere Gedanken von London, 12 Uhr mittags,
nach Westen fliegen: Die Stadt New York beginnt zu erwachen, es ist 7 Uhr morgens, in
San Francisco erst 4 Uhr in der Nacht, und in Hawaii schlägt’s 2 (obwohl es eigentlich in
der Ein-Uhr-Zone liegt). Noch eine Zone weiter westlich (Zone Y) beginnt um 0 Uhr
unser heutiger Tag.
Jedoch unmittelbar westlich dieser Zone, längs einer Nord-Süd-Linie („Internationale
Datumsgrenze“), beginnt, wie wir zuvor gesehen haben, zur gleichen Zeit schon der
nächste Tag. Diese Länge-180°-Zeitzone ist also zweigeteilt, westlich wie östlich der
Grenze zeigen die Uhren die gleiche Zeit, aber der Westen (auf der Karte nach links!) ist
um genau einen Tag im Datum voraus. Das eigenartige Phänomen Datumsgrenze muß
man sich wohl einmal in einer ruhigen Stunde durch den Kopf gehen lassen, um es sich
gedanklich zu eigen zu machen.
70
Phänomen Zeit
Wilhelm Seggewiß
8
Kalenderkunst
Glossar
Äquatoriales Koordinatensystem (Äquator-System): Es umfaßt die Koordinaten
Rektaszension und Deklination, → Koordinaten
Äquinoktium (lat. aequus, gleich und lat. nox, Nacht): Tag-und-Nacht-Gleiche zu Beginn des Frühlings und des Herbstes, → Frühlingspunkt
Atomzeit, Atomsekunde, Atomuhr: Siehe Anhang H.3
Deklination: Koordinate von Himmelskörpern, → Koordinaten
Ekliptik: Dieser Großkreis ist die scheinbare Bahn der Sonne an der → Himmelssphäre,
(siehe Abb. 2) und gleichbedeutend mit dem Schnittkreis einer Ebene durch die
Erdbahn mit der Himmelssphäre. Die Ekliptik ist um 23°27'08" gegen den
Himmelsäquator geneigt („Schiefe der Ekliptik“). Allerdings ist die Schiefe der
Ekliptik nicht konstant. Sie ändert sich gegenwärtig um ca. +0,47" pro Jahr und
dürfte zwischen Extremwerten der Größenordnung 21°55' und 24°18' schwanken
(Meyers Handbuch 1994).
Ekliptikales Koordinatensystem: Es besteht aus den Koordinaten ekliptikale Länge
und ekliptikale Breite, → Koordinaten.
Epakte: Die Epakte wird in der Osterrechnung der Gregorianischen Kalenderreform
benutzt und bezeichnet die Anzahl der Tage, um die das Kalenderjahr das Mondjahr von 354 Tagen übersteigt.
Frühlingspunkt (Widderpunkt 첛): Er ist der Punkt an der → Himmelssphäre (siehe
Abb. 2), in dem sich die Sonne auf ihrer Bahn, der → Ekliptik, am Frühlingsanfang
(Frühlings-Tag-und-Nacht-Gleiche, Äquinoktium) befindet und den Himmelsäquator von Süd nach Nord überschreitet. Er also einer der Schnittpunkte von
Himmelsäquator und Ekliptik, der andere Schnittpunkt ist der Herbstpunkt. Am
Frühlingsanfang betritt die Sonne das Tierkreiszeichen Widder, daher auch
Widderpunkt genannt, zu Herbstanfang das Zeichen Waage, daher Waagepunkt
(vgl. Anhang B .2).
Nun vollführt die Achse des Kreisels „Erde“ eine Taumelbewegung (Präzession)
und beschreibt dabei einen Kegelmantel mit einem Öffnungswinkel von 23°27',
der Schiefe der Ekliptik, um die Achse der Ekliptik. Die unangenehme Folge der
Präzession ist das Rückschreiten des Frühlingspunktes auf der Ekliptik um jährlich 50,37”, so daß sich die äquatorialen Koordinaten ständig ändern. Diese
Rückwärtsbewegung des Frühlingspunktes hat auch zur Folge, daß der scheinbare
Umlauf der Sonne relativ zu einem Stern, das siderisches Jahr, etwas länger dauert
als das auf den Frühlingspunkt bezogene tropische Jahr (siehe Tabelle 12). Man
errechnet leicht, daß sich die Verschiebung von 50,37"/a in ca. 25.800 tropischen
Jahren zu einem vollen Kreis von 360° aufaddiert. Dieser Zeitraum wird Platonisches Jahr genannt.
Phänomen Zeit
71
Kalenderkunst
Wilhelm Seggewiß
Goldene Zahl (Mondzirkel): Sie bezeichnet die Nummer des Jahres im → Metonischen
Zyklus und läuft daher von 1 bis 19 (meist I bis XIX notiert). Die alten Kalendermacher ließen den Zyklus mit dem Jahr 1 v. Chr. beginnen (Goldene Zahl I). Im
Jahre 2004 leben wir daher im 105. Metonischen Zyklus und die Goldene Zahl
beträgt X. (Denn man muß nur die Jahreszahl +1 durch 19 teilen, dann erhält man
vor dem Komma die Nummer des Zyklus und als Rest die Goldenen Zahl.)
Abb. 2: Die Himmelssphäre mit der Erde im Zentrum: N* und S* bezeichnen den nördlichen und südlichen
Himmelspol. Himmelsäquator und Ekliptik schneiden sich im Frühlingspunkt (Widderpunkt) und Herbstpunkt
(Waagepunkt). Rechts sind die äquatorialen Koordinaten Rektaszension α und Deklination δ des Gestirns
G eingetragen.
Heliakischer Aufgang (Frühaufgang): Dieser Aufgang bezeichnet das erste Sichtbarwerden eines Sterns in der Morgendämmerung vor Sonnenaufgang. Wie oben (→
Ekliptik) erläutert, bewegt sich die Sonne relativ zu den „Fixsternen“ in einem Jahr
längs der Ekliptik rund um die Himmelssphäre. Das bedeutet ca. 1° pro Tag am
Himmel (≈ 360° / 365 Tage) entsprechend 4 Minuten pro Tag (≈ 24 Stunden / 365
Tage; → Sternzeit) zeitlichen Vorrückens. Die Sonne, die einen Stern am Tageshimmel überblendet hat, entfernt sich also täglich um 1° nach Osten (nach „links“
am Himmel) von ihm, bis sie schließlich soweit östlich von ihm entfernt ist, daß
der Stern morgens deutlich früher als die Sonne aufgeht und wenige Augenblicke
sichtbar bleibt, bevor die aufgehende Sonne ihn wieder überstrahlt. Von Morgen
zu Morgen geht der Stern relativ zur Sonne früher auf und die Sichtbarkeitszeiten
vergrößern sich. Heliakische Aufgänge wiederholen sich im Rhythmus des
siderischen → Jahres und wandern in einem Platonischen Jahr (→ Frühlingspunkt) durch alle Jahreszeiten. – Im Leben der Ägypter spielt der heliakische
Aufgang des hellsten Fixsterns Sirius eine wichtige Rolle (siehe Kapitel 2.1)
72
Phänomen Zeit
Wilhelm Seggewiß
Kalenderkunst
Himmelssphäre (mit Himmelsäquator und Himmelspolen): Die Himmelssphäre (Abb.
2) ist eine gedachte Sphäre (Innenansicht einer Kugeloberfläche) mit dem Erdmittelpunkt als Zentrum und beliebig großem Radius. Der Himmelsäquator ist der
Schnittkreis der Ebene durch den Erdäquator mit der Himmelssphäre. Die
Himmelspole N* und S* sind die Durchstoßpunkte einer Geraden durch die Erdachse NS mit der Himmelssphäre. Vom Himmelsäquator sind die Himmelspole
(Nord- und Südpol) ± 90° an der Sphäre entfernt. Die Sterne scheinen an der
Sphäre ortskonstant befestigt zu sein, daher Fixsterne genannt. Vor dem Hintergrund der Fixsternen bewegen sich an der Himmelssphäre die Wandelsterne, wie
z. B. Sonne und Mond, große und kleine Planeten, Kometen, Meteore, künstliche
Satelliten. Ein großes Problem besteht in der Festlegung von →Koordinaten für
die Fix- und Wandelsterne.
Jahr: Das Jahr ist, allgemein gesprochen, der Umlauf der Erde um die Sonne. Je nach
Bezugspunkt, an dem der Umlauf der Erde bzw. der scheinbare Umlauf der Sonne
an der →Himmelssphäre gemessen wird, ergeben sich mehrere unterschiedliche
Definitionen (siehe Tabelle 12). Für den Kalender ist nur das tropische Jahr maßgebend. Für Genauigkeitsfetischisten sei angefügt, daß „zur Zeit“ sein bester Wert
auf der Basis von Beobachtung und Theorie in Tagen zu 86.400 SI-Sekunden lautet:
365,242.189.669.8 – 0.000.006.153.59 T – 7,29 · 10–10 T2 + 2,64 · 10–10 T3
mit T = (JD – 2.451.545,0)/36525, wobei JD die Nummer (i. e. der ganzzahlige
Anteil) des → Julianischen Tages ist (Doggett 1992). T könnte man auch als Anzahl
der Julianischen Jahrhunderte seit dem Jahr 2000 bezeichnen, denn JD =
2.451.545,0 ist das Julianische Datum des 1. Januar 2000, 12 Uhr UT und 36525 ist
die Anzahl der Tage in 100 Jahren des Julianischen Kalenders.
Aber Achtung: Neue Beobachtungen und verbesserte Theorien der überaus komplizierten dynamischen Verhältnisse im Sonnensystem könnten den obigen Wert
bald wieder korrigieren.
Jahreszeitenjahr: Hilfsbegriff, der den astronomischen Terminus „tropisches → Jahr“
erhellen soll.
Julianisches Datum JD: Fortlaufende Tageszählung seit dem 1. Januar 4713 v. Chr.
12 Uhr UT. Der 1. Januar 2004, 12 Uhr UT, hat JD 2.453.006; siehe auch Anhang
A.1.
Konjunktion: Man spricht von der Konjunktion zweier Himmelskörper des Sonnensystems, wenn sie in Bezug auf die → Ekliptik in gleicher Richtung am Himmel
stehen, also ihre ekliptikalen Längen gleich sind. Bei Neumond sind Mond und
Sonne in Konjunktion. Stehen zwei Himmelskörper in „entgegengesetzten“ Richtungen relativ zur Erde, spricht man von einer Opposition; Beispiel ist der Vollmond und die Sonne.
Phänomen Zeit
73
Kalenderkunst
Jahr
Wilhelm Seggewiß
Zeitintervall
Länge
Abstand zwischen zwei …
Tropisches Jahr
… Durchgängen der Sonne
durch den → Frühlingspunkt
365,242.199 d
Siderisches Jahr
… Vorübergängen der Sonne
an einem festen Stern
365,256.366 d
Anomalistisches Jahr … Durchgängen der Erde
durch ihr Perihel
Finsternisjahr
365,259.626 d
… Durchgängen der Sonne
346,620.032 d
durch denselben Mondknoten
Tabelle 12: Astronomische Definitionen des Jahres (Meyers Handbuch, 1994)
Zusätzliche Begriffe: Perihel: sonnennächster Punkt einer elliptischen Bahn um die Sonne; Mondknoten
oder Drachenpunkte: Schnittpunkte zwischen → Ekliptik und Mondbahn
Koordinaten: Durch zwei Werte („sphärische Koordinaten“) wird die Position (der
„Ort“) von Himmelskörpern an der → Himmelssphäre festgelegt.
Äquatoriale Koordinaten: Der Himmelsäquator dienst als Ausgangsbasis des (bewegten) „Äquator-Systems“. Dabei projiziert man die Position eines Himmelskörpers G senkrecht herunter auf den Himmelsäquator (siehe Abb. 2 rechts) und
bildet folgende Koordinaten:
(1) Der Winkelabstand des Projektionspunktes auf dem Äquator vom → Frühlingspunkt ist die Koordinate „Rektaszension“ α, gemessen gegen die tägliche
Drehung der Sphäre, entweder im Zeitmaß (0 bis 24 Stunden) oder Bogenmaß (0°
bis 360°; also 1h = 15°).
[Anmerkung: Beginnt man die Zählung im Meridian, messend Richtung Westen,
nennt man die Koordinate den „Stundenwinkel“ im „festen“ Äquator-System.]
(2) Der senkrechte Abstand des Himmelskörpers vom Äquator heißt „Deklination“ δ, laufend von 0° für Himmelskörper auf dem Äquator bis zu ± 90° an den
Polen.
Leider ist der Ausgangspunkt der Zählung, der Frühlingspunkt, kein Fixpunkt an
der Himmelssphäre wegen seiner Wanderung aufgrund der Präzession der Erdachse. Daher ändern sich die Koordinaten ständig.
Ekliptikale Koordinaten: Die Ekliptik dient als Basis des ekliptikalen Koordinatensystems. Ähnlich wie beim Äquator-System werden für ein Gestirn G zwei Koordinaten definiert, und zwar die „ekliptikaler Länge“ l (gemessen auf der Ekliptik
von 0° bis 360°, beginnend am Frühlingspunkt) und „ekliptikaler Breite“ b (senkrechter Winkelabstand, gemessen von 0° auf der Ekliptik bis ± 90° an den sogenannten Polen der Ekliptik).
74
Phänomen Zeit
Wilhelm Seggewiß
Kalenderkunst
Lunation (lat. luna, Mond): Wechsel des Mondes von Neumond zu Neumond, auch
Zeitdauer dieses Mondwechsels; identisch mit dem synodischen → Monat
Meridian (Mittagskreis, lat. meridies, Mittag): Er ist der Großkreis an der → Himmelssphäre, der durch den Zenit und die Himmelspole verläuft; auch Nord-Süd-Kreis
genannt. Zur mittäglichen wahren → Ortszeit steht die Sonne im Meridian, in der
Umgangssprache „im Süden“.
Metonischer Zyklus (Mondzyklus): Zeitraum von 19 Jahren. Der griechische Astronom
Meton (5. Jahrhundert v. Chr.) erkannte, daß 19 tropische Jahre dem Ablauf von
235 synodischen Monaten entsprechen. Der Unterschied beträgt nur 2h 04m. Die
Folge ist: Alle 19 Jahre fallen dieselben Mondphasen ziemlich genau auf dieselben
Kalendertages des Jahres; weitere Details in Kapitel 4.3.
Mittlere Sonne, mittlerer Sonnentag: → Sonnentag
Monat: Der Monat ist, allgemein gesprochen, der Umlauf des Mondes um die Erde. Je
nach Bezugspunkt ergeben sich unterschiedliche Definitionen (siehe Tabelle 13).
Für den Kalender ist nur der synodische Monat maßgebend. Auch hier sei mit
ähnlichen Warnungen wie für das tropische Jahr der zur Zeit beste Wert für die
Dauer des synodischen Monats in Tagen gegeben:
29,530.588.853.1 + 0,000.000.212.621 T – 3,64 · 10–10 T2 mit
T = (JD – 2.451.545,0) / 36.525 (zur Erläuterung → Jahr).
Monat
Zeitintervall
Länge
Synodischer Monat
Wechsel von Neumond
zu Neumond
29,530.6 d
Tropischer Monat
Anwachsen der ekliptikalen
Länge des Mondes um 360°
27,321.6 d
Siderischer Monat
Bahnumlauf des Mondes
relativ zu einem Stern
27,321.7 d
Drakonitischer Monat Durchgänge des Mondes
27,212.2 d
durch den aufsteigenden Knoten
Anomalistischer Monat Durchgänge des Mondes
durch sein Perigäum
27,554.6 d
Tabelle 13: Astronomische Definitionen des Monats (Meyers Handbuch 1994).
Zusätzliche Begriffe: Ekliptikale Länge: → Koordinate längs der Ekliptik; Knoten oder Drachenpunkte:
Schnittpunkte zwischen Ekliptik und Mondbahn; Perigäum: erdnächster Punkt einer Satelliten-/
Mondbahn um die Erde
Phänomen Zeit
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Kalenderkunst
Wilhelm Seggewiß
Mondmonat: Hilfsbegriff, der den astronomischen Terminus „synodischer → Monat“
erhellen soll.
Neulicht: Erstes Sichtbarwerden der jungen Mondsichel am Abendhimmel nach →
Neumond; ursprünglich der Beginn eines neuen Monats im jüdischen und im
islamische Kalender
Neumond: Mondphase, bei der der Mond zwischen Erde und Sonne tritt; oder Zeitpunkt der Konjunktion von Sonne und Mond. Befindet sich der Mond dann nahe
eines Knotens seiner Bahn, d. h. nahe des Schnittpunktes von Ekliptik und Mondbahn, so tritt eine Sonnenfinsternis ein.
Ortszeit: Eine auf den Meridian eines Ortes bezogene Zeit. Alle Orte eines geographischen Längenkreises haben dieselbe Ortszeit; siehe Anhang I.
Platonisches Jahr: Dauer der Präzessionsumdrehung der Erdachse um die Achse der
Ekliptik; ca. 25.800 Jahre, → Frühlingspunkt.
Präzession: Sie bezeichnet die Taumelbewegung der Erdachse (→ Frühlingspunkt), aufgrund deren der Frühlingspunkt in einem → Platonischen Jahr einen Umlauf vor
der Fixsternsphäre vollendet.
Rektaszension: Koordinate von Himmelskörpern, → Koordinaten
Römerzinszahl (Indiktion): Sie wurde von Kaiser Konstantin im Jahre 313 n. Chr. (auch
schon im Jahre 3 v. Chr. bezeugt) für die Steuerschätzung eingeführt und läuft
stets von 1 bis 15; ohne Bezug zur Astronomie. Im Jahre 2004 beträgt die Zinszahl
12.
Sonnenjahr: Hilfsbegriff, der das tropische Jahr der Jahreszeiten erhellen soll.
Sonnentag, wahrer und mittlerer Sonnentag, wahre und mittlere Sonnenzeit: Der Sonnentag ist definiert als die Rotationsdauer der Erde in Bezug auf die Sonne, gleichbedeutend mit der Dauer des Umlaufs der Sonne an der → Himmelssphäre, gemessen zwischen zwei Durchgängen der Sonne durch den → Meridian. Dieser
„wahre“ Sonnentag, dessen Stundenlauf uns eine Sonnenuhr gibt, ist aber leider
ein periodisch veränderliches Zeitmaß. Ursache sind zwei Umstände:
(1) Die Sonne läuft nicht im Himmelsäquator sondern in der Ekliptik, bedingend
eine Zeitverschiebung gegenüber einer konstant laufenden Uhr mit halbjähriger
Periode nach Kurve b in Abb. 3.
(2) Die Sonne läuft dazu noch mit unterschiedlicher Geschwindigkeit wegen des
2. Keplerschen Gesetzes für Ellipsenbahnen, resultierend in Kurve a der Abb. 3
mit jährlicher Periode.
Um eine gleichmäßig ablaufende Zeit zu gewinnen, definiert man eine „mittlere“
Sonne, die (a) mit gleichförmiger Geschwindigkeit und (b) im Himmelsäquator
umläuft, die sich dann aber nach einem tropischen Jahr wieder mit der wahren
Sonne trifft. Der Unterschied zwischen wahrer und mittlerer Sonnenzeit heißt
Zeitgleichung. Sie bewegt sich zwischen ca. ±15 Minuten (Summenkurve c in
Abb. 3).
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Phänomen Zeit
Wilhelm Seggewiß
Kalenderkunst
Abb. 3. Die Zeitgleichung, Kurve c. Sie setzt sich aus den Kurven a und b zusammen (→ Sonnentag).
Oberhalb der Nullinie geht die wahre Sonnenzeit, repräsentiert durch die Sonnenuhr, vor, unterhalb der
Nullinie geht die Sonnenuhr gegenüber der mittleren Zeit nach.
Sonnenzirkel (Sonnenzyklus): Ein Periode von jeweils 28 Jahren im Julianischen Kalender, nach der jeder Kalendertag des Jahres wieder den gleichen Wochentag besitzt.
Im Jahre 2004 beträgt die Zahl im Sonnenzirkel 25.
Sonntagsbuchstabe: Er beruht auf einer immer wiederholten Zählung der Wochentage
eines Jahres von A bis G, stets beginnend mit A für den 1. Januar. Der Buchstabe,
den dann alle Sonntage des Jahres erhalten, ist der Sonntagsbuchstabe. Komplizierter hält man es im Schaltjahr: Der Schalttag (jetzt der 29. Februar) erhält denselben Buchstaben wie der vorangegangene Tag, so daß ab dem Schalttag der
Sonntagsbuchstabe sich um eins nach vorn verschiebt. Sonntagsbuchstaben des
Jahres 2004 sind also D bis zum 22. Februar und C ab dem 29. Februar 2004.
Sterntag, Sternzeit: Der Sterntag ist die Rotationsdauer der Erde in Bezug auf den →
Frühlingspunkt. Der Sterntag ist um ca. 4 min kürzer als der → Sonnentag, bedingt durch das Fortschreiten der Erde in ihrer Bahn um die Sonne. Sternzeit ist
der Verlauf des Sterntages in einer Einteilung von 24 Stunden. Genaue Umrechnung:
1 Sterntag = 24 Stunden Sternzeit = 23h 56m 04,090.5s Sonnenzeit,
1 Sonnentag = 24 Stunden Sonnenzeit = 24h 03m 56,555.4s Sternzeit.
Phänomen Zeit
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Kalenderkunst
Wilhelm Seggewiß
Weltzeit, Universal Time UT: Die Weltzeit ist eine auf den Meridian des historischen
Royal Observatory in Greenwich bei London (gesetzt als 0° geographischer Länge)
bezogene Zonenzeit. Zeiteinheit ist die Atomsekunde (siehe Kapitel 2.4); 86.400
Sekunden bilden einen Tag. Zur Angleichung des UT-Tages an den mittleren →
Sonnentag wird aufgrund eingehender astronomischer Beobachtungen gelegentlich eine Sekunde zugefügt oder abgezogen. Auf diese Weise entsteht die Koordinierte Weltzeit UTC (Universal Time Coordinated). Man beachte, daß die modernen Kalendermacher nicht einmal eine einzige Sekunde Abweichung zwischen
dem Kalendertag und dem mittleren Sonnentag tolerieren.
Zeitgleichung: Unterschied zwischen wahrer und mittlerer Sonnenzeit, → Sonnentag
Zonenzeit: Die Zeit innerhalb einer der 24/25 Zeitzonen der Erde; siehe Anhang I.
Taschenuhr mit Zonenzeiten
Rousier Melly, Genf um 1780
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Phänomen Zeit

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