Tod auf den Schienen

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Tod auf den Schienen
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Tod auf den Schienen
Als Notarzt lernt man, eigenständig zu entscheiden
und dann konzentriert zu handeln. Jeder Handgriff
muss sitzen. Aber was, wenn der Verunglückte ­bereits
tot ist – und stattdessen die Umstehenden zum
­Problem werden? Eine Notärztin berichtet von einem
Einsatz, bei dem sie eher als Psychologin gefragt war.
Schlüsselerlebnis
Einsatz am Bahnhof Als an jenem Mittag ihr Piepser losgeht, sitzt sie gerade in
der Kantine. Mal wieder bleibt die Mahlzeit halb aufgegessen stehen. Hamp läuft
hinüber zur Garage und trifft gleichzeitig
mit ihrem Fahrer am Wagen ein. Auf die
Rückbank zwängt sich noch ein Kollege,
der gerade seine Notarzt-Ausbildung
macht und froh ist über jede Fahrt, die er
in seinem Logbuch ergänzen kann.
Die Leitstelle meldet: Zugunglück am
Bahnhof, eine Person wurde erfasst. Nora
Hamp ist klar: Da ist wohl nicht mehr zu
helfen. „Wer von einem Zug überfahren
wird, hat keine Chance. Fast immer kann
man nur noch den Tod feststellen.“ In den
allermeisten Fällen wollte sich der Betreffende umbringen. Aber das ist hier fraglich: Bahn-Suizide werden meist auf offener Strecke begangen. Dieses Mal ist es am
Bahnhof passiert, mitten in der Stadt. Die
Ärztin spürt, wie ihr Adrenalin-Spiegel
steigt – trotz aller Routine.
16-Jährige überfahren Die Fahrt dauert
nur wenige Minuten. Bei ihrer Ankunft
sind auch schon Rettungswagen und der
technische Dienst der Bahn vor Ort. „Nach
denen schaue ich immer als erstes“, sagt
Hamp. „Bevor die Bahn die Oberleitung
nicht abgeklemmt hat, gehe ich nicht auf
die Gleise.“ Der Notarztwagen hält auf
dem Bahnhofsvorplatz. Nora Hamp greift
nach ihrem Koffer, den sie vermutlich
nicht brauchen wird, und steigt aus.
Man zeigt ihnen den Weg: Am Bahnhofsgebäude vorbei, dann durch die Unterführung zum nächsten Bahnsteig. Dort drängen sich Leute. Die Bahnmitarbeiter haben rot-weiße Absperrbänder gespannt,
zwischen denen sie die Notärzte hindurchlotsen. Dabei berichten sie schnell
das Nötigste: Ein 16-jähriges Mädchen ist
auf das Gleis gerannt, der Lokführer konnte nicht mehr rechtzeitig bremsen.
Am Gleis steht ein Güterzug, zwischen
Zug und Bahnsteigkante schauen die Ärzte hinunter auf einen menschlichen Körper: „Sie war nicht mehr zu identifizieren“, sagt Nora Hamp. „Es war klar, dass
sie tot war.“ Ungewöhnlich ist, dass der
Zug noch über ihr zum Stehen gekommen
ist: Da er sehr lang ist, stehen die Wagen
noch im Bahnhof, während die Lok schon
viel weiter gefahren ist.
Hysterische Schulklasse Dem Mädchen
können die Ärzte nicht mehr helfen, und
die Bergung der Leiche ist nicht ihre Aufgabe. Unter normalen Umständen wäre
ihr Einsatz jetzt vorbei, sie würden zurückfahren und sich wieder abkömmlich
melden. Aber an diesem Tag geht das
nicht: „Rundherum herrschte das absolute Chaos!“, erzählt Hamp. „Eine ganze
Gruppe Jugendlicher stand am Bahnsteig,
die alles mit angesehen hatten.“
Das Mädchen war vom
Bahnsteig auf das Gleis
gesprungen. Die Warnungen
der anderen kamen zu spät.
Und deren Reaktion überrascht die Ärzte:
Sie sind nicht in Tränen aufgelöst oder
stumm vor Schreck. „Statt dessen beschimpften sie uns“, so Hamp. „Sie schrieen uns an: ‚Was willst du denn hier, du
blöde Fotze!‘ und ähnliches.“ Sie versucht
zu erklären: „Ich bin hier die Notärztin!“
Aber sie hat den Eindruck, das dringt gar
nicht bis zu den Jugendlichen vor. „Die
waren so unverschämt und keiner Hilfe
zugänglich – ein Albtraum!“
Unfall oder Suizid? Später erfährt sie,
dass sie die Klassenkameraden des toten
Mädchens sind, etwa 15–16 Jahre alt, fast
nur Mädchen – und fast alle mit Migrationshintergrund. Weil an diesem Tag
Opferfest ist, eins der höchsten islami­
schen Feste, haben sie schon mittags frei
und sind gemeinsam zum Bahnhof gegangen. „Es hatte wohl Streit gegeben, kurz
bevor das Unglück passierte“, sagt Dr.
Hamp. Worum es ging, hat sie nie erfahren. Fest steht: Das Mädchen ist vom
Bahnsteig auf das Gleis gesprungen, die
Warnungen der anderen kamen zu spät –
dann war der Zug schon da.
Nicht nur Dr. Hamp fragt sich, ob sie den
Güterzug nicht rechtzeitig gehört hat. „Ob
das Mädchen aus Versehen oder absichtlich vor den Zug gelaufen ist, konnte meines Wissens nach nicht geklärt werden.
Für ihre Mitschüler stand – zumindest an
dem Tag – wohl fest, dass sie sich umbringen wollte.“
Helfer versuchen, die Kinder zu bändigen
Zur Erleichterung der Ärztin heißt es bald,
dass sie mit der Gruppe in das Bahnhofsgebäude können, in einen ungenutzten
Nebenraum. Gemeinsam mit den Rettungssanitätern und einigen Mitarbeitern
der Bahn lotsen sie die hysterischen
­Jugendlichen die Treppe runter, durch die
Unterführung, auf der anderen Seite wieder hoch und rein ins Haus.
„Normalerweise ist das ja nicht mehr unsere Aufgabe“, so Hamp. Aber sie denkt
keine Sekunde daran zu gehen: „Da
brauchte man jeden, der klar bei Verstand
war – auch, um die Kinder davon abzu­
halten, sich was anzutun. Die waren außer
Rand und Band, ich hatte das Gefühl,
­denen ist jetzt alles zuzutrauen.“
Auch die Polizei interessiert sich für das
Geschehen Im Gebäude warten bereits
einige Polizisten auf die Gruppe. Sie nehmen die Personalien der Schüler auf. „Dabei stellte sich heraus, dass viele polizeilich bekannt waren“, sagt die Ärztin.
„Manche hatten schon Jugendstrafen hinter sich.“ Die Polizisten lassen keinen der
Schüler gehen, bevor sie sie befragt haben.
Außerdem versuchen sie, die Eltern anzurufen, damit sie ihre Kinder abholen. Auch
das ist schwieriger als gedacht: „Manche
waren gar nicht erreichbar, und einige
Schüler wollten nicht, dass ihre Eltern
kommen.“ Vielleicht eine Handvoll werden schließlich abgeholt, die übrigen bleiben vorerst.
Aggressionen gegen sich selbst und
­andere Der Beruhigung der Lage dient
das nicht: „Einige sind völlig durchgedreht“, so Dr. Hamp. „Die riefen ‚Ich bringe
mich auch um‘, stießen ihren Kopf an die
Wände und ritzten sich mit irgendwelchen Sachen an den Armen herum. Es war
absurd, schrecklich!“ Zum Glück ist der
Raum vollständig leer und nicht möbliert.
„Wer weiß, was die sonst noch angestellt
hätten! Vielleicht spielte auch der Streit
eine Rolle, den es auf dem Bahnsteig gegeben hatte.“
*Name geändert
Rojahn J. Tod auf den Schienen. Lege artis 2013; 3: 190–193
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M
anchmal sieht Nora Hamp*
die Bilder noch vor sich,
wenn sie von irgendwoher
mit der Bahn ankommt
und an Gleis 2 aussteigt: Den langen Güterzug am Bahnsteig, unter ihm das tote
Mädchen – und rings herum eine hysterische Schulklasse, kaum zu bändigen. „Das
hatte ich noch nie erlebt“, sagt Dr. Hamp.
„So eine Aggression, soviel Wut. Mir ist das
immer noch unerklärlich.“ Dabei ist sie
damals schon eine erfahrene Notärztin:
„Ich fuhr seit eineinhalb Jahren regelmäßig
Einsätze, 7 bis 8 Dienste im Monat. Ich
hatte also viel Routine.“
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Schlüsselerlebnis
Nora Hamp hat zwar schon viele Unfälle
gesehen, auch mehrere Selbstmorde, aber
noch nie so ein Verhalten: „Normalerweise sind die Angehörigen traurig, apathisch
oder weinen still vor sich hin.“ Das tun
hier nur wenige. „Und für die hatte keiner
von uns Zeit, weil wir uns vor allem um
die auffälligen kümmern mussten.“
Verstärkung bekommen die Helfer durch
einige Notfallseelsorger, die bald im Bahnhof eintreffen. „Im Wesentlichen haben
wir versucht, mit den Kindern zu sprechen, sie irgendwie zu beruhigen“, so
Hamp. „Aber ein paar Mädchen waren
keinem Gespräch zugänglich – mit ihrer
Hysterie steckten sie die anderen immer
wieder an.“
Einweisung in die Psychiatrie Der Notärztin wird klar: Mit Reden kommt man
hier nicht weiter, die Situation kann immer noch eskalieren. Allein gehen lassen
können sie die völlig aufgelösten Mädchen aber auch nicht. Nora Hamp fragt ihren Kollegen, was er davon hält, die
schlimmsten in die Psychiatrie zu schicken. Er ist sofort einverstanden. Dr. Hamp
ruft in der nächsten psychiatrischen Klinik an und schildert kurz die Lage.
Als sie das Okay bekommen, nimmt sie
ihre ganze Autorität zusammen: „Du, Du,
Du, Du und Du – ihr geht jetzt raus zu den
Rettungswagen und fahrt mit ins Krankenhaus.“ Das wirkt: Alle 5 folgen den
­Sanitätern nach draußen. Was die Kollegen in der Psychiatrie genau mit
ihnen gemacht haben, weiß Dr.
­
Hamp nicht – nur, dass sie alle im
Lauf des Tages wieder entlassen wurden.
Schulpsychologen
übernehmen Als
die „Problemfälle“ weg sind, wird es etwas ruhiger im Raum. Trotzdem kommt
Nora Hamp die gute Stunde, die sie dort
insgesamt verbringen, wie eine Ewigkeit
vor. „Es war das reinste Irrenhaus! Bis
schließlich die Schulpsychologen kamen,
die konnten mit der Gruppendynamik
besser umgehen.“
Die Psychologen teilen die Schüler unter
sich auf: Jeder geht mit 5 von ihnen in
­einen separaten Raum. „Dann habe ich
nichts mehr von ihnen gehört“, so Hamp.
„Offensichtlich hatten sie die Lage endlich
unter Kontrolle, sodass wir gehen konnten.“ Vorher fragt sie aber noch die Notfallseelsorger nach ihrem Eindruck: „Sie
waren auch schockiert – über die Hysterie
in der Gruppe und die Reaktion der K
­ inder
auf uns.“
„Ich konnte kaum Mitgefühl
mit ihnen haben. Selbst in so
einer Extremsituation waren
sie nicht zugänglich.“
Anstrengender als so manche Reanimation Dr. Hamp ist beruhigt, dass sie zumindest nicht allein ist mit ihrer Bestürzung an diesem Nachmittag. Sie ist ja
sonst nie so lange vor Ort, wenn der
­Verunglückte schon tot ist. Und wenn sie
Verletzte versorgt, ist sie derart auf die
­Behandlung konzentriert, dass sie nichts
von der Umgebung mitbekommt. „Ob die
Umstehenden seltsam reagieren oder sich
ein Stau von Schaulustigen bildet – das
sehe ich gar nicht, solange ich damit
­beschäftigt bin, Zugänge zu legen und die
­Atmung zu prüfen.“
Nichts davon war hier gefragt. Trotzdem
fühlt sie sich geschlaucht, als sie schließlich wieder im Auto sitzen: „Mein Kollege,
der Fahrer und ich waren völlig platt. Ich
weiß gar nicht mehr, ob wir an dem Tag
noch weitere Einsätze hatten.“
Am nächsten Tag: gleich noch einmal
Woran sie sich aber erinnert, ist der
nächste Morgen: „Es war noch vor 8 Uhr.
Ich hatte gerade meinen Piepser geholt,
da ging er auch schon los.“ Als sie ins Auto
steigt, sagt der Fahrer: „Stell dir vor, wir
müssen schon wieder zu einem Bahn­
suizid!“
Im ersten Moment kann Dr. Hamp es nicht
glauben. „Ist das ein Witz? Dann ist es
kein guter.“ Aber es ist ernst: Dieses Mal
ist es ein 65-jähriger Mann, auf offener
Strecke. „Sozusagen der Normalfall“, sagt
Nora Hamp im Rückblick. „Aber an dem
Tag kam mir das alles absurd vor, zwei Mal
direkt hintereinander!“
Als sie ankommen, zeigt ihnen wieder ein
Bahnmitarbeiter, wo der Tote in etwa liegt.
Die Ärztin und der Fahrer steigen auf den
Bahndamm und gehen in der Winterkälte
die Schienen entlang, bis sie die Körperteile sehen können. Dr. Hamp stellt den
Tod fest, nach 10 Minuten sitzen sie wieder im warmen Auto. Sie verabschieden
sich von den Bahnangestellten, die noch
auf den Leichenwagen warten. „Ich kam
mir vor wie in einem schlechten Traum“,
sagt die Ärztin. „Den ganzen Tag stand ich
irgendwie neben mir.“
Mitgefühl? Schwierig! Das Erlebnis am
Bahnhof beschäftigt sie noch wochenlang.
Auch, weil sie auf dem Weg zur Klinik täglich am gleichen Gleis aussteigt: An der
Stelle, wo das Mädchen überfahren wurde,
stehen noch lange Kerzen und Blumen.
Auch die Jugendlichen sieht sie ab und zu
in der Gegend wieder. Oft muss sie dann
an den Einsatz denken. „Es hat mich so
schockiert, dass die Jugendlichen selbst in
einer Extremsituation wie dieser nicht
­zugänglich waren. Mitgefühl war deshalb
kaum möglich.“
Julia Rojahn
Schreiben Sie uns!
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Rojahn J. Tod auf den Schienen. Lege artis 2013; 3: 190–193
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Schlüsselerlebnis
Bildnachweis: AEON Verlag & Studio
von Prof. Dr. Frank-Gerald B. Pajonk
Beitrag online zu finden unter http://dx.doi.org/10.1055/s-0033-1349305
Akute Belastungsreaktion am
­eigenen Leib erlebt
Suizide: Aktuelle Daten Nach vielen
Jahren des Rückgangs hat die Zahl der
­Suizide in den letzten 4 Jahren wieder zugenommen. Im Jahr 2011 registrierte das
Statistische Bundesamt 10 144 Suizide. 21
davon entfielen auf die Altersgruppe der
10- bis 15-Jährigen, 172 auf die der 15- bis
20-Jährigen. Die gute Nachricht: Die Zahlen für diese Altersgruppen haben nicht
zugenommen und sind in den letzten Jahren sogar leicht rückläufig.
Trotzdem bleiben Suizide (nach Verkehrsunfällen) die zweithäufigste Ursache für
tödliche Verletzungen bei 15- bis 20-Jährigen: Im Jahr 2010 waren es 28,8 %, das
sind 189 Sterbefälle. Die Suizidrate lag damit bei 4,5/100 000, das ist 2,5-fach höher
als die Rate tödlicher Heim- und Freizeitunfälle.
Jungen sind in dieser Altersgruppe etwa
3-mal häufiger betroffen als Mädchen.
Nach Studienergebnissen sind zudem türkische Mädchen unter 18 Jahren besonders gefährdet: Ihre Suizidrate ist doppelt
so hoch wie die ihrer deutschen Alters­
genossinnen [1].
Gruppenreaktion auf Suizid Diese Fakten erklären allerdings weder das wütende, feindselige und beleidigende Verhalten der Mädchen in der hier beschriebenen Situation noch das Entsetzen und die
Fassungslosigkeit der Notärztin. Die psychische Reaktion einer Menschengruppe,
die einen solch gewaltsamen Suizid beobachtet, ist nicht vorhersehbar. Dazu müsste man eine Vielzahl von Einflussfaktoren
mit einbeziehen, die in der Notfallsituation nicht verfügbar sind bzw. nicht überblickt werden können:
▶▶Hat es vorher Streit gegeben?
▶▶War das Mädchen möglicherweise Opfer von vorherigen Anfeindungen?
▶▶Wie bewerten verschiedene Kulturen
und Religionen einen Suizid, und wie
äußert sich in ihnen Trauer?
▶▶In welcher sozialen Struktur bewegen
sich die Zeugen?
Kinder und Jugendliche reagieren auf traumatische Ereignisse oft sehr anders als Erwachsene, direkte Zeugen anders als Angehörige, die nicht unmittelbar anwesend
waren. Letztlich bleibt hier aber ungeklärt,
ob es sich wirklich um einen Suizid handelte, um einen Unfall, oder ob das Mädchen evtl. vor den Zug gestoßen wurde.
Mit Gewalttätigkeit muss man rechnen
Aggressionen einzelner Personen gegen
sich selbst oder andere sind keine seltene
Reaktion auf ein akutes traumatisches
­Ereignis. Weniger häufig sind aber kollektive Aggressionen. Die Beobachtung, dass
einige der Zeugen polizeibekannt waren
und bereits Jugendstrafen hinter sich hatten, weist auf ein erhöhtes kriminelles
Verhalten und höhere Aggressionsbereitschaft hin. Auch Alkohol und andere Drogen können aggressives Verhalten nach einem traumatischen Erlebnis begünstigen.
Dr. Hamps verständliche Fassungslosigkeit resultiert genau aus dem unerwarteten, feindseligen Verhalten der Mädchen
ihr gegenüber. Und dies vor dem Hintergrund ihrer eigenen Bestürzung über den
tragischen Tod einer 16-Jährigen – trotz
aller Professionalität und Erfahrung.
­Dabei hat sie völlig richtig gehandelt.
Alle ärztlichen Fähigkeiten
sind plötzlich nutzlos.
Empfohlenes Vorgehen In einem Fall
wie hier bringt man die Beteiligten am
besten rasch vom Ort des Geschehens
weg. Wenn kein gemeinsames Trauern
möglich ist, sondern eher eine aggressive
und feindselige Stimmung herrscht, sollte
man die Gruppe trennen. Insbesondere
die Hochauffälligen sollten identifiziert
und separiert werden. Außerdem benachrichtigt man möglichst unverzüglich die
Angehörigen.
Wenn auch das Kriseninterventionsteam,
Notfallseelsorger oder – wie in diesem Fall
– Schulpsychologen die Lage nicht beruhigen können, sollte man eine psychiatrische Klinik einschalten. Dabei ist es nicht
ungewöhnlich, wenn die Betroffenen dort
nur ambulant behandelt werden: Die Entfernung vom Unfallort, das Wiedergewinnen eines Realitätsbezugs durch eine
straff organisierte Untersuchung und
Behandlung durch Menschen, die eine
­
­Distanz zum Suizid- oder Unfallgeschehen
haben und die Einschaltung von Bezugspersonen, zu denen eine emotionale
­Öffnung möglich ist, führen in der Regel
rasch zu einer Beruhigung hoch emotionaler Reaktionen.
Ärztliche Kompetenzen sind plötzlich
nutzlos Für Notärzte sind solche Erlebnisse meist sehr viel belastender als ein
„Routineeinsatz“ – selbst wenn dieser
eine frustrane Reanimation einschließt.
Auch dies beschreibt Dr. Hamp vorzüglich.
Alle Fähigkeiten, die üblicherweise gefordert sind, waren in diesem Fall sinnlos: die
volle Konzentration auf den Patienten, die
Prüfung der Vitalfunktionen, das Legen
von Zugängen etc. Die Notärztin erfuhr
am eigenen Leib die Nutzlosigkeit aller
eigenen Kompetenzen – und damit
­
­massive Hilflosigkeit.
Nachwirkungen Anschließend erlebte
sie Symptome einer akuten Belastungs­
reaktion:
▶▶ein Gefühl der Unwirklichkeit und Entfremdung von sich und der Welt
▶▶emotionale „Betäubung“
▶▶Bewusstseinseinengung mit reduzierter Aufmerksamkeit
▶▶dissoziatives Erleben mit partieller
­Amnesie
In aller Regel klingen diese Symptome
nach einigen Tagen wieder ab. Bei weniger
resilienten Personen können sich daraus
aber Anpassungsstörungen oder eine
posttraumatische Belastungsstörung entwickeln. Ob ein systematisches Debriefing
solcher Einsätze sinnvoll ist, wird derzeit
zurückhaltend beurteilt. Empfehlenswert
ist dagegen eine Nachbesprechung im
­Kollegenkreis oder eine psychotherapeutische Kurzintervention: So kann man die
Erfahrung in den Kontext des eigenen
­Erlebens einordnen.
 1Razum O, Zeeb H. Suizidsterblichkeit unter
­Türkinnen und Türken in Deutschland.
Der Nervenarzt 2004; 75: 1092–1098
Prof. Dr. med. Frank-Gerald B. ­Pajonk ist
­Professor für Psychiatrie an der Georg-August-­
Universität Göttingen, Lehrbeauftragter für
­Psychiatrie und Psychosomatik an der Ludwig-­
Maximilians-Universität München und Leiter der
Praxis Isartal für Erkrankungen der Psyche,
Schäftlarn. Er ­gehört zum Herausgebergremium
von Lege artis. E-Mail: [email protected]
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