festivalzeitung nr. 02 / 16.06.2007
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festivalzeitung nr. 02 / 16.06.2007
anstalt02 15.06.2007 14:22 Uhr Seite 1 FESTIVALZEITUNG NR. 02 / 16.06.2007 Uraufführung: Fiesque Foto: Hans Jörg Michel anstalt02 15.06.2007 ✶ 2 14:23 Uhr Seite 2 MORALISCHE ANSTALT FESTIVALZEITUNG 16.06.2007 BESTIE MENSCH 14. INTERNATIONALE SCHILLERTAGE / NATIONALTHEATER MANNHEIM ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ INHALTSVERZEICHNIS ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 – – – – – – – – – – – DENKEN IM QUADRAT – Editorial MACHTJUNKIES – Zu Edouard Lalos „Fiesque“ ALLES OTTO – „Wallenstein“ und die OB-Wahl SCHILLER UND ICH – Die Festivalmacher VON MÄUSEN UND MENSCHEN – Hannah Monyer, Hirnforscherin DRAMATIK DER STILLE – Alejandro Tantanian, ein Porträt AUFTRAGSWANDERN – Volker Gerling, Daumenkinograph ICH LOTE GRENZEN AUS – Gespräch mit Martin Nachbar PIMP DAS THEATER – Zu „Pimp the City“ BESTIE PREKARIAT – Essay SPIELPLAN SAMSTAG 16. Juni, SONNTAG 17. Juni Die 14. Internationalen Schillertage wurden ermöglicht und gefördert durch: den Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, dem Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg, der Stadt Mannheim/Büro 2007, die Brasilianische Botschaft Berlin und das Brasilianische Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten sowie das Goethe Institut Wir bedanken uns für die großzügige Unterstützung bei unseren Partnern: Hauptsponsoren: MVV Energie AG, John Deere, Freunde und Förderer des Nationaltheaters Mannheim e.V. Co-Sponsoren: Augusta Hotel Mannheim, Comvos Medien, Dr. Haas GmbH, Engelhorn Mode GmbH, Fashionlabel Schumacher, HM Interdrink, Kurpfalzsekt Sektkellerei AG, Mercedes-Benz Niederlassung Mannheim-Heidelberg, Rhein-Neckar-Verkehr GmbH, The Cruise Cafe Hotel Mannheim und beim SWR 2. ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ SERVICE IMPRESSUM KARTENVORVERKAUF THEATERKASSE AM GOETHEPLATZ Mo & Sa 11–13 Uhr Di & Fr 11–18 Uhr An allen Vorstellungstagen außerdem von 18–20 Uhr KARTENTELEFON Telefon 0621/1680 150 Telefax 0621/1680 258 PER E-MAIL Nationaltheater.kasse@ mannheim.de FESTIVALZEITUNG DER 14. INTERNATIONALEN SCHILLERTAGE Ein Projekt des Nationaltheater Mannheim zur Förderung des kulturjournalistischen Nachwuchses ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ HERZLICHEN DANK ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ HERAUSGEBER Nationaltheater Mannheim, Mozartstraße 9, 68161 Mannheim GENERALINTENDANTIN Regula Gerber CHEFREDAKTION Jürgen Berger CHEFIN VOM DIENST Sabine Demm REDAKTION Lydia Dartsch, Kristina Faber, Jan Fischer, Moritz Hummrich, Jule D. Körber, Marcel Maas, Moni Münch, Melanie Troger, Manuel von Zelisch KONZEPT Jürgen Berger, Sabine Demm, Kristina Faber, Gerhard Fontagnier, Jochen Zulauf GESTALTUNG fathalischoen, Frankfurt LAYOUT [email protected], Mannheim DRUCK Mannheimer Morgen Großdruckerei GmbH ANZEIGEN Mannheimer Morgen ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ DENKEN IM QUADRAT ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ E twas kühl, dafür ausgesprochen pünktlich. Wie man platt zwei typisch deutsche Eigenschaften beschreiben könnte, verlief auch meine Ankunft am Bahnhof in Mannheim. Na gut, regnerisch-kühles Wetter ist vermutlich überall auf der Welt unwirtlich, daheim in Graz hat’s ja auch ordentlich gewaschelt. Und kurz nach fünf Uhr morgens blühendes Leben und ringsum sonnige Gemüter zu erwarten, ist sowieso vermessen. Absicht oder nicht, wie in jeder fremden Stadt beginne ich sofort, mein Umfeld zu beobachten, frage mich schon seit Tagen, was das wohl für Menschen sein mögen, die in einer Ansammlung von Quadraten leben. Äußerst merkwürdig. Der Homo Mannheimeriensis gibt mir Rätsel auf. Von einer sehr geduldigen Einheimischen lasse ich mir so etwas wie eine Gebrauchsanweisung geben. Liebenswürdig meint sie „Denken Sie quadratisch!“ Der Hinweis fruchtet. Ich finde mein Hotel auf Anhieb und sofort Gefallen am System. Quadratisch, praktisch, gut. Bloß, woher rührt das? Auch meine aus Kiel und Frankfurt stammenden AbteilgenossInnen Julien und Mimi konnten mir diese obskure Benennungsbewandtnis während der Zugfahrt nicht erklären. Stattdessen bekam ich einen CrashKurs im Erkennen verschiedener badenwürttembergischer Dialekte. Vielleicht wollten mich die beiden aber auch nur auf den Arm nehmen. Ich erfuhr, dass die Mannheimer beim Sprechen nicht so sehr singen würden wie etwa die Stuttgarter, dass gewisse Worte stärker auseinander gezogen würden, kurz, dass alles ein bisschen wie ein Musikstück in Moll klingt. Sehr aufschlussreich, ich fasste den Entschluß, mir sofort ein paar klangmalerische Eigenheiten anzueignen, um in „Mannem“ nicht als Grazerin erkannt zu werden. Gut. Etwa zehn Minuten später verpasste ich beinahe das Aussteigen in Mannheim. Panik beschlich mich, als ich mit Sack und Pack loshastete und dem Mann bei der Tür „I muaß do a no aussi!“ entgegenbrüllte. Entfesselt war also wieder die Steirerin aus mir heraus gebrochen. Das mit der Tarnung war wohl in jeder Hinsicht sinnlos. Und da ich nun ohnehin eineinhalb Wochen richtiges Theater erleben werde, muss ich ja auch mein eigenes Leben nicht unnötig zur Bühne machen. Zumal ich auch eine überaus stolze Steirerin bin. Während der vielen schlaflosen Stunden im Zug war ich mit Julien und Mimi in’s Sinnieren geraten. Es ging um Klassiker wie Currywurst und Käsekrainer, wer sich im Türkeiurlaub noch ein bisschen peinlicher benimmt, Gemütlichkeit versus Gründlichkeit. Besonders absurd auch immer wieder das große Deutschland-Österreich Länderduell, wenn es darum geht, sich große historische Persönlichkeiten und fragwürdige Berühmtheiten je nach Belieben abzuluchsen oder zuzuschieben. Vermutlich liegt es aber nicht speziell in der Natur des Österreichers oder des Deutschen, sondern einfach in der Natur des Menschen, große Köpfe als seinesgleichen betrachten zu wollen. Schiller hat das ja auch schon erkannt. Und ich freue mich, in den nächsten Tagen dieser Bestie hier in Mannheim auf den Zahn zu fühlen. ✶ MELANIE TROGER AUFGEWECKT IN DEN TAG DR. HAAS GMBH Die Zeitung erscheint als Beilage im Mannheimer Morgen und wird unterstützt von Deere & Company und der Dr. Haas GmbH 5 Uhr morgens, Hauptbahnhof, Ankunft Foto: Troger anstalt02 15.06.2007 14:23 Uhr Seite 3 BESTIE MENSCH 14. INTERNATIONALE SCHILLERTAGE / NATIONALTHEATER MANNHEIM MORALISCHE ANSTALT FESTIVALZEITUNG 16.06.2007 ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ ✶ 3 MACHTJUNKIES ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ Den „Fiesko“ schrieb Schiller 1782 für das Nationaltheater. Das Libretto und die Oper zum „republikanischen Trauerspiel“ entstanden knapp hundert Jahre später – verschwanden aber in der Schublade. Nach mehr als 130 Jahren kommt Edouard Lalos Grand Opera „Fiesque“ jetzt in Mannheim auf die Bühne. M achtjunkies – wie oft ist davon in politischen Zusammenhängen die Rede, und eben nicht nur zu Zeiten von G 8-Gipfeln und RAFNostalgie. Die ideale Verkörperung dieser defizitären, dabei höchst einflussreichen Spezies hat Mannheims erster Theaterdichter Friedrich Schiller mit seinem Fiesco 1782 als „republikanisches Trauerspiel“ für das Mannheimer Theater entworfen, auch wenn seine „Verschwörung des Fiesco zu Genua“ dann doch – und beziehungsreicherweise – in Bonn uraufgeführt wurde. Schiller, der Politpoetiker, Charles Beauquier, der republikanische Librettist im zweiten französischen Kaiserreich, und Edouard Lalo, ein Komponist der Gounod-Franck-Generation, der sich vom musikalischen Establishment seiner Zeit möglicherweise aus linksgerichteter politischer Integrität fernhielt – eine Trias, die anno 1868, als auch die Konflikte zwischen Frankreich und Deutschland bereits zu schwelen begannen, nicht unbedingt ein populäres Opernprojekt erwarten ließ. Und so komponierte Lalo für einen staatlichen Wettbewerb, bei dem der „Fiesque“ einen ehrenhaften dritten Platz erhielt, aber eben doch – für die Schublade. Dass die politischen Verhältnisse, dieAuflösung der französischen Nationalversammlung und Krönung Napoleons III., einer Aufführung im Pariser Theatre Lyrique entgegenstanden, wird gerne spekuliert. Brüssel nahm das Werk später an, doch die Direktion ging Bankrott. Eine deutsche Fassung, wie sie im Klavierauszug von 1872 – da war Frankreich schon wieder Republik – mitgeliefert ist, wurde aus unerfindlichen Gründen in Hamburg nicht gespielt. Lalo schlachtete die Partitur in späteren Jahren tüchtig aus und nutzte ein gut Teil der Musik für andere Werke. Über 130 Jahre blieb der „Fiesque“ in der Schublade bis das Festival in Montpellier vergangenen August konzertant die mit Roberto Alagna in der Titelrolle prominent besetzte Uraufführung wagte. Heute Abend hebt das Nationaltheater das Stück zum allerersten Mal auf die Bühne, bezeichnenderweise in der Regie seines früheren Schauspieldirektors JensDaniel Herzog, der seine Zeit am Nationaltheater im Oktober 2000 eben mit Schillers „Fiesco“ einläutete und derzeit vor allem als Opernregisseur reüssiert. Die Diskussion des „Fiesque“ als spätem Gattungsbeitrag zur Grand Opera wäre dabei einen eigenständigen Beitrag wert. So viel nur: Lalo komponierte drei Akte, obwohl die Grand Opera fünf vorsieht und Schillers Drama ja auch deren fünf hat. Ein großes Bühnenspektakel a la Vulkanausbruch oder Hexenverbrennung findet nicht statt, dafür ist das Ballett sorgsam dramaturgisch eingewoben in die opulente Ballszene, und es gibt das obligatorische große Gebet. Freilich: die Grand Opera, zu der Schiller ja in Form von Rossinis „Wilhelm Tell“ prominent beigetragen hat, war ein gigantisches und spektakuläres Unterhaltungstheater, und davon ist Lalos „Fiesque“ doch weit entfernt. Zwei für die Gattung wesentliche Aspekte setzt der Komponist der berühmten „Symphonie Espagnole“ allerdings mit großem Geschick um: die „couleur du temps“, gewissermaßen die historische Verortung, mit höfisch schreitenden Metren, bereits in der Orchestereinleitung, und die „couleur locale“ in Form lichtdurchfluteter mediterraner Farbgebung. Dramaturgisch zeigt sich die Abkehr deutlich: der Einzelne, Fiesque, zerbricht nicht mehr an gesellschaftlichen Realitäten, sondern an individuellen gegnerischen Befindlichkeiten. Verrinas republikanischer Raserei und Fiesques „Liebesintrige“ erhält immensen melodienseligen Raum. Die spannende Frage wäre, ob Lalo sich damit nicht nur von der Gattungstradition absetzt, sondern auch von Schillers essentieller Konfliktlage des Individuums. Dabei finden sich durchaus Anklänge etwa an Jacques Offenbach in den burlesken Hassan-Szenen, an einen weiteren Schiller-Veroperer, Giuseppe Verdi und die düsteren Töne seines „Don Carlo“, der ein Jahr vor Lalos „Fiesque“-Komposition in Paris ebenfalls französisch sang, oder an die jüngeren Massenet und Bizet. Womit natürlich nicht gesagt sein soll, dass es Lalos Partitur an Eigenständigkeit fehlt: die musikalischen Atmosphären sind dicht, die großen Chöre – Spezialität der Grand Opera – dramatisch wirkungsvoll, das Ganze originell „erfunden“ und erlesen instrumentiert. Mannheims künftiger erster Kapellmeister, Alexander Kalajdzic, dirigiert die szenische Uraufführung. Es singen unter anderem Galina Shesterneva die Léonore, Theodor Carlson Fiesques Mörder Verrina, Thomas Berau den Doppelagenten Muley Hassan, Andrea Szántó die Julie. Francesco Petrozzi ist Fiesque, der Machtjunkie. ✶ INGO WACKENHUT FIESQUE von EDOUARD LALO 16.6., 20.6. 19.00 Uhr Foto: Hans Jörg Michel anstalt02 15.06.2007 ✶ 4 14:23 Uhr Seite 4 MORALISCHE ANSTALT FESTIVALZEITUNG 16.06.2007 BESTIE MENSCH 14. INTERNATIONALE SCHILLERTAGE / NATIONALTHEATER MANNHEIM V ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ ALLES OTTO ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ DR. SVEN OTTO, ROBERT HELFERT in „Wallenstein“ 22. und 23. Juni 20.00 Uhr Foto: Karola Prutek Er war die nassforscheste Versuchung, seit es Kommunalwahlen gibt und wäre beinahe Oberbürgermeister geworden. Es kam anders. Irgendwann stolperte Sven-Joachim Otto über sich und die eigene Partei: Mannheims CDU. Otto ging immer ab, steil nach oben und von der politischen Bühne – um kurz darauf auf einer anderen Bühne zu stehen und für Rimini Protokoll den Wallenstein zu spielen. Ein Porträt. iel geändert hat sich nicht. Der Blumenschmuck kann immer noch nicht über die Tristesse des Bürgersaals hinwegtäuschen. Die Musik hatte nie eine andere Funktion als die Pausen zu füllen, in denen man sich an der Bar ein frisches Getränk holt. Das Personal ist weitgehend das gleiche beblieben. Der Oberbürgermeister, ein Mitarbeiter seiner Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit und der RNF-Moderator warten auf das Ergebnis, verkünden das Ergebnis, warten auf die Kandidaten, unten wird das Ergebnis beklatscht oder bedauert. Morgen ist Wahltag. Die Mannheimer bestimmen einen neuen Oberbürgermeister. Eeiner fehlt. In diesen Tagen erinnert man sich in Mannheim wieder häufiger an den jungen Mann, der es 1999 nur haarscharf nicht geschafft hat, den 30 Jahre älteren Amtsinhaber aus dem Rathaus zu katapultieren. „Von hinten wie von vorne O-T-T-O“ war damals in aller Munde. Man kannte ihn, auch als an Politik desinteressierter Mensch, sogar als Nicht-Mannheimer. Das ist heute noch so. „Dr. Otto“ ist zu einer Marke geworden, sein Flyer mit Frau und geliehenem Hund legendär und leider vergriffen. War das nicht das Papier, das Harald Schmidt in seiner Show hochgehalten hat? Genau. Sven-Joachim Otto war 29 Jahre alt. Das machte den Wahlkampf so spannend, die Fronten so klar, die Person schlagartig interessant. Dass ein Grünschnabel die Chuzpe besaß, dem sich seit 17 Jahren im Amt befindlichen Gerhard Widder die Stirn zu bieten und dass dieser Grünschnabel im zweiten Wahlgang 47,6 Prozent der Stimmen holte, wurde ihm als jugendliche Unverschämtheit ausgelegt. Aber so was trägt nicht dauerhaft. Man erwartete von ihm, sich in aller Demut weiterzuentwickeln, im politischen Betrieb dort zu positionieren, wo es sich für Menschen seines Alters geziemt – auf den hinteren Rängen – und anzuerkennen, dass seine Kandidatur frech und respektlos war und nur die Generalprobe für eine ernsthafte, für die richtige Auseinandersetzung im Frühsommer 2007, im Alter von 37 Jahren. Es kam alles ganz anders. Sven-Joachim Otto tat niemandem den Gefallen, sich demutsvoll einzureihen. Er wurde nach der Wahl CDU-Fraktionsvorsitzender im Gemeinderat, war plötzlich Chef und benahm sich auch so: Arrogant und großkotzig, nach außen und innen. Aber er trägt nicht allein die Schuld, dass seine eigenen Leute ihn bei der Wahl zum Kämmerer der Stadt Mannheim im September 2004 eiskalt abservierten. Einerseits wurde er tatsächlich Opfer eines in- anstalt02 15.06.2007 14:23 Uhr Seite 5 BESTIE MENSCH 14. INTERNATIONALE SCHILLERTAGE / NATIONALTHEATER MANNHEIM triganten Politbetriebs. Andererseits: Er passte einfach nicht ins Raster. Das Label „Frecher 29-jähriger Emporkömmling“ stimmte schon 1999 nicht. Warum um alles in der Welt sollte sich ein 29-jähriger Mensch, der Universitäts-Abschlüsse in Jura und BWL, einen Doktortitel und Berufserfahrung vorweisen kann, der sich seit Jahren ehrenamtlich und nicht nur kommunalpolitisch engagiert, plötzlich in Demut und Bescheidenheit üben? Sein Tempo war nicht das Tempo der restlichen Welt. Er ist zu rasant aufgestiegen und deswegen tief, sehr tief gestürzt. Seinen Aufstieg und Fall hat SvenJoachim Otto vor zwei Jahren in einer „Wallenstein“-Adaption der Gruppe Rimini-Protokoll auf der Bühne des Nationaltheaters zum Thema gemacht. Das war die Gelegenheit zur Auseinandersetzung mit Fragen: Wie inszeniert ist Wirklichkeit, wie real das Theater und wie authentisch ein Politiker auf einer Bühne, vor Publikum? Das alles geriet allerdings in den Hintergrund, als neun Tage nach der Uraufführung bekannt wurde, dass Sven-Joachim Otto im Internetforum des „Mannheimer Morgen“ monatelang unter 31 verschiedenen Pseudonymen seine Meinung zur Mannheimer Kommunal- und baden-württembergischen Landespolitik, zu Parteifreunden und politischen Gegnern kundgetan hatte, auf mitunter unschöne Weise. Für Otto war das zu diesem Zeitpunkt schon Geschichte, die letzten Einträge Monate alt. Für die anderen allerdings war es der Startschuss einer öffentlichen Demontage. Der Absturz war vorprogrammiert. „Ich war so am Ende, wie man nur am Ende sein konnte. Ich stand mit dem Kopf vor der Wand und hatte zwei Möglichkeiten. In die Wand rennen – das tut weh. Oder mich umdrehen und schauen, welcher Raum sich eigentlich hinter mir befindet“, sagt Otto heute über das Jahr 2005. Erst jetzt kann die Geschichte vorläufig zu Ende erzählt werden. Dr. SvenJoachim Otto ist 37 Jahre alt und lebt mit seiner Familie in der Nähe von Düsseldorf. Im März 2006 hat er das Angebot angenommen, Rechtsanwalt bei der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PricewaterhouseCoopers und innerhalb kurzer Zeit Partner zu werden. Einer, der es in Mannheim nicht gepackt hat, ein Versager, der die Stadt mit wehenden Fahnen verlassen hat? Das ist Otto mitnichten. Beruflich ist er erfolgreicher denn je. Wer ihn in Düsseldorf anruft, hat es mit einem besonnenen und reflektierten Gesprächspartner zu tun, der mit bemerkenswerter Distanz auf die Ereignisse der vergangenen Jahre zurückblickt und sie als „Beitrag zur persönlichen Weiterentwicklung“ einordnet. In den USA, erzählt er, mache niemand Karriere, ohne einmal im Leben persönliches Scheitern erfahren zu haben. Ob er jungen Menschen davon abrate, sich in der Kommunalpolitik zu engagieren? Im Gegenteil. „Begib’ dich mal in diese Niederungen, diese Erfahrungen sind mehr wert als alle akademischen Studien“, gibt er, der abgeklärte 37jährige, ihnen mit auf den Weg. Morgen, bei der Mannheimer Oberbürgermeisterwahl, treten sechs Männer gegeneinander an, drei haben eine ernsthafte Chance auf den Sieg. Sie sind Mitte bis Ende 40, ohne nennenswerte Ecken und Kanten, der Wahlkampf war farblos, außerhalb Mannheims ist er kaum wahrgenommen worden und innerhalb der Stadt auch nicht. Das ist einfach so: Alles zu seiner Zeit. ✶ NICOLE HESS MORALISCHE ANSTALT FESTIVALZEITUNG 16.06.2007 ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ SCHILLER UND ICH ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ Jan-Philipp Possmann und Haiko Pfost Wann hat Schiller Sie zum ersten Mal berührt? Wir mussten in der Oberstufe in Deutsch Leistung eine Interpretation über Die Jungfrau von Orleans schreiben. Das Urteil meiner wirklich großartigen Deutschlehrerin über meinen Aufsatz war für mich sehr motivierend: Thema verfehlt, aber das so clever, dass es schon wieder gut ist Über was würden Sie mit Schiller sprechen wollen? Über Begeisterungsfähigkeit, darüber, an eine Sache wie das Theater und die Kunst so unbedingt zu glauben, wie er es tat. Mit welchem Schiller-Text können Sie tatsächlich was anfangen? Mit seinen Dramen weit weniger als mit seinen Reflektionen, seinem moralischen Anspruch und seinem Glauben an die Kunst. Da geht es mir wie Martin Nachbar, Ligna oder Volker Gerling, die sich für ihre Annäherung an Schiller auch eher an dessen theoretischen Schriften oder Leben orientiert haben. Was nervt Sie an Schiller? Ich kannte ihn nicht wirklich, deswegen möchte ich nicht leichtfertig urteilen. Aber ehrlich gesagt: seine Lyrik. Ralf Kirsten, Esther Potter in „Wallenstein“ Foto: Karola Prutek ✶ 5 Foto: Hans Jörg Michel Wann hat Schiller Sie zum ersten Mal berührt? Tatsächlich bei den Schillertagen 1997, damals war ich Stipendiat und kam nach den ersten Jahren in Berlin zurück in meine alte Heimat Baden-Württemberg. Die Reaktionen auf Frank Castorfs NachMauerfall-Räuber-Inszenierung hielt die Leute nicht in den Sitzen, Mannheim in Aufruhr. Wie ich viel später von einem Mitglied des Ensembles erfuhr, war das der beste Abend in der ganzen Aufführungsserie. Meiner war es auch. Über was würden Sie mit Schiller sprechen wollen? Sicher über seine Radikalität, seine Unbedingtheit, sein exzessives Umgehen mit dem eigenen Körper, seinen Drogenkonsum, dem er im buchstäblichen Sinne den Geist abgerungen hat. Und darüber würden wir dann in ganz breitem Schwäbisch sprechen und richtig schön breit! Mit welchem Schiller-Text können Sie tatsächlich was anfangen? Sich mit Schiller zu beschäftigen, heißt für mich immer schon zu scheitern und den Mut zum nicht ganz Verstehen zu genießen, um als hilfloser Forscher auf Entdeckungsreise zu gehen. Ich kann sagen: das waren im letzen Jahr sehr spannende Expeditionen. Wann werden Sie zur Bestie? Wenn ich mich in den Quadraten verlaufe und jeder Mannheimer, den ich in dieser großartigen Stadtarchitektur nach dem Weg frage, so was sagt wie: jaaa, da müsse se davonne nochma fraage. Was nervt Sie an Schiller? An wem? Seiner Person? Seinem Werk? Das sind wir wohl beim Mythos. Jan-Philipp Possmann ist SchillertageMacher und Festivaldramaturg. Haiko Pfost ist Schillertage-Macher und Festivaldramaturg. Wann werden Sie zur Bestie? Nachts, wann denn sonst. anstalt02 15.06.2007 ✶ 6 14:23 Uhr Seite 6 MORALISCHE ANSTALT FESTIVALZEITUNG 16.06.2007 BESTIE MENSCH 14. INTERNATIONALE SCHILLERTAGE / NATIONALTHEATER MANNHEIM ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ VON MÄUSEN UND ... MENSCHEN HIRNFOSCHERIN ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ Hannah Monyer seziert Mäusehirne, liebt Musik und Literatur. Die Professorin und ärztliche Direktorin der Abteilung Klinische Neurobiologie der Uniklinik Heidelberg ist eine der führenden Hirnforscherinnen Deutschlands und beschäftigt sich mit Lernprozessen. Die 49-Jährige mit schwarzer Hose und figurbetonten Oberteil wirkt modisch-stilvoll. Um die schmalen Hüften trägt sie ein buntes Tuch als Gürtel geschlungen. Die Haare fallen ihr locker über die Ohren. Sie hält sie fest, sobald sie spricht oder sich vorbeugt. I m Büro fallen als erstes die vielen Papierstapel auf, die feinsäuberlich am Boden, auf dem Schreibtisch und Tisch der Besucherecke verteilt sind. Die Blumensträuße auf den Tischen sehen mit ihren weißen Blüten nach Frühling aus. Hannah Monyer spricht auf vielen Kongressen, Podien und Diskussionsrunden, sie ist in Forschung und Öffentlichkeit präsent. Zwei bis drei Monate im Jahr verbringt sie in Hotels, ist nicht nur Wissenschaftlerin, sondern auch Botschafterin der Hirnforschung. Gerne und oft erklärt sie, wozu ihre Arbeit gut und dass es notwendig ist, für die Forschung Tiere zu töten. Fachinteressierten gibt sie einen kurzen Einblick ins Labor in den Nebenräumen ihres Büros. Dort untersuchen ihre jungen Mitarbeiter – Doktoranten oder Post-Graduates – am Mikroskop und Computer Mäusehirne. Eine angehende Medizinerin schickt gerade Stromimpulse durch ein Hirnextrakt und dokumentiert das Verhalten der Neuronen. Ein anderer braucht ein frisches Untersuchungsobjekt. Er muss dazu eine Maus töten und das Organ extrahieren. Bei der Frage, ob sie ethische Bedenken wegen der Tierversuche habe, wird Frau Monyer resolut: „Ich kann die Scheinheiligkeit mancher Tierschützer nicht ertragen. Alle Leute wollen bei Krankheiten die beste und neueste Behandlungsmethode. Aber wie soll das ohne vorherige Versuche an Tieren gehen?“, fragt sie mit eindringlichem Blick. Sie achte darauf, dass die Tiere, solange sie lebten, tiergerecht und gut behandelt würden. Rund 20.000 Versuchsmäuse gebe es an der Uni Heidelberg. Einige seien genetisch verändert und bestimmte Schaltmoleküle deaktiviert. Daraus, wie Mäuse sich verhalten oder Neuronen bei Laborversuchen verbinden, können Hannah Monyer und ihre Mitarbeiter schließen, wie Lernprozesse im Gehirn ablaufen. Für ihre Forschungsarbeit hat sie bereits mehrere Auszeich- Frisches Hirn HANNAH MONYER nungen erhalten: 1999 das Bundesverdienstkreuz, 2004 den Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Sie fand als erste so genannte gap junctions – kleine Kanäle, über die die Erregungsübertragung zwischen Nervenzellen stattfindet. Wieder im Büro erklärt sie den Nutzen ihrer Arbeit, streift sich dabei die schwarzen Slipper von den Beinen, setzt ein Bein auf den großen Sessel auf und schmiegt sich gemütlich an die Lehne. Von den Abläufen im Mäusehirn könnten die Neurobiologen auf die Funktionen des menschlichen Gehirns schließen. „Da sind sich Mensch und Tier ziemlich gleich, die Verknüpfungen der Gehirnzellen sind anatomisch dieselben.“ Sie verstehe nicht, sagt sie lächelnd, warum so viele Menschen Probleme mit dem Animalischen in der menschlichen Natur hätten. Die ganzen vegetativen Funktionen seien bei Tier und Mensch dieselben. In diesen von der Natur vorgegebenen Strukturen erfolge auch das Lernen. Beim Menschen komme natürlich noch die Ratio hinzu, die Impulse unterdrücke. Antworten wie diese wird Hannah Monyer wohl auch zur Frage „Wo ist die Grenze zwischen Tier und Mensch?“ geben, die das SWR2 Forum am Sonntag stellt. Dort wird die Neurobiologin unter anderem mit dem Raubtiertrainer Gerd Siemoneit-Barum vom Zirkus Barum und Verhaltensforscher Wulf Schiefenhövel vom Max Plank Institut Andechs diskutieren. „Ich wollte schon mit 14 Ärztin werden und wusste früh, dass ich in Richtung Psychiatrie oder Hirnforschung arbeiten will“, erklärt sie. Dabei wurde sie als Kind in Rumänien auf eine Musikschule geschickt und war ein hoffnungsvolles Talent. „Ich liebe das Klavier und habe nach einjähriger Pause gerade wieder angefangen zu spielen. Ich brauche die Musik, vergesse beim Musizieren oder Hören alles und empfinde ein besonderes Glücksgefühl.“ Doch Berufsmusikerin wollte sie nicht werden. „Das hätte noch Fotos: Sabine Demm mehr Arbeit bedeutet als jetzt“, sagt die Forscherin, in deren Alltag Zehn- bis Zwölf-Stunden-Tage keine Seltenheit sind. 1976 floh sie mit 17 aus Rumänien und machte in Heidelberg das Abitur, studierte Medizin und schrieb ihre Doktorarbeit zum Thema „Das Phänomen Eifersucht bei Marcel Proust und in der Psychiatrie seiner Zeit“. Auch die Umsetzung psychologischer Themen in der Literatur zählen zu den Interessengebieten der Wissenschaftlerin, die sich täglich mit einer Stunde Laufen oder Pilates fit hält. „Unsere Forschung am Tiermodell gewährt nur einen beschränkten Zugang zur Welt.“ Die Geisteswissenschaften hingegen stellten das Leben in seiner Gesamtheit dar. Grundsätzlich würde es genügend Schnittmengen zwischen den Geisteswissenschaften und ihrer Forschung geben. Bereiche, in denen das nicht der Fall sei, müsse man ganz einfach akzeptieren. Dass sie das wirklich tut, fällt nicht schwer zu glauben. ✶ SABINE DEMM anstalt02 15.06.2007 14:23 Uhr Seite 7 BESTIE MENSCH 14. INTERNATIONALE SCHILLERTAGE / NATIONALTHEATER MANNHEIM MORALISCHE ANSTALT FESTIVALZEITUNG 16.06.2007 ✶ 7 ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ EINE DRAMATIK DER STILLE ODER DES EXZESSES ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ Wenige Epochen waren für das argentinische Theater so wichtig wie die frühen Neunziger Jahre. In dieser Zeit tauchten Namen auf, die bis heute Schlüsselpositionen einnehmen: Alejandro Tantanian, Daniel Veronese, Rafael Spregelburd, Luis Cano, Javier Daulte und die Gruppe „El Periférico de objetos“. I n Anbetracht dieses Panoramas sahen wir Kritiker uns in der schwierigen Aufgabe, das nicht zu Katalogisierende zu katalogisieren, das Unfassbare zu fassen. Nach langen flüchtigen Versuchen konnten wir allerdings doch verstehen, dass das Charakteristikum, das diese Gruppe von Kreativen zusammenhielt, darin bestand, dass es eben keine Möglichkeit gab, sie in Gruppen zu fassen. Jeder einzelne von ihnen verlangte ein eigenes Paradigma der Lektüre. Die einzige Option ist, das hohe Niveau von Individualisierung zu akzeptieren, die unser Theater hervorgebracht hat, und dass man sich mit jedem Autor, jedem Regisseur, jedem Stück einzeln befassen muss. In diesem Panorama ist Alejandro Tantanian vor allem ein gefräßiger Leser und unterhält eine im Vergleich zu seinen Altersgenossen ganz eigentümliche Verbindung zur Historie: Er ist ein Usur- pator, der von der Lyrik kommt und Gedichte schreibt, die fähig sind, sich in Dramen zu verwandeln. Er betreibt ein Spiel mit der Sprache und ist immer seinen eigenen Weg gegangen, im Formalen ebenso wie im Thematischen, was ihn den Unbilden der Witterung so stark ausgesetzt hat wie einen Schiffbrüchigen. Tantanian ist ein passionierter Leser aller Arten von Biografien. Und natürlich bleiben Lektüren nicht ohne Einfluss. Mehr noch: Ein großer Teil seines Werks baut auf dem Leben der Großen der Geschichte auf, aber nicht mit der eitlen Illusion, er könne ihr Leben reflektieren oder reproduzieren, sondern mit der festen Vorstellung, sich diese Biografien anzueignen, um sie zu Gefährten seines eigenen Lebens zu machen. Er schreibt im Bewusstsein, Teil eines Netzwerks zu sein. Mit der Sprache unterhält er keine „adamische“ Beziehung, als sei er ein „LA LIBERTAD/FREIHEIT“ 16., 17., 18. Juni 20.00 Uhr Foto: Ernesto Donegana sprachlicher Urvater, sondern er fühlt sich als Teil eines diskursiven Kreislaufs, in dem er weder der erste noch der letzte ist, und innerhalb dessen er brillante Lebensgefährten finden kann: Melville, Dostojewski, Flaubert oder Monteverdi, unter vielen anderen großen Namen. All seine Stücke haben jene Gefährten, die das Wort ergreifen, nicht zu Beginn, auch nicht nach ihm, sondern sie sind da, um reinterpretiert zu werden, ausgehend von jenen Worten, die er sich aneignet, um zu addieren, um weiterzuleben. ✶ FEDERICO IRAZÁBAL Federico Irazábal ist einer der führenden Kritiker und Theatertheoretiker Argentiniens. Sein Text zu Alejandro Tantanian erscheint demnächst. Irazábal erlaubt freundlicherweiße den Vorabdruck. anstalt02 15.06.2007 ✶ 8 14:23 Uhr Seite 8 MORALISCHE ANSTALT FESTIVALZEITUNG 16.06.2007 BESTIE MENSCH 14. INTERNATIONALE SCHILLERTAGE / NATIONALTHEATER MANNHEIM Foto: Hans Jörg Michel ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ AUFTRAGSWANDERN ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ E s ist ein sonniger Samstagmorgen, der erste schöne Tag seit langem. Ich treffe Volker Gerling in der Jugendherberge Worms, seiner vorletzten Station auf dem Weg nach Mannheim. Schwer bepackt, mit einem großen, schweren Wanderrucksack und Bauchladen kommt er die Treppe runtergeschlendert. Das Ding vor seinem Bauch ist eine einfache Konstruktion aus einem Ledergurt und Küchentablett. Er lacht mich an, ist gut gelaunt. „Endspurt“, sagt er „nur noch nach Oggersheim und dann ist es schon fast geschafft“. Die heutige Etappe werde ich mit ihm gehen. Sonst war Volker Gerling stets allein auf Schillers Spuren unterwegs. Weit über 200 Kilometer stecken ihm schon in den Beinen, doch er lässt sich nichts anmerken. Im Gegenteil. Als hätten wir nur einen kurzen Spaziergang vor uns, eilt er los, wach und mit griffbereiter Kamera. Volker Gerling ist Daumenkinograph. Die Motive für seine Daumenkinos sucht er nicht, sie finden ihn. Angelockt durch seinen Bauchladen kommen immer wieder Menschen auf ihn zu, erzählen ihm ihre Geschichte, füttern ihn mit Eindrücken. Manche von ihnen sind auf der Flucht – wie Schiller vor 225 Jahren, als er interessanterweise von Stuttgart über Frankfurt und Worms nach Mannheim wanderte. Gerling hat Schillers Werke gelesen und Aufführungen gesehen, doch all dies löst nicht annährend Der Daumenkinograph Volker Gerling ist zu Fuß unterwegs, trifft Menschen, bannt sie im Bild und kehrt mit seiner Daumencinematographie an die Anfänge des Kinos zurück. Neulich wanderte er auf der Fluchtroute Schillers von Stuttgart nach Mannheim. Auf der letzten Etappe begleitete ihn Moritz Hummrich. Foto: Hans Jörg Michel so viel in ihm aus, wie die Wanderung. Schiller floh um frei zu sein, Schreiben zu können. Volker Gerling wandert, um frei zu sein. Ungebunden, entgegen der Konventionen findet er neue Ideen und Motive. Den Mut des jungen Schiller bewundert er. Aufzubrechen, ohne zu wissen, was die Zukunft bringt, sein Leben seiner Passion, dem Schreiben, widmen, gegen allen Widerstand und Skepsis. Die Skepsis, die einem Aufbrechenden entgegen schlagen kann, kennt er. Als er vor Jahren mit seinen Daumenkinos anfing, erntete er verwunderte Blicke. Ein technischer Rückschritt, meinten viele seiner Kommilitonen von der Filmhochschule Babelsberg spöttisch. Für ihn war es ein Fortschritt: Er ist Regisseur und Kameramann zugleich und hat einen wundersamen Weg gefunden, die Flüchtigkeit des Augenblicks einzufangen und Geschichten zu erzählen. Auf seinem Bauchladen trägt er eine Wanderausstellung mit Dauemenkinos eines Stummfilms von 1923 über Schillers Jugend. Zur Uraufführung seines Stückes während der Schillertage will er diesen Daumekinos Portraits von Menschen entgegen stellen, die ihm während seiner Auftragswanderung begegneten. Und er will anhand der Daumenkinos, kleiner Videos und Fotos seine Erlebnisse auf Schillers Fluchtroute erzählen. Schiller floh mit seinem Freund Andreas Streicher, auf dessen Reiseerzäh- anstalt02 15.06.2007 14:23 Uhr Seite 9 BESTIE MENSCH 14. INTERNATIONALE SCHILLERTAGE / NATIONALTHEATER MANNHEIM lung Volker Gerling sich bei der Wahl seiner Route stützte. Dann ging es los. Der Daumenkinograph war allein unterwegs, aber nicht einsam. Er telefonierte täglich mit seiner Freundin und den beiden Kindern, das jüngste gerade mal vier Monate alt. Auch sonst vermisst er nichts. Alles was er braucht trägt er auf dem Rücken: Ein Zelt, einen Schlafsack, eine Isomatte, zwei Paar Hosen, zwei Hemden, Unterwäsche, Socken, Waschzeug und Proviant. Am Gürtel trägt er die Kameras: Eine, die mit Hilfe eines Motors alle drei Sekunden ein Bild schießt – einen ganzen Film, sechunddreissig Bilder in zwölf Sekunden. Mit der anderen Kamera fertigt er Selbstportraits und fotografiert Menschen beim Betrachten seiner Werke. Auf unserer Etappe allerdings drückt er nur selten ab, macht ausschließlich Selbstportraits. Daumenkinos sind die Ausnahme, erzählt er. Auf seiner ersten Reise von Berlin nach Basel entstanden in zwei Monaten nur vier. Tage wie der heutige gehören zur Regel. Verloren sind sie trotzdem nicht, er genießt jeden und schießt viele Bilder – im Kopf. Kurz nach unserem Start in Worms laufen wir über einen Markt. Eine Marktfrau wird auf uns aufmerksam, winkt uns her und schenkt jedem ein Stück Kuchen. Mit großen Augen sieht sie sich die Wanderausstellung an. Ein Moment der überra- schend selten vorkommt. Die meisten Menschen blicken Volker Gerling nur staunend an, trauen sich aber nicht, näher zu kommen. Am Rhein entlang und durch die Felder in Richtung Oggersheim sind die Wege fast menschenleer. Es bleibt viel Zeit sich zu unterhalten. Volker Gerling ist ein faszinierender Mensch, ein Künstler, der es schafft, mit seinen Geschichten in den Bann zu ziehen. Am frühen Abend kommen wir nach Oggersheim. Das Schillerhaus ist leider schon geschlossen und Gerling ein wenig enttäuscht. Er hat einen Pilgerort voller Menschen erwartet, nicht ein kleines Stadtteilmuseum. Auch Oggersheim kann seine Erwartungen nicht erfüllen. Bleibt noch das kühle Schillerbier, das uns für unsere Strapazen belohnt. Immerhin waren das gut und gerne fünfundzwanzig Kilometer. An der Tür seiner Gastfamilie, an der das große Bild einer Schillerbüste hängt, nehme ich Abschied von Volker Gerling. Es war ein spannender Tag voller Geschichten mit dem weltweit einzigen Daumenkinographen. Vor allem aber nehme ich eine wichtige Erkenntnis mit: Wenn Schillers Beine nach der ersten Etappe ebenso geschmerzt hätten wie meine, müssten wir heute wohl auf „Kabale und Liebe“, den „Fiesko“ und Co. verzichten. ✶ MORITZ HUMMRICH MORALISCHE ANSTALT FESTIVALZEITUNG 16.06.2007 ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ »ICH LOTE GRENZEN AUS« ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ -Iller 17., 18. Juni 18.30 Uhr Foto: Thomas Plischke Er ist Choreograf und Tänzer. Für die Schillertage beschäftigt Martin Nachbar sich mit Schillers „Ueber den Zusammenhang der thierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen“ und erforscht tänzerisch Erscheinungsformen des kranken Körpers. Ihr Stück heißt „Iller“. Warum? Nachbar: Ein Ausgangspunkt des Stückes ist Schillers Doktorarbeit. Der zweite ist die Tatsache, dass Schiller seine Arbeiten als kranker Mensch schrieb. Er hatte Tuberkulose. Mit dem Titel „Iller“ wollte ich das Fragmentarische ausdrükken, das in diesem Kranksein zum Ausdruck kommt. Auch die Verbindung zwischen Körper und Geist, die weder zu Schillers Zeit noch heute genau verortet ist, spielt für mich eine Rolle. Und „Iller“, auf englisch gelesen, ist die Steigerung von „ill“, also krank. Worüber hat der Mediziner Schiller in seiner Doktorarbeit geschrieben? Nachbar: Er versucht, das alte LeibSeele Problem zu verhandeln und will die Pole versöhnen. Für ihn besteht der Mensch aus Körper und Geist in inniger Verstrickung – und das zur Zeit der Aufklärung, wo es immer stark um die Teilung von Körper und Seele ging. Das Interessante ist, dass er das nicht medizinisch verortet. Er bringt Beispiele aus dem Theater. Dort sind Körper und Geist zum Beispiel verbunden, wenn ein Schauspieler eine Stunde lang mit Krämpfen auf dem Bett liegt, nachdem er eine Rolle gespielt hat. Dass die geistige Arbeit der Rolle solch eine Auswirkung auf den Körper hat, ist für Schiller ein Beweis inniger Verstrickung. Foto: Hans Jörg Michel ✶ 9 Ist das Kranke und Fragmentarische nicht ein unüberbrückbarer Widerspruch zur Idee des Tanzes, in dem es um den gesunden Körper geht? Nachbar: Wenn man Tanz als virtuose Überwindung der Schwerkraft sieht, dann ja. Aber der Tanzbegriff ist weit, deshalb sehe ich keinen Widerspruch. Man kann mit dem Körper vieles zum Ausdruck bringen, auch den kranken Körper. Wobei ich auch viel Sprache benutze und das Stück deshalb eine „choreografische Annäherung“ nenne. Mussten Sie eigene Grenzen ausloten, bevor sie dieses körperliche Extrem darstellen konnten? Nachbar: Klar, körperlich und auch gedanklich. Ich arbeite zwar nicht bis zum Umfallen. Wenn man zu weit geht, nimmt man nicht mehr richtig wahr, was passiert, und das ist nicht produktiv. Aber vor allem in der Recherche gehe ich an Grenzen. Ich lote Grenzen aus, bis sie innerhalb meiner Grenzen liegen. Was können wir von Schiller über das körperliche Leid lernen? Nachbar: Schwer zu sagen. Wovon er in seiner Doktorarbeit schreibt, hat zumindest längst Eingang gefunden in die Wissenschaft, etwa in die Psychosomatik. Auf jeden Fall kann man von Schiller lernen, dass man todkrank und trotzdem produktiv sein kann. Welche Erkenntnis steht für Sie am Ende der Auseinandersetzung mit Schiller? Nachbar: Was ich von Schiller noch nicht wusste, ist, dass er das Theater als einen Ort gefasst hat, in dem der Mensch Erkenntnisse über sinnliche Erfahrungen gewinnen kann. Er sieht das Theater fast als utopischen Ort. Ich sehe das ganz ähnlich: Das Theater als utopischer Ort, an dem der Mensch über die sinnliche Erfahrung eine gewisse Freiheit erlangen kann, das finde ich spannend. Nur dass Schiller mit Worten arbeitet und ich mit dem Körper. ✶ Gespräch: MONI MÜNCH anstalt02 15.06.2007 ✶ 10 14:23 Uhr Seite 10 MORALISCHE ANSTALT FESTIVALZEITUNG 16.06.2007 BESTIE MENSCH 14. INTERNATIONALE SCHILLERTAGE / NATIONALTHEATER MANNHEIM Fotos: Corrado Costarelli D er Abend ist lau und im Foyer der Seebühne im Luisenpark sammeln sich die Leute. Heute abend gibt es die Premiere von „Pimp the City“. Plötzlich laufen Polizisten durch die Szenerie. Einer spricht in’s Gerät „Wir treiben sie jetzt hinein.“ Die Vorstellung kann beginnen. Denkste! „Bahne dir deinen Weg durch den Behördendschungel!“ heißt die Ankündigung am Eingang. Man muss vorbei an schwingenden Peter Hartz-Sandsäcken. Kaum haben sich die Leute durchgeboxt, rennt ein Mann schreiend in den Zuschauerraum und wird von den Polizisten abgeführt. Er heißt Norbert Leklou ist Lebenskünstler und Hartz IV-Empfänger. Gleich zu Beginn der Vorstellung läuft er durch Mannheim auf der Suche nach Arbeit, ein kleines Reclam-Heftchen in der Hand, Schiller rezitierend. Theater soll Hartz IV-Empfänger aus dem Loch des Alltags reißen. Sie sollen die Stadt aufmotzen. Das einzige was fehlt, ist eine Mannschaft. Also macht Leklou sich mit einem Mini-Schlauchboot auf in den Untergrund und trommelt sieben Gefolgsleute zusammen. „Nach unserem letzten Projekt“, erklärt Volker Bürger, „haben wir uns überlegt, den Menschen zu zeigen, dass genug Arbeit für jeden da ist.“ Aus den vielen Bewerbern, die auf einen Aufruf reagiert haben, wurden acht ausgesucht. Ein wichtiges Kriterium: Keine Theatererfahrung. „Da besteht die Gefahr, dass die Auserwählten sich Hoffnungen machen, im Theater einen Job zu bekommen. Das allerdings können wir als Theater nicht leisten“, sagt Volker Bürger. Dann ging die Arbeit los. Man machte Mannheimer Problemzonen aus. Jeder Teilnehmer brauchte eine Pimpstelle wie die „Todeskurve“ im Jungbusch, an der schon Menschen verunglückt sind: Ein Fall für Philipp Hardaway, dessen Traumberuf Koch oder DJ ist, und der durch Stress anfing, ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ PIMP DAS THEATER ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ Todeskurven, vermoderte Spielplätze, Menschen, die nicht wissen wohin: Mannheim ist nicht überall optimal. „Pimp the City“ nimmt sich der Probleme an. Acht Hartz IV-Empfänger wollen die Stadt aufmotzen. Unter der Regie von Simon Solberg und tätiger Anteilnahme des Dramaturgen Volker Bürger werden die Aktionen gefilmt und in eine Form gebracht. Man erfährt nicht nur, was sich seit April getan hat, sondern wird auch zum Voyeur temporärer Hartz IV-Empfänger. Kletterparadies verwandeln. Auf Anfragen wurde ihnen ein Platz auf der Schönau zugewiesen. Im Film, der das Projekt der beiden dokumentiert, zeigt Andreas Schweizer auf eine kleine Hütte: „Das ist nichts für Kinder. Meinen Hund würde ich da nicht reinstecken.“ Ein Modell für den neuen Platz haben sie bereits entworfen und gebaut. Es soll ein Piratenschiff werden. Geld und Sponsoren fehlen noch. Und dann wären da noch die anderen, die etwas auf die Beine stellen wollen. Birgit El-Aissaoui etwa rief die „Stiftung Birgittest“ ins Leben und kundschaftet als „Prof. Dr. Dr. Birgit“ die Stadt nach Angeboten für Menschen mit Geldsorgen aus. Matthias Michaelis sorgt dafür, dass auch ärmere Menschen in Mannheim kulturelle Einrichtungen nutzen können. „Pimps Giving“ heißt die Aktion, die es Bedürftigen bis August ermöglicht, kostenlos in Theater, Kino oder Museum zu gehen. Der siebte im Bunde, Sinan „Babbelnet“ Ozan, bringt mit seinen Kumpels Schillers „Der Verbrecher aus verlorener Ehre“ in einer Breakdance-Show auf die Bühne. Alle Aktionen müssen natürlich auch dokumentiert werden. „L’Occhio“ – das Auge – nennen sie ihn nur: Zu gerne wäre Corrado Costarelli Pressefotograf. ✶ Drogen zu nehmen. Seine Problemzone „Todeskurve“ ist ein Fahrradweg, der plötzlich auf der B44 endet. Dass da Radfahrer plötzlich auf einer Bundesstraße unterwegs sind, ohne es zu bemerken, forderte bereits Opfer: Eine Frau wurde von einem LKW überfahren; die Stadt allerdings reagierte wochenlang nicht, bis plötzlich ein Polizist aus Pappe dort stand und ein Schild vor den Radlern warnte. Und tatsächlich: Der Verkehr wurde ruhiger. Die Freude währte allerdings nicht lange. Eines Tages waren der Polizist und das Schild verschwunden. Autorisierte Ordnungshüter hatten beides abmontiert und sofort ging es wieder rasanter zu. Inzwischen allerdings hat die Stadt ein Einsehen: Seit einiger Zeit warnt wieder ein Schild und der Pappkamerad ist in einem Schaufenster aufgetaucht. So weit sind Norbert Leklou und Andreas Schweizer noch nicht. Sie wollen einen langweiligen Spielplatz in ein LYDIA DARTSCH anstalt02 15.06.2007 14:23 Uhr Seite 11 BESTIE MENSCH 14. INTERNATIONALE SCHILLERTAGE / NATIONALTHEATER MANNHEIM MORALISCHE ANSTALT FESTIVALZEITUNG 16.06.2007 ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ ✶ 11 BESTIE PREKARIAT ✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶✶ Vor ein paar Tagen saß meine Mitbewohnerin L. weinend am Küchentisch. Sie hatte einen dieser kurzen, knackigen DavidLynch-Momente. Einer dieser Momente, in denen alles sich neu sortiert. L. ist Teil einer Generation, die sich selbst den Namen „Prekariat“ gegeben hat, eine Generation, die in einem ständigen Provisorium lebt. A rbeit, Liebe, Freizeit, alles zeitlich begrenzte Projekte um ein viel größeres Projekt zu realisieren: Das Lebensprojekt. L.’s Arbeitsprojekt überlappte sich mit einem Liebesprojekt, das Freundesprojekt verlangte Aufmerksamkeit, die das Freizeitprojekt gerade nicht hergab. Das fragile Arrangement ihres Lebensentwurfes war ins Wabern geraten. „Die Zeitschrift Neon ist das Zentralorgan dieser Generation“, analysierte die „Tempo“, und „die Lounge ist ein Dauerzustand, alle sind irgendwie kritisch, aber auch irgendwie angepasst“. Die „Tempo“ nannte das Phänomen „Eigentlichkeit“. Nach dem Label „Prekariat“ bekamen verschiedenen Ausformungen noch wohlklingende Namen wie „Urbane Penner“, „Digitale Boheme“. Das Ganze hatte etwas mit Latte Macchiato zu tun und war ungefährlich. Was die Beobachter bis jetzt allerdings vergessen haben, ist, dass die Eigentlichkeit nur die menschliche Komponente des Prekariates ist. Die bestialische Komponente blieb weitgehend unbeachtet. Folgt man Google, so ist die berühmteste Bestie die „Bestie von Gévaudan“, die zwischen 1764 und 1767 in Südfrankreich rund hundert Menschen tötete. Zugeben, dabei handelte es sich mutmaßlich um einen Wolf. Den zweiten Google-Treffer belegt ein Buch namens „Bestie Mensch“ von Thomas Müller, österreichischer Gerichtsmediziner. Das Buch handelt von seinen ekelhaftesten Fällen. Bestien und Mörder werden ohne Zögern gleichgesetzt. Das Label „Bestie“ ist zwar beängstigend, ein Tier ist unberechenbar und gefährlich. Andererseits aber ist es auch beruhigend: Dies sind Bestien, ich bin es nicht. Die Bestie ist mit dem Wort bezwungen. Thomas Müller zitiert George Bernhard Shaw, der sagt, dass jeder Mensch zum Mörder werden kann, also auch jeder Mensch zur Bestie, und sei es nur für den Moment des Mordes selbst, den irrationalen Augenblick, der den Menschen zum Tier macht: Die kurzen, knackigen David-Lynch-Momente. Bestie ist ein Label für alles, was unberechenbar, kraftvoll und gefährlich ist. Das Prekariat befindet sich noch nicht in dieser extremen Variante der Bestialität, eher in einer Vorstufe: Noch hat sich die Bestie nicht gezeigt. Was George Bernhard Shaw auch meint, ist, dass die Bestie in jedem von uns verborgen ist und nur auf die richtigen Umstände wartet zu erscheinen. Beim Prekariat hat es den Anschein, als würde dieser Moment nie kommen: Eine breite Basis, die weder Geld hat noch Zukunft, sich von Provisorium zu Provisorium hangelt, genug Gründe für einen Befreiungsschlag, oder wenigstens ein paar ernstgemeinte Forderungen an die Verantwortlichen. Dabei ist genau das schon die bestialische Ausformung. Wenn die „Tempo“ sagt, dass das Prekariat aus „Jeinsagern“ besteht, ist das ähnlich wie die Behauptung, Pop der 80er wäre unpolitisch. Stimmt schon, hat aber Gründe. Genau wie die Musik der 80er durch die Abwesenheit von Politik ein politisches Statement machte, ist die „Eigentlichkeit“ nichts als eine Verteidigungsstrategie gegenüber einer Welt, die dem Prekariat aus den Medien bekannt ist. Es weiß, dass Protest, Politik nicht viel bringen, dass Aufstände zum Scheitern verurteilt sind. Das ist nicht seine Stärke. Es hat ausreichend ferngesehen um zu wissen, dass man mit den fifteen minutes of fame nicht viel erreicht. Es ist gerade die „Eigentlichkeit“, welche die Stärke des Prekariates ausmacht: Anpassen. Erdulden. Lächeln. Trotz widriger Umstände immer irgendwo Geld für den Latte herbekommen. Das Prekariat ist eine Masse, die gelernt hat, sich an der Basis der Gesellschaft elegant zu bewegen. Die sich durchlaviert und so angepasst ist, dass sie überall sitzt, überall ihre Praktikanten, Start-Upper, Kleinstkulturschaffenden und Laptop-Caféhäusler hat, eine Massenbewegung, welche die Medien von unten infiltriert hat. Eine Generation, die mit dem Computer geboren wurde, die sich so gut in der Medienwelt auskennt, die sich so traumwandlerisch sicher im Internet bewegt, dass sie ihre Stärke hinter medialen Etiketten verstecken kann. Eine Generation, die sich langsam aber sicher ihrer eigenen Existenz bewusst wird und begreift, dass irgendwas schief läuft. Wie die Bestie aussieht, wenn sie ihre Zähne zeigt, weiß man immer erst im letzten Drittel des Films. Bis dahin sind ihre wichtigsten Fähigkeiten Geduld und Tarnung. Die Bestie zeigt sich erst, wenn es zu spät ist. Der David-LynchMoment. Das haben wir von Hollywood gelernt, und wir warten darauf. Am nächsten Tag lächelte L. übrigens wieder. Jemand nettes aus dem Freizeitprojekt hatte es ins Liebesprojekt geschafft. ✶ JAN FISCHER AUGUSTO PINOCHET, 1915–2006, Jurist, Militärdiktator. Mit Folter, Mord und Massenverhaftungen zerschlug er nach 1973 in Chile die Demokratie. Bild: ERNST VOLLAND „12 Apostel“ anstalt02 15.06.2007 ✶ 12 2 14:23 Uhr Seite 12 MORALISCHE ANSTALT FESTIVALZEITUNG 16.06.2007 BESTIE MENSCH 14. INTERNATIONALE SCHILLERTAGE / NATIONALTHEATER MANNHEIM SPIELPLAN SAMSTAG 16.06.07 ✶ AB 14.00 ✶ ✶ AB 17.00 ✶ 14:00 Unteres Foyer PREMIERE 17:00 Oberes Foyer KARNEVAL DER TIERE (UA) LIGNA € 5,– / 2,50 SCHILLER ON AIR SWR FORUM € 15,– / 2,50 / frei in Verbindung mit Vorstellungsbesuch ✶ AB 19.00 ✶ ✶ AB 18.30 ✶ ✶ AB 22.00 ✶ ✶ AB 22.30 ✶ 19:00 Opernhaus PREMIERE EDOUARD LALO FIESQUE (UA) Nationaltheater Mannheim PREISE A 20:00 Schauspielhaus MARIA STUART Nationaltheater Mannheim PREISE G anschließend Publikumsgespräch 20:00 Probenzentrum Neckarau 22:00 Großmarkt Mannheim 22:30 Unteres Foyer/Theatercafé ALEJANDRO TANTANIAN LA LIBERTAD / FREIHEIT (UA) Cia Pablo Soler – Argentinien € 13,– / 8,– PREMIERE PENSION SCHILLER DIE PILOTFOLGE (UA) Drama Köln € 13,– / 8,– SCHILL-OUT mit WAIKIKI BEACH BOMBERS und MINI MOUSTACHE Eintritt frei! SPIELPLAN SONNTAG 17.06.07 ✶ AB 14.00 ✶ ✶ AB 17.00 ✶ ✶ AB 18.30 ✶ 17:00 Oberes Foyer 18:30 Studio Werkhaus PREMIERE SCHILLER ON AIR SWR FORUM € 15,– / 2,50 frei in Verbindung mit Vorstellungsbesuch -ILLER Martin Nachbar € 13,– / 8,– 18:30 Jungbuschstraße 19 PREMIERE SCHWEREPANZER-FLÜGELKLEID GZ-Jungbusch/Creative Factory Eintritt frei! ✶ AB 19.00 ✶ ✶ AB 22.00 ✶ ✶ AB 22.30 ✶ 19:30 Schauspielhaus 22:30 Unteres Foyer/Theatercafé KABALE UND LIEBE Nationaltheater Mannheim PREISE G anschließend Publikumsgespräch SCHILL-OUT mit THE BUSTERS und MINI MOUSTACHE Eintritt frei! 20:00 Probenzentrum Neckarau ALEJANDRO TANTANIAN LA LIBERTAD / FREIHEIT (UA) Cia Pablo Soler – Argentinien € 13,– / 8,– anschließend Publikumsgespräch