Leseprobe - Bittersweet
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Leseprobe - Bittersweet
Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung, können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden. In diesem E-Book befinden sich eventuell Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Carlsen Verlag GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt. Im.press Ein Imprint der CARLSEN Verlag GmbH © der Originalausgabe by CARLSEN Verlag GmbH, Hamburg 2015 Text © Barbara J. Zister, 2015 Lektorat: Nicole Boske Redaktion: Marion Lembke Umschlagbild: shutterstock.com / © Hofhauser (Wald) / © Serge75 (Mädchen) Umschlaggestaltung: formlabor Gestaltung E-Book-Template: Gunta Lauck Schrift: Alegreya, gestaltet von Juan Pablo del Peral Satz und E-Book-Umsetzung: readbox publishing, Dortmund ISBN 978-3-646-60101-5 www.carlsen.de Für Markus, Kevin und Sebastian 1. Kapitel Genau genommen war es Mord. Aufgebracht drängten sich meine Kolleginnen in die schmale Tür, die nach draußen führte. Auf Zehenspitzen konnte ich über ihre Köpfe hinweg einen Teil meines Chefs erkennen, der zum Glück die Größe einer Eiche hatte. Er schlug im Hinterhof auf etwas am Boden ein und hysterisches Kreischen der Umstehenden begleitete jeden einzelnen Hieb. Erst als sich zwei aus der ersten Reihe angeekelt abwandten und mit der Hand vor dem Mund den Gang zu den Toiletten entlang taumelten, konnte ich mich vordrängeln. Ich bereute meine Neugier, als ich sah, wer hier hingerichtet wurde: Eine braune Ratte lag zwischen den Mülltonnen, die Hinterbeine verdreht von sich gestreckt. »Ist sie tot, Finny?«, piepste meine Kollegin Petra, die den Müll hinausgebracht und das Tier aufgescheucht hatte. Ihr Schrei hatte die ganze Belegschaft des Supermarktes zusammengetrommelt. Nein, sie ist nicht tot, beantwortete ich ihre Frage in Gedanken. Ich schwieg und zuckte mit den Schultern. Als wäre es mein eigener, spürte ich den Herzschlag des Tieres, beschleunigt durch die Schmerzen der inneren Verletzungen. Ein Gefühl von Schwindel breitete sich in mir aus, und nur, weil ich mich an den Türrahmen klammerte, konnte ich verhindern, dass meine Beine nachgaben. So intensiv hatte ich die Verbindung noch nie gefühlt. Für einen Moment erschien es mir, als würde ich selbst dort liegen. »Widerliches, dreckiges Ungeziefer!« Mein Chef war völlig außer Atem. Er hob den Besen ein letztes Mal auf und zertrümmerte den Schädel der Ratte. Jetzt war sie tot. Die anderen zerstreuten sich, erleichtert darüber, dass ein Schädling weniger herumlief. Ich hingegen verspürte Verlust. Nicht tiefe Trauer; eher so, als wäre eine Großtante verstorben, die man zwar nie gekannt hatte, von deren Tod man aber dennoch berührt war. Ich schloss die Augen und atmete durch, um diese Gedanken zu vertreiben. Es war zwecklos. Die Angst blieb, und auch die Gewissheit, dass ich anders war. »Das ist jetzt schon die Zweite in dieser Woche«, keuchte der Chef. »Gleich morgen werde ich Fallen aufstellen.« *** Nach dem Zwischenfall im Hinterhof machten wir uns wieder an die Arbeit. Ich fuhr fort, die Gläser mit Essiggurken auf dem untersten Regalboden zu zählen, um sie in meine Inventurliste einzutragen. Eine Hand voll Einkaufswagen schob sich durch die Reihen des Supermarktes in Münchens Nordstadt. An den Griffen hingen Kunden, die im Neonlicht die Regale absuchten. Mein Chef hatte sich vor mir aufgebaut, die Hände in seine massigen Hüften gestemmt, und musterte mich von oben herab. Er erwartete eine Antwort auf die Frage, die er mir vor dem Vorfall mit der Ratte gestellt hatte. »Es tut mir leid, ich kann nicht länger bleiben«, sagte ich und zuckte mit den Schultern. Vor ihm kam ich mir noch kleiner und dünner vor, als ich ohnehin schon war. Früher, vor dem schrecklichen Ereignis, war es mir wichtig gewesen, wie ich aussah. Auf endlosen Shoppingtouren hatte ich mit meinen Freundinnen Münchens Einkaufsmeilen unsicher gemacht. Das war, bevor ich alle Kontakte abgebrochen hatte. Heute war mir mein Aussehen gleichgültig. Die aschblonden, schulterlang gestutzten Strähnen trug ich jetzt nachlässig zusammengebunden. »Sie können auf keinen Fall nach Hause«, schnaubte mein Chef und schüttelte den Kopf derart energisch, dass seine dicken Wangen vor Aufregung schwabbelten. »Wir müssen heute mit der Inventur fertig werden.« »Leider muss ich pünktlich um halb sieben gehen.« Ich lächelte kläglich. Sein Blick blieb kühl. Mir war klar, dass er einen Grund für meine Arbeitsverweigerung erwartete. Doch so sehr ich mich anstrengte, es fiel mir keine passende Erklärung ein. Ich war eine miserable Lügnerin. Jedes Mal hatte ich das Gefühl, dass man mir den Schwindel im Gesicht ablesen konnte. Erst seit vier Wochen hatte ich diesen Aushilfsjob. Mein erster überhaupt. Es war ein Versuch, zumindest tagsüber ein normales Leben zu führen. Der Chef richtete seinen Zeigefinger wie eine Pistole auf mich und zog eine Augenbraue hoch. Er holte Luft und sein Kittel blähte sich auf, als könnte er mich wie eine Lawine überrollen. »Wenn Sie nicht bereit sind, länger hierzubleiben«, drohte er und ich ahnte, dass er jetzt alle Register ziehen würde, »dann habe ich für Sie künftig keine Verwendung mehr.« Ich nickte, wischte mir die Finger am Arbeitsmantel ab und hinterließ darauf Staubstreifen. Klar, ich hatte ja für mich selbst ebenfalls keine Verwendung mehr. Seit einem Jahr war mein Leben nutzlos. Ich starrte auf die Risse in den Fugen der Bodenfliesen. So gern ich alles getan hätte, um diesen Job zu behalten, die Umstände ließen mir keine andere Wahl. Der Chef beugte sich zu mir hinunter. Entweder lag es an den Tränen, die mir in die Augen gestiegen waren, oder an der Kundin, die sich umgedreht hatte, denn seine Stimme klang sanfter. »Überlegen Sie es sich noch mal gut, Frau Kienberger.« Schon beinahe väterlich legte sich seine Hand mit den Raucherfingern auf meine Schulter. »Denken Sie an Ihre Zukunft.« Ich sah ihm nach, als er in seinem Büro mit den verspiegelten Scheiben verschwand. Er konnte nicht wissen, dass ich mir pausenlos den Kopf über meine Zukunft zerbrach. Zum Beispiel: Welche Perspektive hatte jemand, der von einem hinterhältigen Wesen zu einem Monster gemacht worden war? Diesen Job zu verlieren, war ein Rückschlag, keine Frage. Die Realität aber war, dass ich spätestens im Winter, wenn die Tage kürzer wurden, ohnehin nicht mehr in der Lage sein würde, hier zu arbeiten – oder überhaupt einen Job zu finden. Niemand würde eine Siebzehnjährige ohne Schulabschluss einstellen, die nur bei Tageslicht nach draußen konnte. Ich riss ein Blatt vom Inventurblock ab, als ob ich damit die dunkle Seite meines Lebens hätte abtrennen können. Den dämonischen Teil, der aus mir dieses andere Wesen hervorbrachte, wenn die Kraft des Mondes wirkte. Ein merkwürdiges Gefühl ließ mich innehalten – Es war, als ob sich die Atmosphäre veränderte. Etwas zwang mich stillzuhalten. Mein Puls begann zu pochen, als würde ein unsichtbarer Regler die Taktfrequenz erhöhen. Wieder spürte ich ihn, noch bevor ich ihn sah. Seit knapp zwei Wochen kam er täglich: Der Skater mit den blauen Augen. Niemand im Laden interessierte sich für den Jungen. Ich hingegen musste mich anstrengen, ihn nicht anzustarren. Er sah aus, als wäre er einem Musikvideo entsprungen. Haare wie starker, brauner Kaffee lockten sich unter seinem Cap. Seine Kleidung war lässig, aber sicher nicht zufällig. Die enge Jeans saß tief und brachte karierte Boxershorts zum Vorschein. Statt eines Gürtels hatte er sich einen Schnürsenkel eingezogen. Er musste mein Alter haben. Geschmeidig ging er zum Kassenständer, nahm eine Packung Kaugummi und legte sie auf das Band. Six Gum. Fruchtgeschmack. Preis 1,50 Euro. Jeden Tag. Ansonsten kaufte er nichts. Gleich neben dem Supermarkt befand sich eine Skatehalle mit Außengelände. Auf meinem Heimweg hatte ich ihn dort mit Freunden gesehen. Es gefiel mir, wie sie herumscherzten. Sie klatschten sich ab, wenn ihnen ein Trick mit dem Skateboard gelang. Sein Lachen strahlte von weitem aus der Gruppe heraus. Neutral betrachtet, war er nichts weiter als ein normaler Jugendlicher. Und dennoch hatte ich den Eindruck, dass er den Raum mit seiner Anwesenheit ausfüllte. Mich hatte er noch nie bemerkt. Statt vor dem Regal mit den Essiggurken zu knien, hätte ich jetzt gerne mit der aufgetakelten Petra an der Kasse getauscht. Die hackte mit ihren rosa lackierten Krallen unbeeindruckt eine heimliche SMS in ihr Handy unter dem Tisch. Sie unterbrach nur kurz, ohne den Jungen eines Blickes zu würdigen, und zog gelangweilt seine Kaugummipackung über den piepsenden Scanner. Langsamer als sonst steckte er das Wechselgeld ein. Plötzlich wandte er den Kopf in meine Richtung. Für einen Moment trafen sich unsere Blicke. Hastig sah ich auf meinen Inventurblock. Aus dem Augenwinkel konnte ich beobachten, wie in seinen Turnschuhen den Regalgang entlang schlenderte. Ich konzentrierte mich darauf, sinnlose Haken auf das Blatt zu setzen. Zwei Schnürsenkel kamen in mein Blickfeld, links ein neongelber, rechts ein blauer. Ich schluckte. Er hockte sich vor mir nieder. Das schwarze Skateboard hielt er wie einen Ritterschild vor seiner Brust umklammert. »Ich hätte eine Frage.« Seine Stimme klang überraschend dunkel. Mein unsichtbarer Regler hatte den Puls mittlerweile auf einen schmerzhaften Takt hochgedreht. Jetzt bloß nicht das Atmen vergessen. Um nicht eifrig zu erscheinen, zögerte ich einen Moment, bevor ich reagierte. Ich schrieb ein paar Zahlen ins Nichts, dann blickte ich auf – und versank. In blauen Augen. Blau, wie das Meer auf Postkarten. Pazifikblau. Umrahmt von schwarzen Wimpern was für eine Mischung. Ein paar Muttermale zogen sich, auf die Haut getröpfelt, von einem Auge bis zum Mundwinkel. Er holte Luft. Sein Brustkorb hob sich unter dem karierten Hemd. »Sind die Essiggurken im Angebot?« Was? Ich blinzelte und hätte den Stift um ein Haar fallen lassen. Das war seine Frage? Sollte das ein Witz sein? Ich starrte durch ihn hindurch. Na gut, was hatte ich erwartet? Ich war eine Aushilfe im Supermarkt und er nichts weiter als ein Kunde. Sollte er wie ein Prinz hereinschneien und mich abholen? Mein Gott, was war ich für ein Volltrottel. Statt einer Antwort wandte ich mich meinem Block zu, um zu verbergen, wie mir die Enttäuschung die Röte ins Gesicht trieb. Ich beschloss, ihm keinesfalls mehr in seine Ozean-Augen zu sehen. Wie durch Watte hörte ich ihn seufzen. »Tut mir leid. Ich wollte etwas anderes sagen.« Er klang frustriert. »Hattest du schon mal das Gefühl, dass du nicht mehr genug Zeit haben könntest, Dinge zu tun, die dir wichtig sind?« Worauf wollte er denn jetzt hinaus? Was für ein abgedrehtes Gespräch. »Bist du krank oder so?« Um ein Haar hätte ich aufgeblickt. »Ich? Nein, ich bin nicht krank. Ich bin topfit.« Er lachte auf, als hätte ich etwas wahnsinnig Witziges gesagt. »Sicher«, murmelte ich und kritzelte ein Muster auf den Block. Er schwieg. Was für ein eingebildeter Idiot. Der Typ hatte ohne Zweifel einen an der Waffel. In die peinliche Stille hinein hörte ich meinen Chef ein Regal weiter eine Kollegin anschnauzen. Plötzlich erklang Musik direkt in meiner Nähe. Ich blickte auf, als ich das Lied beim ersten Ton erkannte: Eminem. Lose yourself. Der Klang kam aus dem Handy des Skaterjungen. »Zefix!« Ohne das Display zu beachten, beendete er mit einem Tastendruck den Anruf. Bildete ich es mir ein, oder zitterte seine Hand? Ich vergaß meinen Vorsatz, ihn nicht anzusehen. Er legte das Board über seine Oberschenkel, nahm die Kappe ab und fuhr sich mit den Fingern durch die mokkabraunen Locken, die ihm sofort wieder ins Gesicht fielen. Ich musste lächeln. »Was ist?«, fragte er. »Du fluchst auf Bairisch.« »Wir sind in Bayern. Hast du ein Problem mit dem Wort?« »Mit der Kurzform nicht so, mit der Langform schon.« »Du meinst Kruzifix?« Ich zuckte zusammen. »Zuhause hat man mir beigebracht, dieses Wort nicht zu benutzen.« »Hm. Was für ein Pech für dich.« Das klang ehrlich betroffen. »Du glaubst gar nicht, wie sehr das Wort befreit, wenn man sauer ist.« Er klopfte mit dem Cap in die Handfläche. Mit einer ruckartigen Bewegung hielt er mir seine Hand hin, die tatsächlich zitterte. »Ich heiße Mad.« »Finny.« Ich reichte ihm meine Hand, darauf achtend, dass er die frischen Narben an meinem Unterarm nicht sah. Sie waren mittags nur noch blassrosa gewesen und jetzt schon weiß und glatt. Heute fand ich die schnelle Heilung nicht so lästig wie sonst. »Mad – so wie verrückt?« »Genau.« Er entblößte eine korrekte Zahnreihe. »Wie passend.« Das konnte ich mir nicht verkneifen. Unsere Blicke verschränkten sich ineinander. Plötzlich war ich mir in zwei Dingen, die ich vorher über ihn gedacht hatte, nicht mehr sicher. Zum einen musste er älter sein, seine Stimme war so tief. Zum anderen war er nicht so normal, wie ich vermutet hatte. »Du gehörst zu den Skatern dort drüben, oder? Ich habe dich dort ein paar Mal gesehen. Du fährst gut.« Bedauerlicherweise ließ er meine Hand los. »Ich fahre erst seit ein paar Monaten und das nicht schlecht, aber mein Freund Ludwig kann es wesentlich besser.« Das war eindeutig untertrieben. Ich hatte gesehen, wie Mad draußen atemberaubende Tricks übte. In einem Loch im Boden des Skateparks, so groß wie ein leerer Pool aus Beton. Er sprang über den Rand hinaus, als wäre er mit einem Katapult in die Höhe geschossen worden. Dabei überschlug er sich so schnell, dass mein Gehirn es nicht mehr verarbeiten konnte, um dann mühelos wieder mit dem Board zu landen. »Vorhin hast du nicht sehr glücklich ausgesehen.« Er musterte mich und suchte meinen Blick. »Ich arbeite heute den letzten Tag hier.« Ich verzog das Gesicht zu einem schiefen Lächeln und zuckte mit den Schultern. »Der Chef hat keine Verwendung mehr für mich.« »Dieser Fettwanst da drüben?« Er drehte den Kopf und wurde lauter. »Was hat er für ein Problem?« Unwillkürlich zog ich den Kopf ein. »Nein, das ist schon in Ordnung.« Mad knetete sein Cap. »Oh Mann, ich habe zu lange gewartet, dich anzusprechen. Beinahe hätte ich dich nie mehr getroffen.« Darauf wusste ich nichts zu sagen. Es schien ihm etwas zu bedeuten, mit mir zu sprechen. Das musste ich erst verarbeiten. »Da siehst du es. Man darf die Dinge nicht aufschieben, die einem wichtig sind«, fuhr er fort. »Man könnte plötzlich keine Zeit mehr dafür haben.« Es klang, als würde er mit sich selbst reden. Sein Gesicht verriet nicht, was in ihm vorging. Als er meinen Blick spürte, wechselte seine ausdruckslose Miene in ein helles Lächeln, als hätte er einen Entschluss gefasst. »Ich möchte dir einen besonderen Ort zeigen.« »Einen Geheimtipp?« Er lachte wunderbar rau. »So ähnlich. Ich wette, dass du diese Seite von München noch nicht kennst.« »Ich weiß nicht … « Verlegen strich ich mir eine Strähne aus dem Gesicht. »Treffen wir uns morgen um drei im Englischen Garten beim Chinesischen Turm?« Erneut unterbrach uns das Klingeln seines Handys. Wer immer der Anrufer war, er schien ihm nicht wichtig genug zu sein. Wieder drückte er den Anruf weg. Erwartungsvoll sah er mich an. Toll. Ganz toll. Wie sollte ich ihm jetzt beibringen, dass eine Verabredung mit mir kompliziert war? Ich konnte einfach nur sagen, dass ich ein Problem hatte, sobald die Sonne unterging. Aber das würde wohl nicht funktionieren, ohne mit dem Rest der Story rauszurücken. »Ach und übrigens, so ein Rattendämon hat mich vor einem Jahr auf dem Heimweg von einer Party angefallen. Es war Vollmond. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie vehement sich Dämonen im Oberarm verbeißen können. Wie? Du glaubst nicht, dass es Dämonen gibt? Wie witzig, ich habe das bis dahin auch nicht getan. Zumindest nicht, bis ich mich in derselben Nacht noch in etwas Abscheuliches verwandelt hatte. Jetzt sperre ich mich halt ein, sobald die Sonne untergeht, damit die Verwandlung nicht wieder passiert. Und bei dir so?« Ich stellte mir vor, wie er nach dieser Geschichte das Weite suchte. Es war hoffnungslos. Am besten beendete ich diesen Kontakt, bevor er überhaupt begann – und zwar jetzt sofort. Kurz und schmerzlos. »Klingt toll«, hörte ich mich sagen. »Ich werde da sein.« 2. Kapitel Mad verließ den Supermarkt, warf sein Skateboard auf die Straße und glitt davon, als wären ihm Flügel gewachsen. Erst als er außer Sicht war, tauchte ich auf, wie beim Abspann eines Kinofilms, wenn die Lichter angingen und die Leute mit den Besen kamen, um die Popcornreste wegzufegen. Es war nicht zu fassen, ich hatte eine stinknormale Verabredung mit einem Jungen! Noch dazu mit einem, der richtig gut aussah. Dieser Tag hatte beinahe das Zeug zum Glückstag. Na gut – ich hatte meinen Job verloren, erinnerte ich mich, aber was war schon perfekt? Jetzt bemerkte ich auch Carsten, der draußen vor dem Schaufenster stand. Schlagartig verflog meine gute Stimmung. Carsten Gruber war zwangsweise mein einziger Freund. Jemand, mit dem ich mich früher nicht eingelassen hätte. Er war der Typ Mensch, der in der Schule immer alleine saß und im Unterricht entweder schlief, weil er die ganze Nacht abartige Computerspiele gespielt hatte, oder unsinnige Kommentare abgab, die jeder blöd fand. Er musste bereits einige Zeit dort draußen gestanden haben, denn er fuchtelte mit den Armen, als würde er gleich abheben. Ich kniff die Augen ein wenig zu, um zu erkennen, was er mir zeigen wollte. Mit seiner großen, breiten Gestalt und den braunen Zottelhaaren hatte er Ähnlichkeit mit einem Zirkusbären. Panisch deutete er abwechselnd von seiner Uhr hinauf in den Himmel. Ich sah auf meine eigene Uhr und verstand mit einem Mal. Hastig ließ ich den Inventurblock fallen, zog den Kittel über den Kopf und stopfte ihn im Vorbeilaufen in ein Regal mit Gummibärchen. »Tschüss«, rief ich Petra zu. »Sie werden es bereuen«, hörte ich meinen Chef hinter mir brüllen. Ich krachte gegen einen Einkaufswagen, als ich nach draußen stürzte. Eiskalte Luft schlug mir entgegen. Mist, ich hatte meine Jacke im Aufenthaltsraum liegen lassen. Keine Chance, ich musste auf sie verzichten. Keine Zeit mehr, sie zu holen. Carsten hatte seinen schwarzen Golf mit laufendem Motor direkt vor der Eingangstür geparkt. Er saß bereits wieder am Steuer. »Wo bleibst du?«, blaffte er, als ich mich keuchend auf den Beifahrersitz fallen ließ. »Weißt du nicht, wann die Sonne untergeht?« Seine Augenpartie zuckte. Er hatte so einen Tic, der wiederkehrte, wenn er aufgebracht war. Und das war er oft. »Nein, ich weiß es nicht. Aber du bestimmt«, fauchte ich zurück. »Natürlich weiß ich das, mein Fräulein.« Er ließ den Motor aufheulen und fuhr los. »Heute exakt um 19.22 Uhr. Wir haben also noch genau 31 Minuten, um nach Hause zu kommen.« Wenn er besonders überheblich war, nannte er mich Fräulein. Das brachte mich normalerweise erst recht auf die Palme. Jetzt presste ich jedoch die Lippen zusammen und schwieg. Was sollte man schon von jemandem erwarten, der seine Zeit mit dem Anglotzen von Planeten verplemperte? Genau das war ihm auch vor zwei Jahren zum Verhängnis geworden. In einer Vollmondnacht hatte ihm das Rattenwesen ins Genick gebissen, als er mit seinem Teleskop im Park Sterne beobachtet hatte. Diese Version der Geschichte hatte mir Carsten zumindest erzählt. Ich war sicherlich nie eine Leuchte in Geografie gewesen, trotzdem wusste ich, dass Planeten bei Vollmond schlecht zu erkennen sind, da das Mondlicht blendet und die Sterne verblassen lässt. Weiß der Teufel also, was er in Wahrheit nachts da draußen getrieben hatte … Ob wir von demselben Wesen angefallen worden waren, oder ob es noch mehr davon gab, wussten wir beide nicht. »Du solltest doch die Sonnenauf und -untergangszeiten auswendig lernen«, sagte er vorwurfsvoll, als er auf die Hauptstraße bog. »Schließlich bist du jetzt eine Nosferatu.« Dieser Satz ließ mich zusammenzucken. Ich hasste es, wenn er so ehrfürchtig aussprach, welche Art von Monster wir waren. Carsten hingegen konnte das nicht oft genug tun. Als ich das Wort Nosferatu zum ersten Mal von ihm gehört hatte, wäre ich um ein Haar in Ohnmacht gefallen. Ich hatte mich als blutrünstige Gräfin im Keller meines zugigen rumänischen Schlosses verschimmeln sehen. Jede Nacht darauf wartend, dass sich ein junger Wandersmann zu mir verirren und ich etwas zum Beißen bekommen würde. Zum Glück waren Nosferatu keine Blutsauger, wie ich erfahren hatte, und von normalen Menschen nicht zu unterscheiden, solange sie nicht verwandelt waren. »Die Verwandtschaft zu Vampiren ist ein falscher Mythos«, hatte Carsten gesagt. Das machte die Sache aber nur unwesentlich besser. Ich verkniff mir eine patzige Antwort, schließlich war er der einzige Nosferatu, den ich kannte. Ohne ihn wüsste ich nichts über diese Spezies. Es war nett, dass ich dank ihm vor Sonnenuntergang nach Hause kam. Auch wenn ich den Verdacht hatte, er war froh, jemanden herumkommandieren zu können. »Wer war der Typ, mit dem du vorhin gesprochen hast?« Bei dem Gedanken an Mad spürte ich ein Ziehen im Bauch. »Niemand«, antwortete ich ein bisschen zu schnell. Ich wusste, was jetzt kam. »Er ist ein Jäger, das habe ich genau gespürt.« Er warf mir einen prüfenden Blick zu. Die Bruderschaft der Michaeli war der größte Feind unserer Art. Carsten hatte einen ihrer Angriffe überlebt. Seitdem sperrte er sich jede Nacht ein und unterdrückte so seine Verwandlung, aus Angst, sie anzulocken. »Ein Jäger? So wie gestern der alte Mann, der die Enten gefüttert hat?« »Es könnte jeder sein.« Wie zum Beweis musterte er eine Frau, die ihren Kinderwagen vor uns über den Zebrastreifen schob. »Er ist harmlos, er ist nur ein Skater.« Ich bemühte mich, unbeeindruckt zu klingen. Carsten hörte mir aber schon nicht mehr zu. Er klammerte die Hände um das Lenkrad und starrte geradeaus. »Ich hasse diese Jäger. Sie sind schuld, dass wir uns nachts nicht frei bewegen können.« »Für mich macht es keinen Unterschied, ob es Jäger gibt oder nicht. Ich habe sowieso keine Lust, mit Rattenzähnen und eklig langen Fingernägeln herumzulaufen.« Alleine beim Gedanken daran wurde mir schlecht. An meine erste und einzige Verwandlung, in der Nacht, in der ich angefallen worden war, hatte ich keinerlei Erinnerung mehr. Ich musste mich bis zum Morgengrauen vor Schmerzen im Gebüsch gewälzt haben, denn als die Sonne aufgegangen war, hatte ich mich dort wiedergefunden. Trotzdem hatte ich sofort gespürt, dass mit mir etwas nicht mehr gestimmt hatte. Mein rechter Oberarm hatte sich taub angefühlt, aber außer einem zerfetzten T-Shirt-Ärmel war nur noch ein halbkreisförmiger, geheilter Bissabdruck zu sehen gewesen. Ein seltsamer Abdruck, denn die beiden mittleren Punkte waren wesentlich größer gewesen als die anderen. »Ach, das mit den Krallen wäre kein Problem«, sagte Carsten jetzt. »Mit genug Übung könnte man die gut beherrschen. Ich habe das ausgiebig recherchiert. Heute habe ich auch nochmal wegen dieser fiesen Bruderschaft nachgelesen.« »Warst du etwa heute wieder in der Bibliothek?« Er nickte. »Ist schon blöd, dass sie ausgerechnet über die einzigen Waffen verfügen, die uns töten können. Es muss doch eine Möglichkeit geben, diese vom Erzengel geweihten Silberdolche unwirksam zu –« »Hast du herausgefunden, wie man es rückgängig machen kann?«, unterbrach ich ihn. Wenn Carsten mit dem Thema erst einmal angefangen hatte, konnte er stundenlang labern. Er bog in die Einfahrt seines Elternhauses ein und parkte den Golf ordentlich in der Garage. Die Uhr auf dem Armaturenbrett zeigte 19.17 Uhr. Carstens Zeitberechnung war wie immer perfekt, das musste man ihm lassen. Als er die Haustür aufsperrte, betrachtete ich das Klingelschild. ›Familie Gruber‹, stand dort eingraviert in eine polierte Messingplatte. Darunter, auf einem weißen Klebestreifen mit wasserfestem Stift gekritzelt, ›Josefine Kienberger‹. Was für ein Zufall, dass ich ausgerechnet in die Kellerwohnung von Carstens Eltern gezogen war, als mich meine Mutter hinausgeworfen hatte. Vor der Kellertreppe drehte ich mich um. Carsten war mir noch eine Antwort schuldig. »Also, hast du was herausgefunden?« »Finny, man kann nichts dagegen machen.« Er fasste meine beiden Arme, als wollte er mich wie ein kleines Kind zur Vernunft bringen. »Sei doch froh, dass du jetzt etwas Besonderes bist.« »Ach? Meinst du, so wie du? Im Gegensatz zu dir, war ich kein Außenseiter, der froh ist, dass jetzt endlich mal was mit ihm los ist«, zischte ich und konnte sehen, dass ich ihn dort traf, wo es ihm am meisten wehtat. Trotzdem konnte ich nicht aufhören. »Ich hatte ein Leben, verstehst du? Ein tolles Leben. Ich hatte Spaß und ich war ein normales Mädchen.« Heiße Tränen rannen mir über die Wangen. »Durch diesen Blödsinn habe ich heute meinen Job verloren. Es ist einfach alles kaputt.« Carstens Gesicht kam aus dem Zucken nicht mehr heraus. Einen Augenblick lang sah er aus, als wollte er mich übers Knie legen und versohlen. Dann drehte er sich um und schloss die Wohnungstür hinter sich. Verdammter Mist. Ein zartes Ziehen im Oberkiefer und in den Fingerspitzen ließ mir nicht mehr viel Zeit, mich schlecht zu fühlen. Ich sprang die Treppe hinunter und schloss mein Kellerloch auf, wie ich es nannte. Als ich die Tür hinter mir zuzog, entspannte ich mich ein wenig. Ich hob das Häuflein Post auf, das sich in den Flur geschoben hatte, und legte es auf den hölzernen Esstisch, den mir meine Mutter aufgedrängt hatte. Sie hatte das Ungetüm eines Tages zusammen mit einem Bett liefern lassen. Vermutlich, um ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen. Damit besaß ich nun genau zwei Möbelstücke. Den Tisch, der den ganzen Raum ausfüllte, hatte ich noch nie zum Essen benutzt. Wenn es überhaupt einen Vorteil gab, eine Nosferatu zu sein, dann war es der, nicht mehr auf eine begrenzte Nahrungspalette angewiesen zu sein. Ich konnte Seife genauso gut verdauen wie Pizza. Von Papiertaschentüchern war ich tagelang satt, ansonsten kam ich auch lange ohne Nahrung aus. Carsten sagte, das läge an unserer direkten Verwandtschaft zu den Ratten. Das Bild der toten Hinterhofratte schob sich in meine Gedanken. Dreckiges Ungeziefer. Mein Chef hatte ja so Recht. Aus mir war eine dreckige Hinterhofratte geworden. Der Drang, irgendetwas zu tun, bestätigte mir, die Sonne war untergegangen und der Mond stand am Himmel. Eine warme Dusche würde das Gefühl wegschwemmen, doch ich hatte noch keine Kraft, ins Bad zu gehen. Außerdem musste ich vorher noch etwas suchen. Meine Umzugskartons stapelten sich überall im Kellerloch verteilt. Die Schachtel, die ich brauchte, lag unter meinem zweiten Möbelstück. Im Gegensatz zum Tisch, der sich wie ein Fremdkörper breitmachte, war das Bett richtig praktisch. Es passte millimetergenau in die Abstellkammer. Das Kellerloch hatte drei Lichtschächte, die ich mit schwarzer Folie abgeklebt und mit Wolldecken zusätzlich verhangen hatte. Die Abstellkammer war der einzige Raum ohne Fenster. Ich fühlte mich sicherer, hier drinnen zu schlafen, denn schon der geringste Einfluss des Mondlichtes weckte den Dämon in mir. Bisher hatte ich die Verwandlung jedes Mal auf diese Weise verhindern können. Carstens Zimmer in der oberen Wohnung war genauso verklebt. Seine Eltern schien das nicht zu wundern. Auch nicht, dass ihr dreiundzwanzigjähriger Sohn noch zu Hause wohnte und keine Anstalten machte, sich eine Arbeit zu suchen. Ein bisschen beneidete ich ihn. Meine Mutter hatte damals an meine Zimmertür gedonnert. »Finny, mach endlich auf! Das ist doch nicht normal, dass du dich einsperrst. Warum gehst du nicht mehr zur Schule?« Für meine Mutter war es sehr wichtig, normal zu sein. Niemals hätte ich ihr erklären können, was wirklich mit mir los war. Mein Vater war arbeitslos und verbrachte die ganze Woche auf der Couch mit der Fernbedienung in der Hand. Eines Tages musste es meiner Mutter mit mir gereicht haben. Sie meinte, wir sollten Abstand gewinnen. Eine praktische Art, ein Problem loszuwerden. Gleich am nächsten Tag hatte sie mir die Wohnung bei Carstens Eltern präsentiert. Auf der Hinfahrt hatte ich mich noch geweigert. Als ich jedoch die zwei abgeklebten Fenster im Erdgeschoss sah, war ich schnell einverstanden gewesen. Meine Mutter schien sogar ein wenig verletzt zu sein, wie rasch ich ausgezogen war. Vielleicht hatte ich es mir aber auch nur eingebildet. Der Aushilfsjob im Supermarkt hätte geholfen, damit ich mir das Kellerloch nicht länger von meinen Eltern finanzieren lassen musste. Die ausgefranste Schuhschachtel, die ich unter dem Bett hervorzog, war übersät mit Aufklebern, wie sie es in Markenläden als Zugabe gibt. Sie war verstaubt, als hätte jemand Puderzucker darüber gestreut. Mit GlitzerLackstift stand in geschwungenen Buchstaben darauf: »Meine liebsten Songs.« Es war nur ein Jahr her und doch kam es mir vor, als hätte ich die Erinnerungen einer Fremden in der Hand. Da war sie, die CD, die ich gesucht hatte: Eminem. Lose yourself. Ich steckte sie in den alten CD-Player auf dem Esstisch. Das Intro erfüllte den Raum. Es begann wie der Pulsschlag eines Kämpfers, der vor einer alles entscheidenden Herausforderung stand … Schon lange hatte ich mir keine Musik mehr bewusst angehört. Die Begegnung mit Mad hatte mich daran erinnert. Vom Klang getragen, steuerte ich das Bad an. Der Anblick dort ließ Übelkeit in mir aufsteigen. Wie jeden Abend. An so etwas konnte man sich vermutlich nicht gewöhnen. Das Waschbecken war gesprenkelt mit rostbraunen Flecken, die in eingetrockneten Mini-Rinnsalen zum Abfluss hin endeten. Altes Blut hatte wirklich eine hässliche Farbe. Mittendrin lag die Rasierklinge, als hätte man sie in einem Kunstwerk platziert. Ich packte den Lappen, der unter dem Waschbecken lag und öffnete den Wasserhahn. Nach und nach verschwanden die Spuren meines Zeitvertreibs. Denn mehr als ein Zeitvertreib war es nicht, sich zu schneiden, wenn man über eine außergewöhnliche Selbstheilungskraft verfügte. Zugegeben, beim ersten Mal hatte ich das noch nicht gewusst. Heute erschien mir das Ganze idiotisch. Ich dachte an meine Begegnung mit Mad und das gute Gefühl, das ich danach gehabt hatte. Mit dem Schneiden musste jetzt endgültig Schluss sein. Ich pfefferte den Lappen zurück unter das Waschbecken. Unter der Dusche ließ ich mir das Wasser über die Haut laufen. Morgen Nachmittag um drei hatte ich eine Verabredung mit Mad. Ich musste nur noch einen Weg finden, den Dämon aus mir zu vertreiben und die Verwandlung rückgängig zu machen. Laut sang ich den Text des Liedes mit, das in Endlosschleife lief. Am Leben zu sein, war doch toll. Mit nackten Füßen und in einen Bademantel eingewickelt, sah ich die Post auf dem Esstisch durch. Zwischen nervigen Briefen meiner noch nervigeren Mutter fiel mir ein Umschlag in die Hände. Kein Absender. Kein Empfänger. Das gelbe Pergament sah aus, als wäre es aus einer alten Zeit. Ich zog eine Karte heraus, darauf stand in eleganter Schrift: An Josefine Kienberger, Nosferatu. Das Verstecken hat ein Ende. Morgen, Dienstag, 15.00 Uhr, Hotel Vier Jahreszeiten. 3. Kapitel Ich sitze auf grauen Fliesen, den Blick auf den Boden gerichtet. Ein roter Tropfen fällt vor meine Füße. Weitere Tropfen gesellen sich schneller dazu, bis sich eine Pfütze bildet. Verwundert schaue ich auf. Mad steht vor mir. Er lächelt traurig, während sich die Ärmel seines Hemdes mit Blut vollsaugen. Wir sind jetzt am Strand des Pazifik. Das Blut strömt aus seinen Unterarmen, hinein ins Meer und färbt es zu einem stechend roten Ozean. Das gleiche Rot wie die Augen, mit denen Mad mich jetzt anstarrt. Ich will schreien, aber als ich meinen Mund öffne, erklingt stattdessen die Musik von Eminem. Zuerst leise, dann immer lauter, bis ich mir die Ohren zuhalten möchte. Leider habe ich keine Hände mehr … Als ich die Augen öffnete, sah ich die Decke meiner Abstellkammer. Das Licht der nackten Glühbirne ließ mich blinzeln. Offensichtlich war ich am vorherigen Abend nicht mehr in der Lage gewesen, sie auszuschalten. Mein Herz pochte aufgewühlt. Viel zu rasch, um den Sinn zu deuten, verblassten die Bilder meines Traums zu Bruchstücken, bis mir die Erinnerung daran schwerfiel. Die Musik war geblieben. Ich setzte mich auf, rieb meine Augen und lauschte. Bis zum Esstisch folgte ich der Melodie und fand dort mein hüpfendes Handy. Das Display blinkte aufdringlich und Eminem sang sich die Seele aus dem Leib. War es Zufall, dass Mad und ich den gleichen Klingelton hatten? Noch etwas hatte ich mit ihm gemeinsam: Ich verabscheute es, jederzeit erreichbar zu sein. Mit einem Druck auf den roten Knopf unterbrach ich die Musik, legte mich zurück ins Bett und begann, von Zehn rückwärts zu zählen. Bereits bei Sieben fing Eminem wieder an zu singen. Ein neuer Rekord. Bisher war ich mindestens bei Fünf angelangt, bevor Carsten seinen Terror von neuem startete. »Warum gehst du schon wieder nicht ran?« »Ich wünsche dir auch einen guten Morgen«, sagte ich und überlegte einen Moment, ob ich das Telefon ins Klo werfen sollte. Ich verwarf lieber den Gedanken. Carsten würde innerhalb einer Minute bei mir auf der Matte stehen. Am Telefon war ich zumindest nur seiner Stimme ausgeliefert. »Hast du etwa noch geschlafen? Es ist schon beinahe Mittag!« »Bin gestern spät ins Bett.« Ich strich über meinen tauben Unterarm. Meinen Vorsatz, es nicht mehr zu tun, hatte ich sehr schnell wieder vergessen. Dreimal hatte ich mich nach dieser Einladung schneiden müssen, bis ich mich soweit beruhigt hatte, dass ich einschlafen konnte. Das war ebenfalls ein neuer Rekord. Wenn auch ein trauriger. »Verstehe.« Carsten klang eifrig. »Ich war auch total aufgedreht, wegen der Einladung. Die ganze Nacht habe ich im Internet recherchiert.« »Was gibt es da zu recherchieren?« Ich stöhnte innerlich und setzte mich auf einen Umzugskarton. Selber schuld. Was hatte ich Carsten gestern Abend auch anrufen und ihm das mit der Einladung erzählen müssen? Er hatte ebenfalls eine bekommen. Jetzt gab es kein anderes Thema mehr. »Wir müssen uns vorbereiten, wenn wir andere Nosferatu treffen. Bestimmt haben alle Nosferatu in München diese Einladung bekommen.« Er wurde lauter. »Das ist endlich der Beweis, dass es noch andere gibt, Finny.« Ich verzog das Gesicht. Meine Freude hielt sich in Grenzen. Ich wollte zu keiner Hinterhof-Ratten-Vereinigung gehören. Ich wollte einfach nur normal sein. »Was macht dich sicher, dass nicht die Jäger dahinter stecken? Was, wenn es eine Falle ist?« Ich beäugte die Einladung, die auf dem Esstisch lag, als würde sie leben. Eine Vertrautheit ging von ihr aus, die ich schon beim Anblick der toten Ratte verspürt hatte. »Es ist keine Falle. Da bin ich mir absolut sicher.« Seine Stimme klang feierlich. »Spürst du es nicht, Finny? Es ist wie … wie … verwandte Energie.« »Nein, ich fühle nichts«, log ich. Gut, dass er mein Gesicht nicht sah. Er brauchte nicht zu wissen, dass mich etwas rief, das mir keine Wahl ließ, ob ich der Einladung folgen wollte oder nicht. Damit war auch meine Verabredung mit Mad geplatzt. Das passte wunderbar zu meinem verkorksten Leben. Ich seufzte. Carsten deutete meine trübe Stimmung falsch. »Mach dir keine Sorgen, Finny. Wenn wir die anderen finden, wirst du dich auch wie eine richtige Nosferatu fühlen. Wir fahren gegen zwei los, dann bleibt genügend Zeit, um uns dort umzusehen.« Plötzlich war ich hellwach. »Du brauchst mich nicht mitnehmen. Ich möchte vorher noch meine Jacke im Supermarkt abholen.« Außerdem musste ich dringend zum Skatepark. Vielleicht konnte ich Mad dort treffen und ihm erklären, dass ich um drei keine Zeit hatte. »Kein Problem, ich fahr dich hin.« Mist. »Carsten!« Ich beeilte mich, bevor er den Hörer auflegen konnte. »Ich will dich nicht aufhalten. Du solltest jede Minute nutzen und die Lage beim Hotel beobachten. Am besten fährst du gleich los.« Schweigen am anderen Ende. Ich kaute an meinen Fingernägeln. Würde er den Köder fressen, den ich ihm ausgelegt hatte? »Na gut«, sagte er. »Treffen wir uns beim Eingang des Hotels.« *** Was zog man für eine Zusammenkunft von Rattenwesen an? Früher hätte mir das mehr Kopfzerbrechen verschafft als die Tatsache, dass Dämonen mitten unter uns existieren. Ich schlüpfte in die Sachen, die ich für das Treffen mit Mad aus meinen Umzugskartons gekramt hatte. Verwundert sah ich an mir herunter. Die Jeans und den grünen Rollkragenpulli hatte ich figurbetont in Erinnerung. Stattdessen schlabberten die Klamotten an mir, als hätte ich die Kleidergröße meiner Mutter erwischt. Vielleicht sollte ich doch zur Abwechslung einmal etwas Vernünftiges essen. Nur die schwarzen Turnschuhe passten noch perfekt. Weil im Waschbecken schon wieder die Rasierklinge lag, vermied ich es, beim Zähneputzen nach unten zu sehen. Stattdessen hielt ich meinen Blick stur geradeaus auf den Spiegel. Ich seufzte. Dunkle Augenringe zierten die langweilig grünen Augen. Die blonden Haare bettelten um einen Haarschnitt. Vielleicht war es ganz gut, dass die Verabredung mit Mad geplatzt war. In diesem Zustand machte ich wirklich keine gute Figur. *** Draußen überraschte mich Sonnenschein, der die verfärbten Blätter der Bäume mit Gold überdeckte. Unverkennbar zog der Herbst in München ein. Bei diesem Wetter war im Skatepark die Hölle los. Wenn man sich die Menschen einmal wegdachte, glich das Gelände der Kulisse einer ScienceFiction-Serie. Tiefe Krater durchzogen die Fläche aus glattem Beton. Dazwischen standen überdimensionale Stufen, wie für Riesen gemacht, und Geländer aus Eisen, so nah am Boden, dass sie höchstens Zwergen als Halt dienen konnten. Unzählige Jugendliche tummelten sich hier, nicht nur mit Skateboards, sondern mit allem, was sich fahren ließ. Ich hielt einen Jungen auf, der mit einem Tretroller halsbrecherisch über eine Kante an mir vorbei geschlittert war. »Ich suche einen Freund. Er heißt Mad, kennst du ihn zufällig?« Der Junge schüttelte den Kopf. »Ich kann hier nicht alle mit Namen kennen.« »Er fährt auffällig gut Skateboard.« Ich zeichnete mit dem Finger einen Salto in die Luft. »Oh, die meinst du.« Sein Gesicht bekam einen ehrfürchtigen Ausdruck. »Denen gehört die Halle dort hinten. Die haben einen eigenen Verein. Aber da dürfen nur Profis rein, die nehmen niemanden auf.« Er zog eine Schnute, als wäre er schon einmal abgewiesen worden. Im Gegensatz zum quirligen Skatepark wirkte die Halle wie in einen Dornröschenschlaf versunken. Unkraut quoll aus den Rissen im Mauerwerk, die bodennahen Fenster waren von innen mit Brettern verschlagen. Jemand wollte seine Ruhe. ›Rollhaus e.V.‹« stand auf einer Tafel über dem Tor aus Stahl. Auf der Tür weiter darunter prangte ein Schild: ›Zutritt nur für Vereinsmitglieder‹« Ich drückte die rostige Klinke. Die Tür ließ sich nicht öffnen. Hätte mich auch gewundert. Der Junge hatte Recht, es sah nicht so aus, als wäre der Verein auf neue Mitglieder scharf. Von Mad und seinen Freunden keine Spur. Was war das? Mit einem Mal wusste ich, dass sich Essen im Gebäude befand. Ich zog die Luft durch die Nase. Komisch. Ich selbst konnte nichts riechen – jemand anders roch es. Verwirrt suchte ich die Breitseite der Halle ab, bis ich ein Schaben vernahm. Es kam aus einem Gebüsch in einer Mauernische. Ich hockte mich nieder und spähte in das Dunkel der Blätter. Ich sah drei Ratten, die mich mit ihren Knopfaugen kurz registrierten und dann fortfuhren, ein Loch direkt an der Gebäudemauer in die Erde zu graben. Graben, immer weiter graben … bald sind wir beim großen Vorrat … Ist er noch da? Ja, ich kann ihn noch riechen … viele werden satt. Aber es ist noch nicht genug. Wir sind so viele … Ich musste lächeln, die Tiere hatten ganz banale Gedanken. Moment mal. Ich konnte die Gedanken der Ratten hören? Ich sprang auf. Die Viecher gruben ungerührt weiter und ließen sich von meiner Bewegung nicht erschrecken. Warum auch, ich war ja ihre, äh, – Schwester? Ich schnappte nach Luft, das hier war mir eindeutig zu viel. Die Hände auf meine Ohren gepresst, drehte ich mich um und atmete tief ein und aus. Ich lief los, weg von den Ratten, weg vom Gewusel des Skateparks. Verdrängung ist schlecht, hatte ich mal gelesen. Für mich war Verdrängung die einzige Möglichkeit, nicht komplett durchzudrehen. Warum hatte sich alles gegen mich verschworen? Je mehr ich mich bemühte, normal zu sein, umso mehr rutschte ich in diese Rattengeschichte hinein. Das war einfach nicht fair! Etwas brannte sich immer stärker in mein Bewusstsein. Das Gefühl, dass ich Mad finden musste. Möglicherweise war der Kontakt zu einem normalen Jungen das Einzige, das mich davor bewahren konnte, meine Identität zu verlieren. Ich war um die Halle herumgelaufen. Hier musste doch verdammt noch mal jemand sein. Ich entdeckte einen weiteren Eingang: ›Björns Tattoo- und Piercingstudio Termine nur nach telefonischer Vereinbarung‹« Allerdings keine Telefonnummer. Wie sollte man dann welche vereinbaren? Ich versuchte, die Tür zu öffnen. Sie war schwergängig, als wäre sie das letzte Mal zur Kaiserzeit bewegt worden. Mit aller Kraft stemmte ich mich dagegen, als sie nachgab und aufschwang. Der Raum, in den ich taumelte, roch streng nach Desinfektionsmittel. Zwei Männer saßen an einem Tisch, über eine Landkarte von der Größe einer Tischdecke gebeugt, und starrten mich an. Es war leicht zu erraten, wer von beiden der Tätowierer war. Der kahlrasierte Typ mit Ziegenbart sprang augenblicklich auf und kam auf mich zu. Nur wenige Teile seines Gesichts waren nicht übersät mit Zeichnungen und Bildern. Der andere Mann war größer. Er blieb am Tisch sitzen und wandte sich wieder der Karte zu. »Hey Kleine, es ist geschlossen.« Breitbeinig stellte sich der Tätowierer vor mich hin. Sein Achselshirt legte muskelbepackte Arme frei. Sämtliche Symbole, die Unheil bedeuteten, zeichneten sich darauf ab. Ich schluckte. Die Speiseröhre, die er sich auf den Hals tätowiert hatte, schwang im Takt seiner Stimme mit. »Verdammt. Ich habe vergessen zuzuschließen«, sagte er in Richtung des Großen. Der Tätowierer spielte wohl den Wachhund für ihn. Dass ich immer noch dastand, schien ihn zu ärgern. »Verschwinde, du hast dich verlaufen«, schnauzte er mich an. Er lispelte, fiel mir auf, und ich musste mich zwingen, den Blick von den Plugs in seinen Ohrläppchen von der Größe eines Zwei-Euro-Stückes zu lösen. »Ich suche jemanden, der zur Halle gehört.« So leicht würde ich mich nicht abwimmeln lassen. Ich war noch nie in einem Tätowierstudio gewesen, aber genau so hätte ich es mir vorgestellt. Eine Liege, eine Lampe mit Lupe, jede Menge Geräte und Farbflaschen. An den Wänden Muster für Tätowierungen. Nichts Ungewöhnliches also. Wieso wollte er mich unbedingt loswerden? »Hier ist niemand.« Der Tätowierer drängte mich rückwärts. »Sein Name ist Mad«, sagte ich. Plötzlich kam Leben in den Raum. Der Große am Tisch hob ruckartig den Kopf, während dem Tätowierer für einen Moment der Mund offenstand. Der Blick auf das, was mal seine Zunge gewesen war, beantwortete die Frage, wo er seine Piercings versteckt hatte. Der andere Mann schob den Stuhl zurück, erhob sich überraschend anmutig und bewegte sich auf mich zu. Sofort trat der Tätowierer einen Schritt zur Seite. Ich hielt den Atem an. Der Große sah anders aus als alle Männer, die ich kannte, und doch erinnerte er mich an jemanden, den ich schon einmal gesehen hatte. Seine Haut war blass, aber nicht farblos, und bildete einen starken Kontrast zu seinen kurzen, schwarzen Haaren. Die hohen Wangenknochen und das kantige Kinn passten wiederum zu den Lippen, die trotz des perfekten Schwunges eine unnachgiebige Härte ausstrahlten. Ich war unentschieden, ob ich sein Gesicht aristokratisch oder aggressiv finden sollte. Seine stahlgrauen Augen durchdrangen mich, wie bei einer Musterung in der Kaserne, so, dass sich mir augenblicklich alle Härchen aufstellten. »Was willst du von Mad?«, fragte der Tätowierer anstelle des Großen. Vielleicht war er stumm? Das würde in gewisser Weise diese unnahbare Ausstrahlung erklären. »Wir sind heute verabredet. Leider muss ich absagen.« Ich freute mich, dass meine Stimme noch funktionierte. »Verabredet?«, stieß der Tätowierer aus, als hätte ich so etwas Schreckliches wie Verstorben gesagt. Der Große zog eine Augenbraue hoch und wechselte einen Blick mit dem Tätowierer, als würde er mir kein Wort glauben. Verdammt, Mad hatte ja richtig spaßige Freunde. »Bist du etwa Ludwig?« Ich bemühte mich, höflich zu klingen, um meine Glaubwürdigkeit zu unterstreichen. Der Tätowierer fuhr zusammen. Ich hatte wohl ins Schwarze getroffen. Ermutigt fuhr ich fort. »Er hat mir erzählt, dass du noch besser Skateboard fahren kannst als er.« Ich schenkte dem Großen ein strahlendes Lächeln. Seine Miene versteinerte zu einer bewegungslosen Maske. Ich erschrak. Schlagartig fiel mir ein, an wen er mich erinnerte. Im Museum hatte ich einmal das Gemälde eines Soldatenkönigs auf einem Pferd gesehen. Es hatte mich fasziniert. Seine Gestalt auf dem Bild war trügerisch jung gewesen, aber in seinen Augen hatte die Erfahrung von Jahrzehnten gelegen. Man hatte ihm angesehen, dass unzählige Kriege seinen Blick grausam gemacht hatten. Genauso sah dieser Ludwig aus. Wie ein Herrscher, der zu allem entschlossen war. Es fehlte nur noch sein Umhang, eine Rüstung und ein Schwert. Dabei war er wohl nicht wesentlich älter als ich. Eins war jedoch klar, mit diesem König Ludwig war nicht zu spaßen. Ich nahm all meinen Mut zusammen und hielt ihm den Zettel hin, den ich an die Hallentür hatte heften wollen. »Könntest du ihm bitte ausrichten, dass ich hier war? Das ist meine Telefonnummer, falls er mich anrufen will.« Unwirsch riss mir der Tätowierer das Papier aus der Hand, zerknüllte es in seiner Faust und holte Luft für eine Antwort. Mit einer einzigen Handbewegung ließ Ludwig ihn innehalten. Zum ersten Mal hörte ich ihn sprechen. Seine Stimme klang sanft, hatte aber die Schärfe meiner Rasierklinge. »Mad ist sicher nicht interessiert, sich zu verabreden, Mädchen. Er hat Dinge zu erledigen, die keine Ablenkung erlauben.« Bevor er mir den Rücken zukehrte, um zurück zum Tisch zu gehen, wandte er sich an den Tätowierer. »Björn, erinnere mich daran, dass ich ein ernstes Wort mit Mad reden muss. Ich habe es satt, jede Woche eine seiner Liebschaften auf den Boden der Tatsachen bringen zu müssen.« Ich taumelte einen Schritt rückwärts, als hätte er mich geschlagen. Bevor meine Hand die Klinke erreichen konnte, kam mir der Tätowierer zuvor und stieß die Tür auf. Er schubste mich hinaus in die kühle Luft, wie man einen unartigen Hund vor die Tür setzt. 4. Kapitel Erst als sich die automatische Glastür mit einem Zischen vor mir aufschob, erwachte ich aus meinem Trancezustand. An den Weg von der Skatehalle hierher, zum Supermarkt, konnte ich mich nicht mehr erinnern. In meinem Kopf hämmerten Ludwigs Worte wie Kopfschmerzen. Wenn ich ihm glauben sollte, war ich nicht mehr als eines von Mads Techtelmechteln. Es war möglich, dass Mad mit mir spielte, ich kannte ihn so gut wie gar nicht. Genauso wenig wie Ludwig. Sollte ich seine Bemerkung ohne weiteres für bare Münze nehmen? Eines lag dagegen auf der Hand: Mads Freunde konnten mich auf den Tod nicht ausstehen. Willkommen im Club. Als wäre mein Pensum für diesen Tag noch nicht erreicht gewesen, schlug mir im Supermarkt dieselbe feindselige Stimmung entgegen. »Wie lange habt ihr gestern noch gezählt?«, fragte ich Petra, nachdem ich meine Jacke aus dem Aufenthaltsraum geholt hatte. »Bis Mitternacht.« Sie war damit beschäftigt, eine Ladung Rattenfallen in die Box mit der Aktionsware einzuräumen. »Ist der Chef hier?« Ich musste plötzlich schreien. Mehrere Kunden stürzten sich auf die Packungen, die sie zuhauf in ihre Einkaufswagen warfen. »Im Büro.« Petra gab es auf, die Ware einzusortieren. »Bitte nur haushaltsübliche Mengen«, rief sie der Meute zu, die um die Fallen stritt. Ich vermied es, das Bild auf der Packung anzusehen. Das einseitig verspiegelte Marktleiterbüro hatte einen großen Vorteil. Der Chef konnte zwar von hier aus die Kasse beobachten, ohne selbst gesehen zu werden, was sehr unangenehm war. Andersrum konnte man aber nicht von draußen nach drinnen sehen. Wäre das möglich gewesen, hätten wir mit Sicherheit weniger Kunden gehabt. Mein Chef hatte sich hier seine persönliche Räucherkammer eingerichtet. Dicke Schwaden standen wie eine Nebelwand im kleinen Raum und legten sich gnadenlos auf allem ab, was herumstand. Und es stand viel herum: Ordner, Papierstapel, Schachteln, wieder Papierstapel und mittendrin der Chef mit einer Zigarette im Mund, um für Nebelnachschub zu sorgen. »Seit wann dürfen wir Rattenfallen verkaufen?«, fragte ich nach einer knappen Begrüßung und versuchte möglichst, das Atmen zu vermeiden. Der Chef hob die rechte Hand, die ungeschickt mit einem Verband umwickelt war, und zog an der Zigarette. »Sondergenehmigung der Stadt.« Er blies den Rauch durch die Nase. »Dabei helfen diese Lebendfallen kein Stück. Das sind nur Maßnahmen, um die Bevölkerung zu beruhigen. Eine häufigere Müllabfuhr würde Wunder wirken.« Er zog nochmal und sengte den Stängel beinahe zu einem Viertel hinunter. »Das wird der Stadt vermutlich zu teuer«, sagte ich. Er grinste und lehnte sich zurück, wobei der Stuhl unter seinem beachtlichen Gewicht ächzte. »Ich würde Ihnen raten, einen Schulabschluss zu machen, Sie scheinen durchaus intelligent zu sein. Das hier war eh nicht das Richtige für Sie.« »Doch, das war es«, sagte ich und knetete meine Jacke. »Tut mir leid, aber ich brauche zuverlässige Leute. Wenn ich Ihnen das durchgehen lasse, sinkt die Moral der Belegschaft.« Er packte einen Zettel von einem der Stapel und zückte einen Werbekugelschreiber aus seinem Marktleitermantel. »Hier sind Ihre Papiere.« Er unterschrieb, verzog schmerzverzerrt sein Gesicht und rieb über den Verband. »Was ist mit Ihrer Hand?«, fragte ich und war trotz des traurigen Anlasses froh, gleich der Nebelhölle entkommen zu können. »Ich weiß nicht«, brummte er. »Das verdammte Rattenvieh muss mich gestern gebissen haben.« *** Keine Ahnung warum, aber seitdem ich eine Nosferatu war, liebte ich die UBahn. Die Dunkelheit in den Schächten beruhigte mich auf eine gewisse Weise. Obwohl überall in der Bahn typische Münchner Sauberkeit herrschte, roch es für mich angenehm nach Erde und Lehm. Was ich nicht mochte, waren Fahrkarten. Ich ignorierte den Automaten, suchte mir einen Platz in einem Waggon der U6 und ließ mich ins Zentrum fahren. Niemand kontrollierte mich. Schade eigentlich. Meine Mutter rastete jedes Mal tierisch aus, wenn sie die Strafe überweisen musste. Am Bahnhof Marienplatz stieg ich aus. Kein anderer Verkehrsknotenpunkt der Stadt war so frequentiert wie dieser. Die Reiseführer irrten sich: Das wahre Herz Münchens schlug nicht auf dem berühmten Platz darüber, sondern einige Meter darunter. Sieben SBahnlinien kreuzten an dieser Stelle das U-Bahn-Netz. Bei Fußballspielen und im Berufsverkehr musste das Herz Schwerstarbeit leisten. Genauso wie in den vier Herzkammern wurden auf vier Ebenen Menschen wie rote Blutkörperchen durch die Adern der Stadt gepumpt. Die orangefarbenen Fußgängertunnel sahen mit etwas Fantasie so aus wie Venen von innen. Ich ließ mich darin mit einem Menschenstrom nach oben spülen. Ein Blick auf die Uhr des neuen Rathauses bestätigte meinen Verdacht. Es war kurz vor drei. Ich lief los. Auf der Einladung stand keine Adresse des Hotels Vier Jahreszeiten«, was mich nicht weiter verwunderte. Jeder Münchner wusste, dass es zu den Prachtbauten an der noblen Maximilianstraße gehörte. Im Laufschritt bog ich auf die schnurgerade Luxusmeile ein, ließ die Edeldesigner und Juweliere links liegen und stürmte zum Portal des Hotels. Wo war Carsten? Ich drehte mich im Kreis, als ich im Augenwinkel eine Bewegung bemerkte.