Makroprudenzielle Aufsicht

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Makroprudenzielle Aufsicht
Aktuelle Themen
Globale Finanzmärkte
Makroprudenzielle Aufsicht
16. Juli 2012
Autor
Christian Weistroffer
+49 69 910-31881
[email protected]
Editor
Bernhard Speyer
Deutsche Bank AG
DB Research
Frankfurt am Main
Deutschland
E-Mail: [email protected]
Fax: +49 69 910-31877
www.dbresearch.de
DB Research Management
Ralf Hoffmann | Bernhard Speyer
Auf der Suche nach einem ganzheitlichen Ansatz zur
Vermeidung systemischer Risiken
Vor Ausbruch der Finanzkrise waren die Aufgabenfelder der Geldpolitik und
Finanzaufsicht klar voneinander abgegrenzt: Die Geldpolitik war für die Preisstabilität zuständig, während das Aufsichtssystem die ordnungsgemäße Führung und finanzielle Stabilität der Finanzinstitute zu überwachen hatte. Was
jedoch fehlte, war eine ganzheitliche Überwachung des Finanzsystems mit dem
Ziel und Mandat, die Stabilität des Finanzsystems als Ganzes zu sichern.
Unter der Überschrift „makroprudenzielle Aufsicht“ verfolgen Politik und Aufsichtsbehörden seither einen neuen Ansatz. Dieser hat vor allem präventiven
Charakter und sieht einen grundlegenden Wandel im Umgang mit Finanzstabilitätsrisiken vor. Zwei Aspekte stehen dabei im Vordergrund: 1) Abwehr systemischer Risiken durch die Steuerung von Kredit- und Vermögenspreiszyklen und
2) Steigerung der Widerstandskraft des Finanzsystems gegenüber systemischen Schocks.
Ein neues Aufsichtssystem befindet sich derzeit im Aufbau. Die neu geschaffenen Behörden könnten sich künftig als einflussreiche Akteure erweisen. Ob sich
das neue System bewährt, wird u.a. von der Umsetzung makroprudenzieller
Politik in die Praxis abhängen. Zu den wesentlichen Erfolgsfaktoren zählen die
institutionelle Stärke der Aufsicht, die Wirksamkeit ihrer Instrumente sowie die
Qualität ihrer Analyse.
Schwierigkeiten ergeben sich bei der Umsetzung makroprudenzieller Politik,
weil antizyklische Maßnahmen auf vielfältige Widerstände stoßen dürften. Als
schwieriger als erwartet könnte es sich beispielsweise erweisen, Institutsaufsicht und Markteilnehmer in einem wirtschaftlichen Abschwung davon zu überzeugen, dass die Kreditvergabe ausgeweitet und Kapitalpuffer der Institute reduziert werden sollten.
Die Suche nach wirkungsvollen Instrumenten und Regelungen dauert an. Sie
sollte nicht voreilig auf Vorschriften für die Kapital- und Liquiditätsausstattung
der Banken eingeengt werden. Sinnvoll erscheinen vielmehr eine sorgfältige
Analyse bei der Auswahl der Instrumente und eine umfassende Überprüfung
des derzeitigen institutionellen, rechtlichen und steuerlichen Rahmens. Darüber
hinaus sind Instrumente zur Abwehr systemischer Risiken aus Finanzgeschäften von Nichtbanken zu entwickeln.
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Einleitung
Die Idee, regulatorische und andere politische Maßnahmen zur Abwehr systemischer Risiken einzusetzen, ist nicht neu und wird von politischen Entscheidungsträgern u.a. in den Emerging Markets seit geraumer Zeit verfolgt. In einigen asiatischen Ländern beispielsweise ist es schon lange üblich, durch Obergrenzen für Beleihungsausläufe, Beschränkungen der Kapitalzuflüsse und andere Ad-hoc-Maßnahmen interne und externe Anfälligkeiten der Volkswirtschaften zu mindern. Die BIZ forderte bereits vor über zehn Jahren in einer aus heutiger Sicht richtungsweisenden Rede die „Vereinigung der mikro- und makro1
prudenziellen Dimension der Finanzstabilität“. Auch die Wissenschaft hat auf
Kreditzyklen und finanzielle Verflechtungen als mögliche Quellen systemischer
Risiken hingewiesen, und zwar lange vor Ausbruch der internationalen Finanzkrise. Neu hingegen ist, in welchem Umfang und mit welcher Intensität der regulatorische Rahmen in den Industrieländern auf den Prüfstand gestellt wird. Ein
Grund hierfür ist die bisherige Vernachlässigung systemischer Risiken in der
Institutsaufsicht und die eher enge Fokussierung der Geldpolitik auf die Sicherung der Preisstabilität. Ein anderer ist, dass die Kreditkrise die bis dahin für
hinreichend robust gehaltenen weltweiten Finanzmärkte in ihren Grundfesten
erschüttert hat. Das nun im Aufbau befindliche regulatorische Rahmen der Aufsicht ist weitaus umfassender und weitreichender als frühere Versuche, die
Überwachung des Finanzsystems zu verbessern.
Der Begriff „makroprudenzielle Aufsicht“
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Makroprudenzielle Aufsicht oder Systemaufsicht, wie wir sie in dieser Studie definieren, soll
die Finanzstabilität sichern – indem sie den
Kredit- und Vermögenspreiszyklus glättet und
die Ausbreitung von Schocks im Finanzsektor
und auf die Realwirtschaft insgesamt mindert.
Hierzu nimmt sie eine systemweite Perspektive
ein: Statt der Stabilität einzelner Institute hat die
makroprudenzielle Aufsicht die Funktionsfähigkeit des Finanzsystems als Ganzes im Auge.
Bei den gegenwärtig diskutierten Instrumenten
der makroprudenziellen Politik, wie Kapitalanforderungen und Beleihungsausläufen, handelt
es sich überwiegend um Vorschriften, die von
mikroprudenziellen Instrumenten abgeleitet und
mit Blick auf systemische Risiken angepasst
werden. Zu makroprudenzieller Politik im weiteren Sinne zählen auch Maßnahmen zur Sicherung der Finanzstabilität, die das Rechts-, Steuer- bzw. Währungssystem betreffen.
Eine ausführliche Erörterung der Begriffsherkunft findet sich bei
Clement, Piet (2010). The term “macroprudential”: origins and
evolution. BIS Quarterly Review, März 2010.
Der neue Rahmen für die makroprudenzielle Aufsicht kann als direkte Antwort
auf die Kreditkrise gesehen werden, die im Jahr 2007 begann (siehe Kurzdefinition des Begriffs „makroprudenzielle Aufsicht“ in Textbox 1). Obwohl in den
letzten Jahren erhebliche Fortschritte erzielt wurden, was das Verständnis der
Quellen systemischer Risiken angeht, ist die Suche nach einer geeigneten regulatorischen Antwort darauf alles andere als abgeschlossen. Die jüngsten
Entwicklungen in einigen hoch verschuldeten Industrieländern bestätigen
zudem die Notwendigkeit einer wirklich makroökonomischen Betrachtung
systemischer Risiken. Die Staatsschulden- und Zahlungsbilanzkrisen in den
Industrieländern und die massiven Kapitalzuflüsse in einigen Schwellenländern
bringen die makroprudenziellen Aufsichtsbehörden in Zugzwang.
Die vorliegende Studie erläutert die derzeit diskutierten Ansätze und bewertet
die vorgeschlagenen Maßnahmen und Instrumente zur Eindämmung systemischer Risiken. In Abschnitt 1 erläutern wir die Motive für die Erarbeitung eines
makroprudenziellen Regelwerks und gehen in Abschnitt 2 auf konzeptionelle
Schwierigkeiten bei der Gestaltung des neuen Aufsichtssystems ein. Abschnitt 3
bietet einen Überblick über verschiedene Ansätze zur Quantifizierung systemischer Risiken, bevor wir in Abschnitt 4 die einzelnen Instrumente bewerten und
in Abschnitt 5 die Ergebnisse zusammenfassen.
1. Motive für eine makroprudenzielle Aufsicht
Nach Ausbruch der Finanzkrise im Jahr 2007 waren Marktbeobachter schnell
dabei, den Finanzinstituten und insbesondere den Banken und Investmentbanken eine Hauptschuld an der Misere zu geben. Seither hat man ein differenzierteres Bild darüber, wie systemische Risiken entstehen und wie sie möglicherweise bekämpft werden können. Man hat erkannt, dass einzelne Marktteilnehmer zwar einen wesentlichen Beitrag bei der Eindämmung systemischer Risiken
leisten können, dass es jedoch Grenzen gibt, was man von ihnen erwarten
kann.
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Vgl. Rede von Andrew Crockett (BIZ) anlässlich der elften internationalen Konferenz der Bankenaufsicht in Basel, 20.-21. September 2000.
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Negative Rückkopplung zwischen Kreditvergabe und Vermögenspreisen
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Die Literatur beschreibt zwei Rückkopplungsmechanismen zwischen Kreditvergabe und
Vermögenspreisen, die das Finanzsystem unter
Stress setzen können: „Schulden-Deflationsmechanismus“ und „Liquiditätsspirale“.*
Der „Schulden-Deflationsmechanismus“ bezeichnet einen Prozess, bei dem sinkende
Vermögenspreise sich negativ auf den Wert von
Sicherheiten und die Verfügbarkeit von Krediten
auswirken. Sobald die Vermögenspreise und
damit der Wert der Sicherheiten sinken, reduzieren die Banken die Kreditvergabe, um die
Beleihungsausläufe (zumindest bei den neu
ausgegebenen Krediten) auf einem konstanten
Niveau zu halten. Dies führt zu einer Verknappung des Kreditangebots, was die Vermögenspreise weiter nach unten und die Ausfallquoten
nach oben treibt.
Die „Liquiditätsspirale” bezeichnet einen weiteren Mechanismus, der beim Abbau finanzieller
Ungleichgewichte Stress im Finanzsystem
verursachen kann. Danach schaffen anfängliche
Verluste Finanzierungsprobleme bei den Banken und zwingen sie, Liquidität am Markt aufzunehmen. Hierzu müssen die Institute unter
Umständen Aktiva verkaufen (ggf. auch in
Notverkäufen), wodurch Druck auf die Vermögenspreise entsteht. Die Banken erleiden weitere Kapitalverluste, was die Finanzierungsprobleme – auch bei anderen Marktteilnehmern –
verschärft. In einer solchen Abwärtsspirale
akzeptieren Gläubiger nur geringe Verschuldungsquoten und verlangen höhere Sicherheitsabschläge (Haircuts) auf hinterlegte Sicherheiten, was die Krise weiter verschärft.
Liquiditätsrisiken dieser Art spielten auch in der
europäischen Staatsschuldenkrise eine Rolle.
Im Verlauf der Krise verschärften die Clearinghäuser ihre Anforderungen an Sicherheiten,
sodass die Mitglieder des Clearingsystems
zusätzliche Sicherheiten hinterlegen mussten.
Um eine Abwärtsspirale bei der Liquiditätsversorgung zu vermeiden, reagierte die EZB mit
einer partiellen Lockerung ihrer Anforderungen
an die zu hinterlegenden Sicherheiten.
* Vgl. EZB (2010). Towards macro-financial models with
realistic characterisations of financial instability. In Financial
Stability Review. Dezember 2010. S. 138-146.
Unter anderem ist man zu dem Schluss gekommen, dass die Finanzinstitute ihr
Risikomanagement verbessern, eine verantwortliche Kreditvergabepolitik verfolgen, Kreditrisiken umsichtig steuern und bei der Einführung neuer Finanzprodukte mögliche systemische Effekte berücksichtigen müssen. Grenzen bestehen aber bei der Steuerung der Risikoposition des Finanzsystems insgesamt.
So wird man von Marktteilnehmern beispielsweise nicht erwarten können, dass
sie Einfluss auf Portfolioentscheidungen und Geschäftsstrategien ihrer Wettbewerber nehmen. In einem umkämpften Markt ist es zudem unwahrscheinlich
und – aus ordnungspolitischer Sicht – auch nicht wünschenswert, dass Finanzinstitute Geschäftsmöglichkeiten ihren Wettbewerbern überlassen, selbst wenn
dadurch das System stabiler würde. Die Verantwortung für die Sicherung der
Systemstabilität liegt daher zu einem großen Teil bei der öffentlichen Aufsicht.
Regulierungs- und Aufsichtsbehörden haben nicht nur inhaltlich eine andere
Zielfunktion als private Finanzinstitute, sie verfügen auch über andere Instrumente und haben Zugriff auf weit umfassendere Daten, die eine systemweite
Betrachtung erlauben. Es ist eine ihrer vorrangigen Aufgaben, Systemrisiken zu
bewerten und auf entstehende Bedrohungen zu reagieren.
Wo aber liegen die ursprünglichen Ursachen für Stabilitätsrisiken? In diesem
Abschnitt gehen wir kurz auf die ursächlichen Grenzen des Marktes und der
Institutsaufsicht ein und erläutern, warum eine Systemaufsicht hier Abhilfe
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schaffen kann. Zunächst zeigen wir auf, wie der Kreditzyklus zu einer überhöhten Leverage und entsprechenden Risiken im Finanzsektor beitragen kann.
Anschließend gehen wir auf das Problem ein, dass Finanzinstitute nicht aus
dem Markt ausscheiden können, ohne dass dies zu Verwerfungen im Finanzsystem führt. Wir beschreiben, wie ein Kreditboom die gegenseitigen Abhängigkeiten der Institute verstärken und Ansteckungsgefahren erhöhen kann. Abschließend begründen wir, warum der enge Fokus der Institutsaufsicht Teil des
Problems war und warum deshalb ein ganzheitlicher Ansatz in der Finanzaufsicht erforderlich ist.
Kreditzyklen – Unzureichende Koordination der Kreditvergabe
Die meisten Finanzkrisen der Vergangenheit lassen sich auf das Platzen der
Blase am Ende eines synchronen Kredit- und Vermögenspreiszyklus zurückführen. Die internationale Kreditkrise, welche 2007 ihren Anfang nahm, ist ein typisches Beispiel dafür: Die Krise entwickelte sich aus einem klassischen BoomBust-Zyklus im US-Immobilienmarkt, wo Kreditvergabeentscheidungen vielfach
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ohne Berücksichtigung systemischer Auswirkungen getroffen wurden.
Die Grundmechanismen eines Kreditzyklus lassen sich am Beispiel einer kredit4
induzierten Immobilienblase wie folgt beschreiben: Solange die Immobilienpreise in einem boomenden Markt steigen und die Ausfallquoten sinken, ermöglichen der steigende Wert der Sicherheiten und die sinkende Risikogewichtung
eine Ausweitung der Kreditvergabe. Angesichts guter Ertragsaussichten und
einer fehlenden koordinierenden Stelle weitet der Finanzsektor das Kreditengagement aus – möglicherweise über das langfristig tragfähige Maß hinaus. Steigen die Immobilienpreise und Kreditvolumina zu stark an, wächst die Wahrscheinlichkeit, dass die Blase platzt und der Finanzsektor in starkem Maße betroffen ist. In dem darauffolgenden Abschwung versuchen die Institute, ihr Gesamtrisiko zurückzufahren und tragfähige Kapitalquoten zu erreichen. Dazu
schränken sie ihre Kreditvergabe ein oder verkaufen Aktiva. Dies fördert den
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Vgl. Hanson et al. (2011) für eine weitergehende analytische Betrachtung der beschriebenen
Probleme; vgl. Galati und Moessner (2011) für einen allgemeinen Überblick über die Literatur zu
makroprudenzieller Aufsicht.
Der Zusammenbruch von Lehman Brothers und anschließende Ansteckungseffekte über den
Interbankenmarkt führten schließlich zu einer internationalen Ausweitung der Krise im Jahr 2008.
Eine theoretische Fundierung des Kreditzyklus bieten die wegweisenden Arbeiten von Kiyotaki
und Moore (1997) sowie Bernanke, Gertler und Gilchrist (1999).
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Verfall der Immobilienpreise, was sich wiederum negativ auf die Bewertung der
Sicherheiten auswirkt. Es kommt zu negativen Rückkopplungseffekten (siehe
hierzu Textbox 2).
In dem Maße, wie der Abbau von Aktiva das Risiko der einzelnen Institute verringert, erscheint das Ergebnis aus mikroprudenzieller Sicht wünschenswert.
Auf der Ebene des Gesamtsystems kann die simultane Kontraktion der Bankbilanzen jedoch die Verfügbarkeit von Krediten beeinträchtigen und damit die
Konjunktur schwächen. Sowohl in Auf- als auch in Abschwungphasen berücksichtigen die einzelnen Institute nicht in vollem Umfang die externen Effekte
ihrer Kreditvergabeentscheidungen. Diese beeinflussen jedoch das Kreditvolumen und die Vermögenspreise, was wiederum Auswirkungen auf das Verhalten
anderer Marktteilnehmer hat. Insofern der Kreditzyklus und die damit einhergehenden Risiken aus einer unzureichenden Koordination der Kreditvergabepolitik
resultieren, können makroprudenzielle Vorschriften als Korrektiv fungieren.
Ansteckungsrisiken – Unzureichende Berücksichtigung von Verlusten im System
Staatliche Eingriffe und systemische
Risiken
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Risiken für die Finanzmarktstabilität können sich
auch aus staatlichen Eingriffen ergeben, welche
Banken oder Haushalten den Zugang zu Krediten erleichtern sollen.
In den USA trug beispielsweise die staatlich
geförderte Verbriefung von Hypothekendarlehen
durch Fannie Mae und Freddie Mac dazu bei,
dass Immobilienkäufer, u.a. im Subprimesegment, sich günstig refinanzieren konnten.
Damit hatte die staatliche Förderung einen
wesentlichen Anteil an der Verschuldung der
amerikanischen Haushalte und Entwicklung der
US-Immobilienpreisblase. Auch in Europa wird
die Immobilienfinanzierung implizit oder explizit
gefördert, entweder durch das Steuersystem
oder durch anderweitige Förderprogramme.
Darüber hinaus zählten in Deutschland insbesondere auch die öffentlich-rechtlichen Landesbanken zu den (staatlich geförderten) Instituten,
die hohe Risiken im US-Immobilienmarkt eingingen.
Ein wirkungsvolles makroprudenzielles Regelwerk, das darauf abzielt, Fehlanreize und überzogenes Kreditwachstum zu korrigieren, muss
deshalb auch Marktverzerrungen im Auge
behalten, die durch staatliche Förderung und
andere Markteingriffe entstehen.
Eine weitere Quelle systemischer Risiken liegt darin, dass Finanzinstitute mögliche Kosten ihres Ausscheidens aus dem Markt nicht in vollem Umfang berücksichtigen. Im Rahmen ihres Geschäfts schließen Banken und andere Finanzinstitute eine Vielzahl von Kontrakten mit Gegenparteien außerhalb, aber auch
innerhalb des Finanzsystems. Diese direkten Verbindungen zwischen Marktteilnehmern, z.B. Wertpapierhäusern, Banken, Hedgefonds, Geldmarktfonds etc.,
bilden ein Netz gegenseitiger Forderungen und Verbindlichkeiten, über das
mögliche Probleme eines einzelnen Instituts übertragen werden können. Ein
weiterer Ansteckungskanal sind Zwangsverkäufe von Vermögenswerten, welche Marktpreise nach unten drücken. Auch über diesen Kanal können andere
Institute getroffen werden, die ähnliche Vermögenswerte halten wie diejenigen
Institute, die sich in Schwierigkeiten befinden.
Die Kosten der Ansteckung, sei es durch direkte Kreditbeziehungen, erhöhte
Ungewissheit in Bezug auf gegenseitige Exposures oder durch Zwangsverkäufe, werden üblicherweise nicht vom Finanzsystem internalisiert. Banken und
andere Finanzinstitute zahlen eine Prämie für ihr eigenes Ausfallrisiko; die Kosten für das Risiko, dass ihr Ausfall Probleme in anderen Teilen des Systems
verursachen könnte, müssen sie in der Regel jedoch nicht tragen. Um derartige
negativen externen Effekte einzudämmen, können auch hier makroprudenzielle
Vorschriften als Korrektiv eingesetzt werden.
Kreditzyklen und Ansteckungsrisiken eng miteinander verknüpft
Die Daten zum US-amerikanischen und britischen Bankenmarkt, aber auch zu
einigen Ländern der Eurozone, zeigen, dass die Zunahme des Kreditvolumens
in den Jahren vor Ausbruch der Finanzkrise Hand in Hand ging mit einem An5
stieg der intrasystemischen Refinanzierung. Der Kreditboom in diesen Ländern
wurde insbesondere auch durch grenzüberschreitende Mittelzuflüsse angeheizt,
welche im kurzfristen Interbankengeschäft zur Verfügung gestellt wurden. Die
Art und Weise, wie diese Mittel kanalisiert wurden, z.B. durch Geldmarktfonds,
strukturierte Anlageprodukte etc., schuf potenzielle Ansteckungskanäle zwischen den Institutsgruppen und über Landesgrenzen hinweg. Einige wirtschaftspolitische Maßnahmen in den USA und Deutschland trugen zusätzlich
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Hierzu zählen insbesondere Interbankenverbindlichkeiten und am Geldmarkt aufgenommene
Finanzierungsmittel in Abgrenzung zu Privateinlagen. Adrian und Shin (2010) beschreiben, wie
der Anteil der intrasystemischen Refinanzierung im Vorfeld der Finanzkrise 2007-09 zugenommen und zu zusätzlichen Anfälligkeiten geführt hat.
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zum übermäßigen Kreditwachstum in den USA und einer globalen Ausbreitung
der Risiken bei (siehe Textbox 3).
Systemische Risiken in einem
hochdiversifizierten Finanzsystem
Die Krise hat gezeigt, dass beide Dimensionen des systemischen Risikos – die
prozyklische Kreditvergabe und das Ansteckungsrisiko – eng miteinander verknüpft sind. Dies gilt insbesondere für moderne Finanzmärkte, wo Finanzinstitute mittels Verbriefungstechniken und Derivaten idiosynkratische Risiken – d.h.
spezifische Risiken, die mit einzelnen Kreditnehmern oder Wertpapieren verbunden sind – besser absichern können. Die verstärkte Nutzung von HedgingInstrumenten fördert zwar die Diversifikation auf Ebene einzelner Institute, sie
hat aber zwei Nebeneffekte: Erstens schaffen Derivate und Verbriefungstechniken einen Ansteckungskanal, sodass Probleme leichter von einem Institut auf
die anderen übergreifen können. Zweitens kann die bessere Diversifikation
idiosynkratischer Risiken dazu führen, dass Finanzinstitute relativ höheren systematischen Risiken ausgesetzt sind. Die Wahrscheinlichkeit steigt, dass ein
Kredit- oder Vermögenspreisschock viele Institute gleichzeitig trifft. Während die
Risikodiversifikation also das idiosynkratische Risiko auf Institutsebene reduziert, steigt die Notwendigkeit, Finanzstabilitätsrisiken nicht auf Ebene einzelner
Institute, sondern auf Ebene des Gesamtsystems zu bekämpfen.
Enger Fokus der Institutsaufsicht ist Teil des Problems
Ebenso wenig wie Finanzinstitute die sozialen Kosten ihres eigenen Ausfalls
internalisieren, vernachlässigen Regulierungs- und Aufsichtsbehörden u.U. die
sozialen Kosten ihres Handelns. Zur Veranschaulichung: In Boomphasen, wenn
die Ausfallquoten moderat und die wirtschaftlichen Aussichten für die Institute
günstig sind, werden Risiken im Finanzsystem auch von offizieller Seite gering
eingeschätzt. Die Institute können deshalb ihre Bilanzen ausweiten und ihr Engagement – etwa in einem boomenden inländischen Immobilienmarkt – erhöhen. Für die Institutsaufsicht gibt es keinen Grund einzugreifen, solange die
einzelnen Institute eine angemessene Liquiditäts- und Kapitalausstattung vorweisen können. Diese Perspektive vernachlässigt jedoch „Portfoliorisiken“ auf
Ebene des Gesamtsystems. Die geringere Risikogewichtung kann nämlich dazu
beitragen, dass der Verschuldungsgrad im Finanzsystem insgesamt zunimmt,
Vermögenspreise in die Höhe schnellen und das Risiko eines systemischen
Kollapses steigt.
Institutsaufsicht hat sich als kurzsichtig erwiesen
Als ebenso kurzsichtig hat sich die mikroprudenzielle Perspektive in Phasen
schrumpfender Kreditvolumina und einer sinkenden Qualität der Vermögenswerte erwiesen. In Zeiten angespannter Märkte kann es für Banken schwierig
werden, sich frisches Eigenkapital zu beschaffen. Kapitalknappe Institute haben
dann keine andere Wahl, als ihre Bilanzsumme zu reduzieren, um die gesetzlichen Eigenkapitalanforderungen zu erfüllen. Aus Sicht der Institutsaufsicht ist
das Ergebnis erwünscht, weil die Eigenkapitalquoten entsprechend den
aufsichtlichen Anforderungen steigen. Aus systemweiter Sicht kann die Bilanzreduzierung jedoch schwerwiegende Auswirkungen auf die Vermögenspreise
und Verfügbarkeit von Krediten haben, vor allem dann, wenn ein großer Teil
des Bankensektors gleichzeitig die Kreditvergabe einschränkt. Ein makroprudenzieller Ansatz ist deshalb unerlässlich, um den beschriebenen Fehlentwicklungen entgegenzuwirken.
Ganzheitlicher Ansatz in der Finanzaufsicht erforderlich
Bis zum Ausbruch der Finanzkrise und darüber hinaus überwachten die Aufsichtsbehörden hauptsächlich einzelne Marktsegmente und Institute für sich und
nicht das System als Ganzes – getreu der gängigen Überzeugung: Wenn jeder
einzelne Teil des Systems gut geführt und überwacht wird, bleibt auch das System stabil. Sowohl die Mandate der Aufsichtsbehörden als auch das institutio-
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nelle Regelwerk ignorierten systemische Aspekte weitgehend. Dass Finanzaktivitäten sich tendenziell in weniger streng regulierte Märkte verlagern und hiermit
Risiken für die Finanzstabilität einhergehen, wurde vielfach unterschätzt.
Ganzheitliche Betrachtung des
Finanzsystems erforderlich
Durch einen ganzheitlichen Ansatz in der Finanzaufsicht lassen sich die beschriebenen Mängel beseitigen. Im Idealfall sind die Aufsichtsbehörden in der
Lage, eine vollständige „Risikolandkarte“ der Institute einschließlich ihrer gemeinsamen Exposures und gegenseitigen Verflechtungen zu erstellen. Ein solcher Ansatz trägt insbesondere auch der Tatsache Rechnung, dass ein wachsender Teil der Finanzgeschäfte außerhalb des traditionellen Bankensektors
stattfindet. In den USA beispielsweise finden sich weniger als die Hälfte der
ausstehenden Verbindlichkeiten in den Bilanzen der Banken, während über die
Hälfte auf das sogenannte Schattenbankensystem entfällt. In Europa spielen die
Banken nach wie vor die wichtigste Rolle, aber auch hier hat die Finanzintermediation durch Nichtbanken zugenommen.
Ein ganzheitlicher Ansatz sorgt auch dafür, dass strengere Vorschriften für einen Teil des Systems durch entsprechende Regelungen für andere, ebenfalls
betroffene Teile ergänzt werden. Wenn also die Regulierung das OTC-DerivateGeschäft auf zentrale Clearing- und Abwicklungsplattformen zwingt, sollte eine
ganzheitlich orientierte Finanzaufsicht dafür sorgen, dass die Marktinfrastrukturen hinreichend robust sind und sich das Geschäft nicht in den unregulierten
Bereich verlagert.
Systemische Risiken nicht vollständig
zu vermeiden
Schlussendlich trägt ein ganzheitlicher Ansatz auch den Grenzen der Finanzaufsicht Rechnung: Zu einem gewissen Grad gehen systemische Risiken Hand
in Hand mit zentralen Funktionen des Finanzsystems: Fristen- und Liquiditätstransformation, die Hereinnahme kurzfristiger Einlagen, die Bewertung und
Übernahmen von Kreditrisiken – all dies ist mit potenziellen Risiken für die Stabilität der beteiligten Institute und damit des Gesamtsystems verbunden. Statt
sich auf die Minimierung des Beitrags der einzelnen Institute zum systemischen
Risiko zu konzentrieren, zielt ein ganzheitlicher Ansatz darauf ab, das System
insgesamt zu stabilisieren, damit es seine Kernfunktion erfüllen kann.
2. Auf dem Weg zu einem neuen Aufsichtssystem
Struktur des neuen Aufsichtssystems
Quelle: DB Research
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Als eine Antwort auf die internationale Finanzkrise werden derzeit Regulierungsund Aufsichtsrahmen überprüft und am Aufbau eines neuen Aufsichtssystems
gearbeitet. Ziel ist es, die offenbare Lücke zwischen Geldpolitik und mikroprudenzieller Aufsicht zu schließen und systemische Risiken im Banken- und
Finanzmarkt einzudämmen. Aufgabe der Geldpolitik ist traditionell die Sicherung
der Preisstabilität, während die Finanzaufsicht Risiken bei den einzelnen Instituten im Auge behält (siehe Grafik 4). Was im Vorfeld der Finanzkrise jedoch fehlte, war eine enge Koordination der beiden Zuständigkeitsbereiche sowie ein
klares Mandat der Aufsichtsbehörden, systemische Risiken mit Hilfe geeigneter
Instrumente zu bekämpfen. Makroprudenzielle Aufsicht soll prozyklischen Entwicklungen im Finanzsystem entgegenwirken, gegenseitige Abhängigkeiten
innerhalb des Systems mindern und dafür sorgen, dass wichtige Funktionen des
Finanzsystem auch während und nach einem Schock aufrecht erhalten werden.
Im den folgenden Abschnitten erläutern wir, welche Schwierigkeiten sich beim
Aufbau des neuen Aufsichtssystems ergeben. Dabei gehen wir insbesondere
auf die Koordination von Geldpolitik und Systemaufsicht ein und beschreiben
die Zusammenhänge zwischen System- und Institutsaufsicht. Abschließend
geben wir einen kurzen Überblick über die neuen Aufsichtsbehörden, welche in
jüngster Zeit in verschiedenen Ländern geschaffen wurden und nun dort die
Aufgabe einer Systemaufsicht übernehmen sollen.
Aktuelle Themen
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Koordination von makroprudenzieller Aufsicht und Geldpolitik
Die Literatur gibt zwar keine eindeutige Antwort darauf, ob die Geldpolitik auch
die Stabilität des Finanzsystems sichern sollte, empirische Untersuchungen
belegen aber, dass sie die Übernahme von Risiken durch Banken und andere
Marktteilnehmer beeinflusst. Werden die Zinsen über einen längeren Zeitraum
von der Notenbank auf einem niedrigen Niveau gehalten, kann sich ein Marktumfeld entwickeln, in dem Risiken nicht mehr angemessen eingepreist werden.
Ein makroprudenzielles Regelwerk darf deshalb den Einfluss der Geldpolitik auf
die Finanzstabilität nicht außer Acht lassen.
Makroprudenzielle Aufsicht in der EU –
ein aktuelles Experiment
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Gegenwärtig lässt sich in der Eurozone beobachten, welche Schwierigkeiten bei der Koordination von makroprudenzieller Politik und
Geldpolitik bestehen können: Um die Konjunktur
anzukurbeln und Deflationsdruck zu vermeiden,
senkte die EZB über die letzten Jahren die
Zinsen auf ein historisch niedriges Niveau.
Gleichzeitig wurden im Rahmen des vorgesehenen Zeitplans von Basel III und durch Ad-hocMaßnahmen auf Entscheidung der Staats- und
Regierungschefs der EU zuletzt die Eigenkapitalanforderungen an die Banken verschärft.
Durch die höhere Eigenkapitalausstattung der
Großbanken will man das Vertrauen in den
Bankensektor wiederherstellen und dafür sorgen, dass die Banken für einen möglichen
Anstieg der Ausfallquoten gewappnet sind.
Aus makroprudenzieller Sicht haben EZB und
Politik eindeutig entgegengesetzt auf die aktuellen Finanz- und Wirtschaftsprobleme reagiert.
Die Entscheidungen aus Brüssel wirken alles
andere als expansiv auf das Finanzsystem. Sie
stehen auch im Gegensatz zum aus makroprudenzieller Sicht geforderten antizyklischen
Ansatz – wenngleich anzumerken ist, dass die
Banken zuvor keine hinreichenden Puffer aufgebaut hatten, die eine antizyklische Reaktion
erlaubt hätten. Der resultierenden Gefahr einer
Kreditklemme steuerte die EZB teilweise mit
einer Ausweitung der Liquiditätshilfe entgegen.
Es bleibt abzuwarten, wie sich diese Politik
langfristig auf die Stabilität des Finanzsystems
auswirkt. Bislang hat die europäische Systemaufsicht (Europäischer Ausschuss für Systemrisiken, ESRB) davon abgesehen, den offensichtlichen Widerspruch zwischen beiden Politikfeldern zu kommentieren.
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Allerdings taugen geldpolitische Instrumente nur bedingt zur aktiven Steuerung
von Finanzstabilitätsrisiken. Die Zinspolitik hat einen asymmetrischen Einfluss
auf die Übernahme von Risiken und den Verschuldungsgrad der Finanzinstitute:
Einerseits können längerfristig niedrige Zinsen dazu beitragen, dass die Verschuldung und die systemischen Risiken steigen. Durch Spekulations- und Kreditblasen ausgelösten Krisen ging oftmals eine übermäßig lockere Geldpolitik
voraus. Andererseits dämpft eine Anhebung der Zinssätze die Kreditnachfrage
nicht unbedingt im gewünschten Maß. Dies gilt besonders dann, wenn die Preise für Vermögenswerte stark steigen und die Marktteilnehmer einen großen
Risikoappetit haben. Werden die Zinsen angehoben, kann sich die Risikowahrnehmung jedoch plötzlich ändern. Damit einher geht die Gefahr, dass die Vermögenspreise abstürzen und die Kreditqualität sich verschlechtert.
Soll die Geldpolitik Preisstabilität sichern – und gegebenenfalls auch das Wirtschaftswachstum fördern – kann sie sich nicht voll auf die Vermeidung systemischer Risiken konzentrieren. Es bedarf makroprudenzieller Instrumente, um
Risiken für das Finanzsystem direkter zu bekämpfen und die Preis- und Finanzstabilität gleichzeitig zu sichern. Nur zwei getrennte Instrumentarien bieten hierfür die nötige Flexibilität.
Die simultane Steuerung von Inflations- und Stabilitätsrisiken erfordert jedoch
eine neutrale Bewertung der vorhandenen Risiken und eine enge Abstimmung
zwischen den beiden Politikbereichen. In den meisten Fällen werden Geldpolitik
und Systemaufsicht die gleiche Zielrichtung verfolgen. Makroprudenzielle Politik
kann dann die Geldpolitik durch eine Feinsteuerung des Kreditzyklus ergänzen.
Es kann aber auch vorkommen, dass Geldpolitik und Finanzaufsicht widerstreitende Ziele verfolgen: beispielsweise, wenn die Notenbank durch eine Erhöhung der Zinsen die Inflation bremsen will, dabei aber Gefahr läuft, den Finanzsektor zu destabilisieren. In diesem Fall lässt sich die Gefährdung des Finanzsektors durch eine Lockerung der Kapitalanforderungen mindern.
Je nach Ausgestaltung des institutionellen Rahmens kann es auch zu Interessenkonflikten innerhalb des Aufsichtssystems kommen. Bei einer zu großen
institutionellen Nähe der Systemaufsicht zur Notenbank besteht die Gefahr,
dass Bedenken beispielsweise gegenüber einer zu lockeren Geldpolitik nicht
angemessen geäußert werden. Umgekehrt kann z.B. eine Erhöhung der Kapitalanforderungen für Banken die Zentralbank in eine Lage bringen, in der sie mit
zusätzlichen Liquiditätshilfen und einer Lockerung der Geldpolitik die Stabilität
des Systems sichern muss. Textbox 5 liefert ein aktuelles Beispiel, wie beide
Politikbereiche im Wiederspruch zueinander stehen können.
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Makroprudenzielle Aufsicht
Rolle der makroprudenziellen Aufsicht bei fixen Wechselkursen
Verflechtung von Bank- und Staatsfinanzen
in der EWU
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Ein weiteres Problemfeld für die europäische
Systemaufsicht ist die Verflechtung zwischen
Staats- und Bankfinanzen. Die negative Beeinflussung der Staatsfinanzen durch Solvabiltiätsprobleme der Banken versucht man, auf europäischer Ebene, mit Hilfe des Europäischen
Stabilitätsmechanismus (ESM) in den Griff zu
bekommen. Um die angeschlagenen Staaten zu
schützen, sollen Gelder aus dem Fonds direkt
an Banken gewährt werden können.
Die starke Abhängigkeit der Banken von der
Bonität ihres Heimatlandes und die damit verbundenen Systemrisiken bleiben allerdings
bestehen. Wenn die Überlebensfähigkeit nationaler Bankensysteme weiterhin schicksalhaft
mit der Solidität der Staatsfinanzen des Heimatlandes verbunden ist, besteht bei abnehmender
Bonität des Staates die Gefahr eines Vertrauensverlustes in das Bankensystem.
Aus makroprudenzieller Sicht ergibt sich ein
Dilemma: Die Bereitstellung unbegrenzter Zentralbankmittel in akuten Krisensituationen kann
die Gefahr eines Zusammenbruchs des Bankensystems mindern. Gleichzeitig werden den
Banken jedoch auch Anreize gesetzt, ihr Engagement gegenüber dem Heimatstaat auszuweiten. Damit erhöht man langfristig das Systemrisiko und ermutigt Staaten, ihre riskante Verschuldungspolitik fortzusetzen (Moral Hazard).
Makroprudenzielle Instrumente als
Ersatz für geldpolitische Instrumente
Noch mehr spricht für den Einsatz makroprudenzieller Instrumente, wenn ein
Land seine Währung an den Wert einer anderen Währung koppelt. Werden die
Leitzinsen von der Notenbank eines anderen Landes vorgegeben, kann die
Systemaufsicht die fehlenden Möglichkeiten einer gezielten geldpolitischen Intervention zum Teil kompensieren. Schließlich liegen die makroprudenziellen
Instrumente weiterhin in den Händen der nationalen bzw. lokalen Behörden.
China, Hongkong, aber auch einige lateinamerikanische Länder, die ihre Währung an den US-Dollar gekoppelt haben, steuern den Kreditzyklus seit geraumer
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Zeit mithilfe makroprudenzieller Instrumente.
Eine besondere Rolle spielt die Systemaufsicht auch in großen, heterogenen
Währungsräumen, wie etwa der EWU oder den USA. Auch hier fehlen die geldpolitischen Instrumente, um den jeweiligen wirtschaftlichen Bedingungen der
einzelnen Regionen gerecht zu werden. Weil für den gesamten Währungsraum
die gleichen monetären Standards gelten, sind die Bedingungen für manche
Regionen möglicherweise zu locker und für andere zu straff. Die regionalen
Kreditzyklen entwickeln sich nicht synchron. Wo die monetären Bedingungen zu
locker sind, wird die Konjunktur angeheizt. Die boomenden Regionen importieren mehr als sie exportieren. Gleichzeitig steigt die externe Verschuldung, da
Kapital in die boomenden Regionen nachströmt.
Die makroprudenzielle Steuerung kann hier gegensteuern. Sie kann dazu beitragen, dass die Kreditzyklen innerhalb eines Währungsraums nicht zu weit
auseinanderdriften und die externen Ungleichgewichte für einzelne Regionen
untragbar werden. Durch Einschränkung der Verfügbarkeit von Krediten und
Erhöhung der Kreditkosten in Regionen, für welche die monetären Bedingungen
zu locker sind, kann sie eine Kreditblase verhindern. Aber auch in einer wirtschaftlichen Abschwungphase kann sie eine wichtige Rolle spielen: Sie kann
den Abbau der Verschuldung („Deleveraging“) begleiten und dabei die Stabilität
des Finanzsystems als Ganzes im Blick behalten.
Zu einem gewissen Grad können makroprudenzielle Instrumente sogar als Er7
satz für zinspolitische Instrumente dienen. Die Geldpolitik wirkt über das Bankensystem, d.h. indem sie die Bedingungen für Kredite und Einlagen beeinflusst. Mit makroprudenziellen Instrumenten lassen sich genau diese Bedingungen ebenfalls beeinflussen. Sie sind geeignet, die Preisstabilität auch dann zu
sichern, wenn zinspolitische Instrumente nicht zur Verfügung stehen. Im Hinblick auf die gegenwärtige Zahlungsbilanzkrise im Euroraum, wo eine gewisse
Anpassung der relativen Binnenpreise erforderlich ist, ließe sich so einem
übermäßigen Preisanstieg in den Kernländern entgegenwirken.
Verzahnung von mikro- und makroprudenzieller Aufsicht
Instrumente der Institutsaufsicht übernommen und angepasst
Die Instrumente der Systemaufsicht – antizyklische Kapitalpuffer, Beleihungsausläufe, Systemrisikoaufschläge oder andere Maßnahmen – gründen allesamt
auf dem mikroprudenziellen Regelwerk. Im Rahmen der makroprudenziellen
Aufsicht werden sie jedoch in erster Linie angewendet, um die Zunahme systemischer Risiken oder eine starke Kontraktion des Kreditangebots zu verhindern,
nicht, um die Funktionsfähigkeit einzelner Institute zu sichern. Der makroprudenzielle Ansatz ergänzt die Institutsaufsicht daher um eine zusätzliche
Perspektive: Er hat nicht die Funktionsfähigkeit der einzelnen Institute im Blick,
sondern die Stabilität des Gesamtsystems.
Die Zusammenarbeit zwischen Instituts- und Systemaufsicht sieht wie folgt aus:
In der Regel ist die Institutsaufsicht für die Datensammlung und Kontaktpflege
6
7
9
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Einen Überblick über den Einsatz makroprudenzieller Instrumente in Schwellenländern bietet
Moreno (2011).
Vgl. Cecchetti und Kohler (2012).
Aktuelle Themen
Makroprudenzielle Aufsicht
Diskretionäres oder regelbasiertes Eingreifen?
7
Bei der Gestaltung des regulatorischen Rahmens für makroprudenzielle Aufsicht stellt sich
die Frage, ob man (i) automatisch greifende
stabilisierende Maßnahmen im Regelwerk
verankert oder (ii) mehr Spielraum für
diskretionäre Entscheidungen lässt. Beide
Ansätze haben ihre Vor- und Nachteile.
Insbesondere, wenn die Aufsichtsbehörden
unpopuläre Entscheidungen zu treffen haben,
lässt ein regelbasiertes Vorgehen weniger
Spielraum für politische Einflussnahme. So
könnte es beispielsweise Widerstand geben,
wenn die Behörden das Kreditangebot in einer
Phase einschränken, in der Kreditgeber und
-nehmer von einem boomenden Häusermarkt
profitieren. Eine regelbasierte Maßnahme könnte dann leichter durchzusetzen sein. Andererseits bietet der diskretionäre Ansatz mehr Flexibilität, auf entstehende Instabilitäten im Finanzsystem zu reagieren.
zu den Finanzinstituten zuständig. Sie überwacht Risiken bei den einzelnen
Instituten und sorgt dafür, dass die Banken die aufsichtsrechtlichen Vorschriften
einhalten. Auch die Systemaufsicht sammelt und analysiert Daten, aber aus
einer systemweiten Perspektive. Sie arbeitet hauptsächlich mit zwei Kommunikationsinstrumenten: Handlungsempfehlungen und Risikowarnungen. Indem sie
Handlungsempfehlungen ausspricht, übt die Systemaufsicht eine indirekte Kontrolle über mikroprudenzielle Instrumente aus; die direkte Kontrolle über diese
Instrumente ist ihr in den meisten Fällen jedoch verwehrt. Je nachdem, was das
zugrunde liegende Regelwerk vorsieht und welche Instrumente eingesetzt werden, können die Maßnahmen der Systemaufsicht auf diskretionären Entscheidungen oder festgelegten Regelungen basieren (siehe Textbox 7).
Die zusätzliche Aufsichtsebene mit ihren teilweise von der Institutsaufsicht abweichenden Zielen birgt ein gewisses Konfliktpotenzial. Beispielsweise kann ein
Interessenkonflikt entstehen, wenn die Systemaufsicht als antizyklische Maßnahme die Kreditvergabebedingungen lockern will, die Institutsaufsicht aber
besorgt ist ob der Qualität des Kreditportfolios der betroffenen Institute. Die Institutsaufsicht plädiert in dieser Situation vielleicht für eine Verschärfung der
Kapitalanforderungen, damit die einzelnen Institute Stresssituationen überstehen können, während die Systemaufsicht eine Kreditklemme befürchtet. In den
meisten Jurisdiktionen hat in solchen Fällen die Institutsaufsicht das letzte Wort,
was den Einfluss der Systemaufsicht limitiert.
Aufbau einer leistungsfähigen Finanzaufsicht
Ob es gelingt, die einzelnen Politikbereiche erfolgreich zu koordinieren und die
Ziele einer makroprudenziellen Aufsicht durchzusetzen, wird entscheidend von
der institutionellen Stärke der Systemaufseher abhängen. Ergänzen die
makroprudenziellen Aufseher nur das ohnehin schon komplexe Aufsichtssystem
um einen weiteren Spieler oder entwickeln sie sich zu ähnlich einflussreichen
Akteuren wie die Zentralbanken?
Politische Durchsetzungsfähigkeit
nicht selbstverständlich
Ohne direkte Interventionsrechte wird der Erfolg der Systemaufsicht in den
meisten Fällen von der Qualität der vorgelegten Analysen und der Überzeu8
gungskraft der ausgesprochenen Empfehlungen abhängen. Die neuen Behörden werden bei der Erfüllung ihrer Aufgaben nach außen auf die politischen
Durchsetzungsfähigkeiten ihrer Vertreter angewiesen sein. Nach innen sind die
Entscheidungsgremien meist mit Vertretern der Notenbank, des Finanzministerium und auch der Institutsaufsicht besetzt. Interessenskonflikte welche zwischen den einzelnen Akteuren auftreten können so schon frühzeitig identifiziert
werden. Die Verschärfung aufsichtlicher Standards in Zeiten boomender Märkte
oder die Lockerung der Standards in Krisensituationen dürfte sich vor diesem
Hintergrund jedoch als schwer durchsetzbar erweisen, insbesondere dann,
wenn die Systemaufsicht bei Vertretern der Politik, Marktteilnehmern und anderen Interessengruppen auf zusätzlichen Wiederstand stößt.
Neue Akteure mit potenziell starkem
Einfluss
Mit der Einführung makroprudenzieller Aufsichtsbehörden treten neue, potenziell einflussreiche Akteure auf den Plan. Ihre Vorgaben können die Stimmung im
Markt beeinflussen oder zu konkreten Eingriffen in das Geschäft der Finanzintermediäre führen. Finanzinstitute und andere Marktteilnehmer haben daher
ein Interesse daran, Entscheidungen der makroprudenziellen Aufsicht genau zu
verfolgen. Gleichzeitig muss die Systemaufsicht – ähnlich wie die Geldpolitik –
effizient mit den Marktteilnehmern kommunizieren und so die Markterwartungen
steuern.
8
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Vgl. hierzu Speyer (2012).
Aktuelle Themen
Makroprudenzielle Aufsicht
Die neuen Aufsichtsbehörden – eine Übersicht
In den USA und Europa nimmt das neue Aufsichtssystem allmählich Gestalt an.
Neue Behörden wurden geschaffen und mit dem Mandat zur Überwachung der
Systemstabilität ausgestattet. Tabelle 8 gibt einen Überblick über die entstandenen makroprudenziellen Aufseher in der Europäischen Union, in den USA
und Großbritannien.
Der Europäische Ausschuss für
Systemrisiken (ESRB)
In der EU ergänzt der Europäische Ausschuss für Systemrisiken (ESRB) die
drei anderen europäischen Aufsichtsbehörden, welche für die Überwachung der
Wertpapiermärkte (ESMA), der Banken (EBA) sowie des Versicherungswesens
und der betriebliche Altersversorgung (EIOPA) zuständig sind. Während die
direkte Aufsichtsbefugnis nach wie vor bei den nationalen Behörden liegt, kann
Makroprudenzielle Aufsicht im Vergleich
EU
8
USA
GB
Europäischer Ausschuss für Financial Stability Oversight Financial Policy
Systemrisiken (ESRB)
Council (FSOC)
Committee (FPC)
Mandat
- Vermeidung oder Minde- - Identifizierung und Berung systemischer Risiken
kämpfung von Risiken für
im europäischen Finanzdie US-Finanzstabilität
system
- Förderung der Marktdis- Sicherung des EUziplin durch Beseitigung
Binnenmarktes sowie eines von Bailout-Erwartungen
nachhaltigen Wachstums
im Finanzsektor
Instrumente - Keine formelle Weisungs- - Festlegung zu überwabefugnis
chender NichtbankFinanzunternehmen und
- Stattdessen Warnung vor
Marktinfrastrukturen
systemischen Risiken und
- Identifizierung systemischer Risiken im britischen Finanzsystem
- Bestimmung geeigneter
Instrumente zur Bekämpfung systemischer
Risiken
- Empfehlungen zu systemischen Risiken an
die Bankenaufsicht und
Finanzinstitute
Empfehlungen an EU- Empfehlungen an Auf- Weisungsbefugnis in
Mitgliedsländer auf der Ba- sichtsbehörden zu strengeBezug auf die Implemensis von „comply or explain“ ren prudenziellen Stantierung konkreter Instrudards
mente durch mikroprudenzielle Behörden
- Empfehlungen bei Zuständigkeitskonflikten und regulatorischen Lücken an den
Kongress
Governance- - Vorsitz: EZB-Präsident
Struktur
- 37 weitere stimmberechtig- te Mitglieder, inkl. Notenbankchefs und 28 nicht
stimmberechtigte Mitglieder
aus Aufsichtsbehörden
Vorsitz: US-Finanzminister - Vorsitz: Gouverneur der
Bank of England (BoE)
9 weitere stimmberechtigte
und 5 nicht stimmberechtig- - 11 stimmberechtigte
te Mitglieder aus AufsichtsMitglieder (6 aus der
behörden
BoE), 1 nicht stimmberechtigtes Mitglied
Datensamm- - EZB, Europäische Auf- Office of Financial Re- Bank of England
lung und sichtsbehörden (EBA,
search (OFR), Fed und ananalyse
ESMA, EIOPA), nationale
dere Aufsichtsbehörden
Zentralbanken, Ausschüsse
des ESRB
Vorteile
- Schließt institutionelle
- Stärkere Koordinierung der - Weisungsbefugnis für
Lücke in der Überwachung Aufsichtsbehörden.
konkreten Einsatz
systemischer Risiken inmakroprudenzieller In- Kann Institute unter die
nerhalb der EU
strumente
aufsichtliche Kontrolle der
Fed stellen
Nachteile
- Keine direkten Eingriffsmöglichkeiten
- Regulatorische Landschaft - Keine direkte
weiterhin komplex
aufsichtliche Kontrolle
der Finanzinstitute oder - Aufsicht weiterhin in Hän- - Governance praktisch
märkte
den der nationalen Behörunverändert gegenüber vor
den, komplexe Leitungsder Krise
struktur
Anmerkung: Formelles Gesetzgebungsverfahren in Bezug auf das FPC noch nicht abgeschlossen.
Quellen: Kern et al. (2012), FSOC, ESRB, Bank of England
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Aktuelle Themen
Makroprudenzielle Aufsicht
der ESRB Warnungen und Empfehlungen an die nationalen Entscheidungsträger aussprechen. In institutioneller Hinsicht ist der ESRB nah bei der EZB angesiedelt: Das Sekretariat sitzt bei der EZB und der EZB Präsident führt den Vorsitz im Verwaltungsrat. Auch bei ihrer Analyse von Systemrisiken greift die Be9
hörde teilweise auf die Arbeit der EZB zurück.
Der Financial Stability Oversight
Council (FSOC)
Das Financial Policy Committee (FPC)
In den USA wurde durch den Dodd-Frank Act die Aufgabe der Überwachung
von Systemrisiken dem Financial Stability Oversight Council (FSOC) übertragen. Der FSOC soll Systemrisiken identifizieren und systemrelevante Finanzinstitute überwachen. Eine seiner Hauptaufgaben besteht darin, systemisch relevante Nichtbank-Finanzinstitute und Anbieter von Marktinfrastrukturen zu identifizieren, deren Ausscheiden aus dem Markt größere Verwerfungen zur Folge
hätte („too big to fail“) und die deshalb unter verstärkte Aufsicht zu stellen sind.
Im Gegensatz zum ESRB ist der FSOC institutionell beim Finanzministerium
angesiedelt. Der Finanzminister ist Vorsitzender des FSOC. Dessen Forschungsabteilung, das Office of Financial Research (OFR), ist ebenfalls beim
10
Finanzministerium angesiedelt.
Die makroprudenzielle Aufsichtsbehörde Großbritanniens, das Financial Policy
Committee (FPC), wurde nach dem Vorbild des Monetary Policy Committee
(MPC) gestaltet. Ähnlich dem MPC, welches die Geldpolitik festlegt, hat das
FPC die Aufgabe, makroprudenzielle Positionen zu formulieren. Hierzu überwacht es u.a. die Ausweitungen der Kreditmenge und systemische Risiken im
britischen Finanzsystem. Auf Initiative des FPC ergreift die mikroprudenzielle
Aufsichtsbehörde (Prudential Regulation Authority, PRA), welche ebenfalls bei
der Notenbank angesiedelt ist, entsprechende aufsichtliche Maßnahmen.
3. Messung und Bewertung systemischer Risiken
Der Erfolg der Systemaufsicht hängt entscheidend von der Qualität der vorgelegten Analyse ab, wobei die richtige Messung und Bewertung systemischer
Risiken aus zwei Gründen wichtig ist: Zum einen müssen die Aufsichtsbehörden
relevante Bedrohungen für die Finanzstabilität präzise identifizieren und priorisieren können. Sie müssen Risiken vorausschauend erkennen, damit genügend
Zeit bleibt, auf Entwicklungen zu reagieren. Zum anderen müssen die Hinweise
hinreichend belastbar sein, damit die Aufsichtsbehörden die politischen Entscheidungsträger bzw. Marktteilnehmer vom Handlungsbedarf überzeugen kön11
nen.
In der wissenschaftlichen Literatur finden sich eine Reihe von Ansätzen zur
Messung systemischer Risiken. Die Aufsichtsbehörden haben einige dieser
Ansätze übernommen und sie entsprechend ihren spezifischen Anforderungen
angepasst oder ergänzt. Anknüpfend an unsere Ausführungen zu den Ursachen
systemischer Risiken, unterscheiden wir drei wesentliche Stabilitätsrisiken, die
12
es zu überwachen gilt: (i) den Auf- und Abbau von Kredit- und Vermögensblasen im Zeitablauf, (ii) die gemeinsame Exponiertheit der Finanzinstitute gegenüber makroökonomischen Risikofaktoren sowie (iii) mögliche Ansteckungseffekte und der systemische Risikobeitrag einzelner Institute.
Überwachung des Auf- und Abbaus finanzieller Ungleichgewichte
Krisenverläufe ähneln sich
Trotz unterschiedlicher Ursachen folgten Banken- und Finanzkrisen Ende der
1980er und Anfang bis Ende der 1990er Jahre in den Industrieländern sowie in
den Schwellenländern Lateinamerikas und Südostasiens allesamt dem gleichen
9
10
11
12
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Für eine detaillierte Erörterung des neuen Aufsichtssystems in der EU siehe Speyer (2011).
Für eine eingehende Erörterung der Rolle des FSOC in den USA siehe Kern und Lantz (2012).
Allerdings lässt sich die Qualität der vorgelegten Analysen erst im Nachhinein bewerten, nachdem die prognostizierten Risiken eingetreten sind oder eben nicht.
Vgl. EZB (2010) für eine ähnliche Unterscheidung.
Aktuelle Themen
Makroprudenzielle Aufsicht
Muster: In allen Fällen war vor Ausbruch der Krise ein gleichzeitiger starker
Anstieg der Kreditvergabe und Vermögenspreise zu beobachten. Die SubprimeKrise in den USA, aber auch die europäische Staatsschuldenkrise sind weitere
Beispiele aus jüngster Zeit, wie eine lockere Kreditvergabepolitik, verbunden mit
einem anhaltenden Anstieg der Vermögenspreise, zu Problemen im Finanzsektor führen kann.
Frühwarnsysteme
Um Anfälligkeiten frühzeitig zu erkennen, hat man Frühwarnsysteme entwickelt,
die Risiken mittels aggregierter Finanzmarktdaten und makroökonomischer
Größen aufspüren sollen. Dabei konzentrierten sich die entsprechenden Modelle anfangs auf die Prognose von Banken- und Währungskrisen in aufstrebenden
Volkswirtschaften. Zu den typischen Indikatoren zählten der Leistungsbilanzsaldo eines Landes, seine Wettbewerbsfähigkeit, die Außenfinanzierung etc. Diese
Indikatoren erfassen die Verschlechterung wirtschaftlicher und finanzieller Fundamentaldaten im Vorfeld einer Krise. Da diese Modelle jedoch nur relative kurze Prognosehorizonte abdeckten und zu Fehlalarmen neigten, trugen sie kaum
13
dazu bei, die Entwicklung finanzieller Ungleichgewichte zu verhindern.
Langer Prognosehorizont erforderlich
Neuere Ansätze decken wesentlich längere Prognosezeiträume von bis zu fünf
Jahren ab, so dass den Aufsichtsbehörden potenziell genügend Reaktionszeit
bleibt, wenn sich Fehlentwicklungen abzeichnen. Die aktuellen Modelle konzentrieren sich auf Anzeichen für Spekulations- und Kreditblasen. Zu den weiteren Indikatoren zählen die Wholesale-Refinanzierungsquote, die üblicherweise
bei einer Aufblähung der Bankbilanzen steigt, sowie die Erosion der Risikoaufschläge am Interbankenmarkt, welche die Anfälligkeit des Systems erhöht.
Unterscheidung zwischen gesunden
und ungesunden Boomphasen
Um den Aufbau von Ungleichgewichten zu erkennen, muss man die tatsächliche Entwicklung der Kreditmenge und Vermögenspreise mit der fundamental
gerechtfertigten Entwicklung vergleichen. Im Idealfall lässt sich diese Benchmark aus modellbasierten empirischen Analysen ableiten. Das ist jedoch nicht
immer problemlos möglich. Die „natürliche Wachstumsrate“ der inländischen
Kreditmenge kann sich aus einem Aufholprozess ergeben, aus einer Produktivitätssteigerung oder auch aus einer Vertiefung der Finanzmärkte – Faktoren, die
allesamt schwer zu greifen sind. Noch schwieriger ist, die fundamental gerechtfertigte Entwicklung für Vermögenspreise zu bestimmen. Eine Benchmark kann
in diesen Fällen auch rein mechanisch festgelegt werden, etwa anhand eines
gleitenden Durchschnitts oder eines anderweitig bestimmten Langfristtrends.
Solche mechanistischen Indikatoren haben mittlerweile auch Eingang in die
14
regulatorische Diskussion gefunden.
Überwachung des Abbaus von
Ungleichgewichten
Die jüngsten Krisensituationen haben gezeigt, dass der Abbau von öffentlichen
und privaten Schulden – und die damit einhergehende Anpassung der Bankbilanzen – das Finanzsystem über einen längeren Zeitraum destabilisieren können. Aus makroprudenzieller Sicht ist es deshalb wichtig, nicht nur den allmähliche Aufbau finanzieller Ungleichgewichte, sondern auch die nachfolgende Kontraktionsphase so effektiv wie möglich zu überwachen. Hier besteht aus wissenschaftlicher und regulatorischer Sicht noch Bedarf, geeignete Indikatoren und
Instrumente zu entwickeln.
Im Gegensatz zum Aufbau von Ungleichgewichten wird der Abbau überwiegend
anhand von Ad-hoc-Daten gemessen. Marktdaten wie CDS Spreads oder Zinsspannen im Interbankenmarkt geben Auskunft über das Stressniveau im Finanzsystem. Anhand von Kreditausfallquoten, des Volumens an notleidenden
Krediten oder Marktdaten zur Höhe der verbrieften Forderungen lässt sich die
Qualität der Kreditportfolios von Finanzinstituten bewerten. Aus Umfragedaten
13
14
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Vgl. Weistroffer und Vallés (2011).
So hat der Basler Ausschuss für Bankenaufsicht (BCBS) beispielsweise einen antizyklischen
Kapitalpuffer vorgeschlagen, der sich nach der Abweichung des Kreditwachstums vom langfristigen Trend errechnet – ein Vorschlag, der ursprünglich von Borio und Lowe (2004, 2006) entwickelt wurde.
Aktuelle Themen
Makroprudenzielle Aufsicht
zu den Kreditkonditionen der Banken und der Kreditvergabe an Unternehmen
und Privathaushalte lässt sich die Verfügbarkeit von Kreditmitteln für den nichtfinanziellen Sektor ableiten.
Messung des gemeinsamen Exposures gegenüber makroökonomischen Risikofaktoren
Makro-Stresstests
9
Stresstests werden in der Regel auf der Ebene
einzelner Marktteilnehmer durchgeführt, um die
Widerstandsfähigkeit einzelner Institute unter
ungünstigen externen Bedingungen zu ermitteln. So wird beispielsweise der Wertverlust
eines Kredit- oder Wertpapierportfolios einer
Bank ermittelt, unter der Maßgabe eines statistisch unwahrscheinlichen aber gravierenden
Schocks. Dieses Prinzip wenden die Aufsichtsbehörden im Rahmen sogenannter MakroStresstests auch auf das Bankensystem insgesamt an, mit dem Ziel systemweite Schwachstellen aufzudecken.
Kritiker weisen bisweilen darauf hin, dass die
willkürlich festgelegten Testszenarios nicht die
schwierigen Bedingungen abbildeten, die sich in
Krisen ergeben könnten. Zudem basierten die
Tests zu stark auf bisherigen Korrelationen, die
bisweilen nicht im erforderlichen Maße nichtlineare Entwicklungen berücksichtigten. Nichtsdestoweniger sind Makro-Stresstests ein hilfreiches Instrument, wenn es darum geht, die
Ausbreitung potenzieller Schocks im Finanzsystem abzuschätzen.
Eine Zunahme finanzieller Ungleichgewichte geht oft damit einher, dass Finanzinstitute den gleichen Risikofaktoren ausgesetzt sind – beispielsweise durch ihr
Engagement im inländischen Immobilienmarkt oder eine ähnliche Refinanzierungsstruktur. Systemschocks – egal, ob durch den Abbau finanzieller Ungleichgewichte oder durch die Realwirtschaft ausgelöst – können dann eine
Reihe von Instituten gleichzeitig treffen.
Zur Beurteilung der Anfälligkeiten des Finanzsystems bedarf es einer ganzheitlichen Betrachtung der finanziellen Risiken. Die Bewertung gemeinsamer
Exposures hängt in hohem Maße von der Qualität und Aktualität der zugrunde
gelegten Daten ab – etwa Daten zu Liquiditäts- und Fristeninkongruenzen sowie
bilanziellen und außerbilanziellen Risiken, einschließlich offener Derivatepositionen. Insbesondere für das sogenannte Schattenbankensystem stellt die
Erhebung entsprechender Daten nach wie vor ein Problem dar. Zum Schattenbankensystem zählen Unternehmen, die bankähnlichen Geschäftsaktivitäten
verfolgen, wie Kreditvergabe oder Liquiditätstransformation, die aber nicht der
Bankenaufsicht unterstehen. Marktinfrastrukturen und -dienstleister, d.h. Zahlungssysteme, Clearing- und Abrechnungsgesellschaften sowie zentrale Gegenparteien, sind ebenfalls von wesentlicher Bedeutung für die Funktionsfähigkeit des Systems und können systemischen Risikofaktoren ausgesetzt sein.
Eine umfassende Bewertung der Schwachstellen im Finanzsystem sollte daher
die Nichtbanken-Finanzinstitute, aber auch die privaten Haushalte und Unternehmen einschließen.
Messung des Ansteckungsrisikos und des systemischen Risikobeitrags
Bis hierhin haben wir verschiedene Ansätze zur Messung der Entwicklung systemischer Risiken im Zeitablauf analysiert. Im Folgenden wenden wir uns nun
der Querschnittsbetrachtung systemischer Risiken zu. Hierbei sind aus makroprudenzieller Sicht zwei Fragen von besonderem Interesse: (i) Wie breiten sich
Schocks im System aus (Ansteckungsrisiko), und (ii) inwieweit kann der Zusammenbruch eines Instituts die Stabilität des Gesamtsystems gefährden (Systemrisikobeitrag).
Vielfältige Methoden zur Messung
systemischer Risiken
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Zur Ermittlung des Ansteckungsrisikos und Systemrisikobeitrags wurden in der
Literatur eine Reihe unterschiedlicher Ansätze vorgeschlagen. Ein möglicher
Ansatz ist die Modellierung des Finanzsystems als Netzwerk, in dem die gegenseitigen Kreditbeziehungen abgebildet werden. Zur Bestimmung des systemischen Risikobeitrags werden darüber hinaus Risikomessgrößen aus Portfoliomodellen herangezogen, beispielsweise der Conditional Value at Risk (CoVar)
und der Systemic Expected Shortfall (SES). Neben modellbasierten Messverfahren wenden die Aufsichtsbehörden vor allem indikatorbasierte Verfahren an.
Die vom Basler Ausschuss für Bankenaufsicht (BCBS) empfohlene Methodik
zur Messung systemischer Relevanz basiert auf einer Kombination verschiedener Kenngrößen aus der Bilanz, wie intrasystemische Aktiva und Passiva, Level-3-Aktiva (Aktiva, für die kein liquider Markt vorhanden ist) oder grenzüberschreitende Positionen.
Aktuelle Themen
Makroprudenzielle Aufsicht
Identifizierung von SIFIs:
Anreizwirkungen berücksichtigen
Bei der Messung systemischer Relevanz gilt es jedoch zwei grundlegend ver15
schiedene Zielsetzungen zu unterscheiden: Im einen Fall konzentriert sich die
Finanzaufsicht auf die Überwachung von Ansteckungsrisiken und versucht
Schwachstellen im System frühzeitig zu erkennen. Im anderen Fall liegt ihr Augenmerk auf der Ermittlung systemrelevanter Finanzinstitute (SIFIs), um diese
strenger zu regulieren und so nach Möglichkeit die Stabilität des Systems zu
erhöhen. Wenngleich bei der Messung systemischer Risiken zum Teil die gleichen Kriterien zugrundegelegt werden, z.B. die Vernetztheit und Ersetzbarkeit
von Finanzinstituten, sind bei der Identifizierung von SIFIs zusätzlich Anreizeffekte zu berücksichtigen. Beispielsweise ist das grenzüberschreitende
Exposure eines Instituts ein wichtiger Indikator für Ansteckungsrisiken: In dem
Maße, wie Finanzinstitute in ausländischen Märkten engagiert sind – sei es
durch grenzüberschreitende Refinanzierung oder grenzüberschreitende Kreditvergabe – können Probleme leicht von einem Land auf ein anderes übergreifen.
Wird der Indikator jedoch zur Ermittlung von SIFIs herangezogen, könnte dies
betroffene Institute veranlassen, ihr grenzüberschreitendes Geschäft und die
internationale Diversifizierung zurückzufahren. Der Stabilität des Gesamtsystems wäre dies nicht notwendigerweise förderlich.
4. Auswahl wirksamer Steuerungsinstrumente
Öffentliche Behörden „lenken“ Entscheidungen des Privatsektors
Der makroprudenzielle Ansatz verlangt eine Steuerung der volkswirtschaftlichen
Kapitalallokation durch die Finanzaufsicht. Die Steuerung von Risiken geht jedoch nicht soweit, dass Aufsichtsbehörden eine zentrale Planungsfunktion
übernehmen und, mit dem Ziel die systemische Stabilität zu erhöhen, den
Marktteilnehmern bestimmte Geschäftsaktivitäten vorschreiben. Vielmehr „lenken“ die Behörden private Entscheidungen im Idealfall, ohne übermäßig in den
Markt einzugreifen. Hierzu steht ihnen eine Vielzahl an Instrumenten zur Verfü16
gung. Diese reichen von eher indirekten Maßnahmen, wie der Beeinflussung
der Refinanzierungskosten durch Kapital- und Liquiditätsanforderungen, bis hin
zu einer sehr direkten Beeinflussung der Kreditverfügbarkeit und -kosten. Tabelle 10 bietet einen Überblick über die verschiedenen Instrumente makroprudenzieller Aufsicht und gruppiert sie in zwei Kategorien: „Instrumente zur
Bekämpfung von Risiken, die durch eine übermäßige Ausweitung der Kreditvergabe entstehen“ und „Instrumente zur Bekämpfung von strukturellen Schwächen und Mechanismen, die systemische Risiken verstärken“. Viele der empfohlenen Instrumente haben den erwünschten Nebeneffekt, dass sie vorbeugende
Kapitalpuffer aufbauen für den Fall, dass etwas schiefläuft. Diese Puffer in Form
von Eigenkapital können entweder von den Finanzinstituten – z.B. durch höhere
Kapitalanforderungen – aufgebaut werden oder durch den nichtfinanziellen Sektor, z.B. durch geringere Beleihungsausläufe.
Da die Liste der möglichen Instrumente lang ist, beschränken wir uns in der
vorliegenden Analyse auf diejenigen, welche in der aktuellen regulatorischen
Diskussion die größte Rolle spielen. Dies sind insbesondere kapital- und kreditbezogene Instrumente zur Bekämpfung von Risiken, die durch eine übermäßige
17
Ausweitung der Kreditvergabe entstehen (in Tabelle 10 grau hinterlegt).
15
16
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Vgl. Weistroffer (2011).
Der IWF (2011) bietet eine umfassende Übersicht über die weltweit eingesetzten Instrumente.
Weitere Studien beziehen sich auf die Beaufsichtigung systemisch relevanter Finanzinstitute
(Weistroffer, 2011) und die regultorische Reform des OTC-Derivatemarktes (Zähres, 2011).
Aktuelle Themen
Makroprudenzielle Aufsicht
Instrumente makroprudenzieller Politik
Kapitalbezogen
Kreditbezogen
10
Instrumente zur Bekämpfung von
Risiken, die durch eine übermäßige
Ausweitung der Kreditvergabe entstehen
Instrumente zur Bekämpfung von strukturellen Schwächen und Mechanismen, die
systemische Risiken verstärken
Zeitvariable/antizyklische Eigenkapitalanforderungen oder Risikogewichtungen
Erhöhte Anforderungen an die Verlusttragfähigkeit für systemisch relevante
Finanzinstitute
Zeitvariable/dynamische Rückstellungen
Aufschlag auf nicht zur Kernfinanzierung
zählende Fremdmittel
Begrenzung der Kreditvergabe oder Limite für Gegenparteirisiken
des Kreditwachstums
Zeitvariable Obergrenzen für den
Beleihungsauslauf (LTV) oder den
Schuldendienst im Verhältnis zum
Einkommen (DTI)
Dynamische Anpassung von
Haircuts und Margins
Liquiditätsbezogen Mindestreservevorschriften
Zeitvariable Marginanforderungen
Limite für Fristeninkongruenzen
Obergrenzen für die Vergabe von
Fremdwährungskrediten
Limite für offene Währungspositionen
oder Währungsinkongruenzen
Strukturell
Einrichtung von Abwicklungsregimen für
SIFIs
Erweiterung von Offenlegungsvorschriften zur Bekämpfung systemischer Risiken
Quellen: FSB, IWF und BIZ (2011), IWF (2011), DB Research
Kapitalbezogene Instrumente
Steuerung der Kapitalallokation und
Schaffung zusätzlicher Puffer
Kapitalbezogene Instrumente sind eine wichtige Säule des neuen regulatorischen Regelwerks. Basel III sieht einen sogenannten Kapitalerhaltungspuffer,
einen antizyklischen Puffer und einen SIFI-Zuschlag vor – Instrumente, die alle18
samt als makroprudenziell einzustufen sind. Dass die Entscheidungsträger
kapitalbezogenen Instrumenten den Vorzug geben, lässt sich sowohl politisch
als auch ökonomisch begründen: Die Empfehlungen des Basler Ausschusses
sollen die Mängel des Basel-II-Regelwerks beheben, das rückblickend prozyklisch auf den Finanzsektor gewirkt hat. Nachdem ihnen die Eigenkapitalregulierung aus der Institutsaufsicht vertraut ist, gehen die Regulierungs- und Aufsichtsbehörden davon aus, dass sie dieses Instrument auch im Rahmen der
Systemaufsicht erfolgreich anwenden können. Sie streben insgesamt eine Erhöhung der Puffer im Finanzsektor an. Dabei sollen zusätzliche Eigenkapitalpuffer in erster Linie die Widerstandskraft des Finanzsektors stärken und nur in
zweiter Linie dazu dienen, Kreditrisiken aktiv zu steuern.
Antizyklische Kapitalpuffer
Zielgerichtete Kreditsteuerung nur
schwer zu erreichen
Ziel eines antizyklisch-wirkenden Eigenkapitalpuffers ist es, in Boomphasen das
Kreditwachstum zu bremsen und in Krisensituationen eine Kontraktion des Kreditangebots zu verhindern. Einige Kritiker argumentieren, dass breit wirkende
18
16 | 16. Juli 2012
Eine Darstellung der neuen Eigenkapitalvereinbarung findet sich in BCBS (2011): Basel III: A
global regulatory framework for more resilient banks and banking systems. Dezember 2010
(überarbeitet Juni, 2011). http://www.bis.org/publ/bcbs189.pdf
Aktuelle Themen
Makroprudenzielle Aufsicht
19
antizyklische Kapitalpuffer nicht geeignet seien, dieses Ziel zu erreichen. So
könnten Banken in einer Abschwungphase, wenn die Eigenkapitalanforderungen abgesenkt werden, die wirtschaftlichen Risiken aber steigen, aus Vorsicht
einen höheren Puffer vorhalten als vorgeschrieben. Sie würden den höheren
Puffer aufrechterhalten, bis die Geschäftsaussichten wieder günstiger wären
und ihn erst dann auflösen, wenn die Märkte sich wieder erholt haben – oder
sogar noch später. In diesem Fall würde der expansive Effekt nicht ausfallen wie
beabsichtigt, sich sogar ins Gegenteil umkehren.
Ebenso eignen sich antizyklische Puffer in Boomphasen möglicherweise nicht
dazu, das Kreditangebot im gewünschten Maße zu dämpfen. Werden antizyklische Puffer ohne segmentspezifische Differenzierung angewendet, beispielsweise zwischen Wohn- und Gewerbeimmobilienkrediten, so kann die Verschärfung der Kapitalvorschriften das Wachstum in einem bereits boomenden Segment aus folgendem Grund weiter anheizen: In den boomenden Sektoren ist die
Risikogewichtung im Verhältnis zu den erwarteten Erträge vergleichsweise niedrig. Weil Banken nur zögernd frisches Eigenkapital aufnehmen, reduzieren sie
möglicherweise ihr Engagement in schwächelnden Marktsegmenten und verlagern Aktivitäten in boomende Sektoren. Auch wenn die Kreditvergabe infolge
höherer Kapitalanforderungen insgesamt zurückgeht, kann der dämpfende Effekt u.U. durch eine stärkere Fokussierung auf die boomenden Sektoren überkompensiert werden.
Segmentspezifische Kapitalpuffer
Komplex und anfällig für Fehleinschätzungen
Auf den ersten Blick erscheint es deshalb sinnvoll, antizyklische Kapitalpuffer
segmentspezifisch festzulegen. Segmentspezifische Puffer können den Vorteil
haben, dass sie unerwünschten Entwicklungen direkter gegensteuern. Ihre
Wirksamkeit wird letztendlich aber davon abhängen, ob die Aufsichtsbehörde in
der Lage ist, relevante Marktsegmente zu definieren und übertriebene Markt20
entwicklungen frühzeitig zu erkennen.
Segmentspezifische Puffer erfordern eine detaillierte Beurteilung der Marktrisiken und ein Mikromanagement der Kapitalanforderungen durch die Aufsichtsbehörde. Dies umfasst auch das Management von Markterwartungen. Die Gefahr für Fehler steigt mit zunehmender Komplexität der aufsichtlichen Steuerung. Gleichzeitig steigt die Ungewissheit der Banken in Bezug auf die Maßnahmen der Finanzaufsicht, was das Management der Kapitalressourcen erschwert. Banken werden daher vermutlich über den ganzen Zyklus hinweg mehr
Kapital vorhalten als gefordert, so dass der beabsichtigte antizyklische Impuls
ausbleibt.
Antizyklische Risikogewichtungen
Insbesondere in Abschwungphasen
vergleichsweise effektiv
Anstelle einer antizyklischen Steuerung der Kreditvergabe über nominelle Eigenkapitalquote könnten die Aufseher auch die vorgeschriebene Risikogewichtung antizyklisch anpassen. Dabei würden die antizyklischen Risikogewichtungen um einen langfristigen Durchschnittswert herum schwanken. Dieser würde
die Ausfallwahrscheinlichkeit über den Konjunkturzyklus hinweg widerspiegeln.
Die Risikogewichtung könnte segmentspezifisch in einem Boom erhöht und im
Abschwung gesenkt werden. Eine Anhebung der Risikogewichtungen während
der Boomphase würde die Banken zwingen, zusätzliches Kapital aufzunehmen
oder Aktiva abzubauen – der Effekt wäre ähnlich wie bei insgesamt höheren
(nominellen) Kapitalanforderungen.
19
20
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Vgl. u.a. Bank of England (2009).
Um regulatorische Arbitrage zu verhindern und gleiche Wettbewerbsbedingungen für die
Marktteilnehmer sicherzustellen, müssten die Kapitalvorschriften gleichermaßen für in- und
ausländische Institute gelten, und die nationalen Aufsichtsbehörden müssten ihr Vorgehen eng
abstimmen.
Aktuelle Themen
Makroprudenzielle Aufsicht
Dynamische Rückstellungen in Spanien
11
Unterstützt durch einen niedrigen Realzins ist
das Kreditvolumen in Spanien seit 1995 bis
zuletzt kontinuierlich gewachsen. Mit dem Beitritt Spaniens zur Europäischen Währungsunion
im Jahr 1999 sanken die langfristigen realen
Zinsen sukzessive von 4-5% auf 0%. Aufgrund
wachsender Bedenken gegen das starke Kreditwachstum führte die Banco de España im
Jahr 2000 ein System dynamischer Rückstellungen ein. Das System, das generische Rückstellungen auf Basis des Kreditwachstums und
Kreditbestands vorsieht, sollte die Lücke zwischen den spezifischen Rückstellungen und den
durchschnittlichen erwarteten Verlusten aus
dem Kreditportfolio schließen.
Im Jahr 2004 wurde das System mit Blick auf
die anstehende Einführung der internationalen
Rechnungslegungsstandards IFRS reformiert.
Als die generischen Rückstellungen bei einem
anhaltend starken, aber noch soliden Wachstum
2% des gesamten Kreditvolumens erreichten,
wurden die ursprünglichen Vorschriften gelockert. Um einen weiteren Anstieg der als „überzogen“ empfundene Rückstellungen zu vermeiden, legte man damals eine Obergrenze für die
Höhe der akkumulierten Rückstellungen fest.
Bis zum Jahr 2007 sanken die Rückstellungen
auf 1,3% der gesamten konsolidierten Aktiva
der spanischen Kreditinstitute. Dieser Puffer
wurde aufgelöst, als zu Beginn der Finanzkrise
die Kreditverluste stiegen – ein Grund, weshalb
die spanischen Banken im europäischen Vergleich zunächst weiterhin relativ solide Gewinne
verzeichneten. Als der Immobilienmarkt 2009
jedoch zusammenbrach, stiegen die Kreditverluste und spezifischen Rückstellungen stark an,
sodass die generischen Rückstellungen im Jahr
2010 aufgezehrt waren.
Rückblickend betrachtet, hatten die spanischen
Banken in der Boomphase zu geringe Risikoaufschläge verlangt und zu geringe generische
Rückstellungen gebildet. Zunächst half das
System den Banken noch, die Belastungen
durch die Finanzkrise aufzufangen. Als die Krise
sich jedoch verschärfte, wurden die Verluste zu
groß und ließen sich nicht mehr durch die vorhandenen Rückstellungen kompensieren. Die
Lockerung der ursprünglichen Vorschriften im
Jahr 2004 hat das System also möglicherweise
zu einem Zeitpunkt geschwächt, als eine weitere Verschärfung angemessen gewesen wäre.
- de Lis, S. F. und A. Garcia-Herrero (2010). Dynamic
Provisioning: Some Lessons from Existing Experiences.
ADBI Working Paper 218.
- Saurina, J. (2009). Dynamic Provisioning, The experience of Spain. The World Bank. Juli 2009.
Eine Absenkung der Risikogewichtungen während der Abschwungphase würde
hingegen automatisch Kapital freisetzen und tendenziell expansiv auf die Kreditvergabe wirken. Die Eigenkapitalquote würde steigen, ohne dass die Banken
selbst aktiv werden müssten, d.h. ohne dass sie ihre Bilanz reduzieren oder
neues Eigenkapital am Markt aufnehmen müssten. Natürlich lässt sich auch hier
nicht ausschließen, dass die Banken nicht in der gewünschten Weise mit einer
stärken Kreditvergabe reagieren. Der Vorteil gegenüber einer Absenkung der
nominellen Eigenkapitalanforderungen ist jedoch die automatische, nach außen
hin wirksame Stärkung der Eigenkapitalbasis.
Dynamische Rückstellungen
Dynamische oder statistische Rückstellungen bilden einen Verlustpuffer zusätzlich zum Eigenkapital. Sie können dazu genutzt werden, die Gewinnentwicklung
der Finanzinstitute über den Konjunkturzyklus hinweg zu glätten. Trotz ausreichend kalkulierter (erwarteter) Verluste verhält sich die Gewinnentwicklung
i.d.R. stark prozyklisch, da sich die Verluste nicht gleichmäßig auf den gesamten Konjunkturzyklus verteilen.
Mit der Bildung statistischer Rückstellungen kann die Zyklizität der Gewinne
reduziert werden. Liegen die Verluste unter dem langfristigen Durchschnittswert,
werden Puffer in Form von Rückstellungen aufgebaut. Diese können dann in
einer Abschwungphase zur Abfederung der Verluste genutzt werden. Derartige
Finanzpolster schützen so das Eigenkapital der Banken, welches andernfalls
Verluste absorbieren müsste. Banken können so ihre Kreditvergabe im Ab21
schwung leichter aufrechterhalten.
Auch bei der Berechnung der Höhe der Rückstellungen gilt es, eine übermäßige
zyklische Entwicklung zu vermeiden. Diese ergibt sich daraus, dass statistische
Rückstellungen üblicherweise auf der drei- bis fünfjährigen Verlusthistorie des
Kreditportfolios basieren. Dieser Zeitraum hat sich jedoch vielfach als zu kurz für
eine Bestimmung des Portfoliorisikos erwiesen – insbesondere, wenn die zugrunde gelegten Daten keinen kompletten Konjunkturzyklus abdecken. Dynamische Rückstellungen sollen dieses Manko beheben. Hierzu wird der Prozentsatz
zum Aufbau des Polsters während der Aufschwungphase angehoben und in der
Abschwungphase gesenkt. Aus makroprudenzieller Sicht eignen sich dynamische Rückstellungen dazu, Banken von einer übermäßigen Ausweitung der
Kreditvergabe abzuhalten – insbesondere, wenn Boomphasen über einen längeren Zeitraum anhalten (siehe Textbox 11 zu den Erfahrungen mit dynamischen Rückstellungen in Spanien).
Kreditbezogene Instrumente
Kreditbezogene Instrumente wie Beleihungsausläufe (LTVs), Höchstgrenzen für
die Verschuldung im Verhältnis zum Einkommen (DTI) – oder auch absolute
Obergrenzen für die Kreditvergabe – können zur direkteren Steuerung der Kreditvergabepolitik eingesetzt werden. Nicht die Kreditgeber, sondern die Kreditnehmer werden dazu veranlasst, einen Puffer vorzuhalten. Im Gegensatz zu
kapitalbezogenen Instrumenten haben kreditbezogene Instrumente eher einen
indirekten Effekt auf die Kapitalausstattung der Banken. Obergrenzen für den
Verschuldungsgrad reduzieren tendenziell das Risiko im Kreditportfolio einer
Bank, wodurch die Ausfallquote sinkt und das Eigenkapital im Krisenfall geschont wird.
21
18 | 16. Juli 2012
Statistische Verlustrückstellungen sind in der Gewinn- und Verlustrechnung der Banken zu berücksichtigen. Im Sinne einer transparenten Rechnungslegung sollten sowohl der Rückstellungsbetrag als auch die realisierten Verluste ausgewiesen werden.
Aktuelle Themen
Makroprudenzielle Aufsicht
Beleihungsausläufe
LTVs in Hongkong
12
Der Immobilienmarkt von Hongkong ist durch
eine hohe Volatilität gekennzeichnet, die zusätzliche Risiken für Hongkongs Immobilienmarkt
und das Finanzsystem mit sich bringt. Erklären
lässt sich diese Volatilität am ehesten mit der
hohen Bevölkerungsdichte, dem liberalisierten
Finanzmarkt sowie der Offenheit der Volkswirtschaft bei einem System fester Wechselkurse.
Anpassungen an externe oder interne Schocks
müssen daher über das interne Preisniveau
erfolgen, da sie nicht über einen flexiblen
Wechselkurs abgefedert werden können.
Da sie nicht über den notwendigen Spielraum in
geldpolitischen Fragen verfügt, versucht die
Hong Kong Monetary Authority (HKMA), die
Preisentwicklung an den Immobilienmärkten mit
Hilfe makroprudenzieller Instrumente zu steuern. Im Jahr 1991 nahm sie erstmals den Beleihungsauslauf für die Finanzierung von Wohnimmobilien (LTV) von 90% auf 70% zurück. In
Reaktion auf den rasanten Preisanstieg bei
Luxusimmobilien senkte die Behörde 1996 den
LTV für dieses Segment vorübergehend weiter
auf 60% ab. Dies half die Ausfallquoten bei
Immobilienkrediten gering zu halten, als die
Preise im Zuge der Asienkrise 1997/1998 stark
fielen.
Seit 2009 verzeichnen die Wohnimmobilienpreise dank eines relativ stabilen, anhaltenden
Wirtschaftswachstums wieder einen steten
Aufwärtstrend. In Verbindung mit starken Kapitalzuflüssen veranlasste dies die HKMA zu einer
erneuten Verschärfung der LTV-Vorschriften –
insbesondere für hochwertige und fremdgenutzte Wohnimmobilien. Bei Immobilien bis zu einem Wert von HKD 8 Mio. blieb der LTV bei
70%, wobei der Darlehenshöchstbetrag jedoch
auf HKD 4,8 Mio. begrenzt wurde.
Alles in allem wirkte sich die LTV-Politik positiv
auf die Stabilität des Immobilienmarkts aus.
Studien belegen, dass die Maßnahmen den
Preisanstieg vor allem im Luxussegment verlangsamten, wenngleich sie den ausgeprägten
Boom-Bust-Zyklus am Immobilienmarkt nicht
beseitigen konnten. Besonders hilfreich waren
die LTVs bei der Senkung der Ausfallquoten in
Zeiten fallender Immobilienpreise. Die Auswirkungen auf die Kreditvergabe wurden nicht
untersucht.
- Craig, S. and C. Hua (2011). Determinants of Property
Prices in Hong Kong SAR: Implications for Policy. IMF
Working Paper 11/227.
- Hong Kong Monetary Authority (2011). Loan-to-value
ratio as a macroprudential tool – Hong Kong SAR’s experience and cross-country evidence. BIS Paper 57.
Höchstgrenzen für die Beleihung von Immobilien (LTVs) sind ein gängiges Instrument zur Kreditrisikosteuerung im Hypothekengeschäft. Höchstgrenzen
schreibt entweder der Gesetzgeber vor, um eine umsichtige Kreditvergabe sicherzustellen, oder die Institute legen sie selbst fest, um für eine angemessene
Besicherung ihrer Kredite zu sorgen. Entsprechende Grenzwerte gibt es in einer
Reihe von Ländern, die üblichen LTVs schwanken jedoch von Land zu Land.
Banken in angelsächsischen Ländern sind im Allgemeinen bereit, Immobilien zu
bis zu 85% – teilweise sogar zu 100% oder mehr – ihres Wertes zu finanzieren,
wohingegen in Kontinentaleuropa die Obergrenze üblicherweise bei 80% oder
darunter liegt. Zum Teil schwanken die Quoten im Konjunkturverlauf – in der
Regel im Einklang mit den allgemeinen Kreditvergabestandards, in anderen
22
Ländern bleiben sie konstant.
Selbst wenn LTVs im Konjunkturverlauf nicht schwanken, wirken sie tendenziell
prozyklisch auf die Kreditvergabe: Bei einem konstanten oder steigenden Beleihungsauslauf steigt nämlich der zulässige Finanzierungshöchstbetrag, wenn der
Wert der Immobilie steigt. Somit können Kreditnehmer in Boomphasen zusätzliche Kredite aufnehmen, während die Banken möglicherweise die Kreditvergabe
einschränken müssen, wenn die Immobilienpreise fallen.
Andererseits können LTVs bei antizyklischem Einsatz ein wirkungsvolles Instrument der makroprudenziellen Politik sein (siehe Textbox 12 zu den Erfahrungen mit diesem Instrument in Hongkong). Boomt die Kreditvergabe, können
die Aufsichtsbehörden die LTVs senken und so den Finanzierungshöchstbetrag
je Objekt reduzieren. Schrumpft hingegen die Kreditmenge, kann die Lockerung
der LTV-Anforderungen die Kreditvergabe stimulieren. Hier spielt auch die Methodik der Immobilienbewertung eine wichtige Rolle. Je schneller die Bewertung
auf Veränderungen der Marktpreise reagiert, desto stärker muss die Systemaufsicht Preissteigerungen durch eine Absenkung der LTVs ausgleichen. Allerdings
kann dies schnell zu politischen Widerständen führen, wenn dadurch Teile der
Bevölkerung vom Immobilienmarkt ausgeschlossen werden.
Alles in allem sind LTVs ein wirkungsvolles makroprudenzielles Instrument, weil
sie eine direkte Steuerung des Finanzierungshöchstbetrags je Objekt erlauben.
Bei antizyklischem Einsatz verhindern sie, dass der Anstieg der Immobilienpreise und Kreditvergabe sich gegenseitig verstärken und beseitigen damit eine
wesentliche Ursache der Zyklizität im Finanzsystem.
Dynamische Anpassung von Haircuts und Margins
Die bisher beschriebenen Instrumente werden vor allem im Wohn- und Gewerbeimmobilienkreditgeschäft eingesetzt. Systemische Risiken können sich jedoch
auch in anderen Märkten aufbauen, beispielsweise im Derivate- oder Wertpapierleihemarkt. Tatsächlich ähnelt die Dynamik, die zu prozyklischem Verhalten an den Finanzmärkten führt, derjenigen im traditionellen Kreditgeschäft.
Haircuts (Sicherheitsabschläge) und Marginanforderungen (Verpflichtung zur
Hinterlegung von Sicherheiten) limitieren vielfach das maximale Risiko, das
Marktteilnehmer übernehmen können, und wirken deshalb vergleichbar wie
LTVs im Kreditgeschäft. Haircuts und Margins werden normalerweise von Händlern oder zentralen Gegenparteien festgelegt, um deren Risiko im Handel mit
Kunden zu begrenzen.
Eine Zunahme der Vermögenspreisschwankungen und Gegenparteirisiken kann
dazu führen, dass die Marginanforderungen aufgrund des höheren Risikos au22
19 | 16. Juli 2012
Borio et al. (2001). Anzumerken ist, dass in Europa die unterschiedlichen LTVs häufig auf die
spezifischen Refinanzierungsstrukturen in den einzelnen Ländern zurückzuführen sind. Beispielsweise legt das deutsche Pfandbriefgesetz für deckungsstockfähige Kredite (d.h. Kredite, die
als Sicherheit für einen Pfandbrief zulässig sind) einen Beleihungsauslauf von maximal 60% fest.
Aktuelle Themen
Makroprudenzielle Aufsicht
tomatisch verschärft werden. Banken und andere Marktteilnehmer sind dann
gezwungen, zusätzliche Sicherheiten zu hinterlegen oder ihr Engagement zurückzufahren. Aus makroprudenzieller Sicht ist es sinnvoll, Haircuts und
Marginanforderungen antizyklisch zu senken, um eine Liquiditätsklemme im
Markt zu verhindern. Ein derartiges Vorgehen birgt jedoch die Gefahr, dass
Marktteilnehmer ihr Risiko nicht hinreichend absichern können. Eine Möglichkeit
wäre deshalb, die Haircuts und Margins von vornherein höher anzusetzen, damit den Behörden in Krisensituationen genügend Spielraum für eine Absenkung
bleibt. Ein ähnlicher Effekt lässt sich erzielen, wenn man über den gesamten
Konjunkturverlauf höhere und relativ stabile Haircuts und Margins verlangt.
5. Fazit
Die internationale Finanzkrise, welche 2007 ihren Anfang nahm, offenbarte eine
Reihe von Defiziten im Regulierungs- und Aufsichtssystem. Aus heutiger Sicht
war der Fokus der prudenziellen Aufsicht zu eng und die eingesetzten Instrumente zur Vermeidung systemischer Risiken reichten nicht aus.
Auf der Suche nach einer wirklich makroprudenziellen Antwort auf systemische
Risiken beschreiten die Aufsichtsbehörden größtenteils Neuland. Neben dem
Aufbau eines neuen institutionellen Rahmens setzt sich die Suche nach geeigneten Strategien und Instrumenten fort. Zum Teil kann hier auf bisherige Erfahrungen mit makroprudenzieller Politik – insbesondere in den Schwellenländern
– zurückgegriffen werden. Die angedachte Regulierungs- und Aufsichtsreform
ist jedoch weitaus komplexer und weitreichender als frühere Versuche zur Verbesserung der Finanzaufsicht.
Die Auswahl und der sinnvolle Einsatz geeigneter Steuerungsinstrumente werden maßgeblich darüber entscheiden, ob die Systemaufsicht ihre gesetzten
Ziele erreicht. Das Instrumentarium sollte sich dabei nicht auf Eigenkapitalvorschriften für Banken beschränken, sondern wesentlich breiter angelegt sein und
finanz- und wirtschaftspolitische Ansätze mit einschließen. Unter anderem gilt
es, die Rolle von Nichtbanken im Finanzmarkt zu berücksichtigen sowie die
prozyklische Wirkung bilanzieller, steuerlicher und aufsichtsrechtlicher Vorschriften zu beseitigen.
Gegenwärtig nimmt ein neues Aufsichtssystem Gestalt an, das finanzielle Risiken steuern und systemische Krisen verhindern soll. In der EU, den USA und
anderen Finanzsystemen wurden neue Aufsichtsbehörden geschaffen, welche
die institutionelle Lücke zwischen Geldpolitik und mikroprudenzieller Aufsicht
schließen sollen. Ob dies den neuen Behörden gelingt, wird davon abhängen,
wie makroprudenzielle Politik in die Praxis umgesetzt wird: Die Qualität der vorgelegten Analysen, die Überzeugungskraft der Empfehlungen sowie die politischen Fähigkeiten bei der Koordination der beteiligten Akteure werden darüber
entscheiden, ob die Systemaufsicht die in sie gesetzten Erwartungen erfüllen
kann.
Für die Marktteilnehmer stellen die neu geschaffenen Aufsichtsbehörden
potenziell einflussreiche Akteure dar, deren Maßnahmen sich direkt auf den
Geschäftserfolg auswirken können. Ein gutes Verständnis für die politökonomischen Treiber finanzaufsichtlicher Maßnahmen kann sich als wichtiger
Wettbewerbsvorteil erweisen.
Christian Weistroffer* (+49 69 910-31881, [email protected])
*Herzlicher Dank gilt Cédric Lützenkirchen für seine Unterstützung.
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Aktuelle Themen
Makroprudenzielle Aufsicht
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Überblick über die Strukturen
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