MAGAZIN FÜR MOBILITÄT Bethany hamilton SuRFeN MIT NuR
Transcrição
MAGAZIN FÜR MOBILITÄT Bethany hamilton SuRFeN MIT NuR
Bethany Hamilton Surfen mit nur einem Arm Albert Llovera Renn fahrer im Rollstuhl Aimee Mullins Schönheitsideal mit Handicap Reisen Barrierefreie Destinationen Beruf Behinderung muss kein Manko sein Gesellschaft USA, Land der unbeschränkten (Zugangs-)Möglichkeiten? MAGAZIN FÜR MOBILITÄT # 02 / 2011 3 INTRO Aller guten Dinge sind zwei. Vorerst. Denn nachdem die erste Ausgabe des Autonomy Magazins ein so überaus positives Feedback von Lesern, Institutionen und auch Medienauszeichnungen erhalten hat, machte die Arbeit an dieser Ausgabe noch mehr Spaß als ohnehin schon. Die Frage eines themenfremden Kollegen: „Ein Lifestyle-Magazin für Menschen mit körperlichen Behinderungen – ist es nicht schwer, gute Inhalte dafür zu finden?“ konnten wir ohne zu zögern verneinen. Im Gegenteil! Da während der aktuellen Recherche schon wieder so viele potentielle Artikelideen gesammelt, interessante Menschen getroffen und neue Perspektiven gewonnen wurden, wünschen wir an dieser Stelle viel Spaß mit Ausgabe #2, und wir sorgen inzwischen dafür, dass das einleitende Sprichwort beim nächsten Heft in seiner gewohnten Version verwendet wird. Die Autonomy-Redaktion Inhalt 04 Medien / Bücher, Filme, Magazine 05 Termine / Wo ist was los? 06 Sport / Albert Llovera: Rennfahrer im Rollstuhl 09 Menschen / Rund um den Globus 10 Sport / Bethany Hamilton: Surfen mit nur einem Arm 13 Gedankengang / Vom Geben und Nehmen als Behinderter 14 City-Check / Ein Tag in Berlin. Wie barrierefrei ist die Hauptstadt? 17 Car-Check / Was kann der Fiat Doblò mit Hochdach? 18 Personality / Nick Vujicic: Keine Beine, keine Arme, keine Sorgen 20 Blickfang / Dürfen wir vorstellen... 22 Berufsleben / Warum Behinderung im Job kein Nachteil sein muss 24 Gesellschaft / USA, Land der unbegrenzten (Zugangs-)Möglichkeiten? 27 Reisen / Barrierefreie Destinationen 28 Personality / Erwin Aljukic: Was kommt nach „Marienhof“? 30 Zum Schluss / Über das Handicap von Schönheitsidealen 31 Impressum Cover: Bethany Hamilton / Foto: Noah Hamilton Medien 4 5 Das Thema Behinderung in den Medien. Ein Auszug. Radeln für die gute Sache 2.643 Kilometer in 36 Tagen. Diese beachtliche Strecke durch Deutschland, Dänemark, Holland und Polen legten Sportler mit und ohne Handicap auf Fahrrädern und Handbikes in diesem Frühjahr zurück. Unter dem Motto „Inklusion beginnt im Kopf“ hieß es für die Teilnehmer der „R4H mobil“-Tour strampeln, schwitzen und immer wieder an die eigenen körperlichen Grenzen gehen. Athleten und R4H-Botschafter, wie der paralympische Wintersportler Josef Giesen oder die Rollstuhlbasketball-Weltmeisterin Heidi Kirste sind Vorbilder und wollen Menschen mit und ohne Handicap dazu animieren, selbst aktiv zu sein. Denn sie sind sich einig: Durch sportliche Aktivitäten – egal welcher Art und welchen Umfangs – können viele Missstände und Probleme seelischen und körperlichen Ursprungs überwunden werden. Für das kommende Jahr steht eine Tour mit einer Gesamtstrecke von 5.000 Kilometern auf dem Programm. Neben Deutschland und Dänemark soll die Strecke auch durch Österreich, Italien und die Schweiz bis nach England führen. Aus England wird das vereinseigene Projekt „R4H – das Radio für barrierefreie Köpfe“ im Anschluss dann zwei Wochen lang täglich live von den Paralympischen Sommerspielen 2012 berichten. Alle weiteren Informationen zur „R4H mobil“-Tour gibt es unter www.r4h-mobil.de. Ein Mann, ein Bein, ein Buch Behinderte (nicht nur) für Dummies Das preisgekrönte Gesellschaftsmagazin „Dummy“ widmet sich vierteljährlich unter dem Motto „Jedesmal neu. Jedesmal anders.“ grundlegenden Themen wie „Liebe“, „Freiheit“ oder „Glauben“. Im März 2011 erschien das Magazin unter dem Titel „Behinderte“. „Hau ab, ich schaff‘ das schon allein“ oder „Hundestellung klappt sehr gut“ – in manchem Artikel wagten sich die Autoren an Themen heran, die im Medienalltag sonst leider oft ausgespart werden. In Gesprächen „mit kranken Schwestern über Sex“, Erfahrungsberichten aus dem Rollstuhl oder einem Artikel über Behindertendiscos wird hier in die Tiefe gegangen, anstatt oberflächlich schön zu färben. Auch wenn uns nicht alle Ansätze zu Begeisterungsstürmen hingerissen haben, wünschen wir uns doch: mehr! Bitte viel mehr davon! Diese und weitere Ausgaben des Dummy Magazins sind unter www. dummy-magazin. de zu bestellen. Termine Na, haben Sie ihn erkannt? Genau, das ist Mario Galla, der schöne Hamburger, von dem wir schon in der letzten Ausgabe die Augen nicht lassen konnten. Nun veröffentlicht das Model sein erstes Buch. In „Mit einem Bein im Model Business: Wie ich trotz Handicap zum Model wurde“ erzählt er von seinen positiven und negativen Erfahrungen im Umgang mit seiner Behinderung in der Modeszene. Er geht aber auch auf besondere Ereignisse seines Lebens wie langwierige Krankenhausaufenthalte, seine erste große Liebe oder die Abiturzeit ein. „Die Message ist generell‚ live your dream‘, egal welche Einschränkungen du hast, oder welche Steine dir im Weg liegen. Du kannst das vermeintlich Unmögliche erreichen“, beschreibt Mario die Botschaft seines Erstlingswerks. Das Vorwort wurde vom Modemacher Michael Michalsky verfasst, welcher Mario die Möglichkeit bot, auf dem Laufsteg der Berliner Fashionweek 2010 erstmals sein Handicap selbstbewusst in kurzen Hosen zu präsentieren. „Mit einem Bein im Model Business“ ist am 19. September 2011 im Mosaik Verlag erschienen. september 21.-24.REHACARe. Internationale Fachmesse und Kongress für Rehabilitation, Pflege, Prävention und Integration in Düsseldorf. www. rehacare. de 24.-25. Zweiter „MobiCup - Nord“ in Flensburg. Die größte integrative Sportund Gesundheits-Aktionsmesse in Schleswig-Holstein. www. mobi-cup-nord. de oktober 01. Erster Spieltag der ersten Rollstuhlbasketball - Bundesliga. www.rbbl.de 07.-08. Deutsche Meisterschaft im Tischtennis für Senioren und Allgemeinbehinderte in Geroldsgrün, Bayern. www. dbs-npc. de 21.-23. Rollstuhltanz-Festival in Duisburg/Wedau. www. bsnw. de november Annäherung im Bärenkostüm Wie er da so in der Züricher Fußgängerzone steht, der Unbekannte in seinem hellbraunen, flauschigen Bärenkostüm mit der pinken Schnauze und dem breiten Lachen auf dem Gesicht, kann man gar nicht anders, als ihn zu umarmen. Groß und Klein, Jung und Alt, alle knuddeln, drücken und herzen den Stoffbären. Der „Kommen Sie näher“- Bär ist der Star der neuen Kampagne von „Pro Infirmis“, der Schweizer Fachorganisation für behinderte Menschen. Die Idee, die dahinter steckt: Berührungsängste überwinden und die unsichtbare Wand durchbrechen, die immer noch zwischen gesunden und körperlich oder geistig eingeschränkten Menschen steht. Denn am Ende des Videoclips lüftet der Bär sein Geheimnis. Er nimmt den Kopf ab und offenbart, dass ein junger Mann mit Behinderung in dem Kostüm steckt. Der Slogan darunter: „Müssen wir uns verkleiden, damit wir uns näher kommen?“ Ein ergreifender Spot, der wachrüttelt. Den Link zum Video gibt es auf unserer Webseite unter www.fiatautonomy.de 13. Fachmesse und Kongress des Sozialmarktes („ConSozial“) im Messezentrum Nürnberg. www.consozial. de 02.-03. 26. Deutsche Meisterschaft für Verbandsmannschaften im G-Judo in Berlin. www.dbs-npc.de 26.-27. Deutsche Kurzbahn-Meisterschaft im Schwimmen in Remscheid. www. dbs-npc.de DEZEMBER 03. Internationaler Tag april 21.-22. Finale der ersten Rollstuhlbasketball - Bundesliga. www. rbbl.de 05. Europäischer Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung mai der Menschen mit Behinderung 15.-18.Orthopädie und Reha-Technik 2012 in Leipzig. www. ot-leipzig.de 20.-26. Special Olympics National Summer Games in München. Teil der weltweit größten, vom Internationalen Olympischen Komitee (IOC) offiziell anerkannten Sport- bewegung für Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung. Über 4.500 Athletinnen und Athleten werden in 20 Sportarten hauptsächlich im Münchener Olympiagelände gegeneinander antreten. www. specialolympics. de 6 Sport 7 Albert Llovera Sport Was braucht ein guter Rennfahrer? Er muss natürlich in erster Linie gut fahren können. Die theoretische und mentale Vorbereitung auf ein Rennen ist aber nicht minder wichtig. Und dann braucht er noch ein gutes Team, einen starken Sponsor und selbstverständlich jede Menge Geld! Erzähl uns mehr über dein Team. Mein Team ist mindestens genauso wichtig oder sogar noch wichtiger als ich. Ohne meine Crew wäre ich heute zweifelsohne nicht da, wo ich bin. Mein Team besteht aus drei Mechanikern, einem Chefmechaniker, einer Koordinatorin, einem Ingenieur, einem Trainer, der mich körperlich fit macht, einer Physiotherapeutin und einer Presseabteilung. Was ist die Aufgabe des Kopiloten? Der Kopilot ist äußerst wichtig. Er muss mir nicht nur die Streckenspezifika ansagen, sondern auch eng mit dem Ingenieur und dem restlichen Team zusammenarbeiten, um die Zeiten zu kontrollieren. Wir müssen ein sehr gutes Verhältnis zueinander haben, denn während der Wettbewerbe sind wir manchmal 23 Stunden am Tag zusammen. Eine Stunde ist dafür reserviert, getrennt auf die Toilette zu gehen [lacht]. Wir sind beinahe wie ein Ehepaar! Mein momentaner Kopilot ist Diego Vallejo, der im Jahr zuvor mit Dani Sordo gefahren ist. Wir verstehen uns wirklich sehr gut und ich fühle mich wohl an seiner Seite. Wie würdest du die Beziehung zu deinem Auto beschreiben? Mein Auto ist unentbehrlich für mich. Ich kenne meinen Fiat in- und auswendig. Er gefällt mir ungemein. Anders als eine Frau keift mich mein Auto nie an. Es will eher immer mehr und ich gebe ihm, was es will... [lacht]. AL „Mobilität ist für mich gleichbedeutend mit Freiheit.“ Rennsport ist was für echte Männer. Harte Kerle, die vor lauter PS und Potenz nach dem Aussteigen kaum laufen können und sich auch im Straßenverkehr von Geschwindigkeitsbegrenzungen nichts sagen lassen – so das Klischee. Wenn Albert Llovera in seinem Rennwagen um eine Kurve schießt und wahlweise Staub, Kies oder Wasser durch die Luft wirbelt, sieht man ihn schon einer Hostess bei der Siegerehrung auf den Po klatschen. Wenn Albert aus seinem Auto steigt, stemmt er sich jedoch zunächst in einen Rollstuhl. Er ist der erste und einzige körperlich eingeschränkte Rennfahrer, der bei der Rallye-Weltmeisterschaft WRC an den Start gehen und mit nicht behinderten Fahrern unter gleichen Wettbewerbsbedingungen Gas geben darf. Deswegen kann es aber trotzdem passieren, dass er einem schönen Boxenmädchen nicht nur Blicke hinterherwirft, denn der Mann aus Andorra hat mindestens so viel Selbstvertrauen wie PS. Text: Anke Eberhardt / Fotos: www.albertllovera.com Albert, du warst schon immer sehr aktiv, bist schon früh bei Skiwettbewerben mitgefahren und hast sogar an den Olympischen Spielen teilgenommen, bevor du als Teenager bei einem Skirennen verunglückt bist. Du scheinst generell ein sehr ehrgeiziger Mensch zu sein, oder? Ich habe Sport schon immer des Wettbewerbs und Gewinnens wegen gemacht. Das ist mir angeboren. In meiner Jugend habe ich auf den Parkplätzen der Skigebiete immer kleine Autorennen mitgemacht und war da ganz gut, also lag Motorsport wohl irgendwie nahe [lacht]. Es ist übrigens nicht ungewöhnlich, dass gute Skifahrer auch gute Autorennfahrer sind, denn Ski- und Motorsport sind sich in Bezug auf Linienführung, ins Schleudern geraten und so weiter ziemlich ähnlich. Du nimmst an der Rallye-Weltmeisterschaft teil und bist auch schon die Rallye von Dakar mitgefahren. Welches Rennen hat dir bisher am besten gefallen? Die Rallye Mexiko. Das ist ein sehr kompliziertes Rennen, weil es auf über 2.000 Höhenmetern stattfindet, aber die Straßen und die Streckenführung begeistern mich einfach. Außerdem legt sich das Publikum dort wahnsinnig ins Zeug. Es ist toll, so eine Energie von den Leuten zu spüren. Was ist das für ein Gefühl, wenn du bei einem Rennen Vollgas gibst? Das ist einfach wahnsinnig cool. Völlig ausflippen könnte ich da! Ich hätte nie gedacht, dass ich jemals dahin komme, wo ich jetzt bin, und schon gar nicht zum Rallyefahren. Ich bin wirklich glücklich. Autorennen werden ja als etwas sehr Hartes und Männliches angesehen, während eine Behinderung von vielen Menschen als Schwäche betrachtet wird. Wie hat die Rennsportszene auf dich reagiert? Zuerst waren die Leute überrascht, aber dann erhielt ich jede Menge Unterstützung, Anerkennung und Bewunderung. „Wir sind beinahe wie ein Ehepaar!“ Hast du das Gefühl, dass du in irgendeiner Art anders behandelt wirst? Nein, ganz im Gegenteil. Ich fühle mich wie einer von ihnen, gänzlich ebenbürtig. Ich habe die Unterstützung der besten Piloten der Welt wie Loeb, Solberg, Al-Attiyah oder Gassner. Inwiefern hast du es als querschnittsgelähmter Fahrer schwerer? Die Weltmeisterschaftsrennen sind körperlich sehr anstrengend und erfordern eine intensive Vorbereitung. Mit meinen Schaltungen und Armaturen zur Handbedienung und dem Rollstuhl im Wagen, wiegt dieser noch mal 70 Kilo mehr und das merkt man natürlich. Ist dein Auto auch ein Mittel, um deine Einschränkung zu egalisieren? Quasi: Du kannst zwar nicht laufen aber hinter dem Steuer sind alle gleich? Auf jeden Fall. Genau das ist es, was ich will. Ich empfinde es schon so, dass wir alle auf dem gleichen Level fahren, obwohl es offensichtlich ist, dass nur mit den Händen zu fahren etwas anderes ist, als auch seine Beine einsetzen zu können. Der Kraftaufwand in den Armen, Händen und Fingern ist enorm. Willst du, dass das bei deinen Ergebnissen berücksichtigt wird oder willst du auch in dieser Hinsicht nicht, dass ein Unterschied zwischen dir und den anderen Fahrern gemacht wird? Es gefällt mir, wenn meine Erfolge unabhängig von meiner Behinderung betrachtet werden. Aber ich verstehe, wenn sie aufgrund meiner persönlichen Umstände vielleicht höher gewertet werden. Berufsleben 8 9 Menschen Trailmeister Du gibst außerdem Fahrtrainings für Menschen mit körperlichen Einschränkungen. Was ist hierbei wichtig? Theorie und Praxis sind gleich bedeutsam. Ich finde einen passenden Sitz enorm wichtig und die Füße müssen, je nach Höhe der Rückenmarksverletzung, richtig befestigt sein, um Krämpfe zu vermeiden. Ich betone immer wieder, dass man sich dessen, was man macht und was man in den Händen hält, sehr bewusst sein muss. Wie würdest du dich selbst beschreiben? Als sehr „klein“ [lacht], da ich ja immer im Rollstuhl unterwegs bin. Ein bisschen verrückt, humorvoll, immer zu Scherzen aufgelegt und durchaus partybegeistert. Ich habe auch immer Spaß auf dem Podium und flitze den hübschen Hostessen hinterher oder mache Pirouetten und Drehungen mit meinem Rollstuhl. Das gefällt auch dem Publikum immer sehr. Ich halte mich weder für Superman noch für invalide. Ich habe lediglich Selbstvertrauen, die Bereitschaft sehr hart zu arbeiten und den nötigen Kampfgeist, um Schwierigkeiten zu überwinden. Ich kenne und akzeptiere meine Einschränkung und davon ausgehend habe ich mir meine eigenen Ziele gesteckt und Träume verfolgt. Was bedeutet Mobilität für dich? Mobilität ist für mich gleichbedeutend mit Freiheit. Überallhin gelangen zu können und auch Dinge zu machen, die man niemals gedacht hätte zu schaffen. Du arbeitest auch an Umrüstungslösungen für Autos mit, richtig? Zusammen mit Guidosimplex Italia haben wir die Schaltungen sowohl für mein Straßen- als auch für mein Rallyeauto gebaut und weiterentwickelt. Ich fahre schließlich Tausende und aber Tausende Kilometer, dabei teste ich die Schaltungen und bringe danach Tipps und Verbesserungsvorschläge in den Entwicklungsprozess ein. Es ist für Menschen, die im Rollstuhl sitzen oder eine Gehhilfe haben, sehr wichtig Auto zu fahren und diese Unabhängigkeit erleben zu können. Es wurde auch ein Dokumentarfilm über dich gedreht, in dem unter anderem der Hollywood-Schauspieler Javier Bardem zu sehen ist. Wie war die Zusammenarbeit mit ihm? Wir haben uns während der Dreharbeiten kennengelernt. Das war wirklich toll. Javier ist ein witziger Typ, ein bisschen ungehobelt, so wie ich. Ich habe sehr schöne Erinnerungen an die gemeinsamen Momente und unterhaltsamen Abendessen, die sich bis in die Morgenstunden ausdehnten. „Mein Auto ist unentbehrlich für mich. Ich kenne meinen Fiat in- und auswendig. Er gefällt mir ungemein.“ Fährst du auf normalen Straßen auch sehr schnell, oder ist das ein Rennfahrer-Klischee? In meinem Fall ist das kein Klischee. Ich bin nicht leichtsinnig, aber ich fahre einfach sehr gerne Auto. Weitere Infos zu Albert finden sich auf www.albertllovera.com, dort ist auch der Teaser seines spanischen Dokumentarfilms „Las Alas del Fénix“ („Die Flügel des Phönix“) zu sehen. „Scharf nach links, holprig, holprig, holprig!“ schreit jemand, Fahrgeräusche, die auf eine hohe Geschwindigkeit schließen lassen, sind zu hören, der Bildschirm ist schwarz. So beginnt ein Film über Bobby McMullen. „The Way Bobby Sees It“ ist eine Dokumentation über den Mountainbiker aus Kalifornien und beginnt genau damit, was er bei einer Abfahrt sieht: nichts. (Zu sehen auf www.rideblindracing.com) McMullen erblindete 1993 innerhalb nur eines Monats aufgrund einer Diabetes-Erkrankung. Vorangegangen waren Jahre der Dialyse und zwei Nieren- und Bauchspeicheldrüsentransplantationen. Trotzdem tat McMullen alles andere, als seinen Körper zu schonen und hat sich bis heute bei diversen Sportarten mehr Knochen gebrochen, als er zählen kann. Er lernte, mit einem Guide Ski zu fahren, war Mitglied des US-Abfahrtsteams und Teilnehmer der Paralympics. Im Sommer tauscht er die Ski inzwischen gegen das Mountainbike und nimmt als einziger Mountainbiker mit eingeschränkter Sehfähigkeit an irrsinnig waghalsigen Rennen wie dem „Megavalanche“ in Frankreich teil. Bei diesem Rennen starten 1.000 Fahrer zur gleichen Zeit und legen auf einer Strecke von 30 Kilometern mehr als 3.000 Höhenmeter zurück. Völlig hirnverbrannt einerseits, überaus bewundernswert andererseits. Gipfelstürmer Der Neuseeländer Mark Inglis lebt nach dem Motto: „Um einen Traum zu verwirklichen, musst du den ersten Schritt machen und dann einfach immer weitergehen.“ Dass das nicht immer leicht ist, weiß kaum jemand besser als er. Als 23-Jähriger wurden ihm beide Beine knapp unterhalb der Knie amputiert, nachdem er zwei Wochen in einer Schneehöhle auf Neuseelands höchstem Berg, dem Mt. Cook, überlebt hatte. Aber wie alle leidenschaftlichen Bergsteiger ist Inglis es gewohnt, sich Herausforderungen zu stellen und neue Gipfel zu erobern. „Mir wurde schnell klar, dass ich meine Träume verwirklichen kann, wenn ich in jeder Situation den Vorteil sehe, nicht den Nachteil.“ Gesagt, getan. 2006 erfüllte er sich seinen Lebenstraum und bestieg als erster Mensch mit zwei Beinprothesen den Mount Everest. Seitdem reist er um die Welt und erzählt als Motivationsredner seine Geschichte. Am liebsten ist er aber noch immer im Himalaya unterwegs, wo er als Bergführer Touren rund um den höchsten Berg der Welt anbietet. Foto: Matthew Mallory Fotokünstler Primaballerina Nicht einmal sechzig Sekunden lang bebte die Erde am 12. Januar 2010 in Haiti und verwüstete das ohnehin arme Land verheerend. Auch das Leben von Fabienne Jean veränderte sich schlagartig, als die junge Frau beim Versuch aus ihrer Wohnung zu fliehen, unter Trümmern begraben wurde. Sie überlebt, doch ihr musste das rechte Bein unterhalb des Knies amputiert werden. Eine Katastrophe für jeden Menschen, doch ein noch größerer Schlag für Jean, schließlich war sie bis zu diesem Zeitpunkt Primaballerina am Nationaltheater in Port-au-Prince. Doch bereits als sie die ersten Schritte auf Krücken machte und mit ihrem Gleichgewicht kämpfte, hatte sie nur ein Ziel: wieder zu tanzen. Heute ist sie aufgrund des Einsatzes einer Hilfsorganisation wieder gesund und kann dank einer speziell für sie angefertigten Prothese und ihres unbändigen Willens endlich wieder tanzen. Früher arbeitete der Fotograf Rick Guidotti mit weltbekannten Models wie Cindy Crawford und Claudia Schiffer. Doch irgendwann hatte der Amerikaner genug von der Scheinwelt Mode und begann, sich für die Schönheit ganz normaler Menschen zu interessieren. „Redefining Beauty“ hieß seine erste Fotostrecke zum Thema Albinismus, die 1998 im renommierten „Life Magazine“ erschien und für so viel Begeisterung sorgte, dass Guidotti beschloss, eine Stiftung zu gründen. „Positive Exposure“ hat es sich zum Ziel gesetzt, auf das Leben von Menschen mit Gendefekten aufmerksam zu machen. Mit Fotoausstellungen auf der ganzen Welt will die Organisation ihre Message in alle Teile der Gesellschaft transportieren: Ein anderes Äußeres ist kein Stigma, sondern Ausdruck der menschlichen Vielfalt. Die neueste Idee, das „Pearls Project“, soll Toleranz dort fördern, wo Anderssein oftmals soziales Exil bedeutet: in Schulen. Guidotti fotografierte elf junge Erwachsene mit unterschiedlichen Behinderungen und stellte die Bilder Schulklassen zur Verfügung, die im Unterricht darüber diskutierten und mit den Betroffenen in Kontakt treten konnten. Dank des großen Erfolges wird das Projekt demnächst auf weitere Schulen in den USA ausgeweitet und wir würden uns wünschen, dass es bald auch nach Deutschland kommt. 10 Sport 11 Bethany Hamilton BH „Surfen ist mein Leben“ Als Bethany Hamilton ihren linken Arm verlor, spürte sie keinen Schmerz. Sie schrie auch nicht. Alles, was sie sagte, war: „Ich glaube, ich wurde gerade von einem Hai gebissen.“ Dann fing sie an, auf ihrem Surfboard in Richtung Strand zu paddeln. Text : Melanie Schönthier / Fotos: Noah Hamilton Bis zu diesem Tag galt die damals 13-Jährige als eine der talentiertesten Nachwuchs-Surferinnen Amerikas. Aufgewachsen auf der hawaiianischen Insel Kauai, stand sie bereits mit vier Jahren das erste Mal auf einem Surfboard, mit acht gewann sie ihren ersten Wettbewerb, Sponsorenverträge folgten. Bethanys Chancen, bald als professionelle Surferin ihren Lebensunterhalt zu verdienen, standen gut. Jede freie Minute verbrachte sie im Wasser, manchmal surfte sie sogar von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang. Nicht einmal die Schule musste sie dafür schwänzen, denn ihre Eltern, beide leidenschaftliche Surfer, hatten das Talent ihrer Tochter früh erkannt und unterrichteten sie zu Hause. So konnte Bethany morgens surfen und nachmittags lernen. Ihr Ziel war es, einmal Weltmeisterin im Wellenreiten zu werden. Durchaus möglich, wie Rainos Hayes, ehemaliger Profi-Surfer und Coach der hawaiianischen SurfNationalmannschaft, damals fand: „In ihrer Altersklasse gibt es kein Mädchen, das besser surft“. Doch dann kam der 31. Oktober 2003. Bethany sah den fünf Meter langen Tigerhai nicht kommen, obwohl das Wasser kristallklar war. Sie kannte die Bucht von Tunnels Beach gut, denn der bei Surfern beliebte Strand an der Nordküste Kauais liegt nur 20 Minuten Autofahrt vom Haus der Hamiltons entfernt. Die Wellen brechen hier rund 400 Meter vor dem Ufer über ein seichtes Korallenriff und vom Wasser aus hat man einen atemberaubenden Ausblick auf die zerklüfteten, üppig bewachsenen Berge der Napali Coast. Bereits im Morgengrauen war Bethany gemeinsam mit ihrer besten Freundin Alana, deren Bruder und Vater hinaus gepaddelt und wartete auf ihrem Surfboard liegend auf die nächste Welle, als sie aus dem Augenwinkel einen grauen Schatten wahrnahm. „Man denkt, es würde wehtun, wenn einem der Arm abgebissen wird“, erinnert sie sich. „Aber alles, was ich spürte, war ein Schlag und ein Rütteln. Dann färbte sich das Wasser um mich herum rot und ich sah, dass mein Arm knapp unterhalb der Schulter abgetrennt war.“ Kein Schmerz, kein Schrei – Bethany begann einfach nur, mechanisch in Richtung Strand zu paddeln, so als wäre nichts geschehen. Alanas Vater half ihr, indem er ihr Surfbrett immer wieder anschob, trotzdem dauerte der Weg zurück fast 15 Minuten. Bethany kam es vor wie eine halbe Ewigkeit: „Erst als ich merkte, wie stark mein Arm blutete und wie weit wir noch vom Ufer entfernt waren, bekam ich Angst. Plötzlich wurde mir bewusst, dass ich sterben könnte.“ Am Strand band ihr Alanas Vater den Arm mit der Leine seines Surfboards ab und rettet ihr so wahrscheinlich das Leben. „Wann kann ich wieder surfen?“, war Bethanys erster Satz, als sie aus der Narkose erwachte. Eigentlich standen die Chancen schlecht, dass sie jemals wieder eine Welle reiten würde. Sie hatte 60 Prozent ihres Blutes und den linken Arm verloren. Aber die Wunde verheilte schnell. Bereits nach einer Woche konnte sie das Krankenhaus verlassen und einen Monat später stand sie wieder auf dem Surfboard. „Es war wie nach einer langen Reise nach Hause zurückzukehren“, erzählt sie. „Surfen ist einfach mein Leben. Ich hatte viel größere Angst davor, den Sport aufgeben zu müssen, als noch einmal von einem Hai angegriffen zu werden.“ Personality Sport 12 13 Gedankengang Vom Geben & Nehmen Oder: Ist man als behinderter Mensch immer in der Bringschuld? Text: Hiltrud Walter / Foto: Ragnar Schmuck „Es war wie nach einer langen Reise nach Hause zurückzukehren“ Heute, fast sieben Jahre später, surft Bethany nicht nur wieder, sondern zählt sogar zu den 20 besten Surferinnen der Welt. Geschafft hat sie das dank ihres eisernen Willens, harten Trainings und einer speziellen Technik: Während ihre Konkurrentinnen scheinbar mühelos mit ihren Armen Wellen anpaddeln, schlägt Bethany wie wild mit ihren Beinen, um genügend Geschwindigkeit aufzunehmen. Das sieht im ersten Moment zwar recht schwerfällig aus, aber kaum hat sie der Sog des heranrollenden Brechers erfasst, springt Bethany blitzschnell auf und gleitet die Wasserwand mit der gleichen Eleganz wie die anderen Surferinnen entlang. Ihr einziges Hilfsmittel ist eine kleine Plastikschlaufe an der Spitze ihres Boards, an der sie sich mit dem rechten Arm festhält, wenn sie unter einer heranrollenden Welle hindurchtauchen muss. Bethany weiß, dass sie mit zwei Armen besser surfen würde und dass sich ihr Traum vom Weltmeistertitel vielleicht nie erfüllen wird, trotzdem hat die inzwischen 21-Jährige nie mit ihrem Schicksal gehadert. „Natürlich habe ich mich ab und zu gefragt, wieso das ausgerechnet mir passiert ist. Ich glaube, dass ich die Antwort mittlerweile weiß: Um Menschen in einer ähnlichen Situation zu zeigen, dass sie alles erreichen können, wenn sie es nur wollen. Der Hai hat mir zwar meinen Arm, aber nicht meinen Traum vom Surfen nehmen können.“ In letzter Zeit ist viel von Kapital die Rede. Hier soll es aber nicht um Staatshaushalt und Wirtschaftskrise gehen, sondern um den sozialen Gewinn und Verlust, den wir als Mensch jeden Tag mit einem unsichtbaren Handschlag besiegeln. Unsere persönlichen Beziehungen sind genauso ökonomisch und zweckorientiert wie die wirtschaftlichen. Wir leben in einer Austauschgesellschaft, denn obwohl Nächstenliebe, Hilfsbereitschaft und Selbstlosigkeit als erstrebenswerte Eigenschaften geschätzt werden, beruht jeder Kontakt auf dem unausgesprochenen Kapitalprinzip: Geben mit Erwartung; Investieren, um zu gewinnen. Man unterstützt gerne einen Freund, hilft, wenn er krank im Bett liegt und investiert Zeit und Kraft. Man erwirbt sich damit aber auch das Recht, in eigenen Notsituationen bei eben diesem Freund anzuklopfen. Eine Beziehung lebt durch diesen Handel mit sozialem Kapital. Man investiert und erwartet Dankbarkeit, soziale Wertschätzung oder eine sichtbare Gegenleistung. Ist die Rechnung ausgeglichen, wird eine zwischenmenschliche Beziehung nicht belastet. Empfindet man sich aber als einziger Investor in die Freundschaft, droht ihr Konkurs. Und so ungern wir es uns selbst eingestehen möchten: Der eigene Erfolg setzt attraktive Ressourcen voraus. Wie steht es also um die soziale Wirtschaftlichkeit eines behinderten Menschen, der lebenslang auf Hilfe angewiesen ist? Wie ausgeglichen sind die Marktanteile, wenn man sich gerade gestritten hat, am liebsten Türen knallen möchte, aber just in diesem Moment eine helfende Hand im Bad benötigt? Es geht schnell, dass man sich als Behinderter als einseitig hilfebedürftiger, Rücksicht nehmender und um Dankbarkeit bemühter Mensch fühlt. Und dass ein hilfsbereiter Freund im Gegenzug als edel und gut erscheint, mit schier unerschöpflicher Investitionsbereitschaft. Ich selbst habe im Laufe meines Lebens gewisse Strategien im Umgang mit meinen Mitmenschen entwickelt. Auch mit dem Hintergedanken, meine nötigen Alltagshilfen zu bekommen. Geschäft ist Geschäft. Ich versuche, immer wieder nachsichtig und verständig zu sein. Oder ich höre mich zum x-ten Male überbetont für die erhaltene Leistung danken. Auch durch Witz und einen gewissen Charme gelingt es mir stets Hilfe zu bekommen. Ich habe oft erlebt, dass Leute mich als Seelsorgerin brauchen und ihre Gegenleistung erbringen, indem sie mir helfen. Dann wiederum gibt es Menschen, von denen ich bereitwillig unterstützt und auch nach meinen Gedanken und Problemen gefragt werde, umgekehrt aber nichts von deren Sorgen oder Freuden erfahre. So fühle ich mich ausgegrenzt. Vielleicht genügt ihnen ja das „gute Gefühl“ zu helfen. Und schließlich sind auch meine Dankbarkeit und die Anerkennung für ihr Gutmenschentum in ihren Kreisen eine Form der Vergütung ihrer Hilfe – doch sie wollen sich nicht mit mir auf eine Stufe stellen. Die Erwartungshaltung, auf Dauer auch etwas zurück zu bekommen, sehe ich übrigens als nichts Unmoralisches. Im Gegenteil: Das zeigt, dass ich nicht nur als hilflos und einsam wahrgenommen, sondern als ebenbürtiger Geschäftspartner akzeptiert werde. Wer von mir keine Gegenleistung erwartet, nimmt mich nicht ernst! Bei bestimmten Leuten verzichte ich deshalb auch aus Prinzip auf Hilfe. Kein Ausverkauf. Am leichtesten ist es, Alltagshilfe selbstbestimmt anzunehmen, wenn ich dafür bezahlen kann. Das aber setzt Geld voraus – jenes direkte und allgemein gebräuchlichste Mittel der Gegenleistung – das ich in dem Umfang, in dem ich Hilfe benötige, aber nicht habe. Und selbst wenn ich die entsprechenden Finanzen hätte und allein mit persönlichen Assistenten mein Leben organisieren würde, wäre ich zwar gut unterstützt, aber doch allein. Egal, ob behindert oder nicht: Niemand von uns lebt auf einer Insel und kann sich selbst versorgen, was wiederum bedeutet, dass Abhängigkeiten die Voraussetzung für zwischenmenschliche Beziehungen sind. Also das, wonach sich jeder Mensch sehnt. Warum also dieses Unabhängigkeitsstreben? Ganz einfach: Weil wir uns nur in Beziehungen wohl fühlen, in denen jeder von jedem irgendwie, irgendwann abhängig ist und gegenseitiger Respekt herrscht. Geben und Nehmen. Ich kenne Menschen, in deren Gegenwart ich mich völlig auf Augenhöhe fühle. In diesen Beziehungen ist es unerheblich, ob ich im Rollstuhl sitze oder nicht. Es wird mir das Gefühl gegeben, als Persönlichkeit wahrgenommen zu werden, mit allen Ecken und Kanten, nur eben mit der zusätzlichen Eigenschaft „Behinderung“. Ich erhalte Hilfe, nicht weil ich behindert bin, sondern weil es in einer Freundschaft normal ist. Dann freut mich auch der Satz: „Du bist für mich gar nicht (mehr) behindert.“ Ich bin akzeptiert, ohne dass meine Behinderung damit kleingeredet wird. Um allen Menschen ein solches Geben und Nehmen zu erleichtern, ist es zum einen nötig, in der Gesellschaft endlich ein ebenbürtiges, neutrales Bild behinderter Menschen zu vermitteln. JEDER Mensch hat seinen eigenen, für andere gewinnbringenden Wert. In Zeiten, in denen Beziehungen aufgrund persönlicher oder beruflicher Veränderungen allgemein schneller gelöst, aber auch geknüpft werden, gewinnen zum Beispiel zwischenmenschliche Kompetenzen an Wichtigkeit. Andererseits muss auch das Vertrauen in die eigenen Ressourcen bei Behinderten aktiv gefördert werden. Dazu sind sowohl höchstmögliche Bildung als auch ein ausreichendes Einkommen erforderlich, damit sie sich von diesem Minus auf dem sozialen Kontostand befreien und darüber hinaus das Anderssein für sich als Gewinn schätzen lernen. Das wäre ein Anfang, um dem großen Ziel – der Inklusion aller Menschen – näherzukommen. Hiltrud Walter, 45, mit ausgeprägten spastischen Herausforderungen, ist Diplom-Ökonomin und Diplom-Sozialwissenschaftlerin ohne Erwerbstätigkeit und lebt in Berlin. City-Check BERLIN. 14 15 City-Check #4 KaDeWe Wie barrierefrei ist die Hauptstadt? Der City-Check an der Spree. Text : Anke Eberhardt / Fotos: Ragnar Schmuck 1 Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin! Sehenswürdigkeiten an jeder Ecke, eine vielfältige Kulturszene und ein Mix aus Gastronomie, Shopping und Entspannung für jeden Geschmack – die deutsche Hauptstadt ist immer eine Reise wert. Doch wie sieht es mit Barrierefreiheit in der Spree-Metropole aus? Zwei gebürtige Berlinerinnen haben uns einen Tag durch ihre Stadt geführt. Nach so viel bummeln macht sich langsam unser Magen bemerkbar. Zudem darf bei einem Berlin-Ausflug natürlich auch die ShoppingPause nicht fehlen. Wir machen uns auf ins nahe gelegene KaDeWe. Das Kaufhaus des Westens ist schließlich schon seit 1907 viel mehr als ein ordinäres Geschäft. Zugegeben, die Designer-Handtaschen und sonstigen Luxusgüter sprengen unser Budget, aber das Angebot auf über 60.000 qm ist auch ohne Einkauf beeindruckend genug. Bis zu 180.000 Menschen flanieren täglich durch die Etagen und über zahlreiche Aufzüge lassen sich sämtliche Abteilungen auch im Rollstuhl problemlos erreichen. Im riesigen Lichthof geht es nach oben in die Feinschmeckerabteilung. Von Austern und Champagner über exotische Speisen und Gewürze bis hin zu feinsten Backwaren wird hier nur das Beste vom Besten angeboten. Im Wintergarten in der siebten Etage leisten wir uns ein paar kleine Köstlichkeiten mit Blick über die Innenstadt. www.kadewe.de / Foto: 1 © KaDeWe #3 Zoologischer Garten #1 Siegessäule / Tiergarten / Brandenburger Tor Annette hat den entscheidenden Tipp gleich zu Anfang parat: „Lieber morgens bei den Klassikern anfangen, damit man nicht später mit den Schulklassen um die Fotomotive kämpfen muss.“ Mit unserem Fiat Doblò biegen wir deshalb schon am frühen Morgen auf die Straße des 17. Juni ab und werden von der Siegessäule begrüßt, die seit kurzem wieder in neuem Glanz erstrahlt. Wir haben Lust, ein wenig zu schlendern und parken kurz hinter der „Goldelse“ auf dem erhöhten Mittelstreifen, der unzählige offizielle Parkplätze und Annette jede Menge Platz zum Aussteigen mit dem flotten Hecklift bietet. Nach einem Spaziergang durch den zu jeder Jahreszeit schönen Tiergarten erreichen wir das Brandenburger Tor. Ein Glück, dass Napoleon die Quadriga wieder abgenommen wurde und dass das Tor inzwischen kein Symbol mehr für das geteilte Berlin, sondern im Gegenteil, für die Einheit des Landes ist. Trotz der geballten Bedeutsamkeit hat Simone erst einmal Lust auf einen Kaffee. Während sich die ersten Straßenkünstler in Position bringen, gehen wir in Ruhe unsere Route für den Tag durch. www.berlin.de ( Tourismus Sehenswürdigkeiten. Mit vielen hilfreichen Infos.) #2 Regierungsviertel Gleich um die Ecke befinden sich weitere Wahrzeichen Berlins: Der Reichstag und das Bundeskanzleramt. Diesen mächtigen Nachbarn stattet man ebenfalls am besten morgens einen Besuch ab, bevor der große Ansturm beginnt. Wer die 800 Tonnen schwere Kuppel des Reichstags besichtigen und über zwei spiralförmig angelegte Wege bis zu einer Aussichtsplattform wandeln möchte, muss sich allerdings vorab anmelden und darf keine Angst vor langen Schlangen haben. (Alle Infos gibt es auf der Website des Bundestags oder unter Tel.: 030 / 2273 2152.) www.bundestag.de Nach all den geschichtsträchtigen Bauwerken ist es Zeit für Abwechslung. Im Doblò schlängeln wir uns durch den Stadtverkehr und Annette lotst uns zum Hardenberger Platz am berühmten Bahnhof Zoo. Hier parken wir entspannt auf einem der vorbildlich ausgeschilderten Bereiche und stehen direkt vor dem Eingang Löwentor. Sage und schreibe 17.134 Tiere in 1.554 Formen warten dahinter, denn der Zoologische Garten Berlin nennt sich nicht umsonst artenreichster Zoo der Welt. Spitzmaulnashorn, Andenflamingo oder Ringelschwanz-Felsenkänguru kann ein Besuch abgestattet werden, Pflicht ist allerdings auch das Erinnerungsfoto am Elefantentor auf der anderen Seite des Geländes. Dort befindet sich ebenfalls der Zugang zum Aquarium, das über eine Rampe problemlos zu erreichen ist. Will man ausschließlich in die Unterwasserwelt eintauchen, lassen sich die Stufen des separaten Eingangs an der Budapester Straße mit einem Aufzug überwinden. Verbesserungswürdig ist allerdings, dass hierfür erst oben an der Kasse Bescheid gegeben werden muss. Ist man also allein im Rollstuhl unterwegs, ist man auf die Aufmerksamkeit des Kassenpersonals oder andere Besucher angewiesen. Als Begleitperson erhält Simone hier ebenfalls eine Eintrittsermäßigung – was erfreulicherweise bei den meisten Berliner Sehenswürdigkeiten üblich ist – und die beiden schauen auf einen Besuch bei den Haien vorbei. www.zoo-berlin.de #5 Museumsinsel Nach Konsum ist nun Kultur an der Reihe. Auch hier ist das Angebot in der Hauptstadt riesig. Die Klassiker finden sich netterweise alle dicht beieinander auf der Museumsinsel, die zum UNESCO Weltkulturerbe zählt. Zu Recht! Malerisch in der Spree gelegen und über pittoreske Brücken zu erreichen, ließe sich allein hier ein ganzer Kurzurlaub verbringen. Annette und Simone amüsieren sich unterwegs noch über die klassischen Russenmützen eines Straßenverkäufers und haben dann die Qual der Wahl zwischen dem Neuen Museum, in dem die Büste der Nofretete wartet, der Alten Nationalgalerie, in der Malerei und Skulpturen des 19. Jahrhunderts ausgestellt werden oder dem Bodemuseum, dessen komplett saniertes Gebäude Skulpturen und Gemälde von der Antike bis zum 18. Jahrhundert beherbergt. Natürlich nicht zu vergessen der Publikumsmagnet Pergamonmuseum mit dem berühmten Pergamonaltar und das Alte Museum mit seiner Antikensammlung. „Schön, dass hier nur der jeweilige Kunstgeschmack entscheidet, was man sich als Rollstuhlfahrer ansehen möchte“, freut sich Annette. Denn fast alle Häuser sind komplett barrierefrei. www.smb.museum City-Check City-Check 16 17 Car-Check Hoch, höher, Doblò. Das City-Checkfahrzeug unter der Lupe Nachdem wir im Fiat Doblò die deutsche Hauptstadt auf Barrierefreiheit getestet haben, macht unsere CityCheckerin Annette gleich bei unserem Fahrzeug weiter. Fotos: Ragnar Schmuck #6 Berliner Dom Nur einen Steinwurf entfernt befindet sich ein weiterer Klassiker auf der Touristen-To-Do-Liste: der Berliner Dom. Kaum zu glauben, dass die Kuppel im zweiten Weltkrieg komplett zerstört wurde, so beeindruckend wie sie heute über dem Lustgarten thront. 70 Meter ist sie hoch und wird innen von aufwendigen Mosaiken geziert, von denen jedes aus über 500.000 Steinchen besteht. Ein Besuch in der größten Kirche Berlins ist aber nicht nur deshalb empfehlenswert, sondern auch wegen des vorbildlichen barrierefreien Zugangs. Denn Annette kann nicht nur zwischen zahlreichen Behindertenparkplätzen wählen und mit viel Platz aussteigen, auch die Granittreppe am Haupteingang lässt sich mit Hilfe eines Aufzuges überwinden, der Pförtner praktisch über eine Klingel samt Gegensprechanlage an der linken Seite der Hauptfront rufen. Da drückt Annette auch ein Auge zu, dass der Kuppelrundgang mit dem grandiosen Ausblick auf die Museumsinsel, die Synagoge, den Gendarmenmarkt, den Reichstag und das Rote Rathaus nur über 270 Stufen zu erreichen ist. Das Siegel „Berlin barrierefrei“ hat sich der Dom auf jeden Fall verdient – ganz im Gegensatz zum Fernsehturm, der als Negativbeispiel gleich hinter der Kuppel emporragt. Hier gibt es zwar einen Aufzug, doch aus Brandschutzgründen ist Rollstuhlfahrern der Zugang nicht gestattet. Nur gut, dass sich Annette im Umkehrschluss nicht generell nur in Erdgeschossen aufhalten darf. Da sich nach all dem Sightseeing sowieso der Hunger erneut bemerkbar macht, verzichten wir auf einen Ausflug auf den Alexanderplatz, lassen den Fernsehturm Fernsehturm sein und steuern bereits in Richtung unseres letzten Stopps. www.berlinerdom.de hochdach handgasanlage Eines sticht bei unserem Gefährt natürlich als Erstes ins Auge: das Hochdach. Was jedem Mitfahrer angenehm viel Raum im Inneren beschert, ist für Rollstuhlfahrer noch wesentlich essentieller. Denn so kann Annette entspannt im Rollstuhl sitzend ins Auto gelangen, hat schön viel Platz rundherum und durch die riesige Fensterfront einen uneingeschränkten Blick nach vorne. Glück für uns, denn so kann sie uns durch den Berliner Stadtverkehr navigieren. Komfortabel im Doblò chauffieren lassen kann man sich also allemal, da Annette aber auch einen Führerschein hat, zieht es sie auf den Fahrersitz. „Das ist die Standardausstattung“, hat uns Herr Kopitzki vom Umrüster REHA Group Automotive am Morgen noch erklärt. „Im Normalfall wird jedes Auto individuell an den Fahrer angepasst.“ Allein bei der Handgasanlage gibt es zig Varianten, aus denen sich Annette ihren Favoriten aussuchen könnte. Die standardisierten Vorrichtungen lassen sich auch direkt beim Fahrzeugkauf mitbestellen. extras #7 Wenn ansonsten Ledersitze und Wurzelholzarmaturen zu den Extras gehören, würde Annette eher auf einen Schwenksitz oder ein Rollstuhlverladesystem setzen. Hierfür, wie auch für den Multicommander am Lenkrad wäre ebenfalls Herr Kopitzki ihr Mann. „Wir suchen für jeden Kunden die passenden Komponenten aus und arbeiten mit internationalen Herstellern zusammen, um die bestmögliche Abstimmung zu garantieren. Jeder Mensch ist anders und das Auto muss perfekt zum Fahrer passen. Das ist ein intensiver Prozess und dass der TÜV und die DEKRA am Ende ihren Segen geben, dafür sorgen wir natürlich ebenso wie für die Absprache mit dem Kostenträger.“ Gegen ein Sahnehäubchen wie die Blue & Me Kommunikations- und Multimedia-Vorrichtung am Lenkrad hätte Annette jedenfalls nichts einzuwenden. Hackescher Markt Obwohl der Hackesche Markt längst kein Geheimtipp mehr ist, sondern hoch frequentierter Touristen-Favorit, darf er bei keinem Berlin-Besuch fehlen. Hier reihen sich hippe Designer-Geschäfte an Cafés, Dönerbuden an Kunstgalerien, Confiserien an Nachtclubs und ergeben eine bunte Mischung aus Kunst, Kultur, Shopping, Wohnen und Gastronomie. Besonders beliebt sind die verzweigten Hackeschen Höfe, dieser einzigartige Hinterhofkomplex, der mit seinen wunderschönen Fassaden heute noch das Flair der Gründerzeit versprüht. Dort ist zwar ebenfalls viel los, in einem bequemen Restaurantstuhl sind die vorbeiströmenden Menschen allerdings eine willkommene Unterhaltung. So zum Beispiel im ebenerdigen Café Oxymoron, gleich hinter dem Hackeschen Hof, wo sich Annette und Simone nach einem windigen Tag eine heiße Schokolade gönnen. Über einen Aufzug im Hof lässt sich mit dem Euro-Schlüssel die Behindertentoilette erreichen und am Abend lädt das ebenfalls mit einem Aufzug ausgestattete Chamäleon Theater nebenan zur „Caveman“-Comedy-Show ein oder es stehen bis in die Morgenstunden jede Menge Bars und Clubs zur Wahl. www.hackescher-markt.de, www.hackesche-hoefe.com, www.chamaeleonberlin.de Nachdem der Tag mit Annette und Simone so viel Spaß gemacht hat, kommen wir vielleicht für einen „Berlin bei Nacht“-Check wieder. Danke ihr beiden! Und jetzt, liebe Leser: Nachmachen! lift fazit Beim ersten Stopp an der Siegessäule kam der Hecklift zum Einsatz. Er ist platzsparend im Heckbereich verstaut und gewährt dem Fahrer freie Sicht nach hinten. Simone braucht dank der kinderleichten Nummerierung der Fernbedienung nicht einmal eine Einführung und Annette kann in Nullkommanichts aus- oder einsteigen und freut sich außerdem darüber, dass der Lift – im Gegensatz zu anderen, die sie bereits benutzt hat – fast geräuschlos in die gewünschte Position fährt. Bis 300 Kilo kann er heben, Leichtgewicht Annette könnte also noch jede Menge KaDeWeShoppingtüten auf dem Schoß transportieren. Der Fiat Doblò mit Hochdach bringt schon ab Werk die entscheidenden Kriterien mit, damit nicht nur ein City-Check, sondern auch tägliche Mobilität kein Problem ist. Mit einer Umrüstung durch die REHA Group wird aus jedem Auto ein Unikat, das für seinen Fahrer maßgeschneidert ist. Trotzdem bleibt es aber auch für Menschen ohne Einschränkung fahrbar, weswegen es sich Annette auch jederzeit wieder im Heckbereich bequem machen und Simone die Heimfahrt übernehmen kann. www.fiatdoblo.de, www.reha.com 18 Personality NV 19 Berufsleben Nick Vujicic „Ich bin kein Superheld, aber dafür weiß ich, dass man viel mehr aus einem harten Tag lernt als aus einem sorgenfreien.“ Nick Vujicic ist alles andere als ein klassisches Idol. Doch für viele Menschen ist sein Auftreten beeindruckender als die sonst so populäre Kombination aus Schönheit, Ruhm und Reichtum. Jeden dritten Tag tritt der Motivationsredner in einer anderen Stadt auf, begeistert, gibt Hoffnung und verändert so manches Leben. Während seines ersten Deutschlandbesuchs gewährte uns der Australier, der ohne Arme und Beine zur Welt kam, einen Einblick in die Geschichte, die hinter seinen einundneunzig Zentimetern geballter Lebensfreude steckt. Text: Hanna Marlene Dittmer / Fotos: Brunnenverlag Sitzt man Nick Vujicic gegenüber, kann man sich kaum vorstellen, wie sehr der heute 28-Jährige früher mit seinem Aussehen zu kämpfen hatte. „Lass dich drücken“ lautet seine Begrüßung. Denn Nick schüttelt keine Hände, er lässt sich lieber umarmen. Und das kann er richtig gut. So gut, dass man meint, seine Arme auf dem eigenen Rücken zu spüren. Und er strahlt Selbstvertrauen aus. Selbstvertrauen gepaart mit einer großen Portion innerer Ruhe. Dann erzählt er. Von seiner Kindheit in Australien und von den schweren Depressionen, mit denen er in seiner Jugend zu kämpfen hatte und die ihn bis zu einem Selbstmordversuch trieben. Immer als „anders“ zu gelten und auch so behandelt zu werden, machte ihm schwer zu schaffen. „Ich wollte endlich keine Last mehr für meine Familie sein und hatte die Hänseleien in der Schule satt.“ Doch mit Hilfe seiner Eltern war er bald selbständiger als viele Gleichaltrige. Gemeinsam entwickelten sie Tricks, mit denen er sich im Alltag beinahe völlig alleine bewegen konnte. „Zum Beispiel hatte ich, um meine Haare selbst waschen zu können, eine Art Fuß-Pumpe, aus der ich das Shampoo direkt an die Duschwand beförderte. Wenn ich dann meinen Kopf an der Wand rieb, wurde das Shampoo einmassiert.“ Mit zunehmender Selbständigkeit schwanden seine Ängste. Stück für Stück rückten seine Begabungen in den Vordergrund und ließen die Dinge, die er nicht so gut konnte, unwichtiger werden. „Ich habe ein paar Schuhe in meinem Schrank stehen – denn man kann ja nie wissen.“ So lernte er schon im Alter von zwei Jahren schwimmen, entdeckte seine Fähigkeit außergewöhnlich lange die Luft anhalten zu können und war ab diesem Zeitpunkt kaum mehr aus dem Pool heraus zu bekommen. Wie man ohne Arme und Beine schwimmen kann? Das haben wir uns auch gefragt. Aber Nick kann ziemlich viel, was man ihm aufgrund seines Aussehens nicht zutrauen würde. Sein „little chicken drum stick“, wie er seinen kleinen linken Fuß selbstironisch nennt, ist ihm dabei ein unersetzbares Werkzeug. „Beim Schwimmen nutze ich ihn wie einen Propeller, der mich über Wasser hält. Aber vor allem beim Schreiben auf der Tastatur, beim Telefonieren und natürlich bei der Bedienung meines Elektrorollstuhls ist er mir eine große Hilfe“, erklärt Nick. In seinem gerade in Deutschland erschienenen Buch „Leben ohne Limits“ erzählt er, dass der witzige Name von seiner Schwester Michelle stammt. Denn als sie noch klein waren, hatte ihr Hund immer versucht, an Nicks linkem Füßchen zu knabbern und die einzige für Michelle logische Erklärung dafür war, dass er ihn wohl mit einer Hähnchenkeule verwechseln musste. Von diesen Anekdoten hat Nick eine Menge auf Lager und er freut sich, wenn er die Kleinen und Großen in seinem Publikum damit zum Lachen bringen und zum Nachdenken anregen kann. Über 37 Länder von Ägypten über Serbien bis nach China hat er schon besucht und es ist vor allem Inspiration und Kraft, was Nick den Kindern, Häftlingen und Gläubigen in den Gesprächen gibt – und selbst schöpft. Er erinnert sich noch ganz genau an den Moment, als während seines ersten großen Auftritts ein junges Mädchen mit Tränen in den Augen zu ihm auf die Bühne kam: „Als sie mich umarmte und mir sagte, dass ich mit meinen Worten ihr Leben verändert hätte, wusste ich, dass ich meine Bestimmung gefunden hatte. Wenn es mir gelingt, mit meiner Geschichte auch nur ein fremdes Leben zu berühren, so ist das ein Wunder und mein Leben bereits lebenswert.“ Dass er solche Aussagen im Verlauf der Jahre immer mehr mit einer religiösen Bedeutung versieht und sich seine Wahlheimat Amerika auch auf die Tonalität seiner Vorträge niederschlägt, sagt manchen Menschen mehr, anderen weniger zu. Doch egal, ob man nun selbst gläubig ist oder nicht, amerikanisches Pathos schätzt oder eben nicht – es gibt kaum jemanden, der nicht von Nicks Auftreten beeindruckt ist. Schließlich hat er auch abseits des Rednerpults Erstaunliches erreicht. Obwohl es zunächst schwer vorstellbar ist, zählen Surfen (unter anderem mit Bethany Hamilton, siehe Seite 10), Golfen, Angeln und Fußballspielen heute ebenso zu Nicks großen Leidenschaften wie seit kurzem die Schauspielerei. Für seine Darstellung des „Will“ im Kurzfilm „Butterfly Circus“ wurde er beim Method Film Festival 2010 sogar mit einem Award als „Bester Schauspieler“ ausgezeichnet. Lässt man sich all das von ihm erzählen, kommen einem tatsächlich Bilder von Superhelden in den Sinn. Von solchen, die ohne Flügel fliegen können, oder mit ihren Gedanken das Böse ausschalten. Aber Gott sei Dank hat auch Nick eine menschliche Seite: „Natürlich habe ich auch schlechte Tage – ich bin kein Superheld. Aber dafür weiß ich, dass man viel mehr aus einem harten Tag lernt als aus einem sorgenfreien.“ Und er gibt zu, dass er überhaupt nicht mit Menschen zurechtkommt, die mit seinem Tempo nicht mithalten können. „Ich bewege mich immer sehr schnell und wenn jemand langsam neben mir herläuft, kann mich das zur Weißglut bringen. Ich kann schrecklich ungeduldig sein.“ Allein im letzten Jahr hat Nick 120 Mal ein Flugzeug bestiegen, um jeden dritten Tag vor einem anderen Publikum seine Geschichte zu erzählen. Aber jetzt möchte er gerne einen Gang zurückschalten, vielleicht an seiner Filmkarriere arbeiten oder mal wieder auf ein Surfbrett steigen. Und ganz wichtig: die Hoffnung nie aufgeben. „Als ich jünger war, habe ich immer davon geträumt, eines Tages ein eigenes Auto fahren zu können. Mit dem Kapitel habe ich zwar vorerst abgeschlossen, aber wer weiß, vielleicht wird doch irgendwann ein Auto gebaut, das ich mit einem Joystick mit meinem Füßchen bedienen kann. Die Hoffnung gebe ich nicht auf. Genauso wie ich ein paar Schuhe in meinem Schrank stehen habe – denn man kann ja nie wissen.“ Blickfang 20 Mehr über dieses ungewöhnliche Model gibt es auf Seite 30. Berufsleben 22 23 „Seht eure Vorteile, nicht eure Nachteile!“ Warum Behinderung im Beruf kein Manko sein muss. Text: Anke Eberhardt / Fotos: Hansi Herbig Simon, du hattest im Alter von 17 Jahren einen Moped-Unfall und dein linkes Bein musste amputiert werden. Gab es berufliche Pläne, die du deswegen verwerfen musstest? Nein. Ich wollte schon immer Maschinenbau studieren und das hab ich dann auch gemacht. Aber hättest du auch ohne deinen Unfall angefangen im Bereich Prothetik zu arbeiten? Nein, wahrscheinlich nicht. Vorher war für mich eher die Autoindustrie interessant. Aber dann dachte ich: Eigentlich wäre ich doch der perfekte Ingenieur für die Branche, da ich die Produkte ja selber testen kann. Im Grunde genommen hast du deinen Kollegen gegenüber also sogar einen Vorteil durch deine Behinderung. [Lacht] Ja, denn es ist gar nicht so einfach, gute Testpersonen zu finden, die Zeit haben, um uns wichtiges Feedback zu geben. Da ist es natürlich praktisch, wenn ich ganz unbürokratisch selbst eine Prothese ausprobieren kann. Was ist deine Aufgabe bei Streifeneder? Ich bin in der Produktentwicklung und im Produktmanagement, zum Beispiel für CPI-Füße, die wir aus den USA zukaufen. Dort habe ich letztes Jahr auch meine Diplomarbeit geschrieben. Erschwerend hinzu kommt, dass Personaler eventuell befürchten, ein körperlich eingeschränkter Mensch könnte nicht genauso leistungsfähig sein wie seine gesunden Kollegen. Man darf natürlich nicht verallgemeinern. Zuallererst kommt es natürlich auf die Schwere der Einschränkung und die spezifischen Anforderungen für den Job an. Dann gibt es aber leider Leute, die ihre Behinderung als Vorwand nutzen, wenn sie etwas nicht machen wollen. Oder solche, die überehrgeizig sind und meinen, jetzt erst recht 150 Prozent geben zu müssen. Grundsätzlich fordern wir Behinderten ja immer, ganz normal behandelt zu werden. Und dazu gehört nun mal auch, dass man einen Job nicht bekommt, wenn man nicht für ihn geeignet ist. Du warst als Sportschütze und alpiner Skifahrer bei den Paralympics. Bist du also generell sehr ehrgeizig? Wie zeigt sich das im Job? Ich habe zwar keine „Jetzt-erst-recht-Perspektive“, aber ich bin schon sehr zielgerichtet. Ich glaube, wenn man einmal die Erfahrung gemacht hat, dass man sich etwas vorgenommen und auch erreicht hat, dann nimmt man immer wieder neue Herausforderungen an. Das habe ich durch den Behindertensport gelernt und dadurch Selbstvertrauen aufgebaut. Dass man mit seiner Behinderung zurechtkommt, ist dann irgendwann selbstverständlich. Darüber mache ich mir heute überhaupt keine Gedanken mehr und meine Ziele stecke ich mir völlig unabhängig davon. Simon Voit ist 28 Jahre alt und seine zwei Wohnorte „München und Chiemsee“ hört man ihm an. Jeder Süddeutsche fühlt sich bei seinem sympathischen Lokalkolorit sofort sprachlich zu Hause. Emmering vor den Toren Münchens ist ebenso bayerisch und Standort der Firma Streifeneder – einem der führenden Unternehmen im Bereich Prothetik in Deutschland, Simons Arbeitgeber und gleichzeitig Hersteller seiner eigenen Prothese. Ist das nun eine Notlösung oder im Gegenteil eine „Win-Win-Situation“? Wie viele Menschen mit körperlichen Einschränkungen arbeiten sonst noch in deinem Büro? In der Abteilung Technik und Entwicklung keiner, im Unternehmen sind es insgesamt 22 bei fast 500 Mitarbeitern. Von einer Firma, die selbst in diesem Bereich tätig ist, erwartet man eigentlich eine höhere Behinderten-Quote. Das liegt aber nicht am Unternehmen, sondern an den Bewerbern. In unserem Fall existieren die Leute einfach nicht. Es wundert mich total, dass sich nicht mehr Menschen, die selbst betroffen sind, für den Bereich interessieren. Bei mir an der Uni waren insgesamt maximal fünf Leute, die eine Behinderung hatten, im Maschinenbau war ich allein. Das ist leider an fast jeder Hochschule so. Was meinst du, woran das liegt? Egal, ob im schulischen System oder im Beruf, eine körperliche Behinderung wird immer noch als Manko angesehen – aber das ist sie eigentlich nicht, denn sie schränkt einen nicht im Denken ein. Das ist auch ein gesellschaftliches Problem, das schon damit anfängt, dass körperlich behinderte Kinder zum Teil auf Förderschulen geschickt werden. Dadurch wird ihnen der Weg aufs Gymnasium oder die Uni verwehrt. Und dann müssen es sich die Menschen natürlich auch selbst zutrauen, was noch viel schwerer ist, wenn man nicht von Anfang an unterstützt, sondern eher aufs Abstellgleis geschoben wird. Das ist ein Teufelskreis! Berufsleben „Am Ende kommt einem die Behinderung vielleicht auch wieder zugute.“ SV Und früher? Ich habe schnell gemerkt, dass ich mich nicht auf meiner Behinderung ausruhen kann. Nach den Paralympics in Turin war es ziemlich schwer für mich, wieder ins Studium zu finden und ich musste ganz normal die verpassten Prüfungen nachholen. Am Anfang war ich davon ausgegangen, dass mich die FH für die Paralympics in jeglicher Hinsicht unterstützen würde. Mit zwei Fristverlängerungen hat das auch gut funktioniert, alles Weitere war denen aber ziemlich egal und mir wurde klar, dass ich mich genau wie alle anderen auf meinen Allerwertesten setzen muss – und eben noch mehr, wenn ich nebenbei Leistungssport machen will. Am Ende habe ich das Vordiplom nur mit Ach und Krach geschafft [lacht]. Aber ich habe nicht aufgegeben und das zahlt sich jetzt aus. Ich hatte natürlich auch Glück, dass Streifeneder die Vorteile erkannt hat, jemanden wie mich im Boot zu haben. Mein beruflicher Plan ist also aufgegangen und dadurch habe ich auch wieder Selbstvertrauen gewonnen. Früher war ich total unsicher, wenn ich einem Professor gegenübergesessen bin, mittlerweile habe ich zu internationalen Lehrstühlen Kontakt, reise viel und gehe auf Kongresse. Das hätte ich mir damals nicht träumen lassen! Was würdest du jungen Behinderten mitgeben, die ins Berufsleben einsteigen wollen? Dass man durch seine Behinderung nicht eingeschränkt wird, wenn man es nicht zulässt und dass man seine Ziele verfolgen soll, so wie jeder andere auch. Und je optimistischer man etwas angeht, desto besser. Am Ende kommt einem die Behinderung vielleicht auch wieder zugute. Denn wenn man in seinem Job gut ist, macht das mitunter doppelt Eindruck. Das hört sich zwar blöd an, aber man muss seine Einschränkung in manchen Dingen auch ausnutzen können, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben. Ich parke sehr gerne auf dem Behindertenparkplatz, anstatt stundenlang nach einem normalen zu suchen und vielleicht hätte ich meinen Job mit zwei Beinen heute nicht. Also seht eure Vorteile, nicht eure Nachteile! Gibt es etwas in deinem Job, worauf du besonders stolz bist? Nun ja, so lange bin ich ja noch nicht dabei. Aber um ein bisschen zu fachsimpeln: Ich habe zum Beispiel basierend auf neuen Berechnungsmethoden die Gelenkkette des 3A2000 Kniegelenks angepasst. Das heißt ganz einfach, dass das Gelenk in der Standphase jetzt sicherer ist. Am tollsten finde ich, an innovativen Produkten mitzuarbeiten, die es so noch nicht gibt. Wir haben natürlich einige Ideen, die im Moment in der Entwicklung stecken, aber darüber kann ich nicht sprechen. [Grinst] Gesellschaft 24 25 USA, Land der unbegrenzten (Zugangs-) Moglichkeiten Auch für Rollstuhlfahrer? In Kalifornien kann barrierefreier Zugang bei Geschäften eingeklagt werden. Dass die verhängten Geldstrafen dem Kläger zugesprochen werden, hat nicht nur positive Effekte. Text: Alex MacInnis / Fotos: Alex MacInnis Von einer belebten Straße in Los Angeles biegt ein blauer Minivan in die Einfahrt eines Möbelgeschäfts und hält auf dem einzigen Behindertenparkplatz. Langsam klappt sich eine Laderampe an der Seite des Vans aus und streckt sich in einen mit diagonalen Linien markierten Bereich auf dem Asphalt, der davon abhalten soll hier zu parken. Vollständig ausgefahren reicht die Rampe allerdings weit über den Parkplatz hinaus. Wollte der Fahrer, Tom Mundy, hier wirklich herunterrollen, würde er direkt in ein paar Büschen landen, denn die gestreifte Fläche ist nur anderthalb Meter breit. Gesetzlich vorgeschrieben sind hingegen knapp zweieinhalb Meter. „Ich bin in meinem Auto gefangen“, sagt er, in seinem Rollstuhl oben an der Rampe sitzend. „Ich kann nicht raus.“ Es gibt eine Vorgeschichte zu Tom Mundy und diesem Parkplatz. Das erste Mal fuhr er hierher, um einen Esstisch zu kaufen. Aber nachdem er nicht aus seinem Van aussteigen konnte, verklagte er den Besitzer des Geschäfts. Die nationale Gesetzgebung für die Rechte behinderter Menschen, der „Americans with Disabilities Act“ (ADA), erlaubt es Einzelpersonen in ganz Amerika, Geschäfte auf barrierefreien Zugang zu verklagen. Allerdings ist Kalifornien einer der wenigen Staaten, in denen auch Geldbußen gezahlt werden müssen – und zwar Tausende von Dollars, direkt an den Kläger. Und so verdient Tom Mundy, ebenso wie eine Handvoll weiterer Menschen, seinen Lebensunterhalt. Allein in seiner Nachbarschaft kann Mundy ein halbes Dutzend Parkplätze aufzählen, deren Besitzer er wegen nicht vorhandener oder nicht vorschriftsmäßiger Barrierefreiheit verklagt hat. Er schätzt, seit seinem Umzug nach Kalifornien vor drei Jahren, über fünfhundert Verfahren eingeleitet zu haben. Wie viel er dabei verdient hat, will er nicht sagen, aber ein Anwalt, der Geschäftsbesitzer in einigen dieser Fälle beraten hat, schätzt, dass Mundy inzwischen rund eine halbe Million Dollar durch solche Klagen verdient hat. „Viele Menschen denken nur ans Geld, aber es geht nicht immer nur darum“, entgegnet Mundy. „Es geht um die Einhaltung der Gesetze. Das hätte alles schon erledigt sein müssen, bevor ich kam.“ Mundy sitzt seit einem Motorradunfall 1988 im Rollstuhl. Nach Inkrafttreten des ADA 1990 überprüfte er für eine Firma Gebäude auf ihre Übereinstimmung mit den Vorschriften zur Barrierefreiheit. In einem Fall lagen die betreffenden Büros im zweiten Stock, nur erreichbar über eine Treppe. Also arbeitete Mundy allein in einer Abstellkammer im Erdgeschoss. Die Toiletten befanden sich allerdings ebenfalls im zweiten Stock. Um entsprechenden Bedürfnissen nachzugehen, musste er daher das Gebäude verlassen, in seinen Van steigen und zur nächsten Tankstelle fahren. Vom Bedarf überzeugt, versuchte er, seine eigene Beratungsfirma zu gründen und Unternehmen dabei zu helfen, die gesetzlichen Auflagen zu erfüllen. Doch die waren nicht interessiert. So beschloss Mundy fünfzehn Jahre nach Verabschiedung des ADA, immer noch ständig mit dessen Nichteinhaltung und entsprechenden Hindernissen in seinem Alltag konfrontiert, die Samthandschuhe auszuziehen. Und zwar mit Hilfe eines Anwalts: Morse Mehrban. Mehrban hat schon mehrere tausend Prozesse in Sachen Behindertenrecht geführt. Auf seiner Website heißt es: „Sie sind Rollstuhlfahrer in Kalifornien? Sie kaufen in einem Baumarkt ein und müssen die Toilette benutzen, aber es gibt keine Haltegriffe? Sie könnten 4.000 Dollar zugesprochen bekommen. Sie sind in einem Restaurant und möchten sich frisch machen, doch der Spiegel auf der Toilette ist zu hoch für sie angebracht? Sie könnten 4.000 Dollar zugesprochen bekommen.“ Mehrban betont, dass das Gesetz auf Geldanreize angewiesen ist. „Schon im Wilden Westen gab es monetäre Aufwandsentschädigungen, wenn jemand einen Verbrecher gestellt und ihn der Justiz übergeben hat“, argumentiert er. Der Vergleich ist treffend gewählt, zumal keine staatliche Stelle existiert, die die Einhaltung der amerikanischen Behindertengesetze überwacht und Vergehen bestraft. Nicht die Bundesbehörden, nicht die Staaten – niemand. Die einzigen Kontrollen werden tatsächlich von Einzelpersonen durchgeführt, die selbst körperlich eingeschränkt sind und das Risiko und die Kosten eines Prozesses in Kauf nehmen. Die Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften ist in den meisten Staaten daher bestenfalls sporadisch festzustellen. Aber Anwälte wie Mehrban und eine Handvoll seiner Kollegen, die sich ebenfalls auf diese Problematik spezialisiert haben, konnten dazu beitragen, dass Kalifornien inzwischen zu den barrierefreiesten Staaten der USA zählt. Und zu jenen, in denen am meisten geklagt wird. Juristen schätzen, dass allein im Golden State bisher über 14.000 ADA-bezogene Klagen eingereicht wurden. Berufsleben 26 Kim Blackseth betreibt eine Beratungsfirma, die Unternehmen dabei hilft, die komplexen Richtlinien für behindertengerechten Zugang einzuhalten. Die Gesetze sind extrem detailliert und technisch – und manchmal widersprechen sich nationale und staatenspezifische Vorschriften sogar. So schreibt ein Gesetzbuch vor, dass eine Gehwegrampe für Rollstuhlfahrer stufenlos enden muss, während ein anderes eine Kante von sechs Millimetern fordert, um es Blinden zu erleichtern, ihren Stock zu benutzen. Außerdem schwanken je nach Größe des Unternehmens die Anforderungen. Auch ein kleiner Familienbetrieb muss kostengünstige Anpassungen vornehmen, was ein Grund dafür ist, warum viele der Klagen minimale „formale“ Gesetzesübertretungen monieren. „Es gibt kein einziges Gebäude in ganz Kalifornien, in dem ich nicht mindestens eine formale Hürde finden kann“, so Blackseth. „Es ist keine Herausforderung, runter auf die Straße zu gehen und de facto strafbare Zustände ausfindig zu machen. Und wenn das jemandes Ziel ist, kann er jeden Tag aufs Neue prozessieren gehen. Die Frage ist nur: Wann ist es wirklich wichtig?“ Blackseth, der nach einem Unfall 1979 selbst im Rollstuhl sitzt, hält den Umstand, dass Kalifornien so vorbildlich barrierefrei ist, ebenfalls für ein Verdienst der Klagen. Er ist allerdings auch davon überzeugt, dass deren Ausmaß inzwischen dazu geführt hat, Geschäftsinhaber gegenüber behinderten Menschen misstrauisch zu machen. „Wenn ich in ein Restaurant komme oder ein Hotelzimmer mieten will, merke ich die Anspannung der Leute. Man kann ihnen ihre Sorge quasi von der Stirn ablesen: ‚Wird mich der Kerl verklagen?’ Kunden, die zum Beispiel ein Motel besitzen, geben zu, dass sie barrierefreie Zimmer oft nicht vermieten. Das Risiko, dass irgendetwas nicht stimmt und sie verklagt werden, ist es im Vergleich zur Einnahme einer Übernachtung einfach nicht wert. Dann ist das Hotel plötzlich ausgebucht.“ 27 Doch der Staat lässt ihr wenig andere Möglichkeiten. Nachdem es keine Überwachungsinstanzen gibt, die die Einhaltung der Gesetze kontrollieren, werden Einzelpersonen dazu gezwungen, ihre Rechte selbst einzufordern. Sie müssen für sich selbst entscheiden, was sie bereit sind in Kauf zu nehmen, für was es sich zu kämpfen lohnt und wann – wenn überhaupt jemals – es sich auszahlt, einfach nett zu fragen. Reisen Auf und davon Margaret Johnson ist Anwältin und steht Kaliforniens größter Interessensgruppe vor, die sich für die Rechte von Behinderten einsetzt. Sie war an einigen der größten Sammelklagen in dieser Causa beteiligt. Als jemand, der aber auch selbst den größten Teil seines Lebens im Rollstuhl verbracht hat, weiß sie aus eigener Erfahrung, dass für viele Menschen nicht monetäre, sondern soziale und emotionale Aspekte im Vordergrund stehen, wenn geklagt wird. Vor einem Jahr übermalte ihr Friseur gesetzeswidrig die Markierungen auf seinem Parkplatz, die es ihr bisher ermöglicht hatten, die Rampe für ihren Rollstuhl auszufahren. „Ich habe das meiner Friseurin gesagt und sie meinte, sie würde die Besitzer darauf hinweisen“, erzählt Johnson. Doch selbst nach mehreren Besuchen und weiteren Diskussionen blieb alles unverändert. „Da ist also ein Geschäft, das sogar barrierefreien Zugang hatte, ihn beseitigt hat, ohne zu wissen warum und noch nicht mal Interesse daran zeigt, ihn wieder herzustellen“, fasst Johnson resigniert zusammen. „Ich mag meinen Friseur so sehr, dass ich mich damit abgefunden habe. Ich habe keinen Brief geschrieben, ich habe keine Klage eingereicht. Aber solche Umstände können einen in die Lage eines zickigen, nervigen, fordernden, behinderten Menschen drängen, den niemand leiden kann und mit dem sich niemand herumschlagen will. Deswegen sind die Strafzahlungen manchmal eher eine Art emotionale Entschädigung. Ich meine: Warum kann ich nicht einfach sagen ‚Hier gibt es ein Problem, bitte beheben Sie es’, und es wird erledigt? Warum muss ich bis zu dem Punkt getrieben werden, an dem ich mich genötigt fühle zu klagen?“ Drei der schönsten barrierefreien Ausflugsziele in Deutschland Foto: Merle Levy Gesellschaft Safari mal anders Tagebau in der Lausitz Statt der Savanne gibt es hier aktiven Tagebau zu erkunden, statt Großwild gigantische Maschinen zu bestaunen. Drei bis vier Stunden dauern die barrierefreien Jeeptouren (Kostenpunkt: 49,- Euro) durch eine Landschaft, die stark an die Sahara erinnert, aber mitten in Deutschland, genauer in der Niederlausitz in Brandenburg liegt. Definitiv ein ungewöhnliches Ausflugsziel, denn wer kann schon behaupten, einmal live dabei gewesen zu sein, wenn pro Sekunde eine Tonne Kohle zu Tage gefördert wird? Und auch die umliegende Seenlandschaft und der nahe Spreewald sind einen Besuch wert! Das barrierefreie Besucherzentrum ist von November bis März jeweils Montag bis Freitag von 10 bis 16 Uhr geöffnet, von April bis Oktober täglich von 10 bis 18 Uhr. Tel. 035751 275050. Geführte Touren und weitere Informationen finden sich auf www.bergbautourismus.de. Auf www.niederlausitz.de gibt es einen eigenen „Barrierefrei“-Button für weitere Tipps. 1 daheim beim Märchenkönig Schloss Neuschwanstein Natur im Überfluss Naturpark Hohes Venn-Eifel Mitten im Deutsch-Belgischen Naturpark Hohes Venn-Eifel liegt ein Nationalpark, der größer als das Saarland ist und seit Mai dieses Jahres einen barrierefreien Natur-Erlebnisraum beherbergt. Fein geschotterte Wege (insgesamt 4,7 Kilometer) erschließen den Bergrücken des Wilden Kermeter im Herzen des Parks und führen die Besucher zu beliebten Aussichtspunkten und an zahlreichen Rastmöglichkeiten vorbei. Auch alle anderen Einrichtungen wie Parkplatz, Bushaltestelle und Sanitäranlagen sind barrierefrei. Wer nicht auf eigene Faust losziehen möchte, kann den Park bei einer Führung bequem vom Planwagen aus kennenlernen, denn eine Rampe steht zur Verfügung. Ganzjährig, täglich und ohne Öffnungszeiten zugänglich, Eintritt frei. Die Planwagen-Rundfahrt wird von April bis Oktober jeden 1. und 3. Sonntag jeweils um 11.30 und 14.15 Uhr für 9,- Euro angeboten, keine Voranmeldung nötig. Tel. 02444 951071, www.nationalpark-eifel.de und www.eifel-barrierefrei.de 2 3 Als Ludwig II. 1869 den Grundstein für Schloss Neuschwanstein legte, ahnte er nicht, dass 150 Jahre später jährlich rund 1,3 Millionen Besucher sein Zuhause betreten würden. Normalerweise müssen während der 35-minütigen Führung 346 Stufen erklommen werden, doch für Rollstuhlfahrer gibt es einen ganz besonderen Service: einen Aufzug vom Erdgeschoss bis hinauf in den 3. Stock, in die ehemalige königliche Privatwohnung. So stehen jedem die prunkvollen Gemächer des Märchenschlosses offen. Etwa der Thronsaal und seine riesigen goldenen Kronleuchter, die künstliche Tropfsteinhöhle mit Wasserfall oder das Schlafzimmer, an dessen detaillierten Holzverzierungen vierzehn Schnitzer vier Jahre lang gearbeitet haben. Wer in diese Traumwelt eintauchen möchte, sollte sich vorher im Ticket-Center Hohenschwangau (Tel. 08362 930830, www.hohenschwangau. de) anmelden. Von dort aus fahren dann am Ausflugstag Kutschen hinauf zum Schloss und der zusammengeklappte Rollstuhl kann mit an Bord. Bis zum barrierefreien Haupteingang sind es auf geteerter Straße noch etwa 500 Meter bei 10% Steigung. Ab hier steht ein Angestellter der Schlossverwaltung als Begleitung für die Dauer der gesamten Führung zur Verfügung. Täglich geöffnet, von April bis September von 9 bis 18 Uhr, von Oktober bis März von 10 bis 16 Uhr, Eintritt: 12,- Euro. www.neuschwanstein.de 4 Fotos: 1 © Oliver Bothe, 2 © Mützenich 2010, 3 © Naturpark Nordeifel e.V., 4 © Bayerische Schlösserverwaltung Personality 28 29 Berufsleben „Marienhof“, Klappe die 2956te. Und was kommt jetzt, Herr Aljukic? Dreizehn Jahre lang spielte Erwin Aljukic den Frederik Neuhaus in der ARD-Vorabendserie „Marienhof“. Anfang dieses Jahres wurde die Sendung nach über 4000 Folgen abgesetzt. Wir haben ihn auf einen Kaffee getroffen, um zu erfahren, wie das Leben als einer der bekanntesten deutschen Schauspieler im Rollstuhl so ist, welche Rolle die Medien seiner Meinung nach für den Umgang mit dem Thema Behinderung spielen und vor allem, wie es nun für ihn weitergeht nach 2956 Folgen „Marienhof“. Text: Hanna Marlene Dittmer / Foto: Manuel Liemann Erwin, du warst jahrelang im Fernsehen. Wie hat sich dein persönlicher Umgang mit den Medien im Laufe der Zeit verändert? Wie hat sich dein Leben verändert, seitdem du nicht mehr für „Marienhof“ vor der Kamera stehst? In Sachen PR-Arbeit habe ich mich am Anfang, als ich noch keinerlei Erfahrung hatte, auf Dinge eingelassen, die ich heute nie mehr machen würde. Zum Beispiel war ich bei der Talkshow „Hans Meiser“ eingeladen. Das Thema war: „Schaut mich nicht so an, nur weil ich anders aussehe“. Das war wirklich furchtbar, so ein... mir fehlen die Worte – ja, ein Skurrilitäten-Kabinett. Ich hatte mich zusammen mit meiner Presse-Dame natürlich vorher abgesichert, dass das Thema in unserem Sinne behandelt wird und dann sitze ich da, rechts neben mir ein Kind mit Progeria, also der Krankheit des schnellen Alterns, und links neben mir ein Mann mit nur einem halben Gesicht. Das war genau das, was ich nicht wollte, denn das war im Grunde nicht anders als die Präsentation von ‚Aussätzigen’ auf den Jahrmärkten vor hunderten von Jahren. Es fühlt sich so an, als wären mir Ketten abgenommen worden. Ich kann es gar nicht richtig beschreiben. Zum ersten Mal in meinem Leben kann ich tun und lassen was ich will. Zurückblickend weiß ich, dass mein Denken all die Jahre sehr begrenzt war. Ich hatte einfach zu oft das Gefühl, immer wieder zurechtgestutzt zu werden, an Grenzen zu stoßen und das hat mich zurückgeworfen. Heute bin ich dagegen voller Energie und liebe das Gefühl, mal wirklich nur das zu machen, was mir Spaß macht. Im Moment arbeite ich zum Beispiel an meinem ersten eigenen Theaterstück, das voraussichtlich im Oktober aufgeführt wird. Das wäre gar nicht möglich gewesen, wäre ich immer noch bei „Marienhof“. In das Stück stecke ich einfach alles von mir rein und ich kann all die Ideen einbringen, die mir wichtig sind. Wie habe ich neulich zu jemandem gesagt: ‚Ich flirte gerade mit dem Leben.’ [Lacht] Alles was schön ist, nehme ich mit. In mir reift zum Beispiel auch der Wunsch heran, mich tänzerisch auszudrücken. Sobald das Theaterprojekt abgeschlossen ist und ich mehr Zeit habe, könnte ich mir vorstellen, zu einer ganz tollen Tanzkompanie nach London zu gehen, in der Behinderte und Nicht-Behinderte zusammen tanzen und international auf Tour gehen. Wie hast du den Umgang mit deiner Behinderung am Set vom „Marienhof“ wahrgenommen? Eigentlich genauso wie überall sonst. Am Anfang war schon eine gewisse Unsicherheit unter den Kollegen und dem Team vorhanden, aber das hat sich schnell gelegt. Eher ich selbst bin viel zu lange falsch mit meiner Behinderung umgegangen, habe versucht, mich von diesem Teil von mir zu emanzipieren und somit auch die Rolle des Frederik von seiner Behinderung abzukoppeln. Doch dann war ich im letzten Jahr auf einem „Mental Coaching“-Seminar in der Schweiz. Das klingt jetzt erst mal sehr spirituell, aber seitdem haben sich mein Leben und mein Denken wirklich komplett verändert. Erst dort ist mir klar geworden, wie viele Menschen ständig gegen etwas ankämpfen, anstatt die Dinge zuzulassen. Das ganze Leben rennt man einem Bild von sich hinterher. Im Beruf und im Privatleben denkt man immer, dies und jenes erreichen zu müssen, anstatt in sich rein zu horchen und auf seine innere Stimme und sein Bauchgefühl zu hören: ‚Was brauche ich? Wer bin ich?’ Erst durch diese ‚Bewusstseinswerdung’ – was für ein hochtrabendes Wort [lacht] – habe ich verstanden: Genau das macht die Rolle doch für die Zuschauer aus. Sie finden es gerade interessant zu sehen, wie Frederik mit seiner Behinderung ein ganz normales Leben führt. Da wäre es ja komplett unnatürlich, die Behinderung von der Rolle zu trennen. „Ich flirte gerade mit dem Leben.“ Hast du einen Tipp für Menschen mit körperlicher Einschränkung, die den Wunsch haben, Schauspieler zu werden? Ein paar Jahre nachdem ich bei „Marienhof“ angefangen habe, wurde an der Akademie für darstellende Kunst in Ulm der erste Schauspiel-Studiengang Deutschlands entwickelt, der integrativ arbeitet – also Schauspieler, Regisseure und Drehbuchautoren mit Behinderung ausbildet. Diesen Studiengang würde ich jedem ans Herz legen, denn die Arbeit, die dort geleistet wird, ist wirklich großartig. Und es ist immer noch der einzige Studiengang dieser integrativen Art in ganz Deutschland. Integration ist ein gutes Stichwort. Bist du der Meinung, dass in Sachen Ausbildung und Berufsleben in Deutschland noch integrativer gearbeitet werden müsste? Nicht mal unbedingt integrativer, aber ich finde, es muss einfach jeder die Chance bekommen, das zu machen, was er gerne möchte. So war es bei mir und der AMD [Akademie Mode und Design München, Anm. d. Red.]. Ich war damals beim Tag der offenen Tür des Studiengangs „Modejournalismus“, der – ebenso wie die Kurse – in einer alten Villa mit Hochparterre stattfindet. Das waren eigentlich die ungünstigsten Voraussetzungen für mich, aber ich habe mir das angehört und wusste sofort: Genau das ist es, was ich studieren möchte. Im nächsten Augenblick kam allerdings sofort der Gedanke: Wie soll ich drei Jahre lang morgens und nachmittags diese Treppen hoch und runter kommen? Doch die Studienleitung meinte nur: ‚Erwin, schreib dich ein, wenn du es wirklich willst und dann schaffen wir auch das mit den Stufen. Sonst improvisieren wir einfach.’ Spätestens seitdem bin ich der Meinung, dass Leute manchmal genau zum richtigen Zeitpunkt in dein Leben treten, um dir etwas zu ermöglichen, was du dir nie erträumt hättest. Der Einbau eines Treppenlifts in das denkmalgeschützte Gebäude war dann so ein Heckmeck, dass dem Antrag erst an dem Tag, als ich meine Diplomarbeit angefangen habe, also drei Jahre später, stattgegeben wurde. Ist doch unglaublich oder [lacht]? Aber ich hatte ja meine Mädels, die mich morgens und nachmittags auf ihren Stöckelschuhen die Treppen rauf und runter getragen haben [lacht weiter]. EA Wie du weißt, geht es in diesem Magazin auch viel um Mobilität. Was bedeutet dir deine eigene Mobilität? Ich glaube, dass gerade hinsichtlich dieses Themas immer noch viel zu wenig getan wird. Zum Beispiel ist es immer noch viel zu umständlich, ein Auto zu bekommen, wenn man im Rollstuhl sitzt. Auch für mich war das ein richtiger Kampf, bis alles passend umgebaut war und ich endlich das erste Mal mit meinem eigenen Auto fahren konnte. Ich habe meinen Führerschein vor acht Jahren gemacht, aber ich musste noch ganze anderthalb Jahre warten, nachdem ich den Lappen in der Hand hatte, bis der Antrag für den Umbau meines Autos durch war. Bis dahin hatte ich das Fahren schon fast wieder verlernt [lacht]. Hätte ich das gewusst, hätte ich den Antrag schon lange vor der ersten Fahrstunde gestellt. Das ist nur ein Beispiel dafür, wie man die Leute besser und umfassender informieren und somit ein großes Stück zu einer verbesserten Mobilität beitragen könnte. Lieber Erwin, vielen Dank für das Gespräch! Erwin Aljukics Theaterstück wird voraussichtlich ab Oktober auf der Kleinkunstbühne von Heppel und Ettlich in München Schwabing aufgeführt. Alle Infos unter www. heppel-ettlich.de 30 Zum Schluss JA, SIE KENNEN DIESE FRAU. AM Von Seite 20. Über das Handicap von Schönheitsidealen Text: Miriam Dembach / Foto: Haben Sie es auf den ersten Blick gemerkt? Die Frau auf Seite 20 ist kein gewöhnliches Model. Die Amerikanerin Aimee Mullins stand schon für die ganz großen Modefotografen vor der Kamera, ihr Gesicht war auf und in den Top-Magazinen Vogue, Elle und Dazed & Confused zu sehen und sie gehört neben Claudia Schiffer, Laetitia Casta oder Milla Jovovich zum L’Oréal Beauty Team. Soweit alles sehr gewöhnlich für ein Topmodel. Ungewöhnlich jedoch für eine junge Frau ohne Unterschenkel. Der heute 35-Jährigen mussten bereits im Säuglingsalter wegen eines Gendefekts beide Beine unterhalb der Knie amputiert werden. Doch für die aus Pennsylvania stammende Aimee kein Grund sich unterkriegen zu lassen. Sie stellte bei den Paralympics in Atlanta 1996 Sprint-Weltrekorde auf und debütierte drei Jahre später auf dem Laufsteg des international renommierten Modedesigners Alexander McQueen. Auf speziell für sie angefertigten Holzprothesen überzeugte sie auf dem Catwalk. Das darauf folgende Medienecho war gewaltig. Die Süddeutsche Zeitung sah eine „Gratwanderung zwischen Schock und Schick“, die französische Tageszeitung Le Figaro sprach dagegen von Ausbeutung. Man fragte sich: „Darf man das?“ Hat es die Modebranche also in diesem Fall zu weit getrieben und ein Tabu zu viel gebrochen? Wollte der Designer auf Kosten eines körperlich behinderten Menschen schockieren? Wurde hier „Leid“ kommerzialisiert, um Kleidung zu verkaufen? Und wer spricht da eigentlich von Ausbeutung, davon, etwas zu dürfen oder nicht? Es ist auf jeden Fall nicht Aimee Mullins, die es sich stattdessen nach eigener Aussage zur Aufgabe gemacht hat, „das Finden des persönlichen und einzigartigen Ausdrucks von Schönheit“ öffentlich zu thematisieren, „um die herrschende Meinung darüber, was schön ist und was nicht, in Frage zu stellen.“ Sie hat sich bewusst für ihren Auftritt entschieden. Wer sich da erzürnt, sind nicht-behinderte Menschen, die solche Aktionen der Modebranche als provokant und sogar persönlichkeitsverletzend ansehen. Ist diese Haltung also Schutz für die vermeintlich Schwächeren? Oder ist es in Wahrheit Schutz für einen selbst, vor der Anomalie, davor, in seiner heilen Welt gestört zu werden? Behinderte Models auf Laufstegen, Werbeplakaten und Anzeigen konfrontieren die Öffentlichkeit mit Fakten, die viele auszublenden versuchen. Weil sie Mitleid haben? Nein. Weil sie nicht wissen, wie damit umzugehen. Peter Radtke, Autor, Schauspieler und Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft Behinderung und Medien bringt es auf den Punkt: „Nicht die Tatsache, Werbeträger zu sein, diskriminiert behinderte Menschen“, dies geschieht vielmehr „dadurch, dass jemand davon ausgeschlossen wird, als Werbeträger in Frage zu kommen“. Zwölf Jahre sind seit Aimee Mullins’ medienträchtigem Auftritt vergangen. Zwölf Jahre, in denen die Modebranche abwechselnd auf dicke, dünne, alte oder transsexuelle Models gesetzt hat. War das alles also nur eine Phase? So kurzlebig wie die Mode selbst? Allein, dass wir immer noch darüber reden, diskutieren und uns damit auseinandersetzen, ist ein Erfolg. Es zeigt, dass es möglich ist, durch so etwas „Banales“ wie Mode, Augen zu öffnen, einen Austausch zu erreichen und Unterschiede zu akzeptieren. Wenn Menschen abseits der Norm zu Werbeträgern werden, wird dies so lange eine Gratwanderung bleiben, bis die Norm ihr eigenes Unbehagen beim Anblick eines nicht perfekten Körpers überwunden hat. Und das geschieht nun einmal nur, wenn Behinderungen im Alltag präsent werden. Und was ist alltäglicher als Mode? Eine gute Lösung hat da vielleicht das britische Kaufhaus Debenhams gefunden, das in seiner Sommermodekampagne erstmals ein Model im Rollstuhl verpflichtet hat. Shannon Murray wurde im Kreise ethnisch unterschiedlicher Frauen von jung bis alt, dick bis dünn fotografiert. Hier wurde nicht schockiert, hier wurde auf einem Werbeplakat Vielfalt zelebriert. Ein kleiner Meilenstein, zwölf Jahre nach Aimee Mullins’ fulminantem Laufstegdebüt. IMPRESSUM Konzeption, Art Direction & Design: Millhaus GmbH, München Chefredaktion: Anke Eberhardt Projekt Koordination: Millhaus GmbH, München Alexander Schwan, Oliver Glück, Ines Bugner, Alex Lotz (Design) Kontakt: [email protected] www.fiatautonomy.de Projekt Direktion: Fiat Group Automobiles Germany AG, Giuseppe Fiordispina Fiat Group Automobiles Germany AG Fiat Marketing Hanauer Landstraße 176 60314 Frankfurt am Main Sitz der Gesellschaft: Handelsregister Frankfurt am Main HRB 82136 Ust-IdNr. DE145763422 www.fiatautonomy.de