liebe laut!

Transcrição

liebe laut!
LIEBE LAUT!
Tonia S. Pöppler
Liebe
laut!
MUSIK AN. WELT AUS.
WENN DER BEAT PASST,
KANN EIN LIED
DIE WELT BEDEUTEN
Roman
SCHWARZKOPF & SCHWARZKOPF
INHALT
❥ INTRO ❥ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
Erste Strophe
❥ Alles begann mit dem blonden Jan ❥ the first cut is the deepest . . 11
❥ Der Traum aller Omas: Moritz ❥ what you see is what you get . . . . . . 19
❥ Und dann kam Ricar ❥ no , no , no . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
❥ Hannes war nicht alles ❥ last night a dj saved my life . . . . . . . . . . . . 35
Solo / Zwischensequenz
❥ Sascha sieht rot ❥ everybody was kung - fu fighting . . . . . . . . . . . . . . . . 43
ZWEITE STROPHE
❥ Lovetheme: Jochen ❥ sometimes goodbye is a second chance . . . . . . . . . 51
❥ Gregor und die wilden hühner ❥ zwei herzen im dreivierteltakt . . . . . 61
❥ All Inclu­sive Atti ❥ blinded by the lights . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67
❥ Eine immaculate Connection: Alex ❥ i just died in your arms tonight . . 75
❥ High Energy: Jochen, Teil 2 ❥ it must have been love . . . . . . . . . . . . . . . 91
4
❥ Namenlos: Naturbursche ❥ a tune can change your life . . . . . . . . . . . 107
❥ Vanille und Schokolade: Jeremy ❥ you spin me round … like a record. . 113
BRRRRRRIDGE
❥ 3-Dates-Christoph ❥ you ’ ll never walk alone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119
❥ Nichts als GebRüll, Ronny! ❥ the lion sleeps tonight . . . . . . . . . . . . . 133
DRITTE STROPHE
❥ Der Japaner ist nicht immer der bessere Liebhaber ❥ big in japan . . 159
❥ Ben im Liebeswahn ❥ who are you ? who , who ? who , who ? . . . . . . . . . . 165
❥ Paolos Augen ❥ i could have danced tonight . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183
❥ Der Taxi-Typ ❥ high , high , high to tigh … space taxi to the sky . . . . . . 189
❥ Bobs Überfall ❥ mister boombastic … say me fantastic . . . . . . . . . . . 193
❥ 3-Haare-Julian ❥ don ’ t ya wish your girlfriend … . . . . . . . . . . . . . . . . 205
"
(M)Ein immerwährender
REFRAIN
❥ Ingo ❥ i got the key to the kingdom of love . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229
❥ Die Zukunft ist ein Bonustrack ❥ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247
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INTRO
I
ngo ist nicht der Erste, den ich küsse. Und dass Ingo ein ausgesprochen guter Küsser ist, kommt mir natürlich gelegen. Obwohl das
selbstverständlich nicht der einzige Grund ist, warum ich mich für
ihn entschieden habe. Das Gesamtpaket ist es, was einfach passt. Er
versteht mich. Und meinen Humor. Er ist liebenswert, wie ich. Er
ist frech, wie ich. Manchmal auch gestört, wie ich. Kann auch laut,
wie ich. Und er liebt mich, wie ich ihn liebe.
Einige Männer habe ich bereits geküsst. Und als ich Ingo begann zu küssen, merkte ich schnell die Unterschiede in der Art, wie
ich bislang geküsst wurde. Doch den einen Kuss, den wichtigsten
aller Küsse, den einen, wenn es heißt: »Sie dürfen die Braut jetzt
küssen!«, diesen Kuss würde ich nur mit Ingo teilen. Ingo küsse ich
gerne, und ich werde auch gerne von ihm geküsst.
Bis vor zweieinhalb Jahren war ich eine dieser typischen ungewollt-immer-wieder-Single-werdenden Mittzwanzigerinnen, deren
beste Freundin bereits vor der Pubertät den ersten Mann fürs Leben
gefunden hatte. Mich hingegen hielten die passendsten Männer bisher meist für nervig und überflüssig, oder es standen nur Stalker,
Ätzer oder drei Zentner schwere Lesben auf mich. Okay, zugegeben,
manchmal finde ich mich auch selbst ziemlich anstrengend. Und
moralisch höchst flexibel. Bezeichnet man mich als pessimistische
Optimistin mit Neurosen und etlichen Macken, trifft es das relativ
genau. Mein Leben ist eben halbleervoll. Ich schaffe es, Insiderwitze mit mir selber zu machen, und lache manchmal aus heiterem
Himmel mit mir und über mich selbst. Ich – ein selbstständiges
und selbstüberschätzendes Moppel-Ich. Ich glaube an mich. Doch
ich wusste stets, dass ich keine Frau war, für die Lieder geschrieben
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werden. Das ist okay. Dennoch fühle ich mich gut. Manchmal sogar ganz hübsch. Vermutlich würde ich aber dennoch einsam und
allein alt werden, wie das jeder Teenager denkt. Doch ich würde
mein Bestes geben, das zu verhindern.
Generationslos wurde ich irgendwann zwischen Golf und G
­ oogle
im Zeichen des Löwen geboren. Zu unserer Generation gehören sowohl die, die den Synthesizer noch zu schätzen wussten, als auch die,
die den ersten Boygroups hinterherhechelten. Einen Vorteil hat es:
Ich kann Gutes in schlechter Musik finden und auch Schlechtes in
guter Musik. Besonders viel Schlechtes fand ich leider in der Musik, die ich versucht habe, selber zu machen. Mit sechs Jahren der
obligatorische Blockflötenunterricht. Er scheiterte an einem Kinderlied, das ich nicht spielen wollte. Zu langweilig. Mit zehn die erste
Gitarre. Die klang komisch. Seitdem steht sie in der Ecke. Als Deko.
Es folgten Posaune, Klarinette, Ukulele. Nichts. Aber ich kann herzzerreißend gut Triangel spielen, und wenn ich unter der Dusche singe, muss ich manchmal selber weinen. Denn singen kann ich sogar
dreistimmig: falsch, laut und aus tiefster Kehle. Zudem kann ich bei
allen Liedern sogar die Instrumente mitsingen. Und ich bin sozial.
Ich singe und höre Musik so laut, dass sogar alle anderen Nachbarn
ihren Spaß abbekommen. Doch mein Mister Right sollte auch leise
sein können – damit ich die Musik in meinem Kopf hören kann.
Und ich glaube, das war der Moment, in dem ich meine Bedeutung
hinter der Musik verstand: Musik ist wie Liebe – nur lauter! Sie ist
die erste und wird auch die letzte große Liebe sein. Sie ist treu und
verarscht nie. Und man vergisst die Welt für die Dauer des Liedes.
Ausgestattet mit einer übergroßen Isolierschicht, die ich mir
im Laufe meiner männerfreien Jahre angefuttert hatte, und einer
großen Klappe, suchte ich einen Kerl mit echtem Rückgrat und
feinem Herzen, der akzeptierte, dass ich gerne auch mal in einem
fröhlichen Schwarz aus dem Haus gehe. Und manchmal abgehoben
mit beiden Beinen fest in den Wolken stehe. Als junge Frau, die
ihren alten Schallplatten zu lange beim Drehen zugeschaut hat.
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Papa wollte immer, dass ich einen Ölscheich oder einen König
eheliche. Doch meine armen Eltern irgendwann mit den Worten zu
überraschen »Mama, Papa, das ist Karl-Heinz. Er ist 87 und reich.
Wir lieben uns«, nur um Ruhe zu haben? Nee …
Und insgesamt waren wir alle so weit wie nur möglich davon
entfernt, zu sagen, dass ich mich für Jesus aufheben wolle. Nein, das
wollte ich auch nicht. Nicht mein Typ. Doch der Großgrundbesitz
mit Rosengarten war nicht nur bei meiner Mutter und meinem
Vater durch Heirat dringlichst erwünscht. Allein auch wegen der
Aussicht auf finanzielle Entlastung. Doch vielleicht war ich zu frech,
um die Gattin eines Königs zu werden? Das behaupten manche
zumindest. Nur weil ich es manchmal schaffe, mein Maul aufzukriegen, wenn ich nicht bei jeder Zigarette, die ich mir anstecke,
hören will, dass Rauchen krebserregend ist? Es ist mir relativ egal,
was Krebse geil macht.
Da stehe ich nun. Vor den heiligen Toren. Papa ist bei mir, hält
meine Hand. Meine letzte Zigarette als unverheiratete Frau brennt,
und meine Beine schlackern vor Aufregung. Bekomme ich etwa
kalte Füße? Oder liegt das nur daran, dass ich mich unbedingt in
die geliehenen Schuhe reinpressen musste?
Die Friseurin hat meine blonde Löwenmähne zu einem feinen
Kunstwerk hochgesteckt. Ich sehe super aus in meinem Kleid.
Meine Brüste sind Blickpunkt, wie zwei Sahnebonbons in feinster
weißer Satin-Verpackung. Eine übergroße rote Rose ziert meinen
Hinterkopf. Nein, einen Schleier brauchte ich nicht. Es gibt nichts
zu verschleiern. Öffnet die Tore! Ich habe mit der Vergangenheit
abgeschlossen. »That bitch got skills«, sagte mal mein schottischer
Nachbar. Hell yes … das stimmt. Wenn er doch nur wüsste, wie
recht er damit hat. Nun, beim Gang zum Altar, suchte ich ihn in
der Menge. Nur um ihm zustimmend zuzunicken. Ich habe mich
bei meinem Vater eingehenkelt. »Geh langsamer! Nicht rennen!«,
flüstert er, ich hätte vor Anspannung fast seinen Smoking zerrissen.
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Die Blumen, die Gäste, die Tränen in ihren Augen, die falschen
Schuhe – und doch sehe ich nur meinen Mann, der vorne am Altar
auf mich wartet. Den Richtigen. Mein Herzchen schlägt, als würde
es zerspringen wollen. Mal im Takt, mal fühlt es sich an, als setze es
aus. Dafür rauscht mein langes weißes Kleid im Takt. Die Kirchenglocken läuten nur für Ingo und mich. Und als diese verstummen,
stimmen Freunde ein Lied für uns an. Das war es, was ich brauchte,
damit mein Herz wieder in seinen Rhythmus zurückfindet. Das
würde der beste Song im Soundtrack des Lebens werden. Der allerbeste. Ein echter Ohrwurm. Ja, heute ist ein Lied die Welt für mich.
Und ich merke, dass jemand die Welt für mich sein kann, solange
ein Lied für ihn spricht.
Dies ist also die Geschichte, wie die kleine Eleanor Henricks auszog, die Liebe zu finden – und mit einem Big Pack Zigaretten zurückkam. Freunde und Verbündete dürfen mich Ella nennen. Eben
fast eine ganz normale Geschichte über Schwärmereien, die Jagd auf
Jungfernhäutchen, Schwule in Bikinis, Penisbrüche, lesbische Küsse
und heißem Sex auf der Betriebstoilette – auf dem Weg zur ganz
großen Liebe. Und wenn mich das Leben in die Knie zwingt, dann
tanze ich halt Limbo. Kein Problem, immerhin kann ich Spagat!
Ein neues Kapitel beginnt heute. Und auf ein Happy End wie dieses
warte ich schon lange.
Musik an. Welt aus. Passt schon.
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ERSTE STROPHE
ALLES BEGANN
MIT DEM
BLONDEN JAN
The first cut is the deepest
Alter: 16
Optik: blond, blauäugig,
1,80 Meter, sportlich, tolles Lächeln
Beruf: Teenager
Sternzeichen: Zwillinge
Lieblingsmusik: Schlager
Pluspunkt: süßer Hund
M
ike prügelte sich mit Björn um Jessi in der großen Pause. In
jeder großen Pause. Schon das ganze Schuljahr. Doch diesmal floss Blut. Björn wurde von Mike mit dem Kopf gegen die
Heizung geklatscht. Und als Björn nach zwei Monaten wieder aus
dem Krankenhaus kam, bat Mike mich darum, mit Björn zu gehen.
Damit er nicht so deprimiert ist. Ich war der Trostpreis. Zumindest
für drei Tage. Dann machte Björn mit mir Schluss. Das war also
schon in der Grundschule so. Tja, was soll ich sagen. Mike und Jessi
haben letzte Woche geheiratet.
Ich war die ewige Zweite. Ob als Zweitgeborene, im Sport, im
Zweitbeste-Freundin-Sein, in der Beziehung. Nur nicht bei Ingo.
Außer man zählt die Musik dazu. Aber da stehe ich fast gerne an
zweiter Stelle. Zwar wollte seine Jugendliebe scheinbar die Ex-­Akten
wieder kurzfristig öffnen, als sie mich traf, aber das hatte für Ingo
keine Bedeutung mehr. Ich hatte gewonnen. Mein Weg zu Ingo war
zwar kurz, dafür aber umso steiniger. Und jede Niederlage, jeder
Rückschlag, jeder Tiefpunkt führte mich weiter zu ihm.
Bereits in der Grundschule war ich stellvertretende Anführerin
einer Mädchenbande. Ausgestattet mit einer Trillerpfeife und einem
harschen Befehlston, scheuchte ich meine Freundinnen durch den
Trainingsparcours auf dem Schulhof. Die Jungs spielten uns Streiche, und wir trainierten, um sie irgendwann – ganz sicher – zu
verhauen. Dennis war mein Lieblingsopfer. Frech, wie ich. Laut,
wie ich. Jedoch einen Kopf kleiner als ich. Trotzdem wollte er sich
immer mit mir prügeln, um mir zu zeigen, wie schwachsinnig mein
Training der Mädchen in seinen Augen war.
Schlagen war nicht meine Art, so war ich nicht. Ich würde mich
eher dazu bereit erklären, ihm korrekt Lesen und Schreiben beizubringen. Bis man mich reizt. Und als er so vor mir stand, beide
Fäuste erhoben und bereit zum ersten Schlag, stellte ich mich auf
seine Füße und brachte ihn mit einem Fausthieb auf die Nase zum
Straucheln. Er sackte nach hinten zusammen und brach sich beide
Füße. Jetzt hatte wirklich jeder Angst vor mir als Bandenchefin.
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Alle nahmen mich ernst. Na ja, dass meine Eltern in die Schule
zitiert wurden, verschweige ich an dieser Stelle. Und als ich Dennis
später einen Anstandsbesuch im Krankenhaus abstattete, kam er
in Erklärungsnöte. Schweigend, mit gesenktem Kopf stand ich an
seinem Krankenbett. Mama stupste mich an. »Entschuldige dich!«
Ich schnaubte. »Tut mir leid!«, winselte ich wütend, aber kleinlaut.
Dennis schickte seine und meine Eltern aus dem Zimmer, er wollte
kurz mit mir alleine sein.
Tja, und was soll ich sagen? Er gestand mir, dass er zwar Beate
toll fand, aber auch mich. Nahm meine Hand und zog mich auf sein
Bett. Den Kuss, den er mir aufzwängen wollte, hatte ich gerade so
abwenden können. Ich rammte ihm – selbstverständlich aus Versehen – meine geballte Faust zwischen die Rippen.
Dennis hatte die zwei gebrochenen Füße verdient. Und noch viel
mehr. Er hatte Beate verdient.
Doch, wirklich, ich verabscheute eigentlich Gewalt. Na ja, okay,
heulte aber trotzdem beim Abschied von Henry Maske – spätestens
bei Time to Say Goodbye – und stand aber trotzdem in einem Anfall
von jugendlichem Wahnsinn irgendwie irgendwann auf Wrestler
Hulk Hogan.
Aber ich war nicht bereit, mir irgendwas gefallen zu lassen.
Als Aufnahmeprüfung in das Mädchenbanden-Team musste
eine Mutprobe bestanden werden: einen Lehrer küssen. Letztendlich war ich irgendwann allein in meiner Mädchenbande. Und zu
allem Überfluss verliebte ich mich auch noch in diesen Lehrer. Ich
verrannte mich in den Gedanken, dass wir Blicke austauschten, dass
auch er etwas für mich empfindet. Nur zwei Wochen später kamen
die Sommerferien, er wechselte die Schule, und wir sahen uns nie
wieder.
Manche denken auch heute noch, ich sei naiv und dumm. Nur
weil ich an die Liebe glaube? Ich find mich lediglich äußerst verhaltensoriginell und denke, ich bin gelegentlich nur hochbegabt
bescheuert. Aber ich bin viel zu intelligent, um arrogant zu sein.
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Schließlich habe ich einen IQ von 148. Bin also nur zwei kleine,
lächerliche IQ-Pünktchen vom Genie-Sein entfernt. Und, glaube
mir, wer will, das ist fürchterlich frustrierend. Sicherlich war auch
das der Grund dafür, dass mich niemand knuddeln wollte – weil
ich eben viel schlauer bin als alle anderen.
Ich bin mal extrovertiert, mal in mich gekehrt. Nein, ich bin auch
nicht stur, ich bin nur extrem beratungsresistent. Aber – Vorsicht! –
ich kann auf sympathische Weise unsympathisch werden. Ich bin
irgendwas zwischen Penner und Tussi – skurril, aber charmant. Ich
besitze mehr als drei Gehirnzellen, kann hochgestochen reden, wie
bei Dawson’s Creek, habe einen ausgeprägten Familiensinn, kann
aus einer Mücke zehn Elefanten machen und spiele gerne Bestimmerin. Ich hatte gelernt, mich daran zu gewöhnen, sitzengelassen
zu werden. Bei mir kommt da kein Schmerz mehr auf, sondern nur
noch ­Nostalgie. Zu oft hat sich der Prinz, nachdem ich ihn geküsst
habe, zurück in einen Frosch verwandelt. Und, verdammt, ich hatte
viele Frösche geküsst. Sogar die Kröte in Papas Gartenteich. Oder der
ach-so-tolle Prinz ist auf seinem weißen Ross auf und davon geritten.
Oder er hatte in einem anderen Schloss ein Burgfräulein sitzen. Oder,
oder, oder. Ich lernte, dass viele von ihnen die drei magischen Worte
»Ich liebe dich!« als Argument einsetzten, bei ihnen zu bleiben. Liebe
ist nichts für Feiglinge. Und mich zu lieben schon gar nicht.
Feige bin ich nicht. Wenn überhaupt, dann eher vorsichtig oder
weitsichtig. Ich laufe nie mit einer Schere oder einem Messer durch
die Gegend, geh beim Heben in die Knie, esse nichts, was länger
als drei Sekunden auf dem Boden lag, und schlucke Kaugummi
nie runter. Genauso, wie ich Abstand zu offensichtlichen Gefahren
halte, hielt ich diesen auch zu gleichaltrigen Jungs. Präpubertär,
hormongefüllt und hirnlos. Ich konnte mit ihnen nichts anfangen.
Wieso mussten sie bei jeder noch so kleinen Gelegenheit beweisen,
wie blöde sie eigentlich noch waren?
Mädchen-Zeltfreizeit. Ich war süße 13. Mama meinte: »Lerne
andere Kinder in deinem Alter kennen.« Papa nickte, bezahlte und
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grinste vielsagend. Bei unserer Ankunft wartete eine Horde wild
gewordener 14-Jähriger auf uns, deren Abholung um drei Stunden verschoben wurde. Unerzogene Jungs, die uns aufs Genaueste
untersuchten. »Oh guck mal«, rief einer, »die sieht aus wie Pamela
Anderson, und die wie Angelina Jolie.«
»Und dort eine Grace Kelly!«, rief ein anderer.
»Kelly wer?«
Dennoch verschwand Klara schnell mit einem von ihnen im
Jungenzelt. So viel zum Thema Emanzipation.
Trotzdem. Knutschen wollte ich auch schon immer. Obwohl ich
zu diesem Zeitpunkt meine bisherige Knutscherfahrungen nur
mit einem gierigen Kälbchen sammeln konnte, das mir mit voller
Inbrunst quer übers Gesicht geschlabbert hatte. Dafür konnte ich
andere Vorteile aufweisen, die ich mir durch exzessive Mutter-VaterKind-Spiele im Kindergarten angeeignet hatte. Doch aus Ermangelung eines Knutschpartners erfand ich im zarten Alter von 14 Jahren den blonden Jan Müller, den ich bei meinem Sommerurlaub
kennengelernt haben sollte. Gut, Jan gab es wirklich, und er wollte
auch wirklich mit mir knutschen, obwohl er erst zwölf war. Doch
ich wollte ihn nicht küssen. Nicht in echt. Noch nicht. Und das, obwohl meine Freundinnen schon alle feste Freunde hatten und auch
keine gefürchtete Jungfrau mehr waren. So erzählten sie zumindest.
Doch auch meine Fantasie war nahezu grenzenlos. Deshalb erfand
ich, um nach den Sommerferien mitreden zu können, eine wundervolle, hemmungslose Knutschgeschichte. Feucht, sabberig, kitschig,
romantisch. Denn, Mädels, wo ist euer Prinz von damals mit seinem
geschimmelten Gaul heute? Schieben er und sein Pony vielleicht
grad ’ne Nummer? Ja, Fantasie, Zynismus und Sarkasmus retten mir
das Leben … jeden Tag aufs Neue. Doch eigentlich muss ich nicht
gerettet werden, ich bin keine Prinzessin. Ich bin eine Königin.
Ich konnte es nach den Ferien kaum erwarten, zurück in die
Schule zu kommen und meinen Freundinnen und auch allen ande15
ren die Geschichte von Jan aufzutischen, um sie ruhigzustellen. Ich
erzählte, wie Jan, der Rettungsschwimmer, mir ständig nachschaute,
mich ansprach und von mir daraufhin so angetan war, dass er nicht
merkte, wie sein Zwergspitz in verdammte Seenot geriet. Und ich ihn
todesmutig vor dem Ertrinken retten musste. Obwohl die Geschichte
wenig Sinn machte, spann ich weiter, wie er mir aus Dankbarkeit die
ewige Liebe schwor und wir uns im Sand küssend rekelten. Dicht an
dicht. Hand in Hand. Körper an Körper. Gesicht an Gesicht. Lippen
auf Lippen – an einem schnulzigen See, zwischen schnulzigen Bergen und schnulzigen Wäldern. Ich fühlte mich wie bei Baywatch.
Jan war perfekt. Rein theoretisch. Und dieses Date mit Jan war
das schönste schnulzige Date, was ich niemals hatte. Das war zu der
Zeit meine bittere Realität. Und ich ließ mich nicht mit Tatsachen
verwirren.
Ich war schon immer anders als die anderen. Aber vielleicht war das
ja auch gut so, denn wer gegen den Strom schwimmt, nähert sich
der Quelle. Auch wenn meine Suche nach Mister Right noch dauern
würde. Der Anfang war gemacht. Ob ich wollte oder nicht. Irgendwie wollte ich ja geliebt werden. Doch zu mehr, als nur davon zu
träumen, war ich nicht in der Lage. Noch nicht. Mein Herz musste
noch etwas geschützt werden.
Da gab mir Gretchen, meine drei Jahre, zwei Monate und einen
Tag ältere Schwester, einen Tipp: Alle meine Wünsche, wie ein
Junge sein sollte oder nicht, sollte ich aufschreiben. Ich gründete
also meine ganze persönliche Männer-Mängel-Liste, und der erste
Wunsch, mit dem ich dann in mein Leben durchstartete, war:
Meine Männer-Mängel-Liste:
Punkt 1: Ich wünsche mir ein Gegenüber, das seine Meinung
sagt und auch meine zulässt. Keine Trockenübungen mehr.
Punkt 2: Ich brauche jemanden, der weiß, wo er steht, was
er von mir will, was er an mir hat und was ihm gefällt.
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Ich könnte, wenn Mann es zulässt, sein bester Kumpel sowie seine
bessere Hälfte sein. Ich bin nämlich der Typ Frau, der nach dem
Sex ein High-Five erwidern würde. Ich bin diese eine Freundin,
die dir hilft, eine Leiche verschwinden zu lassen. Doch bedenke,
bevor du mich verarschst: Ich weiß durch dich, wie man eine Leiche
verschwinden lässt.
Doch würden mir all diese Versprechen helfen bei meiner Suche
nach Mister Right? Ich hatte das Gefühl, meine Eltern und Hollywood vermittelten mir bisher eher unrealistische Vorstellungen von
Liebe. Ich hätte schon früher mein Gehirn einschalten sollen.
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