Beitrag zum Wechselschlag des Gitarristen
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Beitrag zum Wechselschlag des Gitarristen
Beitrag zum Wechselschlag des Gitarristen - Teil 2 Einleitung Teil 1 hat sich mit Ursachen für motorische Leistungsdefizite beim Wechselschlag des Gitarristen beschäftigt. Die Schlußfolgerung aus Teil 1 kann man in einem Satz zusammenfassen: „Der Wechselschlag des Gitarristen ist eine Spieltechnik, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit im Anfangsunterricht vom Lehrer weder fehlerfrei gelehrt noch vom Schüler gelernt werden kann!“ Mit solcher Aussage aber kann ich als Lehrer den Wechselschlag zumindestens im Anfangsunterricht nicht mehr unterrichten. Das Wissen, daß ich der Verursacher motorischer Defizite bei meinen Schülern bin, läßt dies nicht zu. Dieser Beitrag wird sich daher mit Alternativen beschäftigen. Die Alternativen haben sehr unterschiedliche Aufgaben und Zwecke. Keine dieser Alternativen mußte ich mir ausdenken. Engagierte Spieler und Lehrer für Gitarre, Vihuela, Chitarrone und Laute haben in vergangenen Jahrhunderten so viel unterschiedliche Möglichkeiten entwickelt, daß es gar nicht notwendig ist, „das Fahrrad nochmals zu erfinden“. Das einzige, was ich getan habe, war, diese Techniken unter dem Gesichtspunkt modernster Erkenntnisse der Neuro-, Bewegungs- und Sportphysiologie zu überprüfen und zu vergleichen. Das 20./21. Jahrhundert sind Jahrhunderte der Grenzwissenschaften. Es ist kaum noch möglich, innerhalb einer Disziplin Neues zu entdecken und zu entwickeln. Interdisziplinäre Arbeit ist daher zur Normalität geworden. Ein wichtiger Aspekt ist das sprachliche Verständnis. Begriffe sind mit Wissen verbunden. Das Wissen und der Bezug zu Worten und Fachbegriffen kann individuell sehr verschieden sein. Ich behaupte - und möchte es mit einem willkürlich herausgegriffenen Beispiel belegen - daß die Verständigung selbst unter Gitarristen sehr schwer ist: Zu dieser typisch gitarristischen Spielfigur haben Autoren einiger Gitarrenschulen folgende Überschriften/Bezeichnungen: Akkordbrechung Akkordbrechungen nur mit Daumen, Zeige-, Mittelfinger Anschlagstudie Anschlagstudien im akkordischen Satz, dreistimmig Arpeggien in vier Noten Bewegungsstudie im Dreifinger-Akkordanschlag Dreistimmige Anschlagstudie für gebrochenen Anschlag Dreistimmige Zerlegungen Gebrochene Akkorde für drei und vier Finger Studie für Geläufigkeitsübungen Übungen in Sechzehntel Zerlegung Orientierungsmodell Mittelstufe, S. 38 Gitarreschule, S. 15 (Ausgabe W. Götze) Lendle, W. Carulli, F. Der Weg zum Solospiel auf der Gitarre, S. 56 Die Grundlage des Gitarrenspiels, S. 40 Peter, U. Treml, R. Gitarreschule, S. 10 (Neuausgabe Braunschweig Henry Carulli, F. Litolffs Verlag) Der Gitarrelehrer, Bd. 2, S. 55 Götze, W. Der Gitarrelehrer, Bd. 1, S. 29 Götze, W. Der Weg zur Gitarre, S. 79 Vollst. Gitarreschule in drei Abteilg. Bd. 1, S. 15 Gitarreschule, S. 47 ABC Gitáry, S. 69 Gitarreschule Bd. 2, S. 53 Brojer, R. Carcassi, M. Schneider, S. Powrozniak, J. Kreidler, D. In einem meiner Seminare habe ich an über 30 Gitarrenlehrer(innen) Zettel mit der Abbildung obiger Spielfigur und der Bitte verteilt, eine passende charakteristische Bezeichnung/Titel /Kurzbeschreibung zu liefern, die sie ihren Schülern dafür z.B. als Hausaufgabe geben würden. Es gab keinerlei Übereinstimmung, ein Ergebnis, was mich übrigens nicht im mindesten überrascht, die Beteiligten aber sehr nachdenklich gemacht hat. Es ist daher nicht auszuschließen, daß, wenn ich historische und scheinbar bekannte Begriffe verwende, jeder Leser, entsprechend seines Wissens, seinen Erfahrungen diese subjektiv mit individuell unterschiedlichen Inhalten auslegt. Aus diesen Grund halte ich folgende Definitionen für außerordentlich wichtig. Sie beschäftigen sich mit den inhaltlichen Abgrenzungen zwischen verschiedenen von mir verwendeten Begriffen. Mir ist dabei sehr wohl bewußt, daß man die Inhalte auch anders charakterisieren und abgrenzen könnte. Dennoch mußte ich mich entscheiden und so gelten alle Definitionen für den gesamten folgenden Text. Der nacheinander erfolgende Anschlag von zwei bis vier Fingern auf entsprechend zwei bis vier verschiedenen Saiten. Ist die Summe aller Informationen, die von Zentralnervensystem zur Muskulatur geleitet Bewegungsprogramm werden, um bestimmte Bewegungen auszuführen Der Anschlag eines Fingers auf einer Saite in beide Richtungen. Der Anschlag kann Dedillo dabei im tirando oder apoyando erfolgen (Wechselschlag- oder Tremolo-Alternative) Der Anschlag eines einzelnen bestimmten Fingers bei mehreren aufeinanderfolgenen Einfingeranschlag Tönen auf einer Saite oder auf verschiedenen Saiten (Wechselschlag-Alternative) Gebrochener Anschlag pi Ist der nacheinander erfolgende Anschlag von "p" und "i" in unterschiedlichsten Variationen. Aber immer schlägt "p" auf einer tieferen Saite und "i" auf einer höheren Saite an. Geschlossener Anschlag Der gleichzeitige Anschlag von zwei bis vier Fingern auf entsprechend zwei bis vier verschiedenen Saiten Arpeggio Geschlossener Anschlag pi Ploppen Rasgueado Streiftechnik Tremolo Wechselschlag Zyklische Bewegungsabläufe Ist der gleichzeitig erfolgende Anschlag von "p" und "i" in unterschiedlichsten Variationen. Aber immer schlägt "p" auf einer tieferen Saite und "i" auf einer höheren Saite an. Ein extrem kurzes staccato beim Wechselschlag. Ein Finger schlägt an, der andere geht im gleichen Augenblick auf die angeschlagene Saite und stoppt sie ab. Der möglichst gleichzeitige Anschlag mehrerer Saiten in beide Richtungen mit einem oder mehreren Fingern (Geschlossener Anschlag-Alternative) Der nacheinander erfolgende Anschlag mehrerer Saiten mit einem Finger (ArpeggienAlternative) Der Anschlag von zwei oder drei Fingern auf einer Saite. Der Daumen kann dabei gleichzeitig oder zuvor anschlagen Der sich ständig abwechselnde Anschlag zweier verschiedener Finger auf einer oder verschiedenen Saiten. Sich wiederholende Bewegungenabläufe, wie sie in der Anschlagtechnik häufig vorkommen, Beispiel: "p-i-m-p-i-m-p-i-m..." Der Einfingeranschlag Der Einfingeranschlag ist dem Gitarrelehrer nicht nur gut vertraut, er ist zugleich am allerbesten geeignet, den Wechselschlag in den ersten Unterrichtsjahren zu ersetzen. Sein Tempolimit liegt bei etwa MM=90 Vierteln, wenn in 16teln angeschlagen wird. D.h., der Gitarrenschüler kann z.B. mit dem Daumen im Tempo MM=90 Viertel (manche können es auch schneller) bei ausreichender Übung in 16teln Baßläufe spielen. Dasselbe geht natürlich auch mit dem Zeigefinger auf Diskantsaiten. Er erreicht etwa die gleiche Geschwindigkeit wie der Daumen. In Diskussionen mit vielen Lehrern auf Seminaren bestritt niemand, daß ein Schüler Jahre benötigt, um die linke Hand bei dem genannten Tempi ausreichend sicher für Tonleitern, Läufe und Griffwechsel zu machen. Damit habe ich Zeit gewonnen. Der Schüler erlernt einfache, elementare Anschlagbewegungen, kann spielen, hat Erfolgserlebnisse - und übt sich keine Koordinationsfehler zwischen verschiedenen Fingern ein. Der Wechselschlag kann Jahre später mit viel besserer Aussicht auf Erfolg im Unterricht eingeführt werden. Der Schüler muß einige historische Spieltechniken erlernen, die das Ohr als Kontrollorgan für die Anschlagbewegung in beide Richtungen einbeziehen. Dazu gehört auf jeden Fall das Rasgueado. Das Einfinger-Rasgueado Das Rasgueado benutze ich hier nicht, um Flamencospiel einzuführen, sondern für ganz normale alltägliche Liedbegleitungen und „klassische“ Stücke. Das „gleichzeitige“ Anschlagen mehrerer Saiten mit einem Finger (Es kann schon rein physikalisch nicht gleichzeitig sein, aber vom Gehör her beinahe!) ist ideal geeignet, die Bewegungsgeschwindigkeit des Fingers akustisch zu kontrollieren. Wenn ich zwei, drei oder mehr Saiten mit einem Finger fast percussiv anschlage und den Schüler es nachmachen lasse, h ö r t dieser von den ersten Minuten an seine Fingerbewegung. Man erreicht in kurzer Zeit, daß der Schüler den Finger plötzlich und schnell bewegt. Mit den Augen könnten das weder Lehrer noch Schüler so genau beurteilen und beeinflussen. Die Bewegungsgeschwindigkeit des Fingers wird in der Perspektive in beide Richtungen annähernd gleich - vom Ohr kontrollierbar. Das Rasgueado wird beim Anfänger immer nur mit einem Finger ausgeführt. Der Finger kann zwar gewechselt werden, aber nie innerhalb einer Übung (Vermeidung von Koordinationsfehlern). Der Klang ist bei Anfängern, wenn der Anschlag über mehrere Saiten in beide Richtungen ausgeführt wird, sehr unterschiedlich. Dafür gibt es drei Gründe: 1. Das Nagelspiel: Wenn der Schüler (oder auch der Lehrer) aus welchen Gründen auch immer mit ganz kurzen Nägeln spielt, ist der Ton meiner Erfahrung nach nicht anzugleichen. 2. Die Anschlagkraft: Muskelbewegungen werden im Alltag geübt. Kommt ein Anfänger in den Unterricht, hat er schon eine gewisse Kraft in den Fingern. Er ist es gewohnt, zuzufassen, Dinge und Gegenstände aufzuheben oder zu manipulieren. Aber nur beim Schließen der Finger. Das Öffnen der Finger geschieht undifferenzierter. Der Anfänger hat unterschiedlich entwickeltes Können für die Bewegung der Finger. Die Finger können bei Bewegungen in die Hand hinein anders Kraft einsetzen, als bei Bewegungen aus der Hand heraus. Das ist beim Rasgueado hörbar! 3. Die Präzision: Ein bis fünf Saiten gut zu treffen muß geübt werden. Übungen in der Art wie Bruno Henze, „Das Gitarrespiel“, Heft 6, S. 48, Nr. 1 bis 5 lasse ich so ausführen, daß der Zeigefinger anschlägt und der Daumen jeweils eine Saite tiefer anstützt. Beim Anschlag der eSaite stützt der Daumen also auf h. Beim gleichzeitigen Anschlag von e und h stützt der Daumen auf g usw. Der Daumen gibt der Hand Stabilität und die angestützte Saite kann nicht klingen, wenn sie versehentlich vom Anschlagfinger getroffen wird. Musikalisch läßt sich diese Spielweise für einfache Liedbegleitungen oder interaktives Zusammenspiel zwischen Lehrer und Schüler verwenden. Der eine spielt Akkorde und der andere eine Melodie. Soll der Schüler Akkorde spielen, genügen für die linke Hand einfachste Griffe, hier einige Beispiele für Akkorde auf drei oder vier Saiten: Das Einfinger-Rasgueado hat im Anfangsunterricht noch einen weiteren Vorteil: Das dem Gitarrelehrern bekannte und berüchtigte „Hochreißen“ des Fingers beim Anschlag einer Saite im tirando läßt sich damit gut wegüben. Der Anfänger bekommt durch das EinfingerRasgueado ein gutes Gefühl für die Bewegungsrichtung des anschlagenden Fingers. Eine der vielen möglichen Strategien im Anfangsunterricht könnte daher so aussehen: Erlernen des Melodiespiels mit einem Anschlagfinger (p oder i) parallel Erlernen des Akkordspiels mit einem Anschlagfinger (i oder m, vielleicht auch p) Einige mögliche Unterrichtsziele − − − − − − − Tonraum erweitern, sowohl innerhalb der Lage, als auch durch Lagenwechsel Rhythmusgefühl entwickeln, sichere Kenntnis rhythmischer Notenwerte eine gewisse Bandbreite dynamischer Differenzierungen heranbilden Aufschlag- und Abzugbindungen hinzunehmen beide Hände stabilsieren, Instrumentenhaltung entwickeln, anpassen musiktheoretisches Wissen vermitteln (Tonarten, Akkorde, Kadenzen) Zusammenspielfähigkeit üben (Lehrer-Schüler und Schüler-Schüler) Zusammenfassung des bisherigen: Die Entwicklung erster Kenntnisse auf der Gitarre durch die Anschlagbewegung eines einzelnen Fingers - sowohl beim Melodie- als auch Akkordspiel - bietet aus meiner Sicht nur Vorteile: − Der Anschlag mit einem Finger sowohl beim Melodie- als auch Akkordspiel ist viel leichter erlernbar als der Anschlag mit mehreren Fingern − Der Schüler lernt daher wesentlich eher Melodien, Liedbegleitungen oder Akkorde spielen als mit herkömmlich verbreiteten Methoden. (Motivationsschub) − Der Lehrer muß nicht besonders umlernen, allenfalls die Reihenfolge und Auswahl der Literatur kann sich zu Beginn ändern. − Der Schüler hört durch das Einfinger-Rasgueado die Schnelligkeit des Fingers in beide Richtungen, die motorische Grundgeschwindigkeit wird sehr rasch entwickelt und maximiert. − Durch das Lehren des Melodiespiels mit nur einem Finger vermeidet der Lehrer beim Anfänger das Einüben unsichtbarer Koordinationsfehler zwischen verschiedenen Fingern. Der erweiterte Anfangsunterricht Um Wechselschlag- und Arpeggientechniken mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit fehlerfrei unterrichten zu können, müssen weitere Kontrollmechanismen für den Schüler im Unterricht entwickelt werden. Da kleine Koordinationsfehler nicht sichtbar sind, müssen sie hörbar gemacht werden. Dazu dienen das Ploppen und das Dedillo. Ploppen läßt sich ohne Nagelspiel üben, Dedillo nicht. Meiner Meinung nach muß der Schüler sehr frühzeitig über die verheerenden Folgen seines Tuns aufgeklärt werden, wenn er konventionelle Techniken ohne Ploppen und Dedillo übt. Ihm muß das Risiko bewußt werden, welche Folgen unsichtbare Koordinationsfehler für ihn haben können. Diese Aufklärungsarbeit hilft vor allen bei größeren Schülern, daß Fingernägel plötzlich wichtig werden. Nagelpflege ist wichtig, aber nicht der einzige Faktor, um gute Fingernägel zu halten. Dem Schüler muß zugleich bewußt gemacht sein, daß seine Finger durch das Wachsen von Nägeln länger werden! Seine gesamte Alltagsmotorik gerät damit in Konflikt. Automatisierte Bewegungen wie das Öffnen einer Tür können ohne weiteres genügen, um den Nagel abbrechen zu lassen. Ach ja, noch eine drittes zu dem Thema: Ein Lehrer mit schlecht gepflegten oder gar abgebrochenem Nagel ist kein gutes Vorbild! Den Begriff „Ploppen“ hörte ich das erste Mal von Michael Koch aus Mainz. Einer seiner Schüler hat ihn kreiert. Ich fand die Bezeichnung recht witzig und verwende sie seitdem. Diese Technik ist sehr alt und sicher den meisten Gitarristen bekannt. Ein Finger schlägt beim Wechselschlag an und der andere kommt gleichzeitig zurück und dämpft die Saite ab. Es entsteht bei richtiger Ausführung ein extrem kurzer Ton, fast nur noch ein Geräusch. Wenn der Anfänger das Einfinger-Rasgueado als percussiven Klang ausführen kann - in beide Richtungen - ist das Ploppen genau die richtige nächste Übung. Hier h ö r t er die gleichzeitige entgegengesetzte Bewegung des zurückkommenden Fingers beim Wechselschlag. Es obliegt dem Lehrer und seiner Phantasie und Kunst der Unterrichtsgestaltung, interessante musikalische Aufgaben für diese Übungen in ausreichender Anzahl zu entwickeln, um den Schüler „bei der Stange zu halten“. Das Ploppen ist eine gute Übung für die Vorbereitung des Wechselschlages „im“. Das Dedillo hingegen ist eine unglaublich gute und noch viel bessere Technik als Vorbereitung für den Wechselschlag „pi“, den gebrochenen Anschlag „pi“ und den Wechselschlag „im“! Voraussetzung ist freilich ein gepflegter Fingernagel, ohne dem geht es wirklich nicht! Das Dedillo gehört zu den gängigsten Spieltechniken der Vihuelisten des 16. Jahrhunderts in Spanien. Es wurde aber auch von anderen Instrumentalisten gepflegt: „Der „Gruppo“ [Triller, Doppelschlag], den man in Kadenzen macht, ist sehr schwer, mit Berücksichtigung, daß man ganz gleichmäßig schlägt und schnell und er am Ende mit größerer Geschwindigkeit geschlossen werden muß. Und ich habe gefunden, daß, wenn man es mit dem Zeigefinger macht, indem man ihn hin und her mit der Spitze des Nagels schlägt, ergibt es sich als wundervoll wegen seiner Reinheit und Geschwindigkeit.“ 1 Zur Gestaltung des Tones äußert sich Piccinini im gleichen Werk so: „Ich sage dann, unter den wichtigsten Voraussetzungen, die man ein einen guten Spieler sucht, ist die eine und sehr wichtige, rein und sauber zu spielen, so, daß jeder kleinste Saitenanschlag rein wie eine Perle sei. Vor demjenigen, der nicht so spielt, soll man wenig Achtung haben“ 2 Wenn der Lehrer diese Technik nicht beherrscht, hat er ein kleines Problem. Er muß sie üben. Nach meinen Verständnis darf nicht nur der Lehrer vom Schüler verlangen, zu lernen und zu üben. Das gleiche kann der Schüler von seinem Lehrer erwarten. Der Lehrer muß das Dedillo beherrschen, weil er nur dann dem Schüler beim Lernen helfen kann. Der Schüler benötigt das Dedillo unbedingt, wenn er hö r b a r e Kontrollen für den Wechselschlag „pi“, den gebrochenen Anschlag „pi“ und den Wechselschlag „im“ nutzen will. Das Üben des Dedillo braucht seine Zeit. Wenn man sehr langsam übt, dauert es einige Monate, bis es in unterschiedlichen Übungen zu „laufen“ beginnt. Ungeduldige Spieler, welche vorzeitig auf Tempo gehen, können unter Umständen Jahre üben, um zu gleichen Ergebnissen zu kommen (im Extremfall niemals). Also immer schön langsam, niemals sich selbst überfordern, eine ruhige Handhaltung und saubere Tongebung in den Vordergrund stellen und das alles zunächst nur mit dem Zeigefinger. Der Daumen stützt dabei auf einer tieferen Saite an. Zu Beginn im apoyando (ist einfacher auszuführen) und später im tirando. In diesem Zusammenhang eine Zäsur: Wenn ein Gitarrist oder Gitarrelehrer eine ihm fremde, ungeläufige Technik übt, hat er unter Umständen viel stärkere negative Emotionen als seine Schüler. Die Ursache dafür sind ablaufende Prozesse im Gehirn. Der Gitarrelehrer beherrscht unterschiedliche Spieltech-niken bereits sehr gut. Mit ihnen kann er spielen, fühlt sich wohl. Diese Techniken hat er automatisiert. Automatisierte Bewegungen bzw. Bewegungsabläufe liegen im Hirn als Programme vor. Der Mensch „programmiert“ sein Kleinhirn beim motorischen Üben. Das Kleinhirn ist der Hauptsitz aller motorischer Programme (Natürlich sind auch viele andere Bereiche des Gehirns beteiligt, aber wir wollen es hier einfach halten). Wenn er eine neue Technik ausprobiert, muß er sie also mit dem Bewußtsein üben, da er keine Programme dafür hat. Das Bewußtsein kann etwa den milliardensten Teil an Informationen verarbeiten, die das Hirn in gleicher Zeit bewältigt. Deshalb spielt ja auch ein Anfänger mühsam, fehlerhaft, langsam und mit vergeudeter überschüssiger Kraft. Ich möchte diese Situation mit einem Beispiel verdeutlichen: Stellen wir uns das Bewußtsein als einen gestandenen Handwerksmeister vor. Der Handwerksmeister hat Lehrlinge, Gesellen und Fachkräfte eingestellt, die seine Anweisungen ausführen. Diese arbeiten selbstständig und brauchen in der Regel nicht oder nur wenig kontrolliert zu werden. Dadurch hat der Handwerksmeister Zeit, sich um seine eigentlichen Aufgaben zu kümmern. Solche „Leute“ hat auch das Hirn des Gitarristen. Das sind automatisierte Bewegungsprogramme, die beim Lehrer und Solisten auf Abruf funktionieren und das Gitarrespiel ermöglichen. Beim Gitarristen werden während des Spiels ununterbrochen Programme aktiviert, die Anweisungen für Muskelaktivitäten enthalten. Daß, was der Gitarrist als musikalischen Ausdruck bezeichnet, ist zunächst ganz sicher Ausdruck komplexer Hirntätigkeit, um sensibel und einfühlsam zu spielen. Letztendlich aber wird dies realisiert durch zentrale Anweisungen an Muskeln. Diese Anweisungen stellen Ketten hochkomplizierter und struktuierter motorischer Programme dar, die gespeichert im Kleinhirn vorliegen. Wenn der Gitarrist eine neue Technik übt, ist er in der gleichen Situation wie ein Handwerksmeister, welcher einen Auftrag ausführen will, dessen Inhalte von seinen Angestellten nicht beherrscht werden. Im Kleinhirn des Gitarristen liegen keine gespeicherten motorischen Programme für diese Aufgabe vor. Auch der Handwerksmeister hat nur Angestellte für bestimmte Fachgebiete. Diese verstehen bei branchenfremden Aufträgen von der neuen Aufgabe nichts und können sie nicht bewältigen. Ebenso geht es dem Bewußtsein des Gitarristen beim Üben einer unvertrauten Technik. Beide - der Handwerksmeister und das Bewußtsein des Gitarristen - haben Streß. Sie müssen die Arbeit von vielen Leuten selbst bewältigen. Der Handwerksmeister muß Arbeiten ausführen, die ihn daran hindern, seinen Betrieb zu leiten. Der Gitarrist muß Muskeltätigkeiten mit dem Bewußtsein regulieren. Dies hindert ihn am eigentlichen Musizieren. So, wie beim Handwerksmeister in dieser Situation die Arbeit nur langsam vorangeht, der Kunde lange warten muß und außerdem die Qualität vielleicht zu wünschen übrig läßt, ist beim Lehrer der Ton nicht besonders gut, das Spiel naturgemäß sehr langsam und ungenau. Beide fühlen sich nicht wohl. Das kann ein erheblicher Faktor für Streß sein. Beim Schüler ist das anders. Alles ist für ihn neu. Er empfindet eine neue Spieltechnik ganz anders als ein Lehrer, der ja mit seiner alten Spieltechnik gut spielen kann. Hier hilft nur, sich selbst zu motivieren und Einsicht in diese Dinge zu gewinnen. Dann läßt es sich gut aushalten. Fazit: Das Dedillo ist d i e Lösung für hörbare koordinative Bewegungen zwischen zwei Fingern beim Wechselschlag. Als Voraussetzung für alles Folgende muß es freilich hinreichend sicher beherrscht werden. Ist diese Voraussetzung erfüllt, kann der nächste Abschnitt methodisch erarbeitet werden. Der gebrochene Anschlag „pi“ und der Wechselschlag „pi“ Der gebrochene Anschlag „pi“ und der Wechselschlag „pi“ gehören zu den ältesten Fingeranschlagtechniken auf der Gitarre überhaupt. Beide Techniken unterscheiden sich dadurch, daß beim gebrochenen Anschlag in der Regel verschiedene Saiten, beim Wechselschlag in der Regel aber eine Saite abwechselnd angeschlagen wird. D. h., daß beim gebrochenen Anschlag der Saitenübergang häufiger ist, als beim Wechselschlag. Beide Techniken haben aber ein Grundprinzip gemeinsam: Wenn der Daumen anschlägt, bereitet sich der Zeigefinger zum erneuten Anschlag vor und umgekehrt. Mit heutigen Methoden kann diese Gleichzeitigkeit nur beobachtet und nicht gehört werden. Teil 1 wies nach, daß dies nicht ausreicht. Dem Auge entziehen sich ab einer bestimmten Grenze Koordinationsfehler. Diese Grenze liegt etwa bei einer Zehntelsekunde. Das ist ausreichend, um das mögliche Tempo, welches der Spieler eigentlich erreichen könnte, auf fast die Hälfte zu reduzieren. Gröbere Fehler kann der Lehrer sehen und mit helfenden Hinweisen beheben. Solche kleinen Fehler jedoch nicht, weil er sie nicht wahrnimmt. Es gibt eine „goldene Regel“ des motorischen Lernens: „Worin auch der Prozeß des Erlernens von Bewegungen bestehen mag, er besteht immer aus dem Eintreten von Information von Außen über gemachte Fehler, über die Abweichung der faktischen von der aufgegebenen Bewegung, über die Effektivität oder die Ergebnislosigkeit der Bewegung.“ 3 Wenn der Lehrer (und Schüler) keinen Fehler erkennt, kann dieser auch nicht behoben werden. Der Fehler wird immer mit geübt, solange der Schüler Gitarre spielt. Er kann also bis zur Bewußtlosigkeit wie besessen üben, er wird den Fehler dennoch nicht wegüben. Er hat keine Chancen! Mit dem Dedillo kann die Gleichzeitigkeit hörbar gemacht werden, sowohl eigene als auch Fremderfahrungen (Lehrer, die bei mir Unterricht nahmen) zeigten in erstaunlich kurzer Zeit eine deutliche Steigerung des Tempos durch Hinzunahme des Dedillos. Übungen zur Behebung von Koordinationsfehlern beim gebrochenen Anschlag „pi“ und Wechselschlag „pi“ L e g e n d e: i I p P = = = = Anschlag des Zeigefingers in die Hand Anschlag des Zeigefingers aus der Hand heraus Anschlag des Daumens in die Hand Anschlag des Daumens aus der Hand heraus Ja, auch der Daumen wird jetzt gebraucht für den Anschlag in beide Richtungen. Das ist übrigens etwa so alt wie das Dedillo mit dem Zeigefinger. In Sylvestro Ganassi „REGOLA RUBERTINA“, Venedig 1542/43, Hrg. von H. Peter, S. 72/73 ist eine der ältesten Beschreibungen für den Daumenanschlag in beide Richtungen auf der Laute zu finden. Bei Flamenco-Gitarristen ist diese Spielweise Alltag und ich habe auf Seminaren mit nicht wenigen fortgeschrittenen Schülern und Studenten zu tun gehabt, denen diese Technik in unterschiedlicher Form vertraut war. Auch das muß der Lehrer hinreichend sicher beherrschen. Recht anschauliche Beschreibungen und Übungen findet man dazu übrigens in G. Graf-Martinez „Flamenco-Gitarrenschule Band 2“, S. 57 bis 61 (Schott ED 8254). Es ist, ganz nebenbei gesagt, frappierend, wie gut der Daumenanschlag in beide Richtungen nach einiger Übung klingen kann. Diese Technik heißt übrigens bei Flamenco-Gitarristen Alzapúa. In diesem Beitrag benutze ich dafür den Begriff Dedillo. Ich verwende hier den Daumen ähnlich wie den Zeigefinger und so halte ich es für berechtigt, in diesem Artikel einfach vom Dedillo „i“ und „p“ zu sprechen. Wichtig: Folgende Übungen sind nur sinnvoll auszuprobieren, wenn das Dedillo „i“ und „p“ einigermaßen sicher beherrscht werden. Anderenfalls ist ein Scheitern fast vorprogrammiert: Zur Erläuterung: In der ersten Übung spielt der Zeigefinger aus der Hand heraus, während der Daumen gleichzeitig in „Normalrichtung“ spielt. In der zweiten Übung spielt der Daumen aus der Hand heraus, während der Zeigefinger gleichzeitig in „Normalrichtung“ spielt. In beiden Übungen jedoch führen Daumen und Zeigefinger typische Bewegungen des gebrochenen Anschlags „pi“ und des Wechselschlags „pi“ aus! Im Unterschied zu herkömmlichen Übungen h ö r t der Übende die gleichzeitige Bewegung zweier Finger in e i n e gemeinsame Richtung. Diese einfachen Übungen haben bei entsprechender Vorbereitung (Erlernen des Dedillos) eine unglaubliche Wirkung. Das Ohr hört feinste Differenzen. Das Erlebnis des gleichzeitigen Klanges führt zum Erlernen einer tatsächlich g l e i c h z e i t i g e n Bewegung von Daumen und Zeigefinger in eine Richtung. Die Wirkung auf den Wechselschlag „pi“ ist verblüffend, wie erste praktische Versuche bestätigten. T i p: Bei beiden Übungen kommt es vor allem auf die Gleichzeitigkeit des Anschlags pi an. Die Qualität des Tones steht hier nicht im Vordergrund. D.h., wenn beim Schüler der Nagel ständig bricht oder durch seine Form nicht geeignet ist, kann möglicherweise ein Fingerpick helfen. Einige abschließende Bemerkungen und Zusammenfassung Die Gitarre ist ein sehr interessantes Instrument mit einer interessanten und abwechslungsreichen Geschichte. Es gab Phasen des Niedergangs und der Höhenflüge. Aber niemals hatte die Gitarre eine elitäre Lobby wie z.B. die Geige. Und so fehlt der Gitarre eine sach- und fachkundige Betrachtung durch Mediziner, Physiologen u.a. (Solch seltene und hervorhebenswerte Ausnahmen wie J. Taylor oder M. Bartusch haben wir viel zu wenig). Die Gitarre ist in ihrer Spielweise ein hochkomplexes Instrument, welches in seiner Schwierigkeit meist unterschätzt wird, sogar von den Lehrern und Spielern selbst. Sinnvolle spieltechnische Möglichkeiten gibt es viel mehr, als in der heutigen Praxis üblich. Erkenntnisse der Neuro-, Bewegungs- und Sportphysiologie sind für den Gitarristen zunächst wenig hilfreich. Die Gitarre spielt in diesen Disziplinen keine Rolle. Deren Erkenntnisse müssen vom Gitarristen bewertet und sinnvoll übertragen werden. Das habe ich versucht und werde es auch weiter tun. Der Wechselschlag „im“ wurde hier nicht weiter behandelt. Dafür gibt es mehrere Gründe: Die Entwicklung von Kontrollübungen für den Wechselschlag „im“ ist vielschichtiger und nach bisherigen Erkenntnissen komplexer, als beim Anschlag „pi“. Das Ploppen wurde in diesem Beitrag schon genannt und andere Kontrollübungen (mit Hilfe des Dedillos) sind in der Darstellung sehr aufwendig. Die Überprüfung neuer Methoden benötigt in der Praxis viel Zeit. Mit dem Wechselschlag „im“ wird sich daher ein späterer Beitrag befassen. 1 A. Piccinini: INTAVOLATURA DI LIUTO ET DI CHITARRONE, Bologna 1623, G&L 1/81, S. 25 A. Piccinini: INTAVOLATURA DI LIUTO ET DI CHITARRONE, Bologna 1623, G&L 1/81, S. 23 3 W. S. Farfel: „Bewegungssteuerung im Sport“, Sportverlag Berlin, 1983, S.34 2