MAGAZIN FÜR MOBILITÄT Bethany hamilton SuRFeN MIT NuR

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MAGAZIN FÜR MOBILITÄT Bethany hamilton SuRFeN MIT NuR
Bethany Hamilton Surfen mit nur einem Arm Albert Llovera Renn
fahrer im Rollstuhl Aimee Mullins Schönheitsideal mit Handicap
Reisen Barrierefreie Destinationen Beruf Behinderung muss kein
Manko sein Gesellschaft USA, Land der unbeschränkten
(Zugangs-)Möglichkeiten?
MAGAZIN FÜR MOBILITÄT
# 02 / 2011
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INTRO
Aller guten Dinge sind zwei. Vorerst. Denn nachdem die erste Ausgabe des Autonomy
Magazins ein so überaus positives Feedback von Lesern, Institutionen und auch Medienauszeichnungen erhalten hat, machte die Arbeit an dieser Ausgabe noch mehr Spaß als
ohnehin schon. Die Frage eines themenfremden Kollegen: „Ein Lifestyle-Magazin für
Menschen mit körperlichen Behinderungen – ist es nicht schwer, gute Inhalte dafür zu
finden?“ konnten wir ohne zu zögern verneinen. Im Gegenteil! Da während der aktuellen
Recherche schon wieder so viele potentielle Artikelideen gesammelt, interessante Menschen getroffen und neue Perspektiven gewonnen wurden, wünschen wir an dieser Stelle
viel Spaß mit Ausgabe #2, und wir sorgen inzwischen dafür, dass das einleitende Sprichwort beim nächsten Heft in seiner gewohnten Version verwendet wird.
Die Autonomy-Redaktion
Inhalt
04 Medien / Bücher, Filme, Magazine
05 Termine / Wo ist was los?
06 Sport / Albert Llovera: Rennfahrer im Rollstuhl
09 Menschen / Rund um den Globus
10 Sport / Bethany Hamilton: Surfen mit nur einem Arm
13 Gedankengang / Vom Geben und Nehmen als Behinderter
14 City-Check / Ein Tag in Berlin. Wie barrierefrei ist die Hauptstadt?
17 Car-Check / Was kann der Fiat Doblò mit Hochdach?
18 Personality / Nick Vujicic: Keine Beine, keine Arme, keine Sorgen
20 Blickfang / Dürfen wir vorstellen...
22 Berufsleben / Warum Behinderung im Job kein Nachteil sein muss
24 Gesellschaft / USA, Land der unbegrenzten (Zugangs-)Möglichkeiten?
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Reisen / Barrierefreie Destinationen
28 Personality / Erwin Aljukic: Was kommt nach „Marienhof“?
30 Zum Schluss / Über das Handicap von Schönheitsidealen
31 Impressum
Cover: Bethany Hamilton / Foto: Noah Hamilton
Medien
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Das Thema Behinderung in den Medien.
Ein Auszug.
Radeln für die gute Sache
2.643 Kilometer in 36 Tagen. Diese beachtliche Strecke durch
Deutschland, Dänemark, Holland und Polen legten Sportler mit
und ohne Handicap auf Fahrrädern und Handbikes in diesem
Frühjahr zurück. Unter dem Motto „Inklusion beginnt im Kopf“ hieß
es für die Teilnehmer der „R4H mobil“-Tour strampeln, schwitzen
und immer wieder an die eigenen körperlichen Grenzen gehen.
Athleten und R4H-Botschafter, wie der paralympische Wintersportler Josef Giesen oder die Rollstuhlbasketball-Weltmeisterin
Heidi Kirste sind Vorbilder und wollen Menschen mit und ohne
Handicap dazu animieren, selbst aktiv zu sein. Denn sie sind sich
einig: Durch sportliche Aktivitäten – egal welcher Art und welchen
Umfangs – können viele Missstände und Probleme seelischen und
körperlichen Ursprungs überwunden werden. Für das kommende
Jahr steht eine Tour mit einer Gesamtstrecke von 5.000 Kilometern auf dem Programm. Neben Deutschland und Dänemark soll
die Strecke auch durch Österreich, Italien und die Schweiz bis
nach England führen. Aus England wird das vereinseigene Projekt
„R4H – das Radio für barrierefreie Köpfe“ im Anschluss dann zwei
Wochen lang täglich live von den Paralympischen Sommerspielen
2012 berichten. Alle weiteren Informationen zur „R4H mobil“-Tour
gibt es unter www.r4h-mobil.de.
Ein Mann, ein Bein, ein Buch
Behinderte (nicht nur) für Dummies
Das preisgekrönte Gesellschaftsmagazin „Dummy“ widmet sich
vierteljährlich unter dem Motto „Jedesmal neu. Jedesmal anders.“
grundlegenden Themen wie „Liebe“, „Freiheit“ oder „Glauben“.
Im März 2011 erschien das Magazin unter dem Titel „Behinderte“.
„Hau ab, ich schaff‘ das schon allein“ oder „Hundestellung klappt
sehr gut“ – in manchem Artikel wagten sich die Autoren an Themen
heran, die im Medienalltag sonst leider oft ausgespart werden.
In Gesprächen „mit kranken Schwestern über Sex“, Erfahrungsberichten aus dem Rollstuhl oder einem Artikel über Behindertendiscos wird hier in die Tiefe gegangen, anstatt oberflächlich schön zu
färben. Auch wenn uns nicht alle Ansätze zu Begeisterungsstürmen
hingerissen haben, wünschen wir uns doch: mehr! Bitte viel mehr
davon! Diese und weitere Ausgaben des Dummy Magazins sind
unter www. dummy-magazin. de zu bestellen.
Termine
Na, haben Sie ihn erkannt? Genau, das ist Mario Galla, der schöne Hamburger, von dem wir schon in der letzten Ausgabe die
Augen nicht lassen konnten. Nun veröffentlicht das Model sein
erstes Buch. In „Mit einem Bein im Model Business: Wie ich trotz
Handicap zum Model wurde“ erzählt er von seinen positiven und
negativen Erfahrungen im Umgang mit seiner Behinderung in der
Modeszene. Er geht aber auch auf besondere Ereignisse seines
Lebens wie langwierige Krankenhausaufenthalte, seine erste
große Liebe oder die Abiturzeit ein. „Die Message ist generell‚ live
your dream‘, egal welche Einschränkungen du hast, oder welche
Steine dir im Weg liegen. Du kannst das vermeintlich Unmögliche
erreichen“, beschreibt Mario die Botschaft seines Erstlingswerks.
Das Vorwort wurde vom Modemacher Michael Michalsky verfasst,
welcher Mario die Möglichkeit bot, auf dem Laufsteg der Berliner
Fashionweek 2010 erstmals sein Handicap selbstbewusst in kurzen Hosen zu präsentieren. „Mit einem Bein im Model Business“
ist am 19. September 2011 im Mosaik Verlag erschienen.
september
21.-24.REHACARe. Internationale Fachmesse und Kongress für Rehabilitation,
Pflege, Prävention und Integration in Düsseldorf. www. rehacare. de
24.-25. Zweiter „MobiCup - Nord“ in Flensburg. Die größte integrative Sportund Gesundheits-Aktionsmesse in Schleswig-Holstein. www. mobi-cup-nord. de
oktober
01.
Erster Spieltag der ersten Rollstuhlbasketball - Bundesliga. www.rbbl.de
07.-08.
Deutsche Meisterschaft im Tischtennis für Senioren und
Allgemeinbehinderte in Geroldsgrün, Bayern. www. dbs-npc. de
21.-23. Rollstuhltanz-Festival in Duisburg/Wedau. www. bsnw. de
november
Annäherung im Bärenkostüm
Wie er da so in der Züricher Fußgängerzone steht, der Unbekannte
in seinem hellbraunen, flauschigen Bärenkostüm mit der pinken
Schnauze und dem breiten Lachen auf dem Gesicht, kann man
gar nicht anders, als ihn zu umarmen. Groß und Klein, Jung und
Alt, alle knuddeln, drücken und herzen den Stoffbären. Der „Kommen Sie näher“- Bär ist der Star der neuen Kampagne von „Pro
Infirmis“, der Schweizer Fachorganisation für behinderte Menschen.
Die Idee, die dahinter steckt: Berührungsängste überwinden und
die unsichtbare Wand durchbrechen, die immer noch zwischen
gesunden und körperlich oder geistig eingeschränkten Menschen
steht. Denn am Ende des Videoclips lüftet der Bär sein Geheimnis.
Er nimmt den Kopf ab und offenbart, dass ein junger Mann mit
Behinderung in dem Kostüm steckt. Der Slogan darunter: „Müssen
wir uns verkleiden, damit wir uns näher kommen?“ Ein ergreifender
Spot, der wachrüttelt. Den Link zum Video gibt es auf unserer
Webseite unter www.fiatautonomy.de
13. Fachmesse und Kongress des Sozialmarktes („ConSozial“)
im Messezentrum Nürnberg. www.consozial. de
02.-03. 26.
Deutsche Meisterschaft für Verbandsmannschaften im G-Judo in Berlin. www.dbs-npc.de
26.-27. Deutsche Kurzbahn-Meisterschaft im Schwimmen in Remscheid. www. dbs-npc.de
DEZEMBER
03.
Internationaler Tag
april
21.-22.
Finale der ersten Rollstuhlbasketball - Bundesliga. www. rbbl.de
05.
Europäischer Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung
mai
der Menschen mit Behinderung
15.-18.Orthopädie und Reha-Technik 2012 in Leipzig. www. ot-leipzig.de
20.-26. Special Olympics National Summer Games in München.
Teil der weltweit größten, vom Internationalen Olympischen Komitee (IOC) offiziell anerkannten Sport-
bewegung für Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung. Über 4.500 Athletinnen und Athleten werden in 20 Sportarten hauptsächlich im Münchener Olympiagelände gegeneinander antreten.
www. specialolympics. de
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Sport
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Albert Llovera
Sport
Was braucht ein guter Rennfahrer?
Er muss natürlich in erster Linie gut fahren können. Die
theoretische und mentale Vorbereitung auf ein Rennen ist
aber nicht minder wichtig. Und dann braucht er noch ein
gutes Team, einen starken Sponsor und selbstverständlich
jede Menge Geld!
Erzähl uns mehr über dein Team.
Mein Team ist mindestens genauso wichtig oder sogar noch
wichtiger als ich. Ohne meine Crew wäre ich heute zweifelsohne nicht da, wo ich bin. Mein Team besteht aus drei
Mechanikern, einem Chefmechaniker, einer Koordinatorin,
einem Ingenieur, einem Trainer, der mich körperlich fit
macht, einer Physiotherapeutin und einer Presseabteilung.
Was ist die Aufgabe des Kopiloten?
Der Kopilot ist äußerst wichtig. Er muss mir nicht nur die
Streckenspezifika ansagen, sondern auch eng mit dem Ingenieur und dem restlichen Team zusammenarbeiten, um die
Zeiten zu kontrollieren. Wir müssen ein sehr gutes Verhältnis
zueinander haben, denn während der Wettbewerbe sind wir
manchmal 23 Stunden am Tag zusammen. Eine Stunde ist
dafür reserviert, getrennt auf die Toilette zu gehen [lacht].
Wir sind beinahe wie ein Ehepaar! Mein momentaner Kopilot
ist Diego Vallejo, der im Jahr zuvor mit Dani Sordo gefahren
ist. Wir verstehen uns wirklich sehr gut und ich fühle mich
wohl an seiner Seite.
Wie würdest du die Beziehung zu deinem Auto beschreiben?
Mein Auto ist unentbehrlich für mich. Ich kenne meinen Fiat
in- und auswendig. Er gefällt mir ungemein. Anders als eine
Frau keift mich mein Auto nie an. Es will eher immer mehr
und ich gebe ihm, was es will... [lacht].
AL
„Mobilität ist für mich
gleichbedeutend mit Freiheit.“
Rennsport ist was für echte Männer. Harte Kerle, die vor lauter PS und Potenz nach dem Aussteigen kaum
laufen können und sich auch im Straßenverkehr von Geschwindigkeitsbegrenzungen nichts sagen lassen
– so das Klischee. Wenn Albert Llovera in seinem Rennwagen um eine Kurve schießt und wahlweise Staub,
Kies oder Wasser durch die Luft wirbelt, sieht man ihn schon einer Hostess bei der Siegerehrung auf den
Po klatschen. Wenn Albert aus seinem Auto steigt, stemmt er sich jedoch zunächst in einen Rollstuhl. Er ist
der erste und einzige körperlich eingeschränkte Rennfahrer, der bei der Rallye-Weltmeisterschaft WRC an
den Start gehen und mit nicht behinderten Fahrern unter gleichen Wettbewerbsbedingungen Gas geben darf.
Deswegen kann es aber trotzdem passieren, dass er einem schönen Boxenmädchen nicht nur Blicke hinterherwirft, denn der Mann aus Andorra hat mindestens so viel Selbstvertrauen wie PS.
Text: Anke Eberhardt / Fotos: www.albertllovera.com
Albert, du warst schon immer sehr aktiv, bist schon früh bei
Skiwettbewerben mitgefahren und hast sogar an den Olympischen Spielen teilgenommen, bevor du als Teenager bei
einem Skirennen verunglückt bist. Du scheinst generell ein
sehr ehrgeiziger Mensch zu sein, oder?
Ich habe Sport schon immer des Wettbewerbs und Gewinnens
wegen gemacht. Das ist mir angeboren. In meiner Jugend habe
ich auf den Parkplätzen der Skigebiete immer kleine Autorennen mitgemacht und war da ganz gut, also lag Motorsport
wohl irgendwie nahe [lacht]. Es ist übrigens nicht ungewöhnlich, dass gute Skifahrer auch gute Autorennfahrer sind, denn
Ski- und Motorsport sind sich in Bezug auf Linienführung,
ins Schleudern geraten und so weiter ziemlich ähnlich.
Du nimmst an der Rallye-Weltmeisterschaft teil und bist auch
schon die Rallye von Dakar mitgefahren. Welches Rennen hat
dir bisher am besten gefallen?
Die Rallye Mexiko. Das ist ein sehr kompliziertes Rennen,
weil es auf über 2.000 Höhenmetern stattfindet, aber die
Straßen und die Streckenführung begeistern mich einfach.
Außerdem legt sich das Publikum dort wahnsinnig ins Zeug.
Es ist toll, so eine Energie von den Leuten zu spüren.
Was ist das für ein Gefühl, wenn du bei einem Rennen
Vollgas gibst?
Das ist einfach wahnsinnig cool. Völlig ausflippen könnte ich
da! Ich hätte nie gedacht, dass ich jemals dahin komme, wo
ich jetzt bin, und schon gar nicht zum Rallyefahren. Ich bin
wirklich glücklich.
Autorennen werden ja als etwas sehr Hartes und Männliches
angesehen, während eine Behinderung von vielen Menschen
als Schwäche betrachtet wird. Wie hat die Rennsportszene auf
dich reagiert?
Zuerst waren die Leute überrascht, aber dann erhielt ich jede
Menge Unterstützung, Anerkennung und Bewunderung.
„Wir sind beinahe
wie ein Ehepaar!“
Hast du das Gefühl, dass du in irgendeiner Art
anders behandelt wirst?
Nein, ganz im Gegenteil. Ich fühle mich wie einer von ihnen,
gänzlich ebenbürtig. Ich habe die Unterstützung der besten
Piloten der Welt wie Loeb, Solberg, Al-Attiyah oder Gassner.
Inwiefern hast du es als querschnittsgelähmter
Fahrer schwerer?
Die Weltmeisterschaftsrennen sind körperlich sehr anstrengend
und erfordern eine intensive Vorbereitung. Mit meinen Schaltungen und Armaturen zur Handbedienung und dem Rollstuhl
im Wagen, wiegt dieser noch mal 70 Kilo mehr und das merkt
man natürlich.
Ist dein Auto auch ein Mittel, um deine Einschränkung zu
egalisieren? Quasi: Du kannst zwar nicht laufen aber hinter
dem Steuer sind alle gleich?
Auf jeden Fall. Genau das ist es, was ich will. Ich empfinde es
schon so, dass wir alle auf dem gleichen Level fahren, obwohl
es offensichtlich ist, dass nur mit den Händen zu fahren etwas
anderes ist, als auch seine Beine einsetzen zu können. Der
Kraftaufwand in den Armen, Händen und Fingern ist enorm.
Willst du, dass das bei deinen Ergebnissen berücksichtigt wird
oder willst du auch in dieser Hinsicht nicht, dass ein Unterschied zwischen dir und den anderen Fahrern gemacht wird?
Es gefällt mir, wenn meine Erfolge unabhängig von meiner
Behinderung betrachtet werden. Aber ich verstehe, wenn sie
aufgrund meiner persönlichen Umstände vielleicht höher
gewertet werden.
Berufsleben
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Menschen
Trailmeister
Du gibst außerdem Fahrtrainings für Menschen mit
körperlichen Einschränkungen. Was ist hierbei wichtig?
Theorie und Praxis sind gleich bedeutsam. Ich finde einen
passenden Sitz enorm wichtig und die Füße müssen, je nach
Höhe der Rückenmarksverletzung, richtig befestigt sein, um
Krämpfe zu vermeiden. Ich betone immer wieder, dass man
sich dessen, was man macht und was man in den Händen
hält, sehr bewusst sein muss.
Wie würdest du dich selbst beschreiben?
Als sehr „klein“ [lacht], da ich ja immer im Rollstuhl unterwegs bin. Ein bisschen verrückt, humorvoll, immer zu Scherzen aufgelegt und durchaus partybegeistert. Ich habe auch
immer Spaß auf dem Podium und flitze den hübschen Hostessen hinterher oder mache Pirouetten und Drehungen mit
meinem Rollstuhl. Das gefällt auch dem Publikum immer
sehr. Ich halte mich weder für Superman noch für invalide.
Ich habe lediglich Selbstvertrauen, die Bereitschaft sehr hart
zu arbeiten und den nötigen Kampfgeist, um Schwierigkeiten zu überwinden. Ich kenne und akzeptiere meine
Einschränkung und davon ausgehend habe ich mir meine
eigenen Ziele gesteckt und Träume verfolgt.
Was bedeutet Mobilität für dich?
Mobilität ist für mich gleichbedeutend mit Freiheit. Überallhin gelangen zu können und auch Dinge zu machen, die man
niemals gedacht hätte zu schaffen.
Du arbeitest auch an Umrüstungslösungen
für Autos mit, richtig?
Zusammen mit Guidosimplex Italia haben wir die Schaltungen
sowohl für mein Straßen- als auch für mein Rallyeauto gebaut
und weiterentwickelt. Ich fahre schließlich Tausende und aber
Tausende Kilometer, dabei teste ich die Schaltungen und bringe danach Tipps und Verbesserungsvorschläge in den Entwicklungsprozess ein. Es ist für Menschen, die im Rollstuhl sitzen
oder eine Gehhilfe haben, sehr wichtig Auto zu fahren und
diese Unabhängigkeit erleben zu können.
Es wurde auch ein Dokumentarfilm über dich gedreht, in dem
unter anderem der Hollywood-Schauspieler Javier Bardem zu
sehen ist. Wie war die Zusammenarbeit mit ihm?
Wir haben uns während der Dreharbeiten kennengelernt.
Das war wirklich toll. Javier ist ein witziger Typ, ein bisschen
ungehobelt, so wie ich. Ich habe sehr schöne Erinnerungen an
die gemeinsamen Momente und unterhaltsamen Abendessen,
die sich bis in die Morgenstunden ausdehnten.
„Mein Auto ist unentbehrlich für mich.
Ich kenne meinen
Fiat in- und auswendig. Er gefällt
mir ungemein.“
Fährst du auf normalen Straßen auch sehr schnell,
oder ist das ein Rennfahrer-Klischee?
In meinem Fall ist das kein Klischee. Ich bin nicht leichtsinnig, aber ich fahre einfach sehr gerne Auto.
Weitere Infos zu Albert finden sich auf www.albertllovera.com, dort
ist auch der Teaser seines spanischen Dokumentarfilms „Las Alas
del Fénix“ („Die Flügel des Phönix“) zu sehen.
„Scharf nach links, holprig, holprig, holprig!“ schreit jemand, Fahrgeräusche, die auf eine hohe Geschwindigkeit schließen lassen,
sind zu hören, der Bildschirm ist schwarz. So beginnt ein Film
über Bobby McMullen. „The Way Bobby Sees It“ ist eine Dokumentation über den Mountainbiker aus Kalifornien und beginnt
genau damit, was er bei einer Abfahrt sieht: nichts. (Zu sehen auf
www.rideblindracing.com) McMullen erblindete 1993 innerhalb
nur eines Monats aufgrund einer Diabetes-Erkrankung. Vorangegangen waren Jahre der Dialyse und zwei Nieren- und Bauchspeicheldrüsentransplantationen. Trotzdem tat McMullen alles
andere, als seinen Körper zu schonen und hat sich bis heute
bei diversen Sportarten mehr Knochen gebrochen, als er zählen
kann. Er lernte, mit einem Guide Ski zu fahren, war Mitglied des
US-Abfahrtsteams und Teilnehmer der Paralympics. Im Sommer
tauscht er die Ski inzwischen gegen das Mountainbike und nimmt
als einziger Mountainbiker mit eingeschränkter Sehfähigkeit an
irrsinnig waghalsigen Rennen wie dem „Megavalanche“ in Frankreich teil. Bei diesem Rennen starten 1.000 Fahrer zur gleichen
Zeit und legen auf einer Strecke von 30 Kilometern mehr als
3.000 Höhenmeter zurück. Völlig hirnverbrannt einerseits,
überaus bewundernswert andererseits.
Gipfelstürmer
Der Neuseeländer Mark Inglis lebt nach dem Motto: „Um einen
Traum zu verwirklichen, musst du den ersten Schritt machen und
dann einfach immer weitergehen.“ Dass das nicht immer leicht
ist, weiß kaum jemand besser als er. Als 23-Jähriger wurden ihm
beide Beine knapp unterhalb der Knie amputiert, nachdem er zwei
Wochen in einer Schneehöhle auf Neuseelands höchstem Berg,
dem Mt. Cook, überlebt hatte. Aber wie alle leidenschaftlichen
Bergsteiger ist Inglis es gewohnt, sich Herausforderungen zu stellen und neue Gipfel zu erobern. „Mir wurde schnell klar, dass ich
meine Träume verwirklichen kann, wenn ich in jeder Situation den
Vorteil sehe, nicht den Nachteil.“ Gesagt, getan. 2006 erfüllte er
sich seinen Lebenstraum und bestieg als erster Mensch mit zwei
Beinprothesen den Mount Everest. Seitdem reist er um die Welt
und erzählt als Motivationsredner seine Geschichte. Am liebsten
ist er aber noch immer im Himalaya unterwegs, wo er als Bergführer Touren rund um den höchsten Berg der Welt anbietet.
Foto: Matthew Mallory
Fotokünstler
Primaballerina
Nicht einmal sechzig Sekunden lang bebte die Erde am 12. Januar
2010 in Haiti und verwüstete das ohnehin arme Land verheerend.
Auch das Leben von Fabienne Jean veränderte sich schlagartig,
als die junge Frau beim Versuch aus ihrer Wohnung zu fliehen,
unter Trümmern begraben wurde. Sie überlebt, doch ihr musste
das rechte Bein unterhalb des Knies amputiert werden. Eine
Katastrophe für jeden Menschen, doch ein noch größerer Schlag
für Jean, schließlich war sie bis zu diesem Zeitpunkt Primaballerina
am Nationaltheater in Port-au-Prince. Doch bereits als sie die
ersten Schritte auf Krücken machte und mit ihrem Gleichgewicht
kämpfte, hatte sie nur ein Ziel: wieder zu tanzen. Heute ist sie
aufgrund des Einsatzes einer Hilfsorganisation wieder gesund und
kann dank einer speziell für sie angefertigten Prothese und ihres
unbändigen Willens endlich wieder tanzen.
Früher arbeitete der Fotograf Rick Guidotti mit weltbekannten
Models wie Cindy Crawford und Claudia Schiffer. Doch irgendwann
hatte der Amerikaner genug von der Scheinwelt Mode und begann,
sich für die Schönheit ganz normaler Menschen zu interessieren.
„Redefining Beauty“ hieß seine erste Fotostrecke zum Thema
Albinismus, die 1998 im renommierten „Life Magazine“ erschien
und für so viel Begeisterung sorgte, dass Guidotti beschloss, eine
Stiftung zu gründen. „Positive Exposure“ hat es sich zum Ziel
gesetzt, auf das Leben von Menschen mit Gendefekten aufmerksam zu machen. Mit Fotoausstellungen auf der ganzen Welt will die
Organisation ihre Message in alle Teile der Gesellschaft transportieren: Ein anderes Äußeres ist kein Stigma, sondern Ausdruck der
menschlichen Vielfalt. Die neueste Idee, das „Pearls Project“, soll
Toleranz dort fördern, wo Anderssein oftmals soziales Exil bedeutet: in Schulen. Guidotti fotografierte elf junge Erwachsene mit
unterschiedlichen Behinderungen und stellte die Bilder Schulklassen zur Verfügung, die im Unterricht darüber diskutierten und mit
den Betroffenen in Kontakt treten konnten. Dank des großen
Erfolges wird das Projekt demnächst auf weitere Schulen in den
USA ausgeweitet und wir würden uns wünschen, dass es bald
auch nach Deutschland kommt.
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Sport
11
Bethany Hamilton
BH
„Surfen ist mein Leben“
Als Bethany Hamilton ihren linken Arm verlor, spürte sie keinen Schmerz. Sie schrie auch nicht.
Alles, was sie sagte, war: „Ich glaube, ich wurde gerade von einem Hai gebissen.“ Dann fing sie an,
auf ihrem Surfboard in Richtung Strand zu paddeln.
Text : Melanie Schönthier / Fotos: Noah Hamilton
Bis zu diesem Tag galt die damals 13-Jährige als eine der talentiertesten Nachwuchs-Surferinnen Amerikas. Aufgewachsen
auf der hawaiianischen Insel Kauai, stand sie bereits mit vier
Jahren das erste Mal auf einem Surfboard, mit acht gewann sie
ihren ersten Wettbewerb, Sponsorenverträge folgten. Bethanys
Chancen, bald als professionelle Surferin ihren Lebensunterhalt zu verdienen, standen gut. Jede freie Minute verbrachte
sie im Wasser, manchmal surfte sie sogar von Sonnenauf- bis
Sonnenuntergang. Nicht einmal die Schule musste sie dafür
schwänzen, denn ihre Eltern, beide leidenschaftliche Surfer,
hatten das Talent ihrer Tochter früh erkannt und unterrichteten sie zu Hause. So konnte Bethany morgens surfen und
nachmittags lernen. Ihr Ziel war es, einmal Weltmeisterin im
Wellenreiten zu werden. Durchaus möglich, wie Rainos Hayes,
ehemaliger Profi-Surfer und Coach der hawaiianischen SurfNationalmannschaft, damals fand: „In ihrer Altersklasse gibt
es kein Mädchen, das besser surft“.
Doch dann kam der 31. Oktober 2003. Bethany sah den fünf
Meter langen Tigerhai nicht kommen, obwohl das Wasser kristallklar war. Sie kannte die Bucht von Tunnels Beach gut, denn
der bei Surfern beliebte Strand an der Nordküste Kauais liegt
nur 20 Minuten Autofahrt vom Haus der Hamiltons entfernt.
Die Wellen brechen hier rund 400 Meter vor dem Ufer über ein
seichtes Korallenriff und vom Wasser aus hat man einen atemberaubenden Ausblick auf die zerklüfteten, üppig bewachsenen
Berge der Napali Coast. Bereits im Morgengrauen war Bethany
gemeinsam mit ihrer besten Freundin Alana, deren Bruder und
Vater hinaus gepaddelt und wartete auf ihrem Surfboard liegend
auf die nächste Welle, als sie aus dem Augenwinkel einen
grauen Schatten wahrnahm. „Man denkt, es würde wehtun,
wenn einem der Arm abgebissen wird“, erinnert sie sich.
„Aber alles, was ich spürte, war ein Schlag und ein Rütteln.
Dann färbte sich das Wasser um mich herum rot und ich sah,
dass mein Arm knapp unterhalb der Schulter abgetrennt war.“
Kein Schmerz, kein Schrei – Bethany begann einfach nur,
mechanisch in Richtung Strand zu paddeln, so als wäre nichts
geschehen. Alanas Vater half ihr, indem er ihr Surfbrett immer
wieder anschob, trotzdem dauerte der Weg zurück fast 15
Minuten. Bethany kam es vor wie eine halbe Ewigkeit: „Erst
als ich merkte, wie stark mein Arm blutete und wie weit wir
noch vom Ufer entfernt waren, bekam ich Angst. Plötzlich
wurde mir bewusst, dass ich sterben könnte.“ Am Strand
band ihr Alanas Vater den Arm mit der Leine seines Surfboards ab und rettet ihr so wahrscheinlich das Leben.
„Wann kann ich wieder surfen?“, war Bethanys erster Satz,
als sie aus der Narkose erwachte. Eigentlich standen die
Chancen schlecht, dass sie jemals wieder eine Welle reiten
würde. Sie hatte 60 Prozent ihres Blutes und den linken
Arm verloren. Aber die Wunde verheilte schnell. Bereits
nach einer Woche konnte sie das Krankenhaus verlassen
und einen Monat später stand sie wieder auf dem Surfboard. „Es war wie nach einer langen Reise nach Hause
zurückzukehren“, erzählt sie. „Surfen ist einfach mein
Leben. Ich hatte viel größere Angst davor, den Sport aufgeben zu müssen, als noch einmal von einem Hai angegriffen zu werden.“
Personality
Sport
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Gedankengang
Vom Geben & Nehmen
Oder: Ist man als behinderter Mensch
immer in der Bringschuld?
Text: Hiltrud Walter / Foto: Ragnar Schmuck
„Es war wie
nach einer langen
Reise nach Hause
zurückzukehren“
Heute, fast sieben Jahre später, surft Bethany nicht nur
wieder, sondern zählt sogar zu den 20 besten Surferinnen
der Welt. Geschafft hat sie das dank ihres eisernen Willens,
harten Trainings und einer speziellen Technik: Während ihre
Konkurrentinnen scheinbar mühelos mit ihren Armen Wellen
anpaddeln, schlägt Bethany wie wild mit ihren Beinen, um
genügend Geschwindigkeit aufzunehmen. Das sieht im ersten Moment zwar recht schwerfällig aus, aber kaum hat sie
der Sog des heranrollenden Brechers erfasst, springt Bethany
blitzschnell auf und gleitet die Wasserwand mit der gleichen
Eleganz wie die anderen Surferinnen entlang. Ihr einziges
Hilfsmittel ist eine kleine Plastikschlaufe an der Spitze ihres
Boards, an der sie sich mit dem rechten Arm festhält, wenn
sie unter einer heranrollenden Welle hindurchtauchen muss.
Bethany weiß, dass sie mit zwei Armen besser surfen würde
und dass sich ihr Traum vom Weltmeistertitel vielleicht nie
erfüllen wird, trotzdem hat die inzwischen 21-Jährige nie
mit ihrem Schicksal gehadert. „Natürlich habe ich mich ab
und zu gefragt, wieso das ausgerechnet mir passiert ist. Ich
glaube, dass ich die Antwort mittlerweile weiß: Um Menschen in einer ähnlichen Situation zu zeigen, dass sie alles
erreichen können, wenn sie es nur wollen. Der Hai hat mir
zwar meinen Arm, aber nicht meinen Traum vom Surfen
nehmen können.“
In letzter Zeit ist viel von Kapital die Rede. Hier soll es aber
nicht um Staatshaushalt und Wirtschaftskrise gehen, sondern
um den sozialen Gewinn und Verlust, den wir als Mensch
jeden Tag mit einem unsichtbaren Handschlag besiegeln. Unsere persönlichen Beziehungen sind genauso ökonomisch und
zweckorientiert wie die wirtschaftlichen. Wir leben in einer
Austauschgesellschaft, denn obwohl Nächstenliebe, Hilfsbereitschaft und Selbstlosigkeit als erstrebenswerte Eigenschaften geschätzt werden, beruht jeder Kontakt auf dem unausgesprochenen Kapitalprinzip: Geben mit Erwartung; Investieren,
um zu gewinnen. Man unterstützt gerne einen Freund, hilft,
wenn er krank im Bett liegt und investiert Zeit und Kraft. Man
erwirbt sich damit aber auch das Recht, in eigenen Notsituationen bei eben diesem Freund anzuklopfen. Eine Beziehung
lebt durch diesen Handel mit sozialem Kapital. Man investiert
und erwartet Dankbarkeit, soziale Wertschätzung oder eine
sichtbare Gegenleistung. Ist die Rechnung ausgeglichen, wird
eine zwischenmenschliche Beziehung nicht belastet. Empfindet man sich aber als einziger Investor in die Freundschaft,
droht ihr Konkurs. Und so ungern wir es uns selbst eingestehen
möchten: Der eigene Erfolg setzt attraktive Ressourcen voraus.
Wie steht es also um die soziale Wirtschaftlichkeit eines behinderten Menschen, der lebenslang auf Hilfe angewiesen ist?
Wie ausgeglichen sind die Marktanteile, wenn man sich gerade
gestritten hat, am liebsten Türen knallen möchte, aber just in
diesem Moment eine helfende Hand im Bad benötigt? Es geht
schnell, dass man sich als Behinderter als einseitig hilfebedürftiger, Rücksicht nehmender und um Dankbarkeit bemühter
Mensch fühlt. Und dass ein hilfsbereiter Freund im Gegenzug
als edel und gut erscheint, mit schier unerschöpflicher Investitionsbereitschaft.
Ich selbst habe im Laufe meines Lebens gewisse Strategien im
Umgang mit meinen Mitmenschen entwickelt. Auch mit dem
Hintergedanken, meine nötigen Alltagshilfen zu bekommen.
Geschäft ist Geschäft. Ich versuche, immer wieder nachsichtig
und verständig zu sein. Oder ich höre mich zum x-ten Male
überbetont für die erhaltene Leistung danken. Auch durch Witz
und einen gewissen Charme gelingt es mir stets Hilfe zu bekommen. Ich habe oft erlebt, dass Leute mich als Seelsorgerin
brauchen und ihre Gegenleistung erbringen, indem sie mir helfen. Dann wiederum gibt es Menschen, von denen ich bereitwillig unterstützt und auch nach meinen Gedanken und Problemen gefragt werde, umgekehrt aber nichts von deren Sorgen
oder Freuden erfahre. So fühle ich mich ausgegrenzt. Vielleicht
genügt ihnen ja das „gute Gefühl“ zu helfen. Und schließlich
sind auch meine Dankbarkeit und die Anerkennung für ihr
Gutmenschentum in ihren Kreisen eine Form der Vergütung
ihrer Hilfe – doch sie wollen sich nicht mit mir auf eine Stufe
stellen. Die Erwartungshaltung, auf Dauer auch etwas zurück
zu bekommen, sehe ich übrigens als nichts Unmoralisches. Im
Gegenteil: Das zeigt, dass ich nicht nur als hilflos und einsam
wahrgenommen, sondern als ebenbürtiger Geschäftspartner
akzeptiert werde. Wer von mir keine Gegenleistung erwartet,
nimmt mich nicht ernst! Bei bestimmten Leuten verzichte ich
deshalb auch aus Prinzip auf Hilfe. Kein Ausverkauf.
Am leichtesten ist es, Alltagshilfe selbstbestimmt anzunehmen,
wenn ich dafür bezahlen kann. Das aber setzt Geld voraus –
jenes direkte und allgemein gebräuchlichste Mittel der Gegenleistung – das ich in dem Umfang, in dem ich Hilfe benötige,
aber nicht habe. Und selbst wenn ich die entsprechenden Finanzen hätte und allein mit persönlichen Assistenten mein Leben
organisieren würde, wäre ich zwar gut unterstützt, aber doch
allein. Egal, ob behindert oder nicht: Niemand von uns lebt
auf einer Insel und kann sich selbst versorgen, was wiederum
bedeutet, dass Abhängigkeiten die Voraussetzung für zwischenmenschliche Beziehungen sind. Also das, wonach sich jeder
Mensch sehnt. Warum also dieses Unabhängigkeitsstreben?
Ganz einfach: Weil wir uns nur in Beziehungen wohl fühlen,
in denen jeder von jedem irgendwie, irgendwann abhängig ist
und gegenseitiger Respekt herrscht. Geben und Nehmen.
Ich kenne Menschen, in deren Gegenwart ich mich völlig auf
Augenhöhe fühle. In diesen Beziehungen ist es unerheblich,
ob ich im Rollstuhl sitze oder nicht. Es wird mir das Gefühl
gegeben, als Persönlichkeit wahrgenommen zu werden, mit
allen Ecken und Kanten, nur eben mit der zusätzlichen Eigenschaft „Behinderung“. Ich erhalte Hilfe, nicht weil ich behindert bin, sondern weil es in einer Freundschaft normal ist.
Dann freut mich auch der Satz: „Du bist für mich gar nicht
(mehr) behindert.“ Ich bin akzeptiert, ohne dass meine
Behinderung damit kleingeredet wird.
Um allen Menschen ein solches Geben und Nehmen zu
erleichtern, ist es zum einen nötig, in der Gesellschaft endlich ein ebenbürtiges, neutrales Bild behinderter Menschen
zu vermitteln. JEDER Mensch hat seinen eigenen, für andere
gewinnbringenden Wert. In Zeiten, in denen Beziehungen
aufgrund persönlicher oder beruflicher Veränderungen allgemein schneller gelöst, aber auch geknüpft werden, gewinnen
zum Beispiel zwischenmenschliche Kompetenzen an Wichtigkeit. Andererseits muss auch das Vertrauen in die eigenen
Ressourcen bei Behinderten aktiv gefördert werden. Dazu sind
sowohl höchstmögliche Bildung als auch ein ausreichendes
Einkommen erforderlich, damit sie sich von diesem Minus
auf dem sozialen Kontostand befreien und darüber hinaus das
Anderssein für sich als Gewinn schätzen lernen. Das wäre ein
Anfang, um dem großen Ziel – der Inklusion aller Menschen –
näherzukommen.
Hiltrud Walter, 45, mit ausgeprägten spastischen
Herausforderungen, ist Diplom-Ökonomin und
Diplom-Sozialwissenschaftlerin ohne Erwerbstätigkeit und lebt in Berlin.
City-Check
BERLIN.
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City-Check
#4
KaDeWe
Wie barrierefrei ist die Hauptstadt?
Der City-Check an der Spree.
Text : Anke Eberhardt / Fotos: Ragnar Schmuck
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Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin! Sehenswürdigkeiten
an jeder Ecke, eine vielfältige Kulturszene und ein Mix
aus Gastronomie, Shopping und Entspannung für jeden
Geschmack – die deutsche Hauptstadt ist immer eine
Reise wert. Doch wie sieht es mit Barrierefreiheit in der
Spree-Metropole aus? Zwei gebürtige Berlinerinnen haben
uns einen Tag durch ihre Stadt geführt.
Nach so viel bummeln macht sich langsam unser Magen bemerkbar.
Zudem darf bei einem Berlin-Ausflug natürlich auch die ShoppingPause nicht fehlen. Wir machen uns auf ins nahe gelegene KaDeWe.
Das Kaufhaus des Westens ist schließlich schon seit 1907 viel mehr
als ein ordinäres Geschäft. Zugegeben, die Designer-Handtaschen
und sonstigen Luxusgüter sprengen unser Budget, aber das Angebot auf über 60.000 qm ist auch ohne Einkauf beeindruckend
genug. Bis zu 180.000 Menschen flanieren täglich durch die Etagen
und über zahlreiche Aufzüge lassen sich sämtliche Abteilungen auch
im Rollstuhl problemlos erreichen. Im riesigen Lichthof geht es nach
oben in die Feinschmeckerabteilung. Von Austern und Champagner
über exotische Speisen und Gewürze bis hin zu feinsten Backwaren
wird hier nur das Beste vom Besten angeboten. Im Wintergarten
in der siebten Etage leisten wir uns ein paar kleine Köstlichkeiten
mit Blick über die Innenstadt. www.kadewe.de / Foto: 1 © KaDeWe
#3
Zoologischer Garten
#1
Siegessäule / Tiergarten /
Brandenburger Tor
Annette hat den entscheidenden Tipp gleich zu Anfang parat: „Lieber morgens bei den Klassikern anfangen, damit man nicht später
mit den Schulklassen um die Fotomotive kämpfen muss.“ Mit unserem Fiat Doblò biegen wir deshalb schon am frühen Morgen auf
die Straße des 17. Juni ab und werden von der Siegessäule begrüßt,
die seit kurzem wieder in neuem Glanz erstrahlt. Wir haben Lust,
ein wenig zu schlendern und parken kurz hinter der „Goldelse“ auf
dem erhöhten Mittelstreifen, der unzählige offizielle Parkplätze und
Annette jede Menge Platz zum Aussteigen mit dem flotten Hecklift bietet. Nach einem Spaziergang durch den zu jeder Jahreszeit
schönen Tiergarten erreichen wir das Brandenburger Tor. Ein Glück,
dass Napoleon die Quadriga wieder abgenommen wurde und dass
das Tor inzwischen kein Symbol mehr für das geteilte Berlin, sondern im Gegenteil, für die Einheit des Landes ist. Trotz der geballten Bedeutsamkeit hat Simone erst einmal Lust auf einen Kaffee.
Während sich die ersten Straßenkünstler in Position bringen, gehen
wir in Ruhe unsere Route für den Tag durch. www.berlin.de
( Tourismus Sehenswürdigkeiten. Mit vielen hilfreichen Infos.)
#2
Regierungsviertel
Gleich um die Ecke befinden sich weitere Wahrzeichen Berlins:
Der Reichstag und das Bundeskanzleramt. Diesen mächtigen Nachbarn stattet man ebenfalls am besten morgens einen Besuch ab,
bevor der große Ansturm beginnt. Wer die 800 Tonnen schwere
Kuppel des Reichstags besichtigen und über zwei spiralförmig
angelegte Wege bis zu einer Aussichtsplattform wandeln möchte,
muss sich allerdings vorab anmelden und darf keine Angst vor
langen Schlangen haben. (Alle Infos gibt es auf der Website des
Bundestags oder unter Tel.: 030 / 2273 2152.) www.bundestag.de
Nach all den geschichtsträchtigen Bauwerken ist es Zeit für Abwechslung. Im Doblò schlängeln wir uns durch den Stadtverkehr
und Annette lotst uns zum Hardenberger Platz am berühmten
Bahnhof Zoo. Hier parken wir entspannt auf einem der vorbildlich
ausgeschilderten Bereiche und stehen direkt vor dem Eingang
Löwentor. Sage und schreibe 17.134 Tiere in 1.554 Formen warten dahinter, denn der Zoologische Garten Berlin nennt sich nicht
umsonst artenreichster Zoo der Welt. Spitzmaulnashorn, Andenflamingo oder Ringelschwanz-Felsenkänguru kann ein Besuch
abgestattet werden, Pflicht ist allerdings auch das Erinnerungsfoto am Elefantentor auf der anderen Seite des Geländes. Dort
befindet sich ebenfalls der Zugang zum Aquarium, das über eine
Rampe problemlos zu erreichen ist. Will man ausschließlich in die
Unterwasserwelt eintauchen, lassen sich die Stufen des separaten
Eingangs an der Budapester Straße mit einem Aufzug überwinden. Verbesserungswürdig ist allerdings, dass hierfür erst oben an
der Kasse Bescheid gegeben werden muss. Ist man also allein im
Rollstuhl unterwegs, ist man auf die Aufmerksamkeit des Kassenpersonals oder andere Besucher angewiesen. Als Begleitperson
erhält Simone hier ebenfalls eine Eintrittsermäßigung – was erfreulicherweise bei den meisten Berliner Sehenswürdigkeiten üblich
ist – und die beiden schauen auf einen Besuch bei den Haien
vorbei. www.zoo-berlin.de
#5
Museumsinsel
Nach Konsum ist nun Kultur an der Reihe. Auch hier ist das Angebot in der Hauptstadt riesig. Die Klassiker finden sich netterweise
alle dicht beieinander auf der Museumsinsel, die zum UNESCO
Weltkulturerbe zählt. Zu Recht! Malerisch in der Spree gelegen
und über pittoreske Brücken zu erreichen, ließe sich allein hier ein
ganzer Kurzurlaub verbringen. Annette und Simone amüsieren sich
unterwegs noch über die klassischen Russenmützen eines Straßenverkäufers und haben dann die Qual der Wahl zwischen dem
Neuen Museum, in dem die Büste der Nofretete wartet, der Alten
Nationalgalerie, in der Malerei und Skulpturen des 19. Jahrhunderts ausgestellt werden oder dem Bodemuseum, dessen komplett saniertes Gebäude Skulpturen und Gemälde von der Antike
bis zum 18. Jahrhundert beherbergt. Natürlich nicht zu vergessen
der Publikumsmagnet Pergamonmuseum mit dem berühmten
Pergamonaltar und das Alte Museum mit seiner Antikensammlung.
„Schön, dass hier nur der jeweilige Kunstgeschmack entscheidet,
was man sich als Rollstuhlfahrer ansehen möchte“, freut sich
Annette. Denn fast alle Häuser sind komplett barrierefrei.
www.smb.museum
City-Check
City-Check
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Car-Check
Hoch, höher, Doblò.
Das City-Checkfahrzeug unter
der Lupe
Nachdem wir im Fiat Doblò die deutsche Hauptstadt
auf Barrierefreiheit getestet haben, macht unsere CityCheckerin Annette gleich bei unserem Fahrzeug weiter.
Fotos: Ragnar Schmuck
#6
Berliner Dom
Nur einen Steinwurf entfernt befindet sich ein weiterer Klassiker
auf der Touristen-To-Do-Liste: der Berliner Dom. Kaum zu glauben,
dass die Kuppel im zweiten Weltkrieg komplett zerstört wurde, so
beeindruckend wie sie heute über dem Lustgarten thront. 70 Meter
ist sie hoch und wird innen von aufwendigen Mosaiken geziert, von
denen jedes aus über 500.000 Steinchen besteht. Ein Besuch in
der größten Kirche Berlins ist aber nicht nur deshalb empfehlenswert, sondern auch wegen des vorbildlichen barrierefreien Zugangs.
Denn Annette kann nicht nur zwischen zahlreichen Behindertenparkplätzen wählen und mit viel Platz aussteigen, auch die Granittreppe am Haupteingang lässt sich mit Hilfe eines Aufzuges überwinden, der Pförtner praktisch über eine Klingel samt Gegensprechanlage an der linken Seite der Hauptfront rufen. Da drückt Annette
auch ein Auge zu, dass der Kuppelrundgang mit dem grandiosen
Ausblick auf die Museumsinsel, die Synagoge, den Gendarmenmarkt, den Reichstag und das Rote Rathaus nur über 270 Stufen
zu erreichen ist. Das Siegel „Berlin barrierefrei“ hat sich der Dom
auf jeden Fall verdient – ganz im Gegensatz zum Fernsehturm, der
als Negativbeispiel gleich hinter der Kuppel emporragt. Hier gibt
es zwar einen Aufzug, doch aus Brandschutzgründen ist Rollstuhlfahrern der Zugang nicht gestattet. Nur gut, dass sich Annette im
Umkehrschluss nicht generell nur in Erdgeschossen aufhalten darf.
Da sich nach all dem Sightseeing sowieso der Hunger erneut bemerkbar macht, verzichten wir auf einen Ausflug auf den Alexanderplatz, lassen den Fernsehturm Fernsehturm sein und steuern
bereits in Richtung unseres letzten Stopps. www.berlinerdom.de
hochdach
handgasanlage
Eines sticht bei unserem Gefährt natürlich als Erstes ins Auge:
das Hochdach. Was jedem Mitfahrer angenehm viel Raum im
Inneren beschert, ist für Rollstuhlfahrer noch wesentlich essentieller. Denn so kann Annette entspannt im Rollstuhl sitzend ins
Auto gelangen, hat schön viel Platz rundherum und durch die
riesige Fensterfront einen uneingeschränkten Blick nach vorne.
Glück für uns, denn so kann sie uns durch den Berliner Stadtverkehr navigieren.
Komfortabel im Doblò chauffieren lassen kann man sich also allemal, da Annette aber auch einen Führerschein hat, zieht es sie auf
den Fahrersitz. „Das ist die Standardausstattung“, hat uns Herr
Kopitzki vom Umrüster REHA Group Automotive am Morgen noch
erklärt. „Im Normalfall wird jedes Auto individuell an den Fahrer
angepasst.“ Allein bei der Handgasanlage gibt es zig Varianten,
aus denen sich Annette ihren Favoriten aussuchen könnte. Die
standardisierten Vorrichtungen lassen sich auch direkt beim
Fahrzeugkauf mitbestellen.
extras
#7
Wenn ansonsten Ledersitze und Wurzelholzarmaturen zu den
Extras gehören, würde Annette eher auf einen Schwenksitz oder
ein Rollstuhlverladesystem setzen. Hierfür, wie auch für den
Multicommander am Lenkrad wäre ebenfalls Herr Kopitzki ihr
Mann. „Wir suchen für jeden Kunden die passenden Komponenten aus und arbeiten mit internationalen Herstellern zusammen,
um die bestmögliche Abstimmung zu garantieren. Jeder Mensch
ist anders und das Auto muss perfekt zum Fahrer passen. Das ist
ein intensiver Prozess und dass der TÜV und die DEKRA am Ende
ihren Segen geben, dafür sorgen wir natürlich ebenso wie für die
Absprache mit dem Kostenträger.“ Gegen ein Sahnehäubchen wie
die Blue & Me Kommunikations- und Multimedia-Vorrichtung am
Lenkrad hätte Annette jedenfalls nichts einzuwenden.
Hackescher Markt
Obwohl der Hackesche Markt längst kein Geheimtipp mehr ist,
sondern hoch frequentierter Touristen-Favorit, darf er bei keinem
Berlin-Besuch fehlen. Hier reihen sich hippe Designer-Geschäfte
an Cafés, Dönerbuden an Kunstgalerien, Confiserien an Nachtclubs und ergeben eine bunte Mischung aus Kunst, Kultur, Shopping, Wohnen und Gastronomie. Besonders beliebt sind die verzweigten Hackeschen Höfe, dieser einzigartige Hinterhofkomplex,
der mit seinen wunderschönen Fassaden heute noch das Flair der
Gründerzeit versprüht. Dort ist zwar ebenfalls viel los, in einem
bequemen Restaurantstuhl sind die vorbeiströmenden Menschen
allerdings eine willkommene Unterhaltung. So zum Beispiel im
ebenerdigen Café Oxymoron, gleich hinter dem Hackeschen Hof,
wo sich Annette und Simone nach einem windigen Tag eine heiße
Schokolade gönnen. Über einen Aufzug im Hof lässt sich mit dem
Euro-Schlüssel die Behindertentoilette erreichen und am Abend
lädt das ebenfalls mit einem Aufzug ausgestattete Chamäleon
Theater nebenan zur „Caveman“-Comedy-Show ein oder es
stehen bis in die Morgenstunden jede Menge Bars und Clubs
zur Wahl. www.hackescher-markt.de, www.hackesche-hoefe.com,
www.chamaeleonberlin.de
Nachdem der Tag mit Annette und Simone so viel Spaß gemacht hat,
kommen wir vielleicht für einen „Berlin bei Nacht“-Check wieder.
Danke ihr beiden! Und jetzt, liebe Leser: Nachmachen!
lift
fazit
Beim ersten Stopp an der Siegessäule kam der Hecklift zum
Einsatz. Er ist platzsparend im Heckbereich verstaut und gewährt
dem Fahrer freie Sicht nach hinten. Simone braucht dank der
kinderleichten Nummerierung der Fernbedienung nicht einmal
eine Einführung und Annette kann in Nullkommanichts aus- oder
einsteigen und freut sich außerdem darüber, dass der Lift – im
Gegensatz zu anderen, die sie bereits benutzt hat – fast geräuschlos in die gewünschte Position fährt. Bis 300 Kilo kann er heben,
Leichtgewicht Annette könnte also noch jede Menge KaDeWeShoppingtüten auf dem Schoß transportieren.
Der Fiat Doblò mit Hochdach bringt schon ab Werk die entscheidenden Kriterien mit, damit nicht nur ein City-Check, sondern
auch tägliche Mobilität kein Problem ist. Mit einer Umrüstung
durch die REHA Group wird aus jedem Auto ein Unikat, das für
seinen Fahrer maßgeschneidert ist. Trotzdem bleibt es aber auch
für Menschen ohne Einschränkung fahrbar, weswegen es sich
Annette auch jederzeit wieder im Heckbereich bequem machen
und Simone die Heimfahrt übernehmen kann.
www.fiatdoblo.de, www.reha.com
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Personality
NV
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Berufsleben
Nick Vujicic
„Ich bin kein Superheld, aber dafür weiß ich,
dass man viel mehr aus einem harten Tag
lernt als aus einem sorgenfreien.“
Nick Vujicic ist alles andere als ein klassisches Idol. Doch für viele Menschen ist sein Auftreten beeindruckender als die sonst so populäre Kombination aus Schönheit, Ruhm und Reichtum. Jeden dritten Tag tritt der Motivationsredner in einer anderen Stadt auf, begeistert, gibt Hoffnung und verändert so manches Leben. Während seines ersten Deutschlandbesuchs gewährte uns der Australier, der ohne Arme und Beine zur Welt kam,
einen Einblick in die Geschichte, die hinter seinen einundneunzig Zentimetern geballter Lebensfreude steckt.
Text: Hanna Marlene Dittmer / Fotos: Brunnenverlag
Sitzt man Nick Vujicic gegenüber, kann man sich kaum
vorstellen, wie sehr der heute 28-Jährige früher mit seinem
Aussehen zu kämpfen hatte. „Lass dich drücken“ lautet seine
Begrüßung. Denn Nick schüttelt keine Hände, er lässt sich
lieber umarmen. Und das kann er richtig gut. So gut, dass
man meint, seine Arme auf dem eigenen Rücken zu spüren.
Und er strahlt Selbstvertrauen aus. Selbstvertrauen gepaart
mit einer großen Portion innerer Ruhe. Dann erzählt er. Von
seiner Kindheit in Australien und von den schweren Depressionen, mit denen er in seiner Jugend zu kämpfen hatte und
die ihn bis zu einem Selbstmordversuch trieben. Immer als
„anders“ zu gelten und auch so behandelt zu werden, machte
ihm schwer zu schaffen. „Ich wollte endlich keine Last
mehr für meine Familie sein und hatte die Hänseleien in der
Schule satt.“ Doch mit Hilfe seiner Eltern war er bald selbständiger als viele Gleichaltrige. Gemeinsam entwickelten
sie Tricks, mit denen er sich im Alltag beinahe völlig alleine
bewegen konnte. „Zum Beispiel hatte ich, um meine Haare
selbst waschen zu können, eine Art Fuß-Pumpe, aus der ich
das Shampoo direkt an die Duschwand beförderte. Wenn ich
dann meinen Kopf an der Wand rieb, wurde das Shampoo
einmassiert.“ Mit zunehmender Selbständigkeit schwanden
seine Ängste. Stück für Stück rückten seine Begabungen in
den Vordergrund und ließen die Dinge, die er nicht so gut
konnte, unwichtiger werden.
„Ich habe ein paar
Schuhe in meinem
Schrank stehen –
denn man kann ja
nie wissen.“
So lernte er schon im Alter von zwei Jahren schwimmen,
entdeckte seine Fähigkeit außergewöhnlich lange die Luft
anhalten zu können und war ab diesem Zeitpunkt kaum mehr
aus dem Pool heraus zu bekommen. Wie man ohne Arme
und Beine schwimmen kann? Das haben wir uns auch gefragt. Aber Nick kann ziemlich viel, was man ihm aufgrund
seines Aussehens nicht zutrauen würde. Sein „little chicken
drum stick“, wie er seinen kleinen linken Fuß selbstironisch
nennt, ist ihm dabei ein unersetzbares Werkzeug. „Beim
Schwimmen nutze ich ihn wie einen Propeller, der mich über
Wasser hält. Aber vor allem beim Schreiben auf der Tastatur,
beim Telefonieren und natürlich bei der Bedienung meines
Elektrorollstuhls ist er mir eine große Hilfe“, erklärt Nick.
In seinem gerade in Deutschland erschienenen Buch „Leben
ohne Limits“ erzählt er, dass der witzige Name von seiner
Schwester Michelle stammt. Denn als sie noch klein waren,
hatte ihr Hund immer versucht, an Nicks linkem Füßchen
zu knabbern und die einzige für Michelle logische Erklärung dafür war, dass er ihn wohl mit einer Hähnchenkeule
verwechseln musste.
Von diesen Anekdoten hat Nick eine Menge auf Lager und er
freut sich, wenn er die Kleinen und Großen in seinem Publikum damit zum Lachen bringen und zum Nachdenken anregen
kann. Über 37 Länder von Ägypten über Serbien bis nach
China hat er schon besucht und es ist vor allem Inspiration
und Kraft, was Nick den Kindern, Häftlingen und Gläubigen
in den Gesprächen gibt – und selbst schöpft. Er erinnert sich
noch ganz genau an den Moment, als während seines ersten
großen Auftritts ein junges Mädchen mit Tränen in den Augen
zu ihm auf die Bühne kam: „Als sie mich umarmte und mir
sagte, dass ich mit meinen Worten ihr Leben verändert hätte,
wusste ich, dass ich meine Bestimmung gefunden hatte. Wenn
es mir gelingt, mit meiner Geschichte auch nur ein fremdes
Leben zu berühren, so ist das ein Wunder und mein Leben
bereits lebenswert.“ Dass er solche Aussagen im Verlauf der
Jahre immer mehr mit einer religiösen Bedeutung versieht und
sich seine Wahlheimat Amerika auch auf die Tonalität seiner
Vorträge niederschlägt, sagt manchen Menschen mehr, anderen weniger zu. Doch egal, ob man nun selbst gläubig ist oder
nicht, amerikanisches Pathos schätzt oder eben nicht – es gibt
kaum jemanden, der nicht von Nicks Auftreten beeindruckt ist.
Schließlich hat er auch abseits des Rednerpults Erstaunliches
erreicht. Obwohl es zunächst schwer vorstellbar ist, zählen
Surfen (unter anderem mit Bethany Hamilton, siehe Seite 10),
Golfen, Angeln und Fußballspielen heute ebenso zu Nicks
großen Leidenschaften wie seit kurzem die Schauspielerei. Für
seine Darstellung des „Will“ im Kurzfilm „Butterfly
Circus“ wurde er beim Method Film Festival 2010 sogar
mit einem Award als „Bester Schauspieler“ ausgezeichnet.
Lässt man sich all das von ihm erzählen, kommen einem tatsächlich Bilder von Superhelden in den Sinn. Von solchen, die
ohne Flügel fliegen können, oder mit ihren Gedanken das Böse
ausschalten. Aber Gott sei Dank hat auch Nick eine menschliche Seite: „Natürlich habe ich auch schlechte Tage – ich bin
kein Superheld. Aber dafür weiß ich, dass man viel mehr aus
einem harten Tag lernt als aus einem sorgenfreien.“ Und er gibt
zu, dass er überhaupt nicht mit Menschen zurechtkommt, die
mit seinem Tempo nicht mithalten können. „Ich bewege mich
immer sehr schnell und wenn jemand langsam neben mir herläuft, kann mich das zur Weißglut bringen. Ich kann schrecklich ungeduldig sein.“
Allein im letzten Jahr hat Nick 120 Mal ein Flugzeug bestiegen, um jeden dritten Tag vor einem anderen Publikum
seine Geschichte zu erzählen. Aber jetzt möchte er gerne
einen Gang zurückschalten, vielleicht an seiner Filmkarriere
arbeiten oder mal wieder auf ein Surfbrett steigen. Und ganz
wichtig: die Hoffnung nie aufgeben. „Als ich jünger war, habe
ich immer davon geträumt, eines Tages ein eigenes Auto fahren zu können. Mit dem Kapitel habe ich zwar vorerst abgeschlossen, aber wer weiß, vielleicht wird doch irgendwann ein
Auto gebaut, das ich mit einem Joystick mit meinem Füßchen
bedienen kann. Die Hoffnung gebe ich nicht auf. Genauso
wie ich ein paar Schuhe in meinem Schrank stehen habe –
denn man kann ja nie wissen.“
Blickfang
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Mehr über dieses ungewöhnliche Model gibt es auf Seite 30.
Berufsleben
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23
„Seht eure
Vorteile,
nicht eure
Nachteile!“
Warum Behinderung
im Beruf kein Manko
sein muss.
Text: Anke Eberhardt / Fotos: Hansi Herbig
Simon, du hattest im Alter von 17 Jahren einen Moped-Unfall
und dein linkes Bein musste amputiert werden. Gab es berufliche Pläne, die du deswegen verwerfen musstest?
Nein. Ich wollte schon immer Maschinenbau studieren
und das hab ich dann auch gemacht.
Aber hättest du auch ohne deinen Unfall angefangen
im Bereich Prothetik zu arbeiten?
Nein, wahrscheinlich nicht. Vorher war für mich eher die
Autoindustrie interessant. Aber dann dachte ich: Eigentlich
wäre ich doch der perfekte Ingenieur für die Branche, da
ich die Produkte ja selber testen kann.
Im Grunde genommen hast du deinen Kollegen gegenüber
also sogar einen Vorteil durch deine Behinderung.
[Lacht] Ja, denn es ist gar nicht so einfach, gute Testpersonen zu finden, die Zeit haben, um uns wichtiges Feedback
zu geben. Da ist es natürlich praktisch, wenn ich ganz
unbürokratisch selbst eine Prothese ausprobieren kann.
Was ist deine Aufgabe bei Streifeneder?
Ich bin in der Produktentwicklung und im Produktmanagement, zum Beispiel für CPI-Füße, die wir aus den USA
zukaufen. Dort habe ich letztes Jahr auch meine Diplomarbeit geschrieben.
Erschwerend hinzu kommt, dass Personaler eventuell befürchten, ein körperlich eingeschränkter Mensch könnte nicht
genauso leistungsfähig sein wie seine gesunden Kollegen.
Man darf natürlich nicht verallgemeinern. Zuallererst kommt
es natürlich auf die Schwere der Einschränkung und die spezifischen Anforderungen für den Job an. Dann gibt es aber
leider Leute, die ihre Behinderung als Vorwand nutzen, wenn
sie etwas nicht machen wollen. Oder solche, die überehrgeizig sind und meinen, jetzt erst recht 150 Prozent geben zu
müssen. Grundsätzlich fordern wir Behinderten ja immer,
ganz normal behandelt zu werden. Und dazu gehört nun mal
auch, dass man einen Job nicht bekommt, wenn man nicht
für ihn geeignet ist.
Du warst als Sportschütze und alpiner Skifahrer bei den
Paralympics. Bist du also generell sehr ehrgeizig?
Wie zeigt sich das im Job?
Ich habe zwar keine „Jetzt-erst-recht-Perspektive“, aber ich
bin schon sehr zielgerichtet. Ich glaube, wenn man einmal
die Erfahrung gemacht hat, dass man sich etwas vorgenommen und auch erreicht hat, dann nimmt man immer wieder
neue Herausforderungen an. Das habe ich durch den Behindertensport gelernt und dadurch Selbstvertrauen aufgebaut.
Dass man mit seiner Behinderung zurechtkommt, ist dann
irgendwann selbstverständlich. Darüber mache ich mir
heute überhaupt keine Gedanken mehr und meine Ziele
stecke ich mir völlig unabhängig davon.
Simon Voit ist 28 Jahre alt und seine zwei Wohnorte
„München und Chiemsee“ hört man ihm an. Jeder
Süddeutsche fühlt sich bei seinem sympathischen
Lokalkolorit sofort sprachlich zu Hause. Emmering
vor den Toren Münchens ist ebenso bayerisch und
Standort der Firma Streifeneder – einem der führenden Unternehmen im Bereich Prothetik in Deutschland, Simons Arbeitgeber und gleichzeitig Hersteller
seiner eigenen Prothese. Ist das nun eine Notlösung
oder im Gegenteil eine „Win-Win-Situation“?
Wie viele Menschen mit körperlichen Einschränkungen
arbeiten sonst noch in deinem Büro?
In der Abteilung Technik und Entwicklung keiner, im Unternehmen sind es insgesamt 22 bei fast 500 Mitarbeitern.
Von einer Firma, die selbst in diesem Bereich tätig ist,
erwartet man eigentlich eine höhere Behinderten-Quote.
Das liegt aber nicht am Unternehmen, sondern an den
Bewerbern. In unserem Fall existieren die Leute einfach
nicht. Es wundert mich total, dass sich nicht mehr Menschen, die selbst betroffen sind, für den Bereich interessieren. Bei mir an der Uni waren insgesamt maximal fünf
Leute, die eine Behinderung hatten, im Maschinenbau
war ich allein. Das ist leider an fast jeder Hochschule so.
Was meinst du, woran das liegt?
Egal, ob im schulischen System oder im Beruf, eine körperliche Behinderung wird immer noch als Manko angesehen –
aber das ist sie eigentlich nicht, denn sie schränkt einen nicht
im Denken ein. Das ist auch ein gesellschaftliches Problem,
das schon damit anfängt, dass körperlich behinderte Kinder
zum Teil auf Förderschulen geschickt werden. Dadurch
wird ihnen der Weg aufs Gymnasium oder die Uni verwehrt.
Und dann müssen es sich die Menschen natürlich auch selbst
zutrauen, was noch viel schwerer ist, wenn man nicht von
Anfang an unterstützt, sondern eher aufs Abstellgleis
geschoben wird. Das ist ein Teufelskreis!
Berufsleben
„Am Ende kommt
einem die Behinderung vielleicht auch
wieder zugute.“
SV
Und früher?
Ich habe schnell gemerkt, dass ich mich nicht auf meiner
Behinderung ausruhen kann. Nach den Paralympics in Turin
war es ziemlich schwer für mich, wieder ins Studium zu
finden und ich musste ganz normal die verpassten Prüfungen nachholen. Am Anfang war ich davon ausgegangen,
dass mich die FH für die Paralympics in jeglicher Hinsicht
unterstützen würde. Mit zwei Fristverlängerungen hat das
auch gut funktioniert, alles Weitere war denen aber ziemlich egal und mir wurde klar, dass ich mich genau wie alle
anderen auf meinen Allerwertesten setzen muss – und eben
noch mehr, wenn ich nebenbei Leistungssport machen will.
Am Ende habe ich das Vordiplom nur mit Ach und Krach
geschafft [lacht]. Aber ich habe nicht aufgegeben und das
zahlt sich jetzt aus. Ich hatte natürlich auch Glück, dass
Streifeneder die Vorteile erkannt hat, jemanden wie mich
im Boot zu haben. Mein beruflicher Plan ist also aufgegangen und dadurch habe ich auch wieder Selbstvertrauen
gewonnen. Früher war ich total unsicher, wenn ich einem
Professor gegenübergesessen bin, mittlerweile habe ich zu
internationalen Lehrstühlen Kontakt, reise viel und gehe auf
Kongresse. Das hätte ich mir damals nicht träumen lassen!
Was würdest du jungen Behinderten mitgeben,
die ins Berufsleben einsteigen wollen?
Dass man durch seine Behinderung nicht eingeschränkt wird,
wenn man es nicht zulässt und dass man seine Ziele verfolgen
soll, so wie jeder andere auch. Und je optimistischer man etwas
angeht, desto besser. Am Ende kommt einem die Behinderung
vielleicht auch wieder zugute. Denn wenn man in seinem Job
gut ist, macht das mitunter doppelt Eindruck. Das hört sich
zwar blöd an, aber man muss seine Einschränkung in manchen
Dingen auch ausnutzen können, ohne ein schlechtes Gewissen
zu haben. Ich parke sehr gerne auf dem Behindertenparkplatz,
anstatt stundenlang nach einem normalen zu suchen und vielleicht hätte ich meinen Job mit zwei Beinen heute nicht.
Also seht eure Vorteile, nicht eure Nachteile!
Gibt es etwas in deinem Job, worauf du besonders stolz bist?
Nun ja, so lange bin ich ja noch nicht dabei. Aber um ein
bisschen zu fachsimpeln: Ich habe zum Beispiel basierend
auf neuen Berechnungsmethoden die Gelenkkette des 3A2000
Kniegelenks angepasst. Das heißt ganz einfach, dass das Gelenk in der Standphase jetzt sicherer ist. Am tollsten finde ich,
an innovativen Produkten mitzuarbeiten, die es so noch nicht
gibt. Wir haben natürlich einige Ideen, die im Moment in der
Entwicklung stecken, aber darüber kann ich nicht sprechen.
[Grinst]
Gesellschaft
24
25
USA, Land der
unbegrenzten
(Zugangs-)
Moglichkeiten
Auch für Rollstuhlfahrer?
In Kalifornien kann barrierefreier Zugang bei Geschäften eingeklagt werden. Dass die
verhängten Geldstrafen dem Kläger zugesprochen werden, hat nicht nur positive Effekte.
Text: Alex MacInnis / Fotos: Alex MacInnis
Von einer belebten Straße in Los Angeles biegt ein blauer
Minivan in die Einfahrt eines Möbelgeschäfts und hält auf
dem einzigen Behindertenparkplatz. Langsam klappt sich eine
Laderampe an der Seite des Vans aus und streckt sich in einen
mit diagonalen Linien markierten Bereich auf dem Asphalt,
der davon abhalten soll hier zu parken. Vollständig ausgefahren reicht die Rampe allerdings weit über den Parkplatz hinaus.
Wollte der Fahrer, Tom Mundy, hier wirklich herunterrollen,
würde er direkt in ein paar Büschen landen, denn die gestreifte
Fläche ist nur anderthalb Meter breit. Gesetzlich vorgeschrieben sind hingegen knapp zweieinhalb Meter. „Ich bin in meinem Auto gefangen“, sagt er, in seinem Rollstuhl oben an
der Rampe sitzend. „Ich kann nicht raus.“
Es gibt eine Vorgeschichte zu Tom Mundy und diesem Parkplatz. Das erste Mal fuhr er hierher, um einen Esstisch zu kaufen. Aber nachdem er nicht aus seinem Van aussteigen konnte,
verklagte er den Besitzer des Geschäfts. Die nationale Gesetzgebung für die Rechte behinderter Menschen, der „Americans
with Disabilities Act“ (ADA), erlaubt es Einzelpersonen in
ganz Amerika, Geschäfte auf barrierefreien Zugang zu verklagen. Allerdings ist Kalifornien einer der wenigen Staaten,
in denen auch Geldbußen gezahlt werden müssen – und zwar
Tausende von Dollars, direkt an den Kläger. Und so verdient
Tom Mundy, ebenso wie eine Handvoll weiterer Menschen,
seinen Lebensunterhalt. Allein in seiner Nachbarschaft kann
Mundy ein halbes Dutzend Parkplätze aufzählen, deren Besitzer er wegen nicht vorhandener oder nicht vorschriftsmäßiger
Barrierefreiheit verklagt hat. Er schätzt, seit seinem Umzug
nach Kalifornien vor drei Jahren, über fünfhundert Verfahren
eingeleitet zu haben. Wie viel er dabei verdient hat, will er
nicht sagen, aber ein Anwalt, der Geschäftsbesitzer in einigen dieser Fälle beraten hat, schätzt, dass Mundy inzwischen
rund eine halbe Million Dollar durch solche Klagen verdient
hat. „Viele Menschen denken nur ans Geld, aber es geht nicht
immer nur darum“, entgegnet Mundy. „Es geht um die Einhaltung der Gesetze. Das hätte alles schon erledigt sein müssen,
bevor ich kam.“
Mundy sitzt seit einem Motorradunfall 1988 im Rollstuhl.
Nach Inkrafttreten des ADA 1990 überprüfte er für eine Firma
Gebäude auf ihre Übereinstimmung mit den Vorschriften zur
Barrierefreiheit. In einem Fall lagen die betreffenden Büros
im zweiten Stock, nur erreichbar über eine Treppe. Also
arbeitete Mundy allein in einer Abstellkammer im Erdgeschoss. Die Toiletten befanden sich allerdings ebenfalls im
zweiten Stock. Um entsprechenden Bedürfnissen nachzugehen, musste er daher das Gebäude verlassen, in seinen
Van steigen und zur nächsten Tankstelle fahren. Vom Bedarf
überzeugt, versuchte er, seine eigene Beratungsfirma zu
gründen und Unternehmen dabei zu helfen, die gesetzlichen
Auflagen zu erfüllen. Doch die waren nicht interessiert. So
beschloss Mundy fünfzehn Jahre nach Verabschiedung des
ADA, immer noch ständig mit dessen Nichteinhaltung und
entsprechenden Hindernissen in seinem Alltag konfrontiert,
die Samthandschuhe auszuziehen. Und zwar mit Hilfe eines
Anwalts: Morse Mehrban.
Mehrban hat schon mehrere tausend Prozesse in Sachen
Behindertenrecht geführt. Auf seiner Website heißt es: „Sie
sind Rollstuhlfahrer in Kalifornien? Sie kaufen in einem
Baumarkt ein und müssen die Toilette benutzen, aber es gibt
keine Haltegriffe? Sie könnten 4.000 Dollar zugesprochen
bekommen. Sie sind in einem Restaurant und möchten sich
frisch machen, doch der Spiegel auf der Toilette ist zu hoch
für sie angebracht? Sie könnten 4.000 Dollar zugesprochen
bekommen.“ Mehrban betont, dass das Gesetz auf Geldanreize angewiesen ist. „Schon im Wilden Westen gab es
monetäre Aufwandsentschädigungen, wenn jemand einen
Verbrecher gestellt und ihn der Justiz übergeben hat“, argumentiert er. Der Vergleich ist treffend gewählt, zumal keine
staatliche Stelle existiert, die die Einhaltung der amerikanischen Behindertengesetze überwacht und Vergehen bestraft.
Nicht die Bundesbehörden, nicht die Staaten – niemand. Die
einzigen Kontrollen werden tatsächlich von Einzelpersonen
durchgeführt, die selbst körperlich eingeschränkt sind und
das Risiko und die Kosten eines Prozesses in Kauf nehmen.
Die Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften ist in den meisten Staaten daher bestenfalls sporadisch festzustellen. Aber
Anwälte wie Mehrban und eine Handvoll seiner Kollegen,
die sich ebenfalls auf diese Problematik spezialisiert haben,
konnten dazu beitragen, dass Kalifornien inzwischen zu den
barrierefreiesten Staaten der USA zählt. Und zu jenen, in
denen am meisten geklagt wird. Juristen schätzen, dass allein
im Golden State bisher über 14.000 ADA-bezogene Klagen
eingereicht wurden.
Berufsleben
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Kim Blackseth betreibt eine
Beratungsfirma, die Unternehmen dabei hilft, die komplexen
Richtlinien für behindertengerechten Zugang einzuhalten. Die
Gesetze sind extrem detailliert
und technisch – und manchmal
widersprechen sich nationale
und staatenspezifische Vorschriften sogar. So schreibt ein
Gesetzbuch vor, dass eine Gehwegrampe für Rollstuhlfahrer
stufenlos enden muss, während ein anderes eine Kante von
sechs Millimetern fordert, um es Blinden zu erleichtern, ihren
Stock zu benutzen. Außerdem schwanken je nach Größe des
Unternehmens
die Anforderungen.
Auch ein kleiner Familienbetrieb muss kostengünstige Anpassungen vornehmen, was
ein Grund dafür ist,
warum viele der Klagen minimale „formale“ Gesetzesübertretungen monieren. „Es gibt
kein einziges Gebäude
in ganz Kalifornien,
in dem ich nicht mindestens eine formale
Hürde finden kann“,
so Blackseth. „Es ist
keine Herausforderung,
runter auf die Straße
zu gehen und de facto
strafbare Zustände ausfindig zu machen. Und
wenn das jemandes
Ziel ist, kann er jeden
Tag aufs Neue prozessieren gehen. Die
Frage ist nur: Wann ist
es wirklich wichtig?“
Blackseth, der nach einem Unfall 1979 selbst
im Rollstuhl sitzt, hält
den Umstand, dass Kalifornien so vorbildlich barrierefrei ist,
ebenfalls für ein Verdienst der Klagen. Er
ist allerdings auch davon überzeugt, dass deren Ausmaß inzwischen dazu geführt hat, Geschäftsinhaber gegenüber behinderten Menschen misstrauisch zu machen.
„Wenn ich in ein Restaurant komme oder ein Hotelzimmer
mieten will, merke ich die Anspannung der Leute. Man
kann ihnen ihre Sorge quasi von der Stirn ablesen: ‚Wird
mich der Kerl verklagen?’ Kunden, die zum Beispiel ein
Motel besitzen, geben zu, dass sie barrierefreie Zimmer oft
nicht vermieten. Das Risiko, dass irgendetwas nicht stimmt
und sie verklagt werden, ist es im Vergleich zur Einnahme
einer Übernachtung einfach nicht wert. Dann ist das
Hotel plötzlich ausgebucht.“
27
Doch der Staat lässt ihr wenig andere Möglichkeiten. Nachdem es keine Überwachungsinstanzen gibt, die die Einhaltung der Gesetze kontrollieren, werden Einzelpersonen dazu
gezwungen, ihre Rechte selbst einzufordern. Sie müssen für
sich selbst entscheiden, was sie bereit sind in Kauf zu nehmen,
für was es sich zu kämpfen lohnt und wann – wenn überhaupt
jemals – es sich auszahlt, einfach nett zu fragen.
Reisen
Auf und davon
Margaret Johnson ist Anwältin
und steht Kaliforniens größter
Interessensgruppe vor, die sich
für die Rechte von Behinderten
einsetzt. Sie war an einigen der
größten Sammelklagen in dieser Causa beteiligt. Als jemand,
der aber auch selbst den größten Teil seines Lebens im Rollstuhl verbracht hat, weiß sie aus
eigener Erfahrung, dass für viele Menschen nicht monetäre,
sondern soziale und emotionale Aspekte im Vordergrund stehen, wenn geklagt wird. Vor einem Jahr übermalte ihr Friseur
gesetzeswidrig die Markierungen auf seinem Parkplatz, die
es ihr bisher ermöglicht
hatten, die Rampe für
ihren Rollstuhl auszufahren. „Ich habe das meiner
Friseurin gesagt und sie
meinte, sie würde die Besitzer darauf hinweisen“,
erzählt Johnson. Doch
selbst nach mehreren
Besuchen und weiteren
Diskussionen blieb alles
unverändert. „Da ist also
ein Geschäft, das sogar
barrierefreien Zugang hatte, ihn beseitigt hat, ohne
zu wissen warum und
noch nicht mal Interesse
daran zeigt, ihn wieder
herzustellen“, fasst Johnson resigniert zusammen.
„Ich mag meinen Friseur
so sehr, dass ich mich
damit abgefunden habe.
Ich habe keinen Brief
geschrieben, ich habe
keine Klage eingereicht.
Aber solche Umstände
können einen in die Lage
eines zickigen, nervigen,
fordernden, behinderten
Menschen drängen, den
niemand leiden kann und
mit dem sich niemand
herumschlagen will.
Deswegen sind die Strafzahlungen manchmal eher
eine Art emotionale Entschädigung. Ich meine: Warum kann ich nicht einfach sagen
‚Hier gibt es ein Problem, bitte beheben Sie es’, und es wird
erledigt? Warum muss ich bis zu dem Punkt getrieben werden,
an dem ich mich genötigt fühle zu klagen?“
Drei der schönsten barrierefreien
Ausflugsziele in Deutschland
Foto: Merle Levy
Gesellschaft
Safari mal anders
Tagebau in der Lausitz
Statt der Savanne gibt es hier aktiven Tagebau zu erkunden,
statt Großwild gigantische Maschinen zu bestaunen. Drei bis
vier Stunden dauern die barrierefreien Jeeptouren (Kostenpunkt:
49,- Euro) durch eine Landschaft, die stark an die Sahara erinnert, aber mitten in Deutschland, genauer in der Niederlausitz in
Brandenburg liegt. Definitiv ein ungewöhnliches Ausflugsziel, denn
wer kann schon behaupten, einmal live dabei gewesen zu sein,
wenn pro Sekunde eine Tonne Kohle zu Tage gefördert wird? Und
auch die umliegende Seenlandschaft und der nahe Spreewald
sind einen Besuch wert! Das barrierefreie Besucherzentrum ist
von November bis März jeweils Montag bis Freitag von 10 bis 16
Uhr geöffnet, von April bis Oktober täglich von 10 bis 18 Uhr. Tel.
035751 275050. Geführte Touren und weitere Informationen finden
sich auf www.bergbautourismus.de. Auf www.niederlausitz.de gibt
es einen eigenen „Barrierefrei“-Button für weitere Tipps.
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daheim beim Märchenkönig
Schloss Neuschwanstein
Natur im Überfluss
Naturpark Hohes Venn-Eifel
Mitten im Deutsch-Belgischen Naturpark Hohes Venn-Eifel liegt
ein Nationalpark, der größer als das Saarland ist und seit Mai
dieses Jahres einen barrierefreien Natur-Erlebnisraum beherbergt.
Fein geschotterte Wege (insgesamt 4,7 Kilometer) erschließen den
Bergrücken des Wilden Kermeter im Herzen des Parks und führen
die Besucher zu beliebten Aussichtspunkten und an zahlreichen
Rastmöglichkeiten vorbei. Auch alle anderen Einrichtungen wie
Parkplatz, Bushaltestelle und Sanitäranlagen sind barrierefrei. Wer
nicht auf eigene Faust losziehen möchte, kann den Park bei einer
Führung bequem vom Planwagen aus kennenlernen, denn eine
Rampe steht zur Verfügung. Ganzjährig, täglich und ohne Öffnungszeiten zugänglich, Eintritt frei. Die Planwagen-Rundfahrt wird
von April bis Oktober jeden 1. und 3. Sonntag jeweils um 11.30
und 14.15 Uhr für 9,- Euro angeboten, keine Voranmeldung nötig.
Tel. 02444 951071, www.nationalpark-eifel.de
und www.eifel-barrierefrei.de
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Als Ludwig II. 1869 den Grundstein für Schloss Neuschwanstein
legte, ahnte er nicht, dass 150 Jahre später jährlich rund 1,3
Millionen Besucher sein Zuhause betreten würden. Normalerweise müssen während der 35-minütigen Führung 346 Stufen
erklommen werden, doch für Rollstuhlfahrer gibt es einen ganz
besonderen Service: einen Aufzug vom Erdgeschoss bis hinauf
in den 3. Stock, in die ehemalige königliche Privatwohnung. So
stehen jedem die prunkvollen Gemächer des Märchenschlosses
offen. Etwa der Thronsaal und seine riesigen goldenen Kronleuchter, die künstliche Tropfsteinhöhle mit Wasserfall oder das
Schlafzimmer, an dessen detaillierten Holzverzierungen vierzehn
Schnitzer vier Jahre lang gearbeitet haben. Wer in diese Traumwelt eintauchen möchte, sollte sich vorher im Ticket-Center
Hohenschwangau (Tel. 08362 930830, www.hohenschwangau.
de) anmelden. Von dort aus fahren dann am Ausflugstag Kutschen
hinauf zum Schloss und der zusammengeklappte Rollstuhl kann
mit an Bord. Bis zum barrierefreien Haupteingang sind es auf
geteerter Straße noch etwa 500 Meter bei 10% Steigung. Ab hier
steht ein Angestellter der Schlossverwaltung als Begleitung für
die Dauer der gesamten Führung zur Verfügung. Täglich geöffnet,
von April bis September von 9 bis 18 Uhr, von Oktober bis März
von 10 bis 16 Uhr, Eintritt: 12,- Euro. www.neuschwanstein.de
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Fotos: 1 © Oliver Bothe, 2 © Mützenich 2010, 3 © Naturpark Nordeifel e.V., 4 © Bayerische Schlösserverwaltung
Personality
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Berufsleben
„Marienhof“,
Klappe die 2956te.
Und was kommt jetzt, Herr Aljukic?
Dreizehn Jahre lang spielte Erwin Aljukic den Frederik Neuhaus in der ARD-Vorabendserie „Marienhof“.
Anfang dieses Jahres wurde die Sendung nach über 4000 Folgen abgesetzt. Wir haben ihn auf einen Kaffee
getroffen, um zu erfahren, wie das Leben als einer der bekanntesten deutschen Schauspieler im Rollstuhl
so ist, welche Rolle die Medien seiner Meinung nach für den Umgang mit dem Thema Behinderung spielen
und vor allem, wie es nun für ihn weitergeht nach 2956 Folgen „Marienhof“.
Text: Hanna Marlene Dittmer / Foto: Manuel Liemann
Erwin, du warst jahrelang im Fernsehen. Wie hat sich dein persönlicher Umgang mit den Medien im Laufe der Zeit verändert?
Wie hat sich dein Leben verändert, seitdem du nicht mehr
für „Marienhof“ vor der Kamera stehst?
In Sachen PR-Arbeit habe ich mich am Anfang, als ich noch
keinerlei Erfahrung hatte, auf Dinge eingelassen, die ich
heute nie mehr machen würde. Zum Beispiel war ich bei
der Talkshow „Hans Meiser“ eingeladen. Das Thema war:
„Schaut mich nicht so an, nur weil ich anders aussehe“. Das
war wirklich furchtbar, so ein... mir fehlen die Worte – ja, ein
Skurrilitäten-Kabinett. Ich hatte mich zusammen mit meiner
Presse-Dame natürlich vorher abgesichert, dass das Thema in
unserem Sinne behandelt wird und dann sitze ich da, rechts
neben mir ein Kind mit Progeria, also der Krankheit des
schnellen Alterns, und links neben mir ein Mann mit nur einem halben Gesicht. Das war genau das, was ich nicht wollte,
denn das war im Grunde nicht anders als die Präsentation von
‚Aussätzigen’ auf den Jahrmärkten vor hunderten von Jahren.
Es fühlt sich so an, als wären mir Ketten abgenommen worden. Ich kann es gar nicht richtig beschreiben. Zum ersten
Mal in meinem Leben kann ich tun und lassen was ich will.
Zurückblickend weiß ich, dass mein Denken all die Jahre
sehr begrenzt war. Ich hatte einfach zu oft das Gefühl, immer wieder zurechtgestutzt zu werden, an Grenzen zu stoßen
und das hat mich zurückgeworfen. Heute bin ich dagegen
voller Energie und liebe das Gefühl, mal wirklich nur das zu
machen, was mir Spaß macht. Im Moment arbeite ich zum
Beispiel an meinem ersten eigenen Theaterstück, das voraussichtlich im Oktober aufgeführt wird. Das wäre gar nicht
möglich gewesen, wäre ich immer noch bei „Marienhof“.
In das Stück stecke ich einfach alles von mir rein und ich
kann all die Ideen einbringen, die mir wichtig sind. Wie habe
ich neulich zu jemandem gesagt: ‚Ich flirte gerade mit dem
Leben.’ [Lacht] Alles was schön ist, nehme ich mit. In mir
reift zum Beispiel auch der Wunsch heran, mich tänzerisch
auszudrücken. Sobald das Theaterprojekt abgeschlossen ist
und ich mehr Zeit habe, könnte ich mir vorstellen, zu einer
ganz tollen Tanzkompanie nach London zu gehen, in der
Behinderte und Nicht-Behinderte zusammen tanzen und
international auf Tour gehen.
Wie hast du den Umgang mit deiner Behinderung am Set
vom „Marienhof“ wahrgenommen?
Eigentlich genauso wie überall sonst. Am Anfang war schon
eine gewisse Unsicherheit unter den Kollegen und dem
Team vorhanden, aber das hat sich schnell gelegt. Eher ich
selbst bin viel zu lange falsch mit meiner Behinderung umgegangen, habe versucht, mich von diesem Teil von mir zu
emanzipieren und somit auch die Rolle des Frederik von seiner Behinderung abzukoppeln. Doch dann war ich im letzten
Jahr auf einem „Mental Coaching“-Seminar in der Schweiz.
Das klingt jetzt erst mal sehr spirituell, aber seitdem haben
sich mein Leben und mein Denken wirklich komplett verändert. Erst dort ist mir klar geworden, wie viele Menschen
ständig gegen etwas ankämpfen, anstatt die Dinge zuzulassen. Das ganze Leben rennt man einem Bild von sich hinterher. Im Beruf und im Privatleben denkt man immer, dies und
jenes erreichen zu müssen, anstatt in sich rein zu horchen
und auf seine innere Stimme und sein Bauchgefühl zu hören:
‚Was brauche ich? Wer bin ich?’ Erst durch diese ‚Bewusstseinswerdung’ – was für ein hochtrabendes Wort [lacht] –
habe ich verstanden: Genau das macht die Rolle doch für die
Zuschauer aus. Sie finden es gerade interessant zu sehen, wie
Frederik mit seiner Behinderung ein ganz normales Leben
führt. Da wäre es ja komplett unnatürlich, die Behinderung
von der Rolle zu trennen.
„Ich flirte gerade
mit dem Leben.“
Hast du einen Tipp für Menschen mit körperlicher Einschränkung, die den Wunsch haben, Schauspieler zu werden?
Ein paar Jahre nachdem ich bei „Marienhof“ angefangen
habe, wurde an der Akademie für darstellende Kunst in Ulm
der erste Schauspiel-Studiengang Deutschlands entwickelt,
der integrativ arbeitet – also Schauspieler, Regisseure und
Drehbuchautoren mit Behinderung ausbildet. Diesen Studiengang würde ich jedem ans Herz legen, denn die Arbeit, die
dort geleistet wird, ist wirklich großartig. Und es ist immer
noch der einzige Studiengang dieser integrativen Art in
ganz Deutschland.
Integration ist ein gutes Stichwort. Bist du der Meinung,
dass in Sachen Ausbildung und Berufsleben in Deutschland
noch integrativer gearbeitet werden müsste?
Nicht mal unbedingt integrativer, aber ich finde, es muss
einfach jeder die Chance bekommen, das zu machen, was
er gerne möchte. So war es bei mir und der AMD [Akademie Mode und Design München, Anm. d. Red.]. Ich war
damals beim Tag der offenen Tür des Studiengangs „Modejournalismus“, der – ebenso wie die Kurse – in einer alten
Villa mit Hochparterre stattfindet. Das waren eigentlich die
ungünstigsten Voraussetzungen für mich, aber ich habe mir
das angehört und wusste sofort: Genau das ist es, was ich
studieren möchte. Im nächsten Augenblick kam allerdings
sofort der Gedanke: Wie soll ich drei Jahre lang morgens
und nachmittags diese Treppen hoch und runter kommen?
Doch die Studienleitung meinte nur: ‚Erwin, schreib dich
ein, wenn du es wirklich willst und dann schaffen wir auch
das mit den Stufen. Sonst improvisieren wir einfach.’ Spätestens seitdem bin ich der Meinung, dass Leute manchmal
genau zum richtigen Zeitpunkt in dein Leben treten, um dir
etwas zu ermöglichen, was du dir nie erträumt hättest. Der
Einbau eines Treppenlifts in das denkmalgeschützte Gebäude war dann so ein Heckmeck, dass dem Antrag erst an dem
Tag, als ich meine Diplomarbeit angefangen habe, also drei
Jahre später, stattgegeben wurde. Ist doch unglaublich oder
[lacht]? Aber ich hatte ja meine Mädels, die mich morgens
und nachmittags auf ihren Stöckelschuhen die Treppen rauf
und runter getragen haben [lacht weiter].
EA
Wie du weißt, geht es in diesem Magazin auch viel um
Mobilität. Was bedeutet dir deine eigene Mobilität?
Ich glaube, dass gerade hinsichtlich dieses Themas immer
noch viel zu wenig getan wird. Zum Beispiel ist es immer
noch viel zu umständlich, ein Auto zu bekommen, wenn
man im Rollstuhl sitzt. Auch für mich war das ein richtiger
Kampf, bis alles passend umgebaut war und ich endlich
das erste Mal mit meinem eigenen Auto fahren konnte. Ich
habe meinen Führerschein vor acht Jahren gemacht, aber ich
musste noch ganze anderthalb Jahre warten, nachdem ich
den Lappen in der Hand hatte, bis der Antrag für den Umbau
meines Autos durch war. Bis dahin hatte ich das Fahren
schon fast wieder verlernt [lacht]. Hätte ich das gewusst,
hätte ich den Antrag schon lange vor der ersten Fahrstunde
gestellt. Das ist nur ein Beispiel dafür, wie man die Leute
besser und umfassender informieren und somit ein großes
Stück zu einer verbesserten Mobilität beitragen könnte.
Lieber Erwin, vielen Dank für das Gespräch!
Erwin Aljukics Theaterstück wird voraussichtlich ab Oktober
auf der Kleinkunstbühne von Heppel und Ettlich in München
Schwabing aufgeführt. Alle Infos unter www. heppel-ettlich.de
30
Zum Schluss
JA, SIE KENNEN
DIESE FRAU.
AM
Von Seite 20.
Über das Handicap
von Schönheitsidealen
Text: Miriam Dembach / Foto:
Haben Sie es auf den ersten Blick gemerkt? Die Frau auf Seite
20 ist kein gewöhnliches Model. Die Amerikanerin Aimee
Mullins stand schon für die ganz großen Modefotografen vor
der Kamera, ihr Gesicht war auf und in den Top-Magazinen
Vogue, Elle und Dazed & Confused zu sehen und sie gehört
neben Claudia Schiffer, Laetitia Casta oder Milla Jovovich
zum L’Oréal Beauty Team. Soweit alles sehr gewöhnlich für
ein Topmodel. Ungewöhnlich jedoch für eine junge Frau ohne
Unterschenkel. Der heute 35-Jährigen mussten bereits im
Säuglingsalter wegen eines Gendefekts beide Beine unterhalb
der Knie amputiert werden. Doch für die aus Pennsylvania
stammende Aimee kein Grund sich unterkriegen zu lassen. Sie
stellte bei den Paralympics in Atlanta 1996 Sprint-Weltrekorde
auf und debütierte drei Jahre später auf dem Laufsteg des international renommierten Modedesigners Alexander McQueen.
Auf speziell für sie angefertigten Holzprothesen überzeugte
sie auf dem Catwalk. Das darauf folgende Medienecho war
gewaltig. Die Süddeutsche Zeitung sah eine „Gratwanderung
zwischen Schock und Schick“, die französische Tageszeitung
Le Figaro sprach dagegen von Ausbeutung. Man fragte sich:
„Darf man das?“
Hat es die Modebranche also in diesem Fall zu weit getrieben
und ein Tabu zu viel gebrochen? Wollte der Designer auf Kosten eines körperlich behinderten Menschen schockieren? Wurde hier „Leid“ kommerzialisiert, um Kleidung zu verkaufen?
Und wer spricht da eigentlich von Ausbeutung, davon, etwas
zu dürfen oder nicht? Es ist auf jeden Fall nicht Aimee Mullins,
die es sich stattdessen nach eigener Aussage zur Aufgabe
gemacht hat, „das Finden des persönlichen und einzigartigen
Ausdrucks von Schönheit“ öffentlich zu thematisieren, „um
die herrschende Meinung darüber, was schön ist und was
nicht, in Frage zu stellen.“ Sie hat sich bewusst für ihren
Auftritt entschieden.
Wer sich da erzürnt, sind nicht-behinderte Menschen, die
solche Aktionen der Modebranche als provokant und sogar
persönlichkeitsverletzend ansehen. Ist diese Haltung also
Schutz für die vermeintlich Schwächeren? Oder ist es in
Wahrheit Schutz für einen selbst, vor der Anomalie, davor,
in seiner heilen Welt gestört zu werden? Behinderte Models
auf Laufstegen, Werbeplakaten und Anzeigen konfrontieren
die Öffentlichkeit mit Fakten, die viele auszublenden versuchen. Weil sie Mitleid haben? Nein. Weil sie nicht wissen,
wie damit umzugehen. Peter Radtke, Autor, Schauspieler
und Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft Behinderung
und Medien bringt es auf den Punkt: „Nicht die Tatsache,
Werbeträger zu sein, diskriminiert behinderte Menschen“,
dies geschieht vielmehr „dadurch, dass jemand davon ausgeschlossen wird, als Werbeträger in Frage zu kommen“.
Zwölf Jahre sind seit Aimee Mullins’ medienträchtigem
Auftritt vergangen. Zwölf Jahre, in denen die Modebranche abwechselnd auf dicke, dünne, alte oder transsexuelle
Models gesetzt hat. War das alles also nur eine Phase? So
kurzlebig wie die Mode selbst? Allein, dass wir immer noch
darüber reden, diskutieren und uns damit auseinandersetzen,
ist ein Erfolg. Es zeigt, dass es möglich ist, durch so etwas
„Banales“ wie Mode, Augen zu öffnen, einen Austausch zu
erreichen und Unterschiede zu akzeptieren. Wenn Menschen
abseits der Norm zu Werbeträgern werden, wird dies so
lange eine Gratwanderung bleiben, bis die Norm ihr eigenes
Unbehagen beim Anblick eines nicht perfekten Körpers
überwunden hat. Und das geschieht nun einmal nur, wenn
Behinderungen im Alltag präsent werden. Und was ist alltäglicher als Mode?
Eine gute Lösung hat da vielleicht das britische Kaufhaus
Debenhams gefunden, das in seiner Sommermodekampagne
erstmals ein Model im Rollstuhl verpflichtet hat. Shannon
Murray wurde im Kreise ethnisch unterschiedlicher Frauen von jung bis alt, dick bis dünn fotografiert. Hier wurde
nicht schockiert, hier wurde auf einem Werbeplakat Vielfalt
zelebriert. Ein kleiner Meilenstein, zwölf Jahre nach Aimee
Mullins’ fulminantem Laufstegdebüt.
IMPRESSUM
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Chefredaktion: Anke Eberhardt
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