das geheimnis der chinesischen pulsdiagnose

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das geheimnis der chinesischen pulsdiagnose
001 Chin. Pulsdiagnose NEU
28.07.2005
9:18 Uhr
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DAS GEHEIMNIS
DER CHINESISCHEN
PULSDIAGNOSE
von Bob Flaws
Verlag für Ganzheitliche Medizin Dr. Erich Wühr GmbH
Kötzting/Bayer. Wald
Bob Flaws
Das Geheimnis der Chinesischen Pulsdiagnose
Copyright © 2012
Verlag Systemische Medizin AG
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Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme
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Buch beschrieben sind, an Patienten anwenden will, so tut er dies auf
eigene Verantwortung und Haftung.
ISBN 3-927344-48-6
© 2001 Verlag für Ganzheitliche Medizin Dr. Erich Wühr GmbH
D-93444 Kötzting/Bayer. Wald
© der englischen Ausgabe 1995, 1997 Blue Poppy Press, Boulder, USA
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Inhaltsverzeichnis
Inhalt
Vorwort zur ersten Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
Vorwort zur zweiten, überarbeiteten Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13
Kapitel 1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15
Kapitel 2 Die Pulsabschnitte an der Zollöffnung und
ihre Entsprechungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
31
Kapitel 3 Das Fühlen der Pulsbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
39
Kapitel 4 Die Technik der Pulsuntersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
71
Kapitel 5 Das Interpretieren der Pulse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
77
Kapitel 6 Die Bedeutungen der Hauptpulsbilder . . . . . . . . . . . . . . . .
97
Kapitel 7 Die Pulsbilder im Rahmen der Muster-Identifikation . . . 125
Kapitel 8 Die Pulsbilder an Zoll, Schranke und Elle . . . . . . . . . . . . . 133
Kapitel 9 Der Puls in der Gynäkologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155
Kapitel 10 Traditionelle Pulslehre in mnemonischen Versen . . . . . . . 161
Kapitel 11 Lehrgedicht über die allerwichtigsten Methoden
der Pulsuntersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169
Kapitel 12 Außergewöhnliche Pulsbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189
Kapitel 13 Das Befunden der Ellen-Positionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191
Kapitel 14 Yin-Feuer und der Puls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197
Pulsterminologien verschiedener Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211
Index . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215
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KAPITEL 1
Einführung
Dieses Buch dient als Einführung in die Grundlagen der Pulsuntersuchung, wie sie in der Praxis der Traditionellen Chinesischen Medizin,
abgekürzt TCM, angewendet wird. Obwohl die im Westen so genannte
TCM auf Chinesisch als ‘Chinesische Medizin’ (zhong yi ) bezeichnet
wird, bin ich der Meinung, dass TCM innerhalb der Chinesischen
Medizin eine eigene Stilrichtung darstellt. Viele Anhänger dieses Stils
behaupten, dass TCM deshalb ‘Chinesische Medizin’ genannt wird,
weil sie alles umfasst, was über 2000 Jahre chinesischer Medizingeschichte klinisch als wert befunden wurde, überliefert zu werden. Hier
im Westen werden jedoch so viele verschiedene Stilrichtungen orientalischer Medizin unterrichtet und praktiziert, dass ich es ich es für
notwendig halte, klarzustellen, was das Charakterisitische an der TCM
ist. Bevor wir uns also der Rolle der Pulsuntersuchung innerhalb der
TCM zuwenden, wollen wir klären, was TCM überhaupt bedeutet.
TCM – ein eigener Stil innerhalb der
Chinesischen Medizin
Das Typische der TCM als eigene Stilrichtung innerhalb der Chinesischen Medizin ist, dass die Behandlung auf der Identifikation von
Mustern basiert (bian zheng lun zhi). Die TCM-Ärzte erstellen zwar
auch eine Diagnose der Krankheit (bian bing), die Therapie basiert
jedoch überwiegend auf der Differenzierung von Mustern bzw. Syndromen. Nachdem man die Muster eines vorliegenden Falles identifiziert hat, kann man daraus die Therapieprinzipien ableiten. Diese
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Prinzipien sind es, nach denen sich die Auswahl der Chinesischen Arzneimittelrezepturen bzw. der wichtigen Akupunkturpunkte richtet.
Sind die Hauptprinzipien einmal erarbeitet und ein entsprechendes
Behandlungskonzept erstellt, werden diejenigen Arzneien und Akupunkturpunkte ergänzt, deren Wirksamkeit die Empirie bei dem
jeweiligen Krankheitsbild bewiesen hat.
Nehmen wir als Beispiel eine Patientin, die unter Kopfschmerzen
leidet: In der TCM wird Kopfschmerz (tou tong) als eine Krankheitskategorie betrachtet. Wenn die Patientin berichtet, dass ihr Kopfweh am
Ende jeder Menstruation auftritt, sich nachts und bei Müdigkeit verschlimmert, eine Generalisierungstendenz hat, typischerweise so
lange dauert, bis sie einschläft, aber verschwunden ist, wenn sie am
nächsten Morgen erwacht, wenn außerdem ihre Gesichtsfarbe blassgelb und der Appetit spärlich ist, wenn sie Palpitationen oder Schwindel verspürt, ihre Hände und Füße nicht warm genug sind, die Stühle
während der Menses locker, die Nägel blass, die Zunge blass und die
Pulse fein und schwach bzw. entspannt sind, so leidet sie an dem
TCM-Muster Blut-Leere auf dem Boden einer Milz-Leere. In diesem
Fall gelten als wesentliche Behandlungsprinzipien ‘die Milz stärken’
und ‘das Blut nähren’. Führende Rezepturen sind hier zum Beispiel Ba
Zhen Tang (Acht-Perlen-Dekokt) oder Gui Pi Tang (Dekokt zur Wiederherstellung der Milz), je nachdem, welche Zeichen und Symptome
vorherrschen. Wenn man sich für Gui Pi Tang entscheidet, kann man,
um speziell auf die Kopfschmerzproblematik einzuwirken, noch Radix
Ligustici Wallichii (Chuan Xiong) dazugeben, welches das Blut stützt
und das Meer des Markes nährt.
Möchte man eine Akupunkturbehandlung durchführen, bilden folgende Punkte das Grundkonzept: Zu San Li (Ma 36), San Yin Jiao (Mi
6), Pi Shu (Bl 20) und Ge Shu (Bl 17). Die ersten drei Punkte kräftigen
die Milz, die, wie Sie wissen, für postnatales bzw. Nach-Himmels-Qi
sowie für die Bildung und Umwandlung von Blut verantwortlich ist. Ge
Shu ist der so genannte hui- bzw. Vereinigungspunkt des Blutes, er
nährt also speziell das Blut. Gehören auch Palpitationen zu den
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Hauptbeschwerden, so wird Shen Men (H 7) dazugenommen. Um speziell auf die Kopfschmerzen einzuwirken, kann man noch Bai Hui
(Gb 20) mit Moxibustion behandeln. Dadurch wird das Yang-Qi, und
weil das Blut dem Qi bekanntlich folgt, auch das Blut nach oben
geführt.
In der TCM heißt es:
Yi bing tong zhi
Verschiedene Krankheiten –
ein und dieselbe Therapie
Tong bing yi zhi
Ein und dieselbe Krankheit –
verschiedene Therapien
Das bedeutet zum einen, dass eine einzige Krankheit eine Vielzahl
unterschiedlicher Muster aufweisen kann. Im Falle von Kopfschmerzen können folgende Muster ursächlich für die Beschwerden sein: Eindringen äußerer Wind-Kälte, Überaktivität von Leber-Yang in den oberen Anteilen des Köpers, Nässe-Schleim, der die klaren Portale blockiert, Blut-Leere und Mangel an Essenz, um nur einige geläufige zu
nennen. Wenn zwei Patienten an Kopfschmerzen leiden, werden sie,
falls die bei ihnen identifizierten Muster unterschiedlich sind, nicht
dieselbe Behandlung erhalten. Zwei weitere Patienten mögen wiederum an völlig verschiedenen Krankheiten leiden, der eine zum Beispiel an Kopfschmerzen, der andere an chronischen Schlafstörungen,
und doch kann die Therapie bei beiden im Wesentlichen die gleiche
sein, wenn ihre TCM-Muster insgesamt ähnlich sind.
In der TCM ist daher eine korrekte Identifikation der Muster von
ausschlaggebender Bedeutung. Sie dient als Grundlage und Wegweiser
für eine erfolgreiche individuelle Behandlung. Wird eine Therapie auf
der Basis einer exakten Musteridentifikation durchgeführt, kann die
Balance ohne Iatrogenesis oder Nebenwirkungen wiederhergestellt
werden. Darüber hinaus beinhaltet die Identifikation der TCM-Muster
eine Erklärung dafür, aus welchem Grund eine Person bestimmte
Zeichen und Symptome entwickelt hat. Jedes Muster ist das Ergebnis
bestimmter Krankheitsursachen (bing yin) und Krankheitsmechanis17
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men (bing ji). Erkennt man sie, kann man Schritte einleiten, um sie
positiv zu beeinflussen oder aufzuheben. Je nachdem können dann
Essgewohnheiten, Lebensstil und sogar destruktive mentale und emotionale Gewohnheiten verändert werden. Die Identifikation der TCMMuster eröffnet somit Möglichkeiten, Krankheiten zu verstehen und
zu behandeln, die einem bei einer einfachen Diagnose typischerweise
verschlossen bleiben. Eine Forderung des Nei Jing (Inner Classic) lautet, dass man der Prävention einen höheren Stellenwert einräumen
muss als der bloßen Symptombehandlung. Das Mittel, das Ärzte der
Chinesischen Medizin befähigt, dieser Anweisung Folge zu leisten, ist
die Identifikation der Muster.
Wie man die Muster identifiziert
Den alten Theorien gemäß werden in der Traditionellen Chinesischen
Medizin die Muster durch vier Arten der Untersuchung (si zhen)
ermittelt. Dies sind die Untersuchung durch Sehen (wang zhen),
Befragen (wen zhen), Hören und Riechen (wen zhen) und Befühlen
(qie zhen). Damit die Muster identifiziert werden können, müssen die
Befunde der vier Untersuchungsmethoden miteinander verglichen
werden (si zhen he can). In den Lehrbüchern und in der Klinik der heutigen TCM konzentriert man sich jedoch auf folgende drei Schwerpunkte:
1) Zusammenstellung der Hauptsymptome (zhu zheng),
2) Untersuchung der Zunge (she zhen) und
3) Pulsdiagnose (mai zhen).
Die Identifikation der Muster erfolgt heutzutage also so, dass man mithilfe dieser drei großen Informationsquellen Befunde sammelt, diese
vergleicht und Übereinstimmungen herausfiltert. Man muss unbedingt wissen, dass ein Zeichen oder Symptom immer nur in Relation
zu den anderen Befunden, die man bei den verschiedenen Untersuchungen gesammelt hat, gedeutet werden darf.
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Hier ein Beispiel: Die Muster Milz-Qi-Leere und Milz-Yang-Leere
haben viele gemeinsame Symptome und Zeichen wie etwa spärlichen
Appetit, lockere Stühle, abdominelle Blähungen, Müdigkeit, Mangel
an Leistungsfähigkeit, eine blasse Zunge mit dünnem weißem Belag.
Bei der Milz-Yang-Leere jedoch kommen kalte Hände und Füße, eine
niedrige Körpertemperatur und langsame Pulse hinzu. Das heißt aber
nicht, dass kalte Extremitäten immer ein Zeichen für Yang-Leere
wären. Sie können ebenso von einer Leber-Qi-Stagnation herrühren.
Dann spricht man von den ‘vier Gegenläufigkeiten’ oder ‘vier Rebellionen’, weil das Yang-Qi innerlich unterdrückt wird und nicht ungehindert bis in die Extremitäten fließen kann. Dieses Muster erkennt man
an einer dunkelroten Farbe der Zunge, die möglicherweise einen gelben Belag aufweist, und an den schnellen Pulsen, die gespannt wie
eine Bogensehne1 sind.
Man muss sich also darüber im Klaren sein, dass keines der Zeichen oder Symptome für sich alleine eine definierte Bedeutung hat.
Eine richtige Interpretation ist nur möglich, wenn man alle anderen
Befunde miteinbezieht, speziell die aus der Untersuchung von Zunge
und Puls.
1 Wiseman übersetzt ‘xian’ mit ‘sehnen- oder saitenförmig’. Da der Radikal des
entsprechenden chinesischen Zeichens ein Bogen ist, handelt es sich also nicht
um eine beliebige Sehne bzw. Saite, sondern um eine in die Länge gezogene,
straffe Sehne. Das Pinyin Chinese-English Dictionary, The Commercial Press
Beijng, 1991, S. 747, gibt als erste Bedeutung dieses Wortes ‘Bogensehne’ an und
als zweite ‘Saite eines Musikinstruments’. Auch durch diese zweite Bedeutung
werden straffe Eigenschaften hervorgehoben. Da die Gespanntheit einen wesentlichen Teil dieses Pulsbildes ausmacht, ziehe ich dem Wort ‘saitenförmig’ die
Übersetzung ‘wie eine Bogensehne’ vor. Wisemans frühere Bezeichnung lautete
‘drahtig’, er verwendete sie in der ersten Auflage seines Buches. Innerhalb der
chinesischen Pulsdiagnose vermittelt dieser Ausdruck zwar eine richtige Assoziation, er ist allerdings insofern nicht glücklich gewählt, als die Chinesen zu der
Zeit, als das Wort geprägt wurde, noch nicht die Technologien besaßen, um
Metalldrähte herzustellen.
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Die TCM-Methodik
Die TCM-Methodik schreibt in der Regel folgende Reihenfolge vor:
Man beginnt damit, den Patienten nach seinen Hauptbeschwerden zu
fragen. Dann sucht man individuelle Zeichen und Symptome.
Anschließend werden Zunge und Puls untersucht. Mit diesen Befunden identifiziert man die Muster, nach denen man die Therapieprinzipien erstellen kann. Erst danach wählt man Behandlungskonzepte
oder Grundrezepturen, welche noch individuell modifiziert werden
können. Diese Reihenfolge zieht sich im heutigen China durch die
Mehrzahl der Lehrbücher der klinischen TCM. Repräsentativ wäre folgende Anordnung der Überschriften und Kapitel:
Name der Krankheit
Krankheitsursache und Krankheitsmechanismus
Identifikation der Muster und entsprechende Therapie
Name des Musters
Hauptsymptome
Zunge und Belag
Pulsbilder
Behandlungsprinzipien
Rezeptur
Modifikation der Therapie nach individuellen Symptomen
Bei der Identifikation der Muster und der Erstellung der Therapiepläne
in der Klinik ist es unbedingt notwendig, dieser Vorgehensweise zu
folgen. Nur wenn kein Punkt ausgelassen wird, ist bei einer solchen
Schritt-für-Schritt-Methode ein erfolgreiches Ergebnis gewährleistet.
Besonders wichtig ist es, die Identifikation der Muster und die Therapieprinzipien herauszuarbeiten, bevor man sich auf bestimmte chinesische Rezepturen oder Akupunkturpunkte festlegt.
Näher erläutert habe ich diese Vorgehensweise in zwei anderen
Büchern: Sticking to the Point: A Rational Methodology for the Step by
Step Formulation & Administration of a TCM Acupuncture Treatment;
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How to Write a TCM Herbal Formula und A Compendium of TCM Patterns & Treatments (mit Daniel Finney).
Die bedeutende Rolle der Pulsuntersuchung
Wie wir gesehen haben ist die Pulsuntersuchung eine der Hauptmethoden, um TCM-Muster zu identifizieren. Mit Pulsuntersuchung ist
in der modernen TCM primär das Palpieren der Radialarterienpulse
über den Processus styloidei beider Handgelenken gemeint. In der
TCM wird diese Stelle als ‘Cun kou’ oder ‘Pulsöffnung’ bezeichnet. Die
Vertreter der Chinesischen Medizin gehen davon aus, dass die hier
gefühlten Pulse als Abbilder des Flusses von Qi, Blut und Körpersäften
verstanden werden können. Mit einer Erörterung dieser Theorie
beginnt das erste Kapitel des Nan Jing (Classic of Difficulties):
Alle zwölf Leitbahnen haben [Abschnitte, an denen] die Bewegungen dieser Gefäße [gefühlt werden können]. Trotzdem beschränkt
man sich ausschließlich auf die Pulsöffnung, wenn es darum geht
zu bestimmen, ob den Fünf Speichern und Sechs Palästen Muster
von Leben oder Tod [innewohnen] und ob die Vorzeichen gut oder
schlecht sind. Wie kann man das verstehen? 2
Es geht hier also um die Frage, weshalb es genügt, den Puls der Zollöffnung am Handgelenk zu befühlen, um Gesundheits- und Krankheitszustand des gesamten Körpers zu beurteilen. Die im Nan Jing
gegebene Antwort lautet:
Cun kou, die Pulsöffnung, ist der große Treffpunkt der Gefäße [einschließlich ihrer Inhalte und Bewegungen]. Es handelt sich um
[einen Abschnitt] auf der Hand-tai yin-[Leibahn], an dem die
Bewegungen in den Gefäßen [gefühlt werden können]. [In der Zeit,
in der eine gesunde Person] einmal ausatmet, bewegen sich [die
2 Nan Jing (The Classic of Difficulties), trans. by Paul Unschuld, Universitiy of California Press, Berkeley, CA, 1986, S. 65. Einige Wörter wurden nach der Terminologie Wisemans geändert.
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Inhalte] der Gefäße drei Zoll weiter. [Und während eine gesunde
Person] einmal einatmet, bewegen sich [die Inhalte] der Gefäße
[wieder] drei Zoll weiter. Eine Aus- und eine Einatmung [machen
zusammen] einen Atemzug aus. In dieser Zeit bewegen sich [die
Inhalte] der Gefäße sechs Zoll voran. Im Laufe eines Tages und
einer Nacht atmet eine Person insgesamt 13.500-mal. [In dieser
Zeit] passieren [die Inhalte] der Gefäße 50-mal. Sie zirkulieren [in
der Zeit] durch den Körper, die das tropfende Wasser [einer Klepsydra braucht], um hundert Markierungen zu sinken. Bau- und
Abwehr [-Qi] passieren [während] einer Yang [-Periode] 25 mal und
[während] einer Yin [-Periode] 25 mal. Das macht einen Zyklus aus.
Da [die Inhalte der Gefäße] sich nach 50 Passagen wieder am Cun
kou treffen, stellt [dieser Abschnitt] Anfang und Ende der [Bewegungen der Gefäßinhalte] durch die Fünf Speicher und Sechs
Paläste dar. Ob [den Fünf Speichern und Sechs Palästen] Muster
[von Leben oder Tod innewohnen und ob die Vorzeichen gut oder
schlecht sind] kann man deshalb anhand der Pulsöffnung Cun kou
in Erfahrung bringen.3
Ganz gleich, ob man diese Erklärung akzeptieren kann oder nicht, Fakt
ist, dass die Ärtze der Chinesischen Medizin seit über 2000 Jahren
Patienten auf der Basis der Pulsuntersuchung an der Zollöffnung
untersuchen und behandeln. Im Westen dagegen findet der Großteil
der TCM-Studenten die Pulsuntersuchung ebenso verwirrend wie
schwierig. Man hält sie für mystisch oder obskur. Obwohl die meisten
Ärzte im Westen immer wieder Glauben und Interesse an der Pulsdiagnose bezeugen, sind es meines Wissens nach nur wenige, die auf
diesem Gebiet auch fest auf ihre Fähigkeiten vertrauen.
Diese im Westen bestehende ambivalente Haltung gegenüber der
Pulsuntersuchung und die mangelhaften Bestrebungen, sie zu erlernen, werden meiner Meinung nach dadurch verschlimmert, dass während der achtziger Jahre selbst in der Volksrepublik China eine solche
3 Ebenda, S. 65 - 66
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Einstellung vorherrschend war. Als ich zu jener Zeit in China studierte,
wurde die Bedeutung der Pulsuntersuchung bewusst von vielen meiner Lehrer heruntergespielt. Sie waren anscheinend der Meinung,
dass Pulsdiagnostik nur schwer mit der westlichen Anatomie und
Physiologie in Einklang zu bringen sei. Sie schien gerade für die Leute,
die verzweifelt versuchten, modern und wissenschaftlich zu sein, eine
Art Peinlichkeit darzustellen. Die einzigen Pulsqualitäten, die meine
damaligen Lehrer kannten, waren bogensehnenartig, schlüpfrig,
schnell, langsam, oberflächlich treibend, tief oder fein. Eine meiner
Lehrerinnen tastete den Puls lediglich mit zwei Fingern und stellte nie
einen Zusammenhang zwischen ihren Befunden und den drei Pulsstellen her. Als ich sie darauf ansprach, erklärte sie, es sei wissenschaftlich unmöglich, dass der Puls je nach Stelle unterschiedliche
Qualitäten oder Bilder aufweise. Ergo habe man sich um verschiedene
Positionen keinerlei Gedanken zu machen.
Ich möchte damit Folgendes zum Ausdruck bringen: Obwohl die
Pulsuntersuchung mindestens ein Drittel der diagnostischen Kriterien
für die Identifikation der TCM-Muster ausmacht, ist es heute schwer,
zeitgenössische Literatur oder Lehrer zu finden, deren Auskünfte über
Theorie und Praxis der Pulsdiagnostik einen kompetenten Eindruck
machen. Vielmehr sieht es danach aus, als wollten die heutigen chinesischen TCM-Ärzte der Pulsuntersuchung eine betont untergeordnete
Rolle zuweisen. Während also bei den Ärzten im Westen die Ansicht
vorherrscht, Pulsdiagnostik sei schwer zu erlernen, weil sie mystisch
ist, denken viele chinesische Ärzte, es sei aus eben diesem Grund gar
nicht der Mühe wert, sie zu erlernen.
Dies entspricht jedoch nicht meinen Erfahrungen. Ich bin der
Überzeugung, dass das Studium der Pulsuntersuchung die Grundlage
für die Erstellung einer korrekten Musteridentifikation bildet. Möglicherweise ist Pulsdiagnose für westliche Ärzte sogar wichtiger als für
unsere Kollegen in China, denn erfahrungsgemäß erkranken unsere
Patienten in einer komplexeren Weise als viele chinesische Patienten.
Außerdem ist es bei den jungen Ärzten in China nicht wie hier die
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Regel, früh in eine Privatpraxis zu gehen, wo man bei der Arbeit auf die
Unterstützung von erfahrenen Oberärzten verzichten muss. Mir fiel
auf, dass jungen Ärzten in China Patienten zugeteilt werden, die relativ einfach zu behandeln sind. Sollten sie jedoch auf einen komplizierten Fall treffen, können sie jederzeit einen Oberarzt bitten, bei der
Identifikation der Muster behilflich zu sein. Obwohl bei uns die klinische Unterweisung in den ersten praktischen Jahren häufig mangelhaft ist, tendieren westliche Ärzte dazu, sich früh in einer Privatpraxis
niederzulassen. Natürlich ist hier niemand, den man bei einem
schwierigen Fall um Rat fragen könnte, und das, wo wir Ärzte im
Westen eine ungleich größere Anzahl an schwierigen Fällen vorliegen
haben, die entweder nicht selbst ausheilen oder weder mit moderner
Schulmedizin noch mit alternativmedizinischen Methoden bis dato
erfolgreich behandelt werden konnten. Hier im Westen sind TCMÄrzte oft die letzte Hoffnung. Aufgrund der westlichen Essgewohnheiten, der ungünstigen Auswirkungen gewisser Behandlungen durch
die Schulmedizin, der krank machenden Einflüsse der Umweltverschmutzung und des dauernden Stresses unserer modernen Gesellschaft leiden die meisten unserer Patienten außerdem an komplexen,
chronischen Krankheitszuständen, die häufig, ich möchte sogar sagen
typischerweise, nicht in die schönen, einfachen Muster passen, wie
man sie in den TCM-Büchern für Anfänger vorfindet.
Meiner Erfahrung nach weisen unsere Patienten allzu oft nicht nur
das eine oder andere in den Büchern beschriebene Muster auf, sondern eine Kombination von drei, vier oder sogar fünf Mustern. Wenn
die bestehenden Krankheitsmechanismen auf so komplexe Weise
interagieren, bringen sie ein kompliziertes Gewirr von Zeichen und
Symptomen hervor, und dementsprechend schwierige, zum Teil sogar
scheinbar widersprüchliche Pulsbilder. Man muss also, umso komplizierte Muster zu differenzieren, mehr als die paar oben aufgeführten
Pulsbilder diagnostizieren können. Man muss wissen, wie die Eigenschaften der einzelnen Pulse zu Stande kommen und welche zweite
und dritte Bedeutung jedes Pulsbild besitzt. Kurz gesagt, eine sim24
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plifizierte Annäherung an die Pulsuntersuchung ist erfahrungsgemäß
nicht ausreichend für die Praxis der TCM im Westen.
Die Hindernisse beim Erlernen der Pulsdiagnose
Das Erfreuliche an der Sache ist, dass man die Pulsuntersuchung
leicht erlernen kann. Es gibt sogar einen Trick, der die Pulsuntersuchung tatsächlich recht einfach macht. Bevor ich jedoch das Geheimnis verrate, möchte ich anführen, was Manfred Porkert in „The Essentials of Chinese Diagnostics“ 4 als die „drei Hindernisse, die Pulsdiagnose zu erlernen“ bezeichnet:
1. Unzulängliche Begabung
2. Falsche intellektuelle Sichtweise
3. Ungeeignete pädagogische Herangehensweise
Was Manfred Porkert unter „unzulänglicher natürlicher Begabung“
versteht, erläutert er unter den zwei folgenden Überschriften: 1) unzulängliche köperliche Fähigkeiten (damit sind ein Mangel an Konzentrationsfähigkeit sowie an Sensitivität in den Fingerspitzen gemeint)
und 2) unzulängliche intellektuelle Begabung (das heißt Unfähigkeit
zu differenzieren, koordinieren und Synthesen aus den erarbeiteten
Daten abzuleiten). Was dieses erste Hindernis beim Erlernen der chinesischen Pulsuntersuchung betrifft, ist es im Westen Aufgabe der
Zulassungs- und Prüfungsausschüsse der Schulen für Akupunktur
und orientalische Medizin, sicherzustellen, dass alle ihre Studenten
mit diesen Fähigkeiten ausgestattet sind.
Mit „falscher intellektueller Sichtweise“ spricht Porkert die Vorurteile skeptischer westlicher Schulmediziner gegenüber chinesischer
Pulsuntersuchung an. Weigert man sich zu glauben, dass man Gesundheits- und Krankheitszustände durch Pulsfühlen an den Radial-
4 Manfred Porkert, The Essentials of Chinese Diagnostics, Chinese Medicine Publications, Ltd., Zurich, Switzerland, 1983, S. 193
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arterien der Handgelenke diagnostizieren kann, so wird man diese
Kunst natürlich nicht mit offener Geisteshaltung studieren und folglich auch nicht in ihre Tiefen vordringen können. Gewöhnlich stellt
sich dieses Problem jedoch nicht an den Schulen für Akupunktur und
orientalische Medizin. Die Schüler würden nicht in eine TCM-Schule
eintreten wollen, wenn sie nicht zumindest am Anfang von der Richtigkeit der theoretischen und praktischen Grundlagen der Chinesischen Medizin überzeugt wären.
Allerdings ist es das letzte Hindernis – die ungeeignete pädagogische Herangehensweise –, welches Porkert für die meisten Fehler beim
Erlernen der Pulsuntersuchung verantwortlich macht:
Dieses schreckliche Hindernis gepaart mit einer halbherzigen Herangehensweise verschuldet einen Großteil – ich meine mindestens
80% – der Fehler beim Erlernen der Pulsdiagnose.5
Nach Porkert ist chinesische Pulsuntersuchung eine Kunst, und zwar
im Wesentlichen eine intellektuelle Kunst. Er sagt weiter, dass jedem
Erwerb von Kunstfertigkeit das Sammeln gewisser intellektueller
Informationen dem körperlich-praktischen Training vorausgehen
muss. Noch bevor Instruktionen über die praktische Ausführung erfolgen, müssen also die intellektuellen Daten vermittelt werden. Sie dienen als unentbehrliche Basis für Erwerb, Assimilation und Integration
der praktischen Erfahrungen. Für die chinesische Pulsdiagnose heißt
das, dass man Pulse nicht korrekt fühlen und interpretieren kann,
ohne die zugrunde liegenden Theorien der TCM einschließlich der
verbalen Beschreibungen der großen Pulsbilder gelernt zu haben.
Hierfür möchte ich ein Beispiel anführen: Als ich vor einigen Jahren
meine Aufzeichnungen früherer Fälle durchsah, fiel mir auf, dass ich
oft notiert hatte, der Puls dieses oder jenes Patienten sei oberflächlich
treibend, fein und kraftlos. Da ich kurz vor dem Durchsehen die Lehrbuch-Definitionen der 28 Pulse wiederholt hatte, waren diese entspre-
5 Ebenda, S. 195
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chend frisch in meinem Gedächtnis. Ich erkannte sofort, dass das, was
ich früher als oberflächlich treibend, fein und kraftlos beschrieben
hatte, der aufgeweichte (ru) bzw. weiche (ruan) Puls war. Solche Pulse
hatte ich mit meinen Fingern jahrelang gefühlt, solange mir jedoch
nicht klar gewesen war, dass die Qualitäten oberflächlich treibend,
fein und kraftlos den aufgeweichten Puls ausmachen, solange befand
ich mich auch nicht in der Lage, die zu einem aufgeweichten oder weichen Puls passende Diagnose stellen. Die neu erworbene Fähigkeit,
einen aufgeweichten Puls zu diagnostizieren, war eine rein intellektuelle Leistung, nicht eine praktisch erworbene.
Das Geheimnis der chinesischen Pulsuntersuchung
Folgendes ist meiner Erfahrung nach das Geheimnis der chinesischen
Pulsuntersuchung: Man ist nur dann in der Lage, ein Pulsbild richtig
zu fühlen, wenn man seine exakte Standarddefinition auswendig
gelernt und verstanden hat. Wer nicht weiß, dass der aufgeweichte Puls
oberflächlich treibend, fein und kraftlos ist, der kann die Diagnose
nicht stellen, selbst wenn er die einzelnen Qualitäten des Pulses
erkannt hat. Ich schließe mich also voll und ganz der Meinung von
Porkert an:
Was das Üben und Erlernen der Pulsdiagnose betrifft…, ist das
Problem nicht etwa ein Unvermögen der Studenten zu erfühlen,
was gefühlt werden muss, sondern die mangelhafte Fähigkeit, die
mit den Fingern wahrgenommenen Informationen zu beschreiben, um sie dann zu assimilieren und dauerhaft im Kopf zu behalten. Genau das ist der kritische Punkt: es hat keinen Sinn, mit praktischen Übungen in der Pulsdiagnose anzufangen, bevor man die
gesamte zugrunde liegende Theorie und, noch wichtiger, die komplette Ikonographie der Pulse intellektuell verinnerlicht hat. Mit
anderen Worten kein Student der Pulsdiagnostik sollte mit den
praktischen Übungen beginnen, bevor er nicht sämtliche Ausdrücke und Techniken, die mit der chinesischen Pulsdiagnose in
Zusammenhang stehen, durch häufiges Wiederholen sowohl im
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Kopf behalten, als auch verstanden hat… Nur wenn diese Bedingungen erfüllt sind, wird er in der Lage sein, unverzüglich zu
beschreiben und mit Präzision und Stringenz auszudrücken, was er
fühlt, sobald er seine Finger auf die Arme des Patienten legt. Und
nur unter dieser Prämisse wird es ihm möglich sein, vor seinen Kollegen das wiederzugeben und mit ihnen zu reflektieren und zu
besprechen, was er fühlt.6
Weiterhin behauptet Porkert:
Wenn man diese essenzielle Bedingung erfüllt hat, ist das praktische Erlernen der Pulsdiagnose in der normalen medizinischen
Praxis – schlimmstenfalls – eine Frage von einigen Monaten; unter
sachgemäßer Anleitung sollte man zum Eichen, Korrigieren und
Verfeinern seiner Sensitivität lediglich Wochen brauchen, sodass
die Fehlerquote schon innerhalb eines Monats unter die signifikante Grenze fällt. Werden umgekehrt diese Warnungen ignoriert,
wird selbst ein Student mit den besten Absichten grundlegende
Begriffe auch nach jahrelagen Versuchen nicht meistern… Die an
den Pulsstellen fühlbaren subtilen Unterschiede deuten zu wollen,
ohne sich strikt auf die intellektuellen Werkzeuge, die zu eben diesem Zweck über beinahe 2000 Jahre entwickelt wurden, zu beziehen und ohne diesen bewusste Aufmerksamkeit zu widmen, ist wie
der Versuch ein EKG zu interpretieren unter Zurückweisung allen
Wissens, das über diese Technik von Kollegen aus der Physik,
Physiologie und klinischen Medizin gelehrt wird.7
Ich muss gestehen, dass genau das bei meinem Einstieg in die chinesische Pulsuntersuchung der Fall war. Porkerts Buch las ich zum ersten Mal im Jahr 1983, als es neu in englischer Sprache erschien. Ich
weiß noch, wie ich die obigen Passagen durchsah und sogar unterstrich. Trotzdem nahm ich die Mühe, die exakten chinesischen Defini6 Ebenda, S. 196
7 Ebenda, S. 196
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Einführung
tionen aller großen Pulsbilder auswendig zu lernen, erst viele Jahre
später auf mich. Ich war lediglich in der Lage gewesen, langsame und
schnelle, tiefe und oberflächlich treibende, schlüpfrige und bogensehnenartige sowie feine Pulsqualitäten zu unterscheiden; solange ich
jedoch nicht fähig war, die Definitionen der anderen rund 20 Pulse
laut oder in Gedanken aufzuzählen, konnte ich sie in der klinischen
Praxis auch nicht erkennen. Sobald ich dies realisiert hatte, setzte ich
mich hin, um die Definitionen auswendig zu lernen. Direkt im
Anschluss war ich im Stande, alle großen Pulsbilder zu diagnostizieren, allerdings auch nur solange, wie ich die Definitionen im Gedächtnis behielt. Übrigens habe ich diese Herangehensweise an die Pulsuntersuchung auch an einige Gruppen von Studenten im Westen
weitergegeben mit dem Resultat, dass sie innerhalb von zwei Tagen
fähig waren, doppelt so viele Pulse wie vorher zu fühlen und bewusst
zu identifizieren.
Diese Methode funktioniert also. Dessen bin ich mir so sicher, weil
ich gesehen habe, dass sie nicht nur für mich, sondern auch für andere
funktioniert. Ich habe einige orientalische Künste in meinem Leben
studiert und dabei immer die Erfahrung gemacht, dass hohes Niveau
nur durch das Meistern der Grundlagen erreicht werden kann. Man
kann nicht hoch hinaus, ohne vorher eine solide Grundlage geschaffen zu haben. Anfänger tendieren dazu zu glauben, dass Meister spezielle Geheimnisse besitzen, in die sie nicht eingeweiht sind, was aber
tatsächlich nur selten der Fall ist. Unglücklicherweise liegt es oft in der
menschlichen Natur, bei den Grundlagen ungeduldig zu sein und
möglichst schnell eine scheinbar höhere, aufregendere Ebene erreichen zu wollen. Was die chinesische Pulsuntersuchung betrifft, heißt
das Meistern der Grundlagen vornehmlich Auswendiglernen der Definitionen der Hauptpulsbilder bzw. dessen, was Manfred Porkert Ikonographie des Pulses nennt.
Dies ist kein großes Pulsbuch, es gäbe sicherlich noch mehr über
die chinesische Pulsdiagnose zu sagen. Ich wünsche mir jedoch von
den Studenten der Akupunktur und orientalischen Medizin im Westen
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zutiefst, dass sie dieses Buch nicht nur lesen, sondern auch Zeit investieren, um sich die Fakten, die es beinhaltet, einzuprägen. Wenn man
am Ende im Stande sein will, die 27 – 29 Pulsbilder zu fühlen, muss
man ihre Definitionen auswendig können. Manfred Porkert schreibt:
Chinesische Pulsdiagnose setzt keine außergewöhnlichen, unbekannten, paranormalen Begabungen oder Fähigkeiten bei der Person, die sie anwerden möche, voraus. Alles was man braucht, ist
eine kohärente Theorie mit solider Grundlage sowie eine geübte
Hand in guter Haltung.8
Für viele Studenten im Westen hört sich Auswendiglernen minderwertig an. Es kommt ihnen ebenso langweilig wie trocken vor und scheint
gar nichts Aufregendes oder Mystisches bieten zu können. Aber glauben Sie mir, wenn Sie chinesische Pulsdiagnose beherrschen möchten, dann müssen Sie auswendig lernen.
8 Ebenda, S. 197
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