Internationaler Arbeitnehmereinsatz

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Internationaler Arbeitnehmereinsatz
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Arbeitsrecht
Haftungsrisiken nach der EU-Osterweiterung
Internationaler Arbeitnehmereinsatz
Dr. André Zimmermann,
Rechtsanwalt im Frankfurter Büro von
Hogan Lovells International LLP
BAG, Urt. v. 6.8.2003 – 7 AZR 180/03). Soweit sich Vereinbarung und tatsächliche Durchführung widersprechen, schauen die Gerichte darauf, wie
die Parteien den Vertrag „leben“. Checkliste 1 nennt Indizien, die für
eine Eingliederung in den Beschäftigungsbetrieb und damit eine Arbeitnehmerüberlassung sprechen.
Zum 1.5.2011 genießen die Staatsangehörigen der sog. EU-8Staaten (Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechien, Slowenien, Slowakei und Ungarn), die der EU mit der ersten Osterweiterung zum 1.5.2004 beigetreten sind, volle Freizügigkeit.
Sie können dann ohne Einschränkungen in Deutschland eine
Beschäftigung aufnehmen. Bereits jetzt bieten Vermittler in
grenznahen Ballungszentren deutschen Unternehmen Kontakte
zu osteuropäischen Betrieben an. Doch den Chancen, die damit
verbunden sind, stehen Risiken für die Einsatzunternehmen
gegenüber, die diese oft nicht sehen.
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Von der Entsendung zur illegalen Arbeitnehmerüberlassung
Eine Entsendung von Mitarbeitern eines in den EU-8-Staaten ansässigen
Unternehmens nach Deutschland birgt vor allem die Gefahr, dass es sich
um illegale Arbeitnehmerüberlassung handelt. Das kann erhebliche finanzielle Folgen für das deutsche Einsatzunternehmen haben, die denen einer Scheinselbstständigkeit sehr ähnlich sind. Haftungsrisiken bestehen,
wenn tatsächlich gewerbliche Arbeitnehmerüberlassung vorliegt, obwohl
man mit dem ausländischen Unternehmen eine Entsendung im Rahmen
eines Werk- oder Dienstvertrags vereinbart hat. Die Rechtsprechung stellt
zur Abgrenzung entscheidend darauf ab, ob der Arbeitnehmer in den Betrieb des Dritten eingegliedert ist und dessen Weisungen unterliegt (z. B.
Checkliste 1
Indizien für Arbeitnehmerüberlassung
Für Eingliederung und damit Arbeitnehmerüberlassung spricht, wenn die
Fremdmitarbeiter
□ arbeitsrechtliche Weisungen des Einsatzunternehmens erhalten (z. B. durch
beaufsichtigende Mitarbeiter)
□ mit Arbeitnehmern des Einsatzunternehmens zusammenarbeiten
□ Tätigkeiten übernehmen, die früher Arbeitnehmer des Einsatzunternehmens
ausgeführt haben
□ das Einsatzunternehmen Arbeitskleidung und Arbeitsmaterial stellt
□ eine Aufsichtsperson des Vertragsarbeitgebers fehlt
□ der Leistungsgegenstand in der Vereinbarung nur allgemein umschrieben
ist
□ der Vertragsarbeitgeber mangels sachlicher oder personeller Ausstattung
nicht in der Lage ist, einen Werkvertrag selbstständig durchzuführen
□ das Einsatzunternehmen die Anzahl der eingesetzten Arbeitnehmer, die
Lage der Arbeitszeit sowie Urlaubszeiträume festlegt
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Zusätzlich nimmt die Rechtsprechung eine Gesamtschau „aller für die
rechtliche Einordnung der Vertragsbeziehungen wesentlichen Umstände“
vor (z. B. BAG, Urt. v. 30.1.1991 – 7 AZR 497/89). Dabei wägt sie alle Indizien gegen- und untereinander ab. Nachteil dieser Vorgehensweise ist
die damit einhergehende Rechtsunsicherheit. Für die Unternehmen – und
oft auch den (arbeits-)rechtlichen Berater – ist kaum sicher absehbar, ob
das Gericht ein Vertragsmodell als Werk-/Dienstvertrag oder Arbeitnehmerüberlassung einordnen wird, vgl. zum Thema auch Deich, AuA 7/09,
S. 412 ff.; Hunold, AuA 1/08, S. 26 ff.; Hamann AuA 4/03, S. 20 ff.
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Durchführungsanweisungen
Gewisse Abhilfe in der Praxis schaffen die Durchführungsanweisungen der
Bundesagentur für Arbeit zum Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (DA AÜG;
abrufbar unter www.arbeitsagentur.de oder arbeit-und-arbeitsrecht.de/
downloads). Die Bundesagentur und die jeweilige Regionaldirektion halten sich ausnahmslos daran, so dass die DA AÜG eine Risikoeinschätzung
aus praktischer Sicht ermöglichen. Die Anweisungen betonen, dass bei
der Unterscheidung nicht schematisch vorzugehen ist. Selbst wenn einzelne oder mehrere Kriterien vorliegen, entscheidet das noch nicht über die
Einordnung. Vielmehr ist eine wertende Gesamtbetrachtung aller Kriterien
vorzunehmen. Ausschlaggebend ist der vereinbarte Geschäftsinhalt. Steht
er im Widerspruch zur tatsächlichen Durchführung, ist Letztere maßgeblich. Checkliste 2 nennt Kriterien, die nach den DA AÜG für einen Werkvertrag sprechen.
Checkliste 2
Kriterien für einen Werkvertrag nach DA AÜG
Für einen Werkvertrag spricht, wenn der Auftragnehmer
□ unternehmerische Dispositionsfreiheit besitzt (z. B. Auswahl der eingesetzten Arbeitnehmer, Bestimmung der Arbeitszeit, Gewährung von Urlaub)
□ ein dementsprechendes Weisungsrecht hat
□ das unternehmerische Risiko trägt, vor allem in Gewährleistungsfällen
□ aufgrund seiner personellen und materiellen Ausstattung „werkvertragsfähig“ ist
□ eigene Arbeitsmittel verwendet
□ es sich um ein individualisierbares und abgrenzbares Werk handelt
□ die Werkleistung erfolgsorientiert abgerechnet wird
Für Arbeitnehmerüberlassung spricht dagegen vor allem, wenn
U der vermeintliche Werkbesteller die vertragstypischen Rechte und
Pflichten eines Werkunternehmers wahrnimmt und
U die Fremdarbeitnehmer organisatorisch in seine Arbeitsabläufe eingegliedert sind.
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Arbeitsrecht
Erlaubnispflicht
In Deutschland bedarf die gewerbliche Arbeitnehmerüberlassung einer
Erlaubnis, § 1 Abs. 1 Satz 1 AÜG. Das Gesetz sagt nicht ausdrücklich, dass
es auch für grenzüberschreitende Überlassungen nach Deutschland gilt.
Allerdings sieht § 3 Abs. 2 AÜG vor, die Erlaubnis zu versagen, wenn der
Verleiher seine Betriebe außerhalb der EU/des EWR hat. Daraus folgt im
Umkehrschluss, dass das Gesetz hier Anwendung findet. Ohne Erlaubnispflicht kann eine Erlaubnis nämlich nicht versagt werden. Die Anwendbarkeit des AÜG innerhalb der EU/des EWR ergibt sich damit aus einer Auslegung der gewerberechtlichen Vorschriften des Gesetzes. Unabhängig
davon nehmen Rechtsprechung und Literatur nach dem „Territorialitätsprinzip“ an, dass der Verleih aus dem Ausland ins Inland den gewerberechtlichen Regeln des AÜG unterliegt.
Wichtig
Damit besteht für die grenzüberschreitende gewerbsmäßige Arbeitnehmerüberlassung nach Deutschland Erlaubnispflicht (vgl. BAG, Urt. v.
22.3.2000 – 7 ABR 34/98). Zugleich folgt aus der Anwendbarkeit des
AÜG, dass die gewerbsmäßige Überlassung aus Nicht-EU-/Nicht-EWRStaaten immer unzulässig ist, da in diesem Fall die Erlaubnis nach § 3
Abs. 2 AÜG zwingend zu versagen ist.
4
Erlaubnisfreie vorübergehende Überlassung im Konzern
Als Ausnahmevorschrift kann vor allem § 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG relevant
werden: die erlaubnisfreie vorübergehende Überlassung innerhalb eines
Konzerns, vgl. auch Zürn, AuA 10/09, S. 590 ff. Die Regelung gilt auch für
multinationale Konzerne, soweit eines der beteiligten Unternehmen seinen
Sitz im Inland hat oder die Überlassung vom Ausland ins Inland erfolgt
(Schüren/Hamann/Hamann, AÜG, 4. Auflage 2010, § 1 Rdnr. 491 m. w. N.).
Schwierig zu beantworten ist natürlich, wie lange „vorübergehend“ ist.
Das Gesetz definiert oder konkretisiert das Merkmal nicht. Ausgehend
vom allgemeinen Sprachgebrauch bedeutet das Wort so viel wie „nur
zeitweilig“, „nur eine gewisse Zeit dauernd“ oder „momentan“. Eine
klare zeitliche Grenze lässt sich allein anhand der allgemeinen Begriffsbedeutung daher nicht ziehen. Jede Angabe einer maximal zulässigen
Höchstdauer in Monaten oder Jahren wäre willkürlich.
Aus der allgemeinen Wortbedeutung lässt sich aber schließen, dass eine
Rückkehr auf den ursprünglichen Arbeitsplatz beabsichtigt sein muss und
der Betreffende nur befristet in dem anderen Konzernunternehmen tätig
werden darf (Thüsing/Waas, AÜG, 2. Auflage 2008, § 1 Rdnr. 194b). Ein
konkreter Rückkehrzeitpunkt braucht aber noch nicht festgelegt sein.
Nach dem Wortlaut der Vorschrift reicht es aus, wenn er bestimmbar ist
(ErfK/Wank, 10. Auflage 2010, § 1 Rdnr. 60). „Vorübergehend“ heißt
damit (nur) „nicht endgültig“. Unter das Konzernprivileg des § 1 Abs. 3
Nr. 2 AÜG fallen daher auch langjährige Überlassungen innerhalb eines
Konzerns, solange der zu überlassende Arbeitnehmer nicht endgültig aus
dem Unternehmen des Verleihers ausscheiden soll.
Wichtig
Sind die Voraussetzungen des § 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG erfüllt, ist das AÜG –
mit Ausnahme der in der Vorschrift aufgezählten Regelungen – nicht anzuwenden. Damit entfällt vor allem die Erlaubnispflicht nach § 1 Abs. 1
Satz 1 AÜG. Grenzüberschreitende Arbeitnehmerüberlassung ist dann
ohne Erlaubnis möglich. Konzernunternehmen mit Sitz innerhalb oder
außerhalb des EWR können ohne Einschränkung Arbeitnehmer an Konzernunternehmen im Inland überlassen.
5
Arbeitserlaubnis-EU
Die aufenthaltsrechtlichen Rahmenbedingungen für den Einsatz ausländischer Arbeitnehmer in Deutschland enthalten im Wesentlichen das Freizügigkeitsgesetz/EU, das Aufenthaltsgesetz sowie § 284 SGB III. Im Hinblick auf Angehörige der EU-8-Staaten ist zu differenzieren zwischen
der Rechtslage vor und nach dem 1.5.2011:
Der EU-Beitrittsvertrag sieht vor, dass die Mitgliedstaaten die Arbeitnehmerfreizügigkeit für Angehörige der EU-8-Staaten bis zum 30.4.2011 beschränken können. Von dieser Möglichkeit hat Deutschland Gebrauch gemacht: Bürger der Beitrittsstaaten dürfen eine Beschäftigung nur mit Genehmigung der Bundesagentur für Arbeit ausüben (§ 284 Abs. 1 SGB III).
Diese wird befristet als Arbeitserlaubnis-EU erteilt. Die Genehmigung einer Beschäftigung als Leiharbeitnehmer scheitert aber an § 288 Abs. 1
Nr. 3 SGB III i. V. m. § 6 Abs. 1 Nr. 2 der Verordnung über die Arbeitsgenehmigung für ausländische Arbeitnehmer (ArGV). Danach ist die Arbeitserlaubnis zu versagen, wenn der Arbeitnehmer als Leiharbeitnehmer tätig
werden will. Deutsche Unternehmen dürfen daher Angehörige der EU-8Staaten bis einschließlich 30.4.2011 nicht als Leiharbeitnehmer beschäftigen. Dem steht auch nicht die Dienstleistungsfreiheit entgegen (LSG
Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 7.7.2010 – L 1 AL 158/10 B ER).
Diese Beschränkungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit fallen zum 1.5.2011
weg. Danach genießen auch die Angehörigen der EU-8-Staaten uneingeschränkte Freizügigkeit nach Art. 21 des Vertrags über die Arbeitsweise
der Europäischen Union (AEUV, ex-Art. 39 EG). Sie brauchen vor allem
keinen Aufenthaltstitel und können ab diesem Zeitpunkt ohne aufenthaltsrechtliche Beschränkungen in deutschen Unternehmen eingesetzt
werden – auch als Leiharbeitnehmer.
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Haftungsrisiken
Setzt das inländische Unternehmen die ausländischen Staatsangehörigen
in dem Glauben ein, es handele sich um die zulässige Entsendung zur
Ausführung eines Werk- oder Dienstvertrags, obwohl tatsächlich Arbeitnehmerüberlassung vorliegt („Scheinwerk-/-dienstvertrag“), drohen erhebliche – nicht nur finanzielle – Risiken:
Ist das ausländische Unternehmen nicht im Besitz der nach § 1 Abs. 1 Satz
1 AÜG erforderlichen Verleiherlaubnis – was jedenfalls derzeit noch der
Regelfall sein wird –, ist der Arbeitsvertrag mit dem ausländischen Arbeitnehmer aus nationaler Sicht unwirksam, § 9 Nr. 1 AÜG. In diesem Fall gilt
ein Arbeitsverhältnis zwischen dem deutschen Einsatzunternehmen als
Entleiher und dem ausländischen Arbeitnehmer als zustande gekommen
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Arbeitsrecht
(§ 10 Abs. 1 Satz 1 AÜG), und zwar zu den Bedingungen im Einsatzunternehmen. Unerheblich ist dabei, ob die Entscheidungsträger des inländischen Unternehmens wussten oder hätten wissen müssen, dass es sich um
illegale Überlassung handelt. Diese Folge lässt sich auch nicht durch eine
Rechtswahl umgehen, da es sich bei § 10 Abs. 1 Satz 1 AÜG um eine Eingriffsnorm i. S. v. Art. 9 Abs. 1 der Verordnung über das auf vertragliche
Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I-VO, früher Art. 34 EGBGB)
handelt. Sie ist unabhängig von der berufenen Rechtsordnung anzuwenden (Jerczynski/Zimmermann, NZS 2007, S. 243, 249).
Eine Ausnahme gilt, wenn eine Entsendebescheinigung E-101 vorliegt.
Nach der Rechtsprechung des EuGH kommt ihr Bindungswirkung zu
(Urt. v. 30.3.2000 – C-178/97). Sie legt innerhalb der Mitgliedstaaten für
diese verbindlich das anwendbare Sozialversicherungsrecht fest. Nichts
Anderes gilt für die EU-8-Staaten nach Vollendung der Arbeitnehmerfreizügigkeit am 1.5.2011. Dann kann jedoch die Rechtsfolge – Fiktion eines
Arbeitsverhältnisses im Inland – nicht anzuwenden sein. Dies hätte nämlich zur Folge, dass ein inländisches Arbeitsverhältnis besteht, der ausländische Arbeitnehmer aber aufgrund der Bindungswirkung der Entsendebescheinigung weiterhin dem ausländischen Sozialversicherungsstatut
unterfällt. Es entstünde ein inländisches Arbeitsverhältnis ohne inländische Sozialversicherungspflicht. Das deutsche Sozialversicherungsrecht
verknüpft durch § 7 Abs. 1 SGB IV aber Beschäftigungs- und Arbeitsverhältnis untrennbar miteinander. Ein Arbeitsverhältnis ohne Sozialversicherungspflicht ist ihm grundsätzlich fremd (einzige Ausnahme: geringfügige
Beschäftigung, § 8 SGB IV).
Wichtig
Liegt eine Entsendebescheinigung E-101 vor, ist daher § 10 Abs. 1 Satz 1
AÜG mit seiner Rechtsfolge nicht anwendbar. Es kommt kein Arbeitsverhältnis mit dem Einsatzunternehmen kraft gesetzlicher Fiktion zustande.
7
Sozialversicherungspflicht in Deutschland
Das kraft Fiktion entstandene Arbeitsverhältnis führt grundsätzlich zur
Sozialversicherungspflicht in Deutschland, weil hier der Beschäftigungsort
ist (§ 3 Nr. 1 SGB IV) und das durch § 10 Abs. 1 Satz 1 AÜG fingierte Arbeitsverhältnis zum Einsatzunternehmen ein Beschäftigungsverhältnis i. S.
v. § 7 Abs. 1 SGB IV begründet (BSG, Urt. v. 25.10.1988 – 12 RK 21/87,
BSGE 64, S. 145). Auch findet keine Einstrahlung des ausländischen Sozialversicherungsrechts statt. Weder nach den bisher geltenden Regelungen der Verordnung (EWG) 1408/71 über die Anwendung der Systeme
der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbstständige sowie deren
Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern
noch nach den seit dem 1.5.2010 geltenden Regelungen der Verordnung
(EG) 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit
(vgl. dazu Münch/Neumann, AuA 9/10, S. 538 ff., in diesem Heft) ist die
illegale grenzüberschreitende Arbeitnehmerüberlassung eine Entsendung
(Jerczynski/Zimmermann, NZS 2007, S. 243, 249).
Das Einsatzunternehmen hat dann ggf. rückwirkend – gerade bei illegaler
Überlassung wird die Beitragsforderung oft erst nach einer Betriebsprüfung gemäß § 28p SGB IV festgestellt – für die vergangenen vier Jahre
(§ 25 Abs. 1 Satz 1 SGB IV) den Gesamtsozialversicherungsbeitrag (Arbeitgeber- und Arbeitnehmeranteil) sowie die Beiträge zur gesetzlichen
Unfallversicherung zu zahlen, einschließlich Säumniszuschläge.
Entsendebescheinigung kommt insoweit Rechtsschein zu. Erst wenn die
ausstellende Behörde sie zurücknimmt, entfällt dieser. Solange das nicht
der Fall ist, gilt die Bescheinigung mit der Folge, dass der Arbeitnehmer
dem ausländischen Sozialversicherungsrecht unterfällt und das deutsche
Sozialversicherungsrecht keine Anwendung findet. Das Einsatzunternehmen muss daher weder Sozialversicherungsbeiträge zahlen noch Säumniszuschläge.
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Exkurs: Säumniszuschläge
Von Bedeutung für Säumniszuschläge im Zusammenhang mit grenzüberschreitender illegaler Arbeitnehmerüberlassung ist die Sonderregel des
§ 24 Abs. 2 SGB IV. Danach ist kein Säumniszuschlag zu erheben, wenn
ein Bescheid die Beitragsforderung mit Wirkung für die Vergangenheit
feststellt und der Beitragsschuldner – hier also das Einsatzunternehmen –
glaubhaft macht (§ 23 SGB X), dass es unverschuldet keine Kenntnis von
der Zahlungspflicht hatte. Die Unkenntnis kann darin liegen, dass es von
den Tatsachen, die die Zahlungspflicht begründen, nichts wusste oder
die Rechtslage fehlerhaft beurteilte.
Bei der illegalen Überlassung kommt vor allem eine rechtlich unzutreffende Bewertung – ein Rechtsirrtum – in Betracht, z. B. wenn das Einsatzunternehmen davon ausging, die Arbeitnehmer würden in seinem Betrieb im
Rahmen von Werkverträgen eingesetzt. Dann besteht kein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis, das die Zahlungspflicht auslöst.
Bei grenzüberschreitender Überlassung kann ein Rechtsirrtum auch darin
liegen, dass der inländische Arbeitgeber von einer wirksamen Entsendung
und damit der Geltung ausländischen Sozialversicherungsrechts ausgeht.
Praxistipp
Ob die Unkenntnis unverschuldet ist, beurteilt sich mangels einer speziellen Vorschrift analog § 276 BGB. Die im Verkehr erforderliche Sorgfalt gebietet es, sich gründlich über die Rechtslage zu informieren und ggf. auch
Rat von einem Spezialisten oder der zuständigen Behörde einzuholen.
Insbesondere gilt dies bei schwierigen Rechtsfragen, wie der Abgrenzung
von Werkvertrag und Arbeitnehmerüberlassung sowie der sozialversicherungsrechtlichen Einstrahlung von Beschäftigungsverhältnissen.
Nur wenn dies erfolgt ist und danach nicht von illegaler Arbeitnehmerüberlassung und einem inländischen Beschäftigungsverhältnis auszugehen ist, fehlt es an einem Fahrlässigkeitsvorwurf. Die Erhebung von
Säumniszuschlägen ist dann gemäß § 24 Abs. 2 SGB IV zwingend ausgeschlossen.
9
Lohnsteuerhaftung
Das Einsatzunternehmen haftet außerdem für die Lohnsteuer der Arbeitnehmer gemäß § 42d Abs. 6 EStG. Es wird im Regelfall der illegalen
Überlassung wirtschaftlich als Arbeitgeber i. S. d. anwendbaren Doppelbesteuerungsabkommens anzusehen sein. Die rein formale Arbeitgeberstellung des ausländischen Unternehmens, das den Arbeitnehmer nach
Deutschland vermittelt hat, ist der Arbeitgebereigenschaft des Einsatzunternehmens vollständig untergeordnet (vgl. Mutscher/Power, IStR 2002,
S. 411, 412 f.). Die Entsendebescheinigung E-101 ist für das Lohnsteuerrecht bedeutungslos, verhindert also nicht die Inanspruchnahme des Einsatzunternehmens (Hess. FG, Urt. v. 13.2.2008 – 8 K 2258/01).
Praxistipp
Existiert allerdings eine Entsendebescheinigung E-101, sind die nationalen Behörden und Träger daran gebunden, auch wenn sie davon ausgehen, dass die Voraussetzungen einer Entsendung nach der VO (EG)
883/2004 nicht gegeben sind, weil illegale Überlassung vorliegt. Der
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Wichtig
Das Lohnsteuerrecht enthält im Gegensatz zum Sozialversicherungsrecht
aber einen Haftungsausschluss: Gemäß § 42d Abs. 6 Satz 3 EStG haftet
der Entleiher nicht, wenn er über das Vorliegen einer ArbeitnehmerüberlasArbeit und Arbeitsrecht ∙ 9/10
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sung ohne Verschulden irrte. Die Regelung nimmt darauf Rücksicht, dass
im Einzelfall oft schwierig zu beantworten ist, ob Arbeitnehmerüberlassung
oder eine andere Form des Fremdpersonaleinsatzes praktiziert wird.
Geht das Einsatzunternehmen etwa davon aus, es habe mit dem ausländischen Verleiher einen Werkvertrag geschlossen, irrte es i. S. d. Vorschrift
über das Vorliegen einer Arbeitnehmerüberlassung. Der Irrtum über die
Existenz einer Überlassungserlaubnis wirkt nach dem Wortlaut des § 42d
Abs. 6 Satz 3 EStG hingegen nicht haftungsbefreiend, selbst dann nicht,
wenn der Verleiher den Entleiher über ihr Vorhandensein getäuscht hat.
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Unverschuldet ist der Irrtum wie bei § 24 Abs. 2 SGB IV, wenn das Einsatzunternehmen analog § 276 Abs. 2 BGB bei der rechtlichen Bewertung des
Personaleinsatzes die im Verkehr erforderliche Sorgfalt beachtet hat.
Ordnungswidrigkeiten und Straftaten
Ordnungswidrigkeiten und strafrechtliche Folgen für das Einsatzunternehmen können sich aus speziellen Vorschriften des AÜG (§ 16 Abs. 1 Nr. 1a
AÜG) ergeben, aber auch aus allgemeinen Vorschriften, etwa dem SGB IV
(Verstoß gegen Melde- und Aufzeichnungspflichten nach §§ 28a, f) und
dem StGB (z. B. Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt, § 266a,
Betrug, § 263). Soweit die Tatbestände jedoch Sozialversicherungspflicht
in Deutschland voraussetzen, insbesondere § 266a StGB, und eine Entsendebescheinigung E-101 vorliegt, ist eine Ordnungswidrigkeit oder
Strafbarkeit ausgeschlossen, weil auch hier die Bindungswirkung gilt (vgl.
BGH, Urt. v. 24.10.2006 – 1 StR 44/06, AuA 8/07, S. 504 f.).
Die täterschaftliche Begehung einer Lohnsteuerhinterziehung gem. § 370
AO i. V. m. §§ 38 Abs. 3, 41a EStG durch das Einsatzunternehmen ist in
aller Regel ausgeschlossen, da es nicht lohnsteuerlicher Arbeitgeber der
illegal überlassenen Arbeitnehmer ist. Möglich ist aber Beihilfe zu einer
Lohnsteuerhinterziehung durch den Verleiher gemäß § 27 StGB.
Aus der illegalen Überlassung und etwaigen Ordnungswidrigkeiten sowie
Straftatbeständen kann sich außerdem die Unzuverlässigkeit des Einsatzunternehmens i. S. d. § 35 Abs. 1 Satz 1 GewO bzw. der Vorschrift des
jeweiligen Spezialgesetzes ergeben. Dann droht in gravierenden Fällen
die Untersagung des Gewerbes.
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Fazit
Die volle Freizügigkeit für Angehörige der EU-8-Staaten ab dem 1.5.2011
birgt Risiken, derer sich die Einsatzunternehmen bewusst sein müssen.
Sie lassen sich minimieren, indem man
U die Verträge klar nach Maßgabe der Abgrenzungskriterien der Rechtsprechung und der DA AÜG gestaltet;
U ständig sorgsam kontrolliert, dass die Verträge im betrieblichen
Alltag so „gelebt“ werden, wie sie geschrieben sind;
U nur mit ausländischen Unternehmen zusammenarbeitet, die über
eine Überlassungserlaubnis verfügen;
U den Einsatz auf Arbeitnehmer beschränkt, für die eine Entsendebescheinigung E-101 vorliegt. Hier muss sich das Einsatzunternehmen
bei seinem ausländischen Vertragspartner erkundigen. Da die zuständigen ausländischen Behörden die Bescheinigungen auch zurücknehmen können, sollte es die aktuellen Versionen regelmäßig anfordern.
Diese sind bei den Lohnunterlagen aufzubewahren, vgl. § 2 Abs. 1
Nr. 13 Beitragsüberwachungsverordnung.
U Letztlich ist es wichtig, sich nur an seriöse ausländische Unternehmen
zu wenden. Hier kann eine Nachfrage bei Berufsgenossenschaften,
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