merlins töchter
Transcrição
merlins töchter
leben und lieben ESOTERIK MONDTANZ – FREUNDE WILLKOMMEN Immer zu Vollmond treffen sich am Semmering befreundete Hexen, um gemeinsam die Natur zu spüren, zu meditieren, überm offenen Feuer zu kochen und den Mondtanz zu tanzen. Teilnahme-Infos: [email protected]. HEXEN UNTER SICH Bild oben, von links nach rechts: Mara, Kyra, Yasmina, WIENERIN-Redakteurin Sylvia Steinitz. MERLINS TÖCHTER F O T O S R I T A N E W M A N Neuheidnische Bewegungen erleben einen wahren Boom. Ihre prominentesten Vertreter: die Hexen. Sylvia Steinitz war bei ihnen zu Gast. 134 Der neue Hexenkult W I E N E R I N NOVEMBER 2001 ie Flammen züngeln über den Holzstoß. Der Mond kommt hinter einer Wolkenwand hervor und taucht die Szene in silbriges Licht. Erwartungsvolle Stille macht sich breit. „Wir beginnen jetzt den Mondtanz“, erklärt Mara. „Wir versuchen dabei, eins mit der Natur zu werden und ganz Frau zu sein.“ Sie nickt mir aufmunternd zu, während aus dem Kassettenrekorder ätherische Harfenklänge zu uns herüberperlen. Ich soll nun mit mehreren Frauen ums Feuer tanzen, während die Männer zusehen. Sehr grazil und anmutig wirken die Frauen im flackernden Licht des Lagerfeuers, wie sie in ihren schwarzen Kleidern gekonnt die Hüften wiegen und ihre Hände D dem Mond entgegenstrecken. Ich dagegen stolpere auf dem unebenen Boden alle paar Schritte über meine eigenen Füße: ein Großstadttrampel im geborgten afrikanischen Kittel, der sämtliche Verbindungen zu seinem Körper, seinem Ursprung, seiner Balance gekappt hat – so fühle ich mich und noch viel schlimmer. Ich werde immer wütender, während ich mit geballten Fäusten versuche, „alle Erwartungen abzustreifen und mich ganz im Tanz zu verlieren“. AUF DER SUCHE NACH DEN WURZELN. Vor zwei Wochen hatte ich Mara, 46, zum ersten Mal getroffen. Sie hat mich eingeladen, gemeinsam mit ihr und ihren Freundinnen Yasmina und Kyra ein Wochenende lang Hexe zu sein. „Du kannst dir nicht vorstellen“, hat sie gesagt, „wie das ist, nach einer Arbeitswoche hier herauszukommen und alles hinter sich zu lassen: Alltag, Konventionen, Verpflichtungen – sogar unseren Namen. Und nur noch die Natur um sich zu haben.“ Jeden Samstag vor Vollmond treffen sie sich mit interessierten Gästen in einem Wochenendhäuschen hinterm Semmering. Sie laufen durch den Wald, meditieren gemeinsam vor einem kleinen blumengeschmückten Altar, kochen über einer Feuerstelle Suppe und tanzen um Mitternacht den Mondtanz (Teilnahme-Infos: siehe Bildtext oben). Yasmina, 41: „Ich habe das Gefühl, als ob ➤ ich dadurch etwas wiederbekomme, das schon verloren war.“ NOVEMBER 2001 W I E N E R I N 135 leben und lieben ESOTERIK MONDTANZ – FREUNDE WILLKOMMEN Immer zu Vollmond treffen sich am Semmering befreundete Hexen, um gemeinsam die Natur zu spüren, zu meditieren, überm offenen Feuer zu kochen und den Mondtanz zu tanzen. Teilnahme-Infos: [email protected]. HEXEN UNTER SICH Bild oben, von links nach rechts: Mara, Kyra, Yasmina, WIENERIN-Redakteurin Sylvia Steinitz. MERLINS TÖCHTER F O T O S R I T A N E W M A N Neuheidnische Bewegungen erleben einen wahren Boom. Ihre prominentesten Vertreter: die Hexen. Sylvia Steinitz war bei ihnen zu Gast. 134 Der neue Hexenkult W I E N E R I N NOVEMBER 2001 ie Flammen züngeln über den Holzstoß. Der Mond kommt hinter einer Wolkenwand hervor und taucht die Szene in silbriges Licht. Erwartungsvolle Stille macht sich breit. „Wir beginnen jetzt den Mondtanz“, erklärt Mara. „Wir versuchen dabei, eins mit der Natur zu werden und ganz Frau zu sein.“ Sie nickt mir aufmunternd zu, während aus dem Kassettenrekorder ätherische Harfenklänge zu uns herüberperlen. Ich soll nun mit mehreren Frauen ums Feuer tanzen, während die Männer zusehen. Sehr grazil und anmutig wirken die Frauen im flackernden Licht des Lagerfeuers, wie sie in ihren schwarzen Kleidern gekonnt die Hüften wiegen und ihre Hände D dem Mond entgegenstrecken. Ich dagegen stolpere auf dem unebenen Boden alle paar Schritte über meine eigenen Füße: ein Großstadttrampel im geborgten afrikanischen Kittel, der sämtliche Verbindungen zu seinem Körper, seinem Ursprung, seiner Balance gekappt hat – so fühle ich mich und noch viel schlimmer. Ich werde immer wütender, während ich mit geballten Fäusten versuche, „alle Erwartungen abzustreifen und mich ganz im Tanz zu verlieren“. AUF DER SUCHE NACH DEN WURZELN. Vor zwei Wochen hatte ich Mara, 46, zum ersten Mal getroffen. Sie hat mich eingeladen, gemeinsam mit ihr und ihren Freundinnen Yasmina und Kyra ein Wochenende lang Hexe zu sein. „Du kannst dir nicht vorstellen“, hat sie gesagt, „wie das ist, nach einer Arbeitswoche hier herauszukommen und alles hinter sich zu lassen: Alltag, Konventionen, Verpflichtungen – sogar unseren Namen. Und nur noch die Natur um sich zu haben.“ Jeden Samstag vor Vollmond treffen sie sich mit interessierten Gästen in einem Wochenendhäuschen hinterm Semmering. Sie laufen durch den Wald, meditieren gemeinsam vor einem kleinen blumengeschmückten Altar, kochen über einer Feuerstelle Suppe und tanzen um Mitternacht den Mondtanz (Teilnahme-Infos: siehe Bildtext oben). Yasmina, 41: „Ich habe das Gefühl, als ob ➤ ich dadurch etwas wiederbekomme, das schon verloren war.“ NOVEMBER 2001 W I E N E R I N 135 leben und lieben ESOTERIK KINDER DER ERDE Blumenkränze flechten, Steine sammeln, den Himmel betrachten, die Schöpfung feiern – alltägliche Anblicke bekommen eine völlig neue Dimension. HEXENHAUS Ein kleines Häuschen am Semmering wird zum Sammelpunkt für Hexen und solche, die es werden wollen. Rundherum nur Wälder, Wiesen und Bäche. Magie bedeutet, willentlich auf einer anderen Ebene … DIE ALTE RELIGION. Dass sie sich Hexen nennen, erklärt Eva Maria so: „Dieses Wort steht für uns für Naturnähe, für Spiritualität und Kontakt mit den Geistern und mit der Kraft der Erde.“ Tatsächlich hat der Begriff Hexe im Zuge der Esoterikwelle eine Wandlung durchgemacht. Spitze Hüte, Zauberkräutlein und Warzen auf der Nase sind out – unter einer Hexe verstehen immer mehr Menschen jemanden, der Kontakt zu den Wesenheiten der Natur sucht, die alten Götter aus der Vergessenheit holt und versucht, dort anzuknüpfen, wo das Christentum vor 1500 Jahren einen tiefen Schnitt durch die europäische Spiritualität machte. Manche machen es wie Mara, Yasmina und Kyra: Sie begeben sich in die Natur, versuchen zu spüren und zuzuhören und entwickeln so ihre spirituellen Erkenntnisse, Rituale und Tänze. Andere, die authentische Wurzeln alten Wissens suchen, müssen sich mangels Überlieferungen auf das berufen, was die großen Esoteriker des 19. und 20. Jahrhunderts veröffentlichten – und sich den Rest zusammenreimen. So auch der pensionierte englische Beamte Gerald B. Gardner, der Ende der Vierziger die heute größte Hexenbewegung ins Leben rief: Wicca. Der Name wird als alte Bezeichnung für Witch (Hexe) erklärt. Und obwohl Wicca eine Bewegung des 20. Jahrhunderts ist, nennt sie sich in Berufung auf eventuelle vorchristliche Wurzeln „die alte Religion“. wieder auf den Teppich. „Ersparen Sie mir bitte die Klischees von Besenreiten und Liebeszauber“, sagt sie zur Begrüßung, „ich kann das alles nicht mehr hören.“ Anufa („Mein Name ist ein Anagramm aus meinem Geburtsnamen und der Rune für Heilung, Ellhorn ist ein altes Wort für Holunder.“) befasst sich seit 15 Jahren mit Hexenkunst und ist initiierte Wicca-Priesterin nach Gardner. „Die Hexenkunst ist der Schamanismus von Europa“, ist ihre Definition der Hexenbewegung. „Und nun beginnen die Menschen, diese Wurzeln neu zu entdecken.“ GEHEIME RITUALE. Viel will Anufa von der praktischen Arbeit ihres Wicca-Covens nicht erzählen. Nur so viel: „Ich leite meinen eigenen Coven (Hexenzirkel, Anm.) mit fünf festen und drei losen Mitgliedern“, erzählt sie. „Wir feiern die Jahreszyklen, nehmen Kontakt zur Natur und der Schöpfung auf und suchen Hilfestellung und Heilung.“ Zusatz: „Und wir arbeiten hart an uns selbst.“ Denn im Mittelpunkt des Hexenglaubens stehe die spirituelle Weiterentwicklung, nicht Magie der Sorte Liebeszauber. „Magie kann schon passieren“, erklärt Anufa, „aber sie ist ein Nebenprodukt des spirituellen Weges, nicht Hauptzweck.“ Magie, wie Anufa sie definiert, spielt sich auf einer viel höheren Ebene ab: … eine Reaktion hervorzurufen, die sich im Diesseits zeigt. DIE HEXEN-PRIESTERIN. Um mehr über die religiösen Inhalte von Wicca zu erfahren, durchkämme ich das Internet – und stoße auf eine waschechte Wicca-Priesterin: Anufa Ellhorn, 36. Zur Verabredung in einem Wiener Café erscheint sie in einem geblümten Kleid mit weitschwingendem Rock, um den Hals trägt sie eine Mondsteinkette mit einem großen, weithin sichtbaren Pentagramm. Dazu rotblondes, langes Haar – die Inkarnation des Hexen-Klischees. Ihre zupackende, resolute Art holt mich jedoch 136 W I E N E R I N NOVEMBER 2001 „Magie bedeutet, willentlich auf einer anderen Ebene eine Reaktion hervorzurufen, die sich im Diesseits zeigt.“ In Wicca-Ritualen und Zeremonien werden Danksagungen vorgebracht und Antworten auf bestimmte Lebensfragen gesucht. „Wer allerdings bei einem Ritual auf flammende Pentagramme an der Wand hofft, ist im Kino besser aufgehoben“, bemerkt Anufa trocken. „Die großen Erfahrungen spielen sich meist im Inneren ab. ➤ Aber die sind nicht weniger spannend.“ leben und lieben ESOTERIK „ALLES, WAS DU TUST, KEHRT DREIFACH ZU DIR ZURÜCK“ Wicca - die Religion der Hexen NATUR AUCH INNEN SPÜREN Oben rechts: Hexe Kyra, 24, auf der erfolgreichen Suche nach innerem Gleichgewicht. Zum Vergleich: WIENERIN-Redakteurin Sylvia Steinitz schafft gerade mal zwei Schritte und kippte in den Bach. WER SUCHET, DER FINDET „Es gibt keine österreichische Infostelle“, sagt die initiierte Wicca-Priesterin Anufa Ellhorn (Bild links), „aber wer sich für Wicca interessiert, wird uns finden.“ Heißer Tipp: Kasten rechts. „Alles, was wirkt und Wirkung erzielt … DIALOG MIT DEM UNIVERSUM. Über die Inhalte ihrer Rituale will Anufa nicht sprechen. „Wir müssen bei unserer Initiation einen Eid leisten, dass wir Außenstehenden nichts enthüllen.“ Wer etwas ausplaudert, wird verwarnt, geschieht es ein zweites Mal, droht der Ausschluss. Warum diese Geheimniskrämerei? „Wicca ist eine Mysterienlehre“, verdeutlicht Anufa. „Mysterium ist untrennbar mit persönlicher Erfahrung verknüpft. Wenn ich etwas offenlege, nehme ich dem anderen seine Erfahrung weg. Außerdem lenke ich ihn in eine bestimmte Richtung: Alles, was er anders erlebt, macht ihn unsicher.“ Eine der Hauptaufgaben des Wicca-Priesters sei es, bei Ritualen einen „verbundenen Zustand“ herzustellen. „Der Priester baut eine Verbindung zur Anderswelt auf, einem Paralleluniversum, das neben unserer sichtbaren Welt existiert“, erklärt Anufa. „Nur so kann jeder Teilnehmer verwertbare Erfahrungen und Erkenntnisse über sich selbst und das Universum erlangen. Alles andere ist leer und wertlos.“ Menschen, die ihre Rituale nur des Brimboriums willen abhalten und mit Zeremonialdolchen wedeln, nennt Anufa demnach abschätzig „Saturday Night Knife Wavers“ – Samstagabend-Messerfuchtler. PRÄDIKAT BÖSE. Christlich geprägte W I E N E R I N NOVEMBER 2001 Gardner gehen von einer Göttin und einem Gott als Symbolgestalten für die beiden Pole eines großen Ganzen aus. Sie feiern Jahreszeiten und Sonnenwenden, danken in Ritualen den göttlichen Mächten oder bitten um Beistand. Meditationen sollen das Bewusstsein stärken, verschiedene Übungen die Körperenergien steuern. Unter www.wurzelwerk.at. gibt’s übrigens Infos zu Spiritualität und Wicca von Anufa Ellhorn & Friends. GRUNDSÄTZE „Solange es niemandem schadet, tu’, was du willst“, und „Alles, was du tust, kehrt dreifach zu dir zurück.“ PROMINENTE WICCAS: Schauspielerinnen: Cybil Sheperd, Olympia Dukakis Sängerinnen: Stevie Nicks (Fleetwood Mac), Tori Amos Figur des Teufels nichts zu tun – im Zuge der Christianisierung wurde einfach dem Satan die Gestalt des gehörnten Gottes gegeben. Einen Teufel, der den Menschen zum Bösen verführt, gibt es im Wicca-Glauben gar nicht. Was zählt, ist Eigenverantwortung. Eine Grundregel lautet: „An’ it harm noone, do what you will.“ Grob übersetzt: Solange es keinem schadet, tu’, was du willst. DAS EINZIGE, WAS ZÄHLT. Wer sich für die Welt der Hexen interessiert, hat die Wahl, sich selbst auf den Weg zu begeben, sich inspirieren zu lassen und als „Solitaire“, als Einzel-Praktizierender, nach Weisheit zu streben. Oder man hält sich an den vorgezeichneten Weg von Wicca, der ohnehin viel Freiraum für persönliche Interpretationen lässt. Welcher Weg der gescheitere ist? Anufa antwortet in typischer Wicca-Manier: „Es ist doch gleich, ob ich einer bestimmten Tradition folge oder mir etwas aus den Fingern sauge. Hauptsache, es funktioniert für mich.“ Oder, um einen Satz aus der Wicca-Tradition zu zitieren: „Alles, was wirkt und Wirkung erzielt, ist wirklich – das ist das Einzige, was zählt.“ Und so gewinne auch ich, der wütende Großstadttrampel, vor … ist wirklich. Das ist das Einzige, was zählt.“ Vorstellungen von Gottesdiensten lassen sich schwer auf Wicca umlegen: Bestimmte Rituale werden etwa nackt („skyclad“, zu Deutsch: im Gewand des Himmels) durchgeführt. Auch die Energie der Sexualität wird in manchen Coven für ausgewählte Zeremonien genutzt – im Wicca streng reglementiert und nur Priester-Paaren vorbehalten, die ohnehin zusammenleben und seit Jahren gemeinsam Rituale durchführen. Grund für weitere Berührungsängste: Geprägt durch das Christentum ist alles, was Hörner trägt oder fünf Zacken hat, mit dem Prädikat „böse“ versehen. Der gehörnte Gott Herne der Wiccas hat mit der christlichen 138 Wicca basiert auf spirituellen Vorstellungen und Ritualen, von denen man annimmt, sie hätten ihre Wurzeln in vorchristlichen Bräuchen. Die Bewegung wurde Ende der vierziger Jahre vom pensionierten englischen Beamten Gerald B. Gardner ins Leben gerufen und gilt heute als eine der am schnellsten wachsenden Religionen der Welt (allein in den USA gibt es geschätzte 300. 000 Mitglieder). Der Begriff Wicca wird gerne für all jene angewandt, die sich Hexen nennen. Wiccas Gardnerischer oder Alexandrinischer Tradition (nach Alex Sanders, dem zweiten Vater der modernen Hexenbewegung) beanspruchen den Namen jedoch für sich. Wicca kennt kein festes Dogma und ist nicht organisiert: Jede Gruppe („Coven“), existiert eigenständig. Wiccas nach dem knisternden Feuer irgendwo hinterm Semmering doch noch eine Erkenntnis: Ich beginne zu begreifen, was es bedeuten kann, eins mit der Natur zu sein – und mit mir selbst. Dass diese Frauen hier versuchen, etwas wieder zu finden, das in unserer zivilisierten Welt verloren gegangen ist: der Dialog mit der Natur und mit unserem Körper, die Verbindung zur Erde und zum Himmel zu spüren. Und das Wissen, nicht allein zu sein, sondern Teil eines großen Ganzen. Und als ich diese Erkenntnis halbwegs verdaut habe, klappt’s mit dem Tanzen plötzlich ganz von allein.