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GÜTERSLOHER
VERLAGSHAUS
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Marie Katharina Wagner
DIE
PIRATEN
Von einem
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LLebensgefühl
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fühl
zum Machtfaktor
Gütersloher Verlagshaus
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100
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1. Auflage
Copyright © 2012 by Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
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Holzwand mit Rissen © Kara – Fotolia.com
Druck und Einband: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm
Printed in Germany
ISBN 978-3-579-06645-5
www.gtvh.de
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INHALT
DIE WELT DER PIRATEN 7
WER SIE SIND
Club Mate, Rollenspiel, My Little Pony:
Die Nerd-Kultur der Piraten 11
Flauschen, Flamen, #mimimi:
Twitter und die Sprache der Piraten 22
Aus dem Schoß der Chaosfamilie:
Warum die Piraten keine Hackerpartei sind 39
WOHER SIE KOMMEN
Als Raubkopieren politisch wird:
Der Fall »The Pirate Bay« 47
Aus dem Forum nach Darmstadt:
Der Anfang in Deutschland 54
»Zensursula« und »Stasi 2.0«:
Der Sommer der Piraten 65
Mühen der Ebene:
Das Chaos von Bingen 72
Berlin-Wahl 2011:
Die Piraten-WG im Abgeordnetenhaus 78
So sehen Sieger aus:
Der Marsch durch die Parlamente
89
WORAN SIE GLAUBEN
Grüne und Piraten:
Zwei Anti-Parteien-Parteien im Vergleich 97
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Das eigentliche Programm:
Die Software »Liquid Feedback« 105
Keiner für alle und alle für keinen:
Wie das Programm entsteht 118
Linksliberalsoziallibertär:
Der Kampf gegen Schubladen 139
Immer dem Bauchgefühl nach:
Die Suche nach Sinn 144
WIE SIE STREITEN
Grenzen der Toleranz:
Gefangene der Meinungsfreiheit 153
Durchsichtig und undurchschaubar:
Tragikomik einer Transparenzpartei 164
Geschlecht war gestern:
Von Pirat*innen, Maskulinisten und Eichhörnchen 174
WOHIN SIE GEHEN 183
LITERATUR 189
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DIE WELT DER PIRATEN
Um die Piratenpartei zu verstehen, muss man in ihre Welt eintauchen. Es ist eine seltsame, bunte, fantasievolle Welt – voller kindlicher Hobbys, seltsamer Ausdrucksweisen und einem
eigenartigen, auch bösen Humor. Eine Welt, die im Internet
entstanden ist, und mit ihr eine eigene Sprache: Sie muss man
lernen. Man muss verstehen, was es heißt, wenn ein Pirat einen
anderen »flauscht«. Man muss wissen, dass ein »Flausch« eine
virtuelle Umarmung ist, ein Sympathiebeweis, und zugleich ein
Gegenpol zum »Shitstorm«, dem gezielten Angriff auf eine Person durch aggressive Kommentare auf Twitter.
Man muss wissen, wozu das Bällebad da ist, das auf jedem
Bundesparteitag steht, gefüllt mit bunten Plastikkugeln. Dass
es für die Piraten Entspannung bedeutet, dort für eine Viertelstunde den hitzigen Parteitagsdebatten zu entkommen, mit
ihren Laptops abzutauchen, vor sich hinzutwittern oder im
Netz zu surfen.
Man muss verstehen, dass die Piraten zwischen Online- und
Offline-Zeit nicht mehr unterscheiden. Dass das Internet ihr
Lebensraum geworden ist, in dem sie Freunde finden, sich verlieben, streiten, arbeiten, schreiben und lesen, sich langweilen.
Das Internet ist ihre Welt, die sie bedingungslos lieben. Dieses
Buch soll dabei helfen, diese Welt zu verstehen.
Als sich um das Jahr 2009 herum Politiker anschicken, mit
Maßnahmen wie den Netzsperren und der Vorratsdatenspeicherung in die Netzsphäre einzugreifen, scheint sie in Gefahr.
Ihre Bewohner verbünden sich gegen den Feind. Um ihre Welt
zu verteidigen, betreten sie eine andere, die ihnen bis dahin
fremd ist: die Politik. Sie hatten nicht vorgehabt, politisch zu
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werden. Doch nun haben sie keine Wahl. Es gilt, ein Lebensgefühl zu bewahren.
Inzwischen, drei Jahre später, gibt es diesen Feind nicht
mehr. Auch die anderen Parteien bemühen sich um Verständnis für die »Netzkinder«. Für die Piraten ist das ein Problem –
weil sie nur wenig haben, das sie zusammenhält. Auch darum
geht es in diesem Buch: Woran glauben die Piraten eigentlich?
Stimmt es, dass sie sich, wie sie immer wieder beteuern, politisch nicht einordnen lassen?
Es gibt manches, was die Piraten eint. Zum Beispiel eine
tiefe Dankbarkeit dem Internet gegenüber. Es hat ihnen eine
Welt eröffnet, in der jeder gleichbehandelt wird, in der jeder
selbst bestimmen kann, wie die anderen ihn sehen. Ein Raum,
in dem nur Meinungen zählen, in dem es für jede noch so obskure Ansicht eine Nische gibt. Ein Raum, der sich selbst kontrolliert: Fällt jemand unangenehm auf, kann der »Schwarm«
ihn per »Shitstorm« maßregeln. Dabei gibt es keine Hierarchie,
keine Kontrollinstanzen, keine »Chefs« und Untergebenen. Jeder hat den gleichen Zugang zu Informationen, die meisten
Daten sind transparent und frei. Aus diesen Bedingungen speist
sich das Lebensgefühl, auf das die Piraten glauben, ein Anrecht
zu haben.
Als sie darum herum ihre Partei aufbauen, übertragen sie
all das, was sie sich im Netz angewöhnt haben, auf die Politik:
Auch dort soll es hierarchie- und diskriminierungsfrei zugehen,
mit gleichem Zugang für alle.
Zunächst scheint genau das den Sehnsüchten vieler Menschen zu entsprechen: Nach der Berlin-Wahl im September
2011 werden die Piraten als unverbrauchte, gesellschaftliche
Kraft gefeiert, für ihren revolutionären Politikstil, für ihr Anderssein. Tausende werden Mitglieder, weil sie hoffen, an der
Entstehung von etwas Neuem beteiligt zu sein, einem Gegenentwurf zu der grauen Funktionärsmasse der anderen Parteien.
Doch im Sommer 2012 macht sich Ernüchterung breit, die
Umfragewerte sinken. Die Piraten scheinen nur noch zu strei-
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ten, ein Graben tut sich auf zwischen den vielen Neumitgliedern
und den Gründungsgenerationen. Die »neuen«, von denen viele
nicht aus der Netzwelt kommen, kennen die Codes nicht, ihnen
fallen keine ironischen Kommentare und Pointen ein, die einem
im Netz Gehör verschaffen. Sie durchschauen die komplizierte
Meinungsbildungssoftware »Liquid Feedback« nicht, mit der
jedes Parteimitglied von zu Hause aus mitentscheiden soll.
Sie merken, dass es auch bei den Piraten Hierarchien gibt. Die
Partei gelangt an einen Wendepunkt: Passt sie sich weiter dem
Politikbetrieb an? Oder versucht sie, mit radikaler Transparenz
gegen Hinterzimmerpolitik und Netzwerke anzugehen? Einige
Fälle von Kungelei hat es schon gegeben. Das Misstrauen der
Mitglieder hat Gründe.
Die meisten Probleme der Piraten haben mit Übersetzungsfehlern bei ihrem Sprung aus der digitalen in die reale Welt zu
tun. Vieles funktioniert in der Realität nicht so gut wie im Internet. Das fängt mit dem ruppigen Umgangston an, der in der
Anonymität von Chats und Mailinglisten entstanden ist und
viele Außenstehende abschreckt, und führt bis zu einer alles
durchdringenden Abscheu vor Hierarchien. Sie hat zur Folge,
dass sich charismatische und schlaue Köpfe kaum hervortun
können. Außerdem glaubt die Partei, ohne Ideologie auszukommen, ohne Vision oder Gesellschaftsbild. Ihre inhaltlichen
Forderungen sind deshalb nur Trippelschritte auf einem Weg,
dessen Ziel niemand kennt.
Das liegt auch daran, dass alles in der Partei wie im Netz
»work in progress« ist und sich minütlich, je nach Laune des
Schwarms, in andere Richtungen entwickeln kann. Das Einzige,
worauf sich die Piraten einigen können, ist das Wohl und die
Freiheit des Einzelnen, für die sie kämpfen. Ihre Politik entsteht
nicht aus dem Gedanken heraus, für die Gesellschaft als Ganze
oder für andere, vielleicht schwächere, eine bessere Zukunft
zu schaffen. Es geht immer darum, die Bedingungen des Individuums zu verbessern. Der Staat wird dabei geschröpft, so
weit es geht – und soll ansonsten seine »gängelnden« Eingriffe
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unterlassen. Sind die Piraten also eine egoistische Partei ohne
jeden Gemeinschaftssinn?
Sie selbst würden das nicht so sehen. Sie empfinden sich
sogar als sehr sozial: »Sharing is Caring«, die Lieblingsfloskel der File-Sharer, bringt dieses Gefühl zum Ausdruck. Die
Piraten sehen sich, nicht nur im Urheberrecht, auf der Seite
der Schwachen – etwa der mittellosen Downloader im Kampf
gegen die verhasste »Verwertungsindustrie«. Dieses FreundFeind-Denken schafft in der Netzpolitik einen Grundkonsens,
ein Zusammengehörigkeitsgefühl. Aber was ist mit den anderen Themen, die sie beschäftigen und die ihre Zukunft bestimmen werden – mit dem bedingungslosen Grundeinkommen,
mit ihrer Haltung zu Europa? Dort fehlt ihnen eine gemeinsame
Grundlage, dort zerfasert die Partei in Grüppchen und Flügel,
die sich erbittert und vor aller Augen streiten.
Man könnte den Eindruck bekommen, als geschähe bei den
Piraten längst das Gleiche wie bei den anderen Parteien: Postengeschacher, Flügelkämpfe, Richtungsstreit. Hat die Partei
ihre Andersartigkeit schon verloren, bevor sie ihr Versprechen
einlösen konnte, den Politikstil zu verändern? Oder war sie nie
anders – weil ihre Mitglieder eben doch nur Menschen sind,
die sich nicht programmieren lassen?
Eine Besonderheit – neben Bällebad und Shitstorm – hat
die Partei noch. Es ist ihr Angebot an die Wähler, möglichst
viele gleichberechtigt an einem radikal transparenten politischen Prozess zu beteiligen. Diesen Zustand zu erreichen ist
ihr größtes Versprechen. Halten die Piraten es nicht ein, dann
haben sie sich schon bald überflüssig gemacht.
Auch das will dieses Buch zeigen.
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WER SIE SIND
CLUB MATE, ROLLENSPIEL, MY LITTLE PONY:
DIE NERD-KULTUR DER PIRATEN
Es gibt ein Wort, das man kennen sollte, wenn man die Piratenpartei verstehen will. Es heißt »Nerd«. Vor 20 Jahren nannte
man so die klugen, für Teenagerthemen unempfänglichen
Außenseiter, die sich in den Schulpausen im Computerraum
das Programmieren beibrachten. Sie wurden für ihr technisches Wissen respektiert, aber auch mit Skepsis betrachtet, da
man nur darüber spekulieren konnte, wofür sie es eigentlich
brauchten. Heute wissen wir es: »Nerds« haben all die sozialen Netzwerke, Online-Einkaufsläden und Apps programmiert,
die fast jeder täglich nutzt. Heute sind »Nerds« cool, sie sind
Avantgarde und Subkultur. Dieser Wandel ist in Deutschland
auch den Piraten zu verdanken: Sie fomten aus der Masse verhuschter Einzelgänger eine selbstbewusste politische Kraft, die
offensiv für ein Lebensgefühl eintritt – das Lebensgefühl der
Nerds.
1997 erscheint im Satiremagazin »Titanic« ein Text des
Schriftstellers Max Goldt: »Ein gutes und ein schlechtes neues
Wort für Männer«. Goldt schreibt, er habe von einer Amerikanerin erfahren, dass man dort für den plötzlich aufgetauchten Begriff dankbar sei »wie für einen lang herbeigesehnten
Regenschauer«, denn es habe bisher kein passendes Wort für
diesen Typ Mensch gegeben, für die »weniger beliebten Kommilitonen auf der High-School«. Goldt charakterisiert Nerds
folgendermaßen: »Sie haben eine sogenannte Bettfrisur, das
heißt irgendwie platt gelegene Haare, auch abends, und ge-
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UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE
Marie Katharina Wagner
Die Piraten
Von einem Lebensgefühl zum Machtfaktor
Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 192 Seiten, 13,5 x 21,5 cm
ISBN: 978-3-579-06645-5
Gütersloher Verlagshaus
Erscheinungstermin: November 2012
Partei oder Lebensgefühl? Sind die Piraten überhaupt politisch - oder doch nur eine
Protestbewegung?
Die Piraten wehen wie eine frische Brise durch die politische Landschaft in Deutschland. Dabei
machen sie den Volksparteien reihenweise Wähler abspenstig – entsprechend nervös reagieren
die etablierten Kräfte auf den neuen und rasend schnell wachsenden Machtfaktor.
Als sie gegründet wurden, waren die Piraten noch eine reine Nerd-Partei, verbunden durch
die Angst vor dem Eingriff des Staates in ihr Lebensbiotop – das Internet. Mit dieser Agenda
sprechen sie die Ansprüche einer ganzen Generation an, aber noch viel mehr: inzwischen sind
die Piraten auch zur Stimme der Protest- und Wutwähler geworden, denen es kaum oder gar
nicht um die Forderungen der Partei geht.
Wie politisch ist ihr Engagement also? Gerne erklären die Piraten, dass sie auf viele Fragen
keine Antworten wissen. Ihr Parteiprogramm formuliert kein gesellschaftliches Ziel, sondern ein
Plädoyer für ein Lebensgefühl. Marie Katharina Wagner beobachtet und begleitet die Piraten seit
Jahren. Mit ihrer fundierten Analyse geht sie der plötzlichen Piraten-Begeisterung auf den Grund
und wagt eine Prognose, wohin der Hype die Partei und Deutschland führen könnte.

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