Tödliches Dîner in Paris

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Tödliches Dîner in Paris
Nora Berger
Tödliches Dîner in Paris
Kriminalroman
Nora Berger
lebte einige Jahre in Paris und studierte an der Sorbonne Literatur und Philosophie. Heute
lebt sie mit ihrem Mann in Traunstein.
Von Nora Berger bisher erschienen:
Amélie und die Sturmzeit von Valfleur (2005, Bastei Lübbe)
Amélie und die Botschaft des Medaillons (2008, Federfrei)
Bratkartoffeln und Rote Beete (2009, Weltbild)
Königsberger Klopse mit Champagner (2011, Weltbild)
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Umschlagabbildung:
escaliers a paris © lesavantfou - Fotolia.com
Lektorat: Susanne Langer
Satz und Layout: Verlag Federfrei
E-Book-Produktion: Datagroup int. SRL, Timisoara
Vervielfältigung (z.B. durch Datenträger aller Art) sowie Verbreitung jeglicher Art, auch auszugsweise, ist nur mit
ausdrücklicher Genehmigung und Quellenangabe gestattet.
ISBN 978-3-902859-73-0
Für Walter
Kapitel 1
Manchmal, in meinen schlimmsten Albträumen, höre ich wieder das Knarren der Tür,
sehe den halbdunklen Salon mit dem gedeckten Tisch, das leise flackernde Kaminfeuer
vor mir und Lulu, den Kater, wie er mit einem schrillen Miauen davonstiebt. Der
Fernseher flimmert tonlos in der Ecke - und ich fühle erneut den grässlichen Schauder,
das unsagbare Entsetzen, als mein Fuß plötzlich gegen etwas Weiches unter dem Tisch
stößt, gegen die gekrümmte Gestalt am Boden, die in einer Blutlache liegt. Panik erfüllt
mich, ich erwache schweißgebadet von meinem eigenen, langgezogenen Hilfeschrei.
»Was wollten Sie überhaupt in Paris? Erzählen Sie mir die Geschichte von Anfang an
und lassen Sie keine Einzelheit aus«, fordert mich die monotone Stimme der
Psychotherapeutin auf, die vermeidet, mich anzusehen.
Ich war zu ihr gekommen, weil ich in letzter Zeit wieder häufiger unter meinen
unvermittelt auftretenden Panikattacken leide und vor Angst, einzuschlafen, nächtelang
wach liege. Dabei war das Ganze, das ich erlebte, doch schon eine ziemliche Weile her.
Ich hatte bis jetzt vergeblich versucht, die Erinnerung daran zu verdrängen.
»Sie flogen also nach Paris«, die Stimme insistiert beharrlich weiter, »zu einem Treffen
mit Ihren alten Studienkollegen an der Sorbonne?«
»Ja«, beginne ich zögernd. »So fing das alles an.«
Ich sehe durch die Scheibe vor mir auf das gegenüberliegende triste, graue Gebäude,
dessen verschlossene Fenster meinen verdrängten Ängsten gleichen.
»Es war kurz vor Weihnachten im Dezember, der Monat, in dem sich jedes Jahr die
ehemaligen Studenten meines Jahrgangs in einem Café im Quartier Latin treffen. Ich war
schon lange nicht mehr dort gewesen. Diesmal wollte ich es schaffen, hatte mir sogar
vorgenommen, etwas länger in Paris zu bleiben. Ich freute mich auch darauf, meine
anderen, alten Pariser Bekannten wiederzusehen. Georges, meinen ehemaligen
Philosophieprofessor zum Beispiel und seine Kollegin Jeannette, mit der mich mittlerweile
eine langjährige Freundschaft verbindet. Gleich am ersten Abend hatte sie mich zum
Dîner eingeladen.« Ich mache eine Pause.
Irgendwie ist es mir peinlich, hier zu sein und einer fremden Person Dinge aus meinem
Leben zu erzählen, die sie eigentlich gar nichts angehen. Ich würde am liebsten
aufstehen und die Tür hinter mir zumachen. Aber dann wäre ich wieder meinen
unkontrollierbaren Ängsten ausgeliefert, die ich mit professioneller Hilfe jetzt endlich
loswerden will.
Nach einem ermunternden Nicken der Therapeutin zwinge ich mich dazu, fortzufahren.
»Jeannette war gerade frisch verliebt, in ihren neuen Freund, einen italienischen
Modefotografen, der vorübergehend bei ihr wohnte. Sein Name war…«, ich stocke ein
wenig, »Luca, Luca di Monterosa.« Meine Kehle ist trocken, und ich weiß nicht, wie ich
fortfahren soll.
»Entspannen Sie sich!« Die Stimme der Therapeutin klingt in meinen Ohren geradezu
hypnotisch. »Und erzählen Sie mir alles, als erlebten Sie es zum ersten Mal. Gehen Sie in
die Vergangenheit zurück, beobachten Sie sich selbst dabei, was Sie tun und wohin Sie
gehen. Versetzen Sie sich ganz in die damalige Situation und vergessen Sie nicht die
geringsten Kleinigkeiten. Also, was sehen Sie, als Sie am Nachmittag in Paris ankommen,
was empfinden Sie dabei?«
Was für ein Blödsinn, denke ich und presse die Lippen aufeinander. Aber ich versuche
trotzdem, guten Willen zu zeigen.
»Nun, ich dachte, dass sich wenig verändert hatte«, beginne ich etwas unbeholfen,
»ich meine, in Paris.«
Vielleicht sollte ich die Augen schließen, um mich besser konzentrieren zu können. Ich
erinnere mich vor allem daran, dass ich mich damals überarbeitet fühlte, ausgebrannt.
Ich brauchte eine Auszeit. Die Beziehung zu Nico, meinem Mann, war brüchig geworden,
seit er diese Affäre mit einer Praktikantin angefangen hatte.
Nervös starre ich auf die Wolkenwand, die sich vor dem Fenster zusammenballt. Es
beginnt zu regnen, genau wie damals in Paris, wo das Straßenpflaster vor Nässe glänzte.
Ich hole tief Luft.
»Die Stadt war düster und grau – bis auf die weißbestaubten Weihnachtsbäume, die an
jeder Ecke standen und von denen das Wasser tropfte. Aber ich war frei und meine
Müdigkeit plötzlich verschwunden. Ich erinnere mich, dass ich den Bus zur Opera nahm
und dann ein Taxi, das mich zu meinem Hotel im Quartier Latin bringen sollte. Es hieß
»Les Écoles«, und ich mochte es, weil es gemütlich, klein und, wie ich fand, typisch
französisch war. Ich hatte nicht mehr viel Zeit zum abendlichen Dîner.«
»Sie gingen dorthin zu Fuß?« Die suggestive Stimme treibt mich weiter.
»Ja. Jeannette wohnte nur eine Viertelstunde von meinem Hotel entfernt. Unterwegs
kaufte ich noch eine Flasche Champagner als Mitbringsel.«
Ganz unerwartet ist das Gefühl auf einmal wieder da, die Vorfreude und Leichtigkeit,
mit der ich an diesem Abend durch die Straßen ging. Ich tauchte in das brausende Leben
der Metropole ein, schlenderte an einem noch offenen Buchladen vorbei und sog den
unnachahmlichen Duft von Paris in meine Lungen: Nasser Asphalt, der modrige Geruch
der nahen Seine und die Abgase der Straße, das alles verwandelte sich mit einem Hauch
Espresso, der aus den Cafés drang, zu einer bizarren, aber unverkennbaren Mischung. Ich
erkannte die herrliche Kulisse dieser Stadt wieder, die mich jedes Mal ganz gefangen
nahm und mir gefielen auf einmal sogar die kitschigen, mit weihnachtlichen
Glitzersternen bestückten Äste der Alleebäume. Meine Erzählung wird flüssiger, ich
vergesse auf einmal die Therapeutin, die neben mir sitzt. Wie in einem Film sehe ich mich
meine Schritte beschleunigen, spüre den Windstoß, der meine Haare zerzaust, fröstele,
als es plötzlich in Strömen zu regnen beginnt. Ich spanne meinen Schirm auf und biege in
die Rue Perronet im sechsten Arrondissement ein. Gleich um die Ecke, das graue
Gebäude, das schon zwei Jahrhunderte auf dem Buckel hat, ist die Nummer 45.
Ein blonder Clochard sitzt auf dem wärmenden Metrorost und streckt mir bittend die
Hand entgegen. In meiner Vorfreude auf den Abend lasse ich eine Münze hineingleiten,
und erst im Nachhinein fällt mir auf, dass der Mann weder ärmlich noch ungepflegt
aussieht. Drogen, denke ich und weiche seinem starren Blick aus hellen, fast gläsern
wirkenden Augen aus. Ich konzentriere mich auf den Code an der Tür, die auf meinen
leisen Druck unerwartet nachgibt. Der gelbe Schein der nackten Glühbirne erhellt nur
dürftig das Treppenhaus des alten Pariser Mietshauses. Es ist ziemlich schäbig mit seinen
verbeulten Briefkästen, der abgeblätterten Farbe an den Wänden, dem verrosteten
Wasserbecken und der rissigen Decke, die im Vorraum von einem provisorischen
Eisenpfeiler gestützt wird. Aber das ist in Paris ja nichts Außergewöhnliches.
Zügig steige ich die sich aufwärts wendelnde Holztreppe bis zu Jeannettes
Appartement im dritten Stock empor. Man erwartet mich scheinbar schon, denn ihre
Wohnungstür steht weit offen, und Lulu, der sonst so scheue Siamkater, miaut mir
entgegen. Noch außer Atem klingele ich, doch auch nach mehrmaliger Wiederholung rührt
sich nichts.
»Jeannette!«, rufe ich in den dunklen Flur hinein. »Jeannette?«
Es riecht bereits köstlich nach Gebratenem. Ein Blick auf meine Uhr sagt mir, dass ich
für französische Verhältnisse eigentlich zu früh dran bin! Bestimmt ist Jeannette noch
schnell etwas einkaufen gegangen. Soll ich schon mal reingehen? Aber dann überrasche
ich womöglich ihren neuen Freund unter der Dusche!
Ich stelle den mitgebrachten Champagner auf die Treppenstufen, setze mich dazu und
streichle Lulu, der sich schnurrend an mich drückt. Irgendwie ungewöhnlich, dass
Jeannette ihre Tür mit drei Sicherheitsschlössern so einfach offen stehen lässt! Von Zeit
zu Zeit knipse ich das Licht im Treppenhaus an und verfolge die Zeiger der Uhr. Schon
Viertel nach Acht. Wenn wenigstens die anderen Gäste kämen! Aber ich kenne Nicole und
Alains notorische Unpünktlichkeit – von Georges, dem zerstreuten Philosophieprofessor,
ganz zu schweigen. Für Georges habe ich als junge Studentin heftig geschwärmt, denn er
konnte nicht nur brillant reden, sondern sah auch blendend aus. Leider war ich nicht die
Einzige, denn seine Vorlesungen waren immer überfüllt. Und sehr bald wurde mir auch
klar, dass ich bei ihm nie eine Chance haben würde. Mein smarter Professor war nämlich
gegen alle Frauen dieser Welt immun.
Langsam wird es mir zu dumm, und ich betrete nach leichtem Zögern die Wohnung. Im
Flur ist es schummrig, ich suche nach dem Lichtschalter und stelle dabei meine Tasche an
der Garderobe ab. Unter meinen Füßen knistert Papier, ich bücke mich und habe Fotos in
der Hand, die wahrscheinlich irgendwo heruntergefallen sind.
Draußen maunzt der Kater Lulu zum Erbarmen – aber er will nicht hereinkommen. Ich
nehme ihn kurzerhand auf den Arm und stecke die Fotos auf der Suche nach einer
Ablagefläche vorerst in meine Manteltasche. Mit leisem Klopfen öffne ich die Tür zum
Salon. Lulu sträubt sich plötzlich, springt fauchend mit einem grellen Misston herunter und
ist irgendwo unter einem Schrank verschwunden.
Drinnen herrscht Halbdunkel, die Vorhänge sind zugezogen. Alles ist schon für die
Gäste vorbereitet. Ein Feuer knistert im Kamin, Kerzen brennen, und der Tisch ist mit
Silber und matt schimmerndem Porzellan gedeckt.
»Hallo!«, rufe ich halblaut auf der Schwelle. »Ist jemand da? Jeannette?« Niemand
antwortet.
Auf der Suche nach einem Lichtschalter stolpere ich über etwas Hartes am Boden, die
Marmorbüste Molières. Sie fühlt sich feucht und klebrig an, als ich sie aufhebe und auf die
Kommode zurückstelle. Ich wische mir die Finger an meinem Taschentuch ab. Dunkle
Flecken – sieht aus wie Blut. Spätestens jetzt beschleicht mich ein unheimliches Gefühl.
»Jeannette?«
Nur das monotone Ticken der Wanduhr ist zu hören. Ich wende mich rasch um, will nur
noch hinaus. In diesem Moment berührt mein Fuß ein Hindernis, etwas Weiches. Es
überläuft mich eiskalt, als ich mich bücke und halb unter dem Tisch die dunkle Masse
eines Menschen erblicke.
Er liegt in einer Blutlache, und seine Augen starren mir glanzlos entgegen. Ein paar
Sekunden verharre ich vor Schreck wie gelähmt. Doch dann schreie ich, laut und
durchdringend, stürze Hals über Kopf hinaus ins finstere Treppenhaus und stoße dabei die
Flasche Champagner um, die die Stufen hinunterpoltert, um irgendwo klirrend zu
zerspringen.
Als ich im Parterre ankomme, spüre ich eine Hand, die nach mir greift und mich an den
Schultern packt. Gleich werde ich einen Schlag über den Kopf erhalten. Meine Beine
geben wie von selbst nach, und ich klammere mich halb ohnmächtig an den wackligen
Treppenpfosten.
An dieser Stelle breche ich in Tränen aus. Meine Nerven flattern, und ich kann nicht
weitersprechen. Die Erinnerung überwältigt mich einfach.
Die Therapeutin versucht, mich zu beruhigen und reicht mir ein Glas Wasser. »Lassen
Sie uns eine kurze Pause machen, bevor Sie fortfahren.«
Ich nicke nur, versuche, meine Fassung wiederzugewinnen. Wäre ich doch an diesem
Wochenende lieber nicht nach Paris geflogen! Nur ein paar Tage später – und ich hätte
mir eine Menge Schwierigkeiten erspart! Dabei war ich voller Freude und Erwartung, als
das Flugzeug in München abhob und die von Raureif überkrustete Landschaft unter den
Wolken verschwand. Und jetzt, lange Zeit nach all diesen Ereignissen, bei denen ich
meine Unbeschwertheit und beinahe auch mein Leben verlor, kommt es mir so vor, als
sei alles nur ein böser Traum gewesen. Denn nichts ist seitdem mehr so, wie es einmal
war. Aber ich will nicht vorgreifen, sondern brav der Reihe nach weitererzählen, ganz so,
wie es die Psychologin von mir fordert.
Ich schnappe krampfhaft nach Luft. Das Licht im Treppenhaus geht an, verschiedene
Türen öffnen sich mit Vorsicht einen Spalt.
»Sandra?« Ich sehe im kalten Schein des Flurlichtes das erstaunte Gesicht Georges,
meines ehemaligen Philosophie-Professors, ganz dicht vor dem meinen. Er lässt meine
Schultern los. »Was hast du?«, fragt er, »was … was ist denn geschehen?«
Ich bin nicht gleich in der Lage zu antworten. Das Erste, was ich registriere, sind
Georges Wimperntusche und der helle Puder auf seinen glattrasierten Wangen. Komisch –
als wenn das in diesem Moment wichtig wäre!
»Georges!« Ich falle ihm schluchzend um den Hals und bin eine Zeit lang nicht
imstande, zusammenhängend zu sprechen. Schließlich stottere ich etwas von einem
Toten, der in Jeannettes Wohnung liegt.
Georges sieht mich an, als hätte ich den Verstand verloren. Er zieht am Knoten seiner
sorgfältig gebundenen Krawatte, als wäre sie ihm zu eng.
»Impossible! Unmöglich! Was redest du da?«, murmelt er. »Wo ist Jeannette?«
»Ich weiß nicht!«, antworte ich mit erstickter Stimme.
»Ist ihr etwas passiert?«
Ich zucke stumm mit den Schultern und setze mich auf eine der Treppenstufen.
»Merde!« Ich habe Georges, den Feingeist, noch nie fluchen hören. »Warte einen
Moment – ich werde oben nachsehen.«
»Wir sollten lieber Hilfe holen«, möchte ich sagen, aber ich stehe so unter Schock, dass
ich es nicht über die Lippen bringe. Georges ist rasch zurück – hat anscheinend nur einen
kurzen Blick in die Wohnung geworfen. Er ist blass, telefoniert jetzt auf seinem Handy mit
der Polizei und erklärt die Situation.
»Was sollen wir bloß tun?«, frage ich zaghaft.
»Warten. Sie werden gleich hier sein«, sagt er, im Flur unruhig auf und ab gehend.
Dann stößt er beinahe wütend hervor: »Es musste ja irgendwann so kommen. Dieser
Baron di Monterosa! Ich habe geahnt, dass er Jeannette eines Tages in Schwierigkeiten
bringen würde!«
»Und warum?«, bringe ich mit zitternden Lippen heraus, »ich meine, wie kommst du
darauf?«
»Weil er ein windiger Bursche war! Aber sie war ja blind vor Liebe.« Er schüttelt den
Kopf, zündet sich eine Zigarette an und nimmt einen tiefen Zug. »Mich geht das zwar
nichts an, aber ich habe mich immer gefragt, woher er eigentlich so viel Geld hat! Allein
seine Wohnung in der Avenue Montaigne, direkt über der Dior Boutique – so was kostet
doch ein Vermögen!« Er drückt die Zigarette sofort wieder aus. »Fragt sich nur, warum er
überhaupt zu ihr gezogen ist.«
Ich schnäuze in mein Taschentuch. »Sie wollte ihn mir heute Abend vorstellen …«
In diesem Augenblick geht die Haustür auf. Jeannette erscheint mit ihrer Einkaufstüte,
ein Baguette unter den Arm geklemmt. Sie fällt mir strahlend um den Hals, bevor ich
überhaupt den Mund aufmachen kann.
»Sandra, ma Belle!« Ein Wortschwall sprudelt über ihre Lippen. »Entschuldigt meine
Verspätung, Ihr Lieben. Bonsoir, Georges Cheri! Du bist ja schon da? Seit wann so
pünktlich?« Sie lacht und zieht die Augenbrauen hoch. »Allons-y! Was steht ihr hier unten
rum? Wo ist Luca? Er hat mir fest versprochen, euch mit einem Aperitif zu versorgen, falls
ich mich verspäte und … «
»Jeannette«, unterbricht Georges sie mit ernster Miene. »Luca – er…«
Jeannettes Lächeln erlischt. »Was ist … was seht ihr mich so komisch an?«
»Jeannette … Sandra war in deiner Wohnung. Die Tür stand offen. Es ist dort etwas
geschehen … etwas Schreckliches … jemand liegt am Boden …«
»Jemand?« Jeannette ist blass geworden und starrt ihn verständnislos an. Sie merkt
nicht, dass das Baguette ihr entgleitet und über den Boden rollt. »Wer … was meinst du
mit ›Jemand‹? Wo ist Luca?«
Georges senkt den Kopf. Da wirft sie ihre Tüte hin und rennt mit großen Schritten die
Treppen hinauf.
»Bleib…«, ruft Georges, aber sie hört nicht. Er läuft ihr nach, will sie zurückhalten.
Oben, aus der Wohnung im dritten Stock vernehme ich wenig später einen dumpfen,
verzweifelten Schrei.
In diesem Moment erscheinen die restlichen Gäste des Abends, Nicole und Alain. Sie
sind fassungslos, als ich ihnen in abgehackten Sätzen die Situation schildere. Draußen
hört man inzwischen die Polizei mit Sirenengeheul vorfahren. Überall herrscht plötzlich
großes Durcheinander. Nachbarn sehen furchtsam aus den Fenstern, einige stehen im
Treppenhaus und möchten wissen, was los ist. Ein Polizeibeamter, dem ich in dürrem
Französisch erkläre, was ich erlebt habe, packt mich grob am Ärmel.
»Venez! Kommen Sie mit.«
Ich protestiere, dass ich ja mit der ganzen Sache nichts zu tun habe, dass ich erst
heute in Paris angekommen bin, dass ich diesen Luca ja gar nicht kannte und noch
weniger umgebracht habe – doch es nützt nichts. Ich muss, genau wie Georges und
Jeannette, mit aufs Revier.
Als wir auf die Straße treten, ist der blonde Clochard mit den langen Haaren von
seinem Platz auf dem Metrorost verschwunden. Erst bei der Abfahrt sehe ich ihn zufällig
ein paar Meter weiter vor einem Schaufenster stehen. Er schaut aufmerksam, aber mit
ausdrucksloser Miene zu uns herüber. Die Decke, auf der er saß, hat er über die Schultern
geschlungen, seine Baseballkappe tief in die Stirn gezogen.
Ob er den Mörder hineingehen sah? Soll ich der Polizei erzählen, dass dieser seltsame
Clochard mir gleich irgendwie komisch vorkam? Nein, jetzt lieber nicht. Ich bin zu
aufgeregt und will nicht gleich einen Fremden verdächtigen. Was geht mich überhaupt
dieser Luca an, den ich noch nie im Leben, pardon, man könnte fast sagen, lebend
gesehen habe? Und warum muss ausgerechnet ich ihn gefunden haben?
Meine Parisreise hat er mir jedenfalls gründlich verdorben. Ich telefoniere mit Nico,
meinem Mann, und beschreibe ihm meine prekäre Situation, den schrecklichen Schock,
den ich erlitten habe. Seine Stimme klingt besorgt und er erkundigt sich, ob er sofort nach
Paris kommen soll. Ich verneine und erkläre ihm, ich würde zurückfliegen, wenn alles
geklärt sei. Er rät mir noch, einen Anwalt zu nehmen, aber ich versichere ihm, dass das
sicher nicht nötig sein wird.
Erst spät am Abend, nach der Vernehmung durch einen müde wirkenden
Polizeibeamten, der mich lange auf das Protokoll, das ich unterschreiben soll, warten
lässt, kann ich gehen. Dummerweise stelle ich auf dem Revier fest, dass ich in der
Aufregung wohl meine Tasche in Jeannettes Wohnung gelassen habe. Bis jetzt habe ich
sie nicht vermisst, denn meine Papiere, Geldbörse und das, was ich notwendig brauche,
verstaue ich – seit mir einmal alles in der Metro von einem geschickten Taschendieb
geklaut wurde – immer in den Innentaschen meiner Jacke. Nur Lippenstift, Kamm,
Taschenkalender, Brille und ähnliche Dinge, die Frau so braucht, kommen in meine
Handtasche. Aber die Polizei wird sie schon finden, und sie versprechen mir, dass ich sie
sicher morgen gleich abholen kann. Ich habe die Adresse meines kleinen Hotels in der
Rue Monsieur le Prince angegeben und soll mich dort zur Verfügung halten. Vorerst gibt
es noch keinen Hinweis auf den Mörder, sagt mir der Beamte.
Jeannette hat die ganze Zeit geheult, sie ist völlig aufgelöst. Natürlich hat sie Angst
und will nicht in ihre Wohnung zurück. Man hat ihr ausnahmsweise erlaubt, mit mir zu
gehen. Wir werden uns mein Zimmer im Hotel für ein oder zwei Nächte teilen.
Ohne viel miteinander zu reden, laufen Jeannette und ich eine Weile nebeneinander
her, über den Boulevard Saint Michel zum Odeonsplatz. Obwohl spät am Abend, ist die
Stadt laut, belebt von Menschen, die ausgehen, essen, trinken und sich amüsieren. Doch
wir haben keinen Blick dafür. Jeannette verliert plötzlich die Fassung, beteuert
schluchzend, sie begreife das alles nicht. Es ist ihr ein Rätsel, was sich in ihrer Wohnung
abgespielt hat, während sie fort war. Alles schien doch in bester Ordnung. Luca war gut
gelaunt, hatte Spagetti Carbonara gekocht und die Drinks vorbereitet, als ihr auffiel, dass
kein Baguette im Haus war. Sie erinnert sich auf jeden Fall, die Tür hinter sich
geschlossen zu haben, schwört, so etwas würde sie nie vergessen.
Ein paar Meter vor dem Hotel leuchtet uns das rote Schild einer kleinen Bar, »Chez
Moumou«, entgegen. Ich ziehe Jeannette hinein, denke, dass wir jetzt einen Drink, »Un
petit verre«, ganz gut vertragen könnten. Jeannette sitzt wie ein Häufchen Elend auf dem
Barhocker vor der Theke und vergräbt das Gesicht in den Händen. Eigentlich tut sie mir
leid, obwohl ich es ja gewesen bin, die den Toten entdeckt hat. Ich darf nicht an diesen
entsetzlichen Moment denken und fürchte schon jetzt, dass er mich lange verfolgen wird.
»Ach, Sandra«, fängt sie nach dem ersten Schluck Rotwein, von dem wir gleich eine
ganze Flasche bestellt haben, von allein an. »Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie
das geschehen konnte. Luca war so liebenswert, so charmant…« Die Tränen kullern ihr
über die Wangen, und ich lege tröstend den Arm um sie. »Wer hat ihm bloß so etwas
angetan?«
Ich bin genauso ratlos wie sie. »Du hast ihm also in jeder Hinsicht vertraut?«
Jeannette nickt und wischt die Tränen ab. »Voll und ganz!«
»Was weißt du eigentlich von ihm…«, frage ich vorsichtig, »von seinem Leben?«
Sie zuckt die Schultern. »Das Wichtigste eben. Er war der Mann meiner Träume:
Aristokrat, erfolgreicher Modejournalist und Fotograf – damit hat er sehr gut verdient. Er
arbeitete fast für alle großen Modehäuser von Paris. Dior, Lanvin, Chanel – bei den ersten
Schauen, die über den Laufsteg gingen, hatte er die Lizenz, die neuesten Modelle zu
fotografieren. Aber er war gar nicht abgedreht, so verrückt wie manche in dem Job. Ein
ganz normaler Mensch - zum Beispiel hat er gerne gekocht, Spagetti Carbonara. Er war
sehr stolz auf sein Rezept.« Sie schluchzt leise in ihr Taschentuch. »Sicher hatte er Neider
– aber keine Feinde! Überhaupt, wer konnte wissen, dass er ein paar Wochen bei mir
wohnt? Dieses …«, sie stockt, »dieses Verbrechen muss ja in ganz kurzer Zeit geschehen
sein. Ich war doch höchsten eine halbe Stunde fort!«
Ich zucke die Schultern. »Vielleicht hat er irgendjemandem erzählt, dass er bei dir ist.«
Nach einem kräftigen Schluck Rotwein fühle ich mich langsam besser. »Jemandem, der
ihn hasste. Überleg doch mal. Kennst du die Leute, mit denen er Umgang hatte – seine
Kollegen zum Beispiel?«
Jeannette schaut mich hilflos an. »Eigentlich nur flüchtig. Er wollte Berufliches und
Privates trennen, hat er mir mal gesagt. Diese magersüchtigen Models – die ganze
Branche, in der sowieso alle schwul sind oder koksen, das war ihm zuwider. Beruflich
musste er sich damit abgeben – aber privat brauchte er Abstand.«
»Warst du denn mal bei ihm – ich meine, in seiner Wohnung in der Avenue
Montaigne?«
»Klar! Zu seiner Einweihungsparty habe ich sogar Georges mitgenommen, zum
Ausgleich dafür, dass er mich ab und zu in die Oper einlädt. Lucas Appartement war ein
Traum - viel Stuck und italienische Wandtechnik – trotzdem ganz minimalistisch
eingerichtet. Die Dachterrasse – einfach unvergleichlich, mit Blick auf den Eiffelturm!« Sie
macht eine nachdenkliche Pause. »Um ganz ehrlich zu sein – als er wegen Renovierung
seiner Räume zu mir zog, habe ich mich schon ein bisschen gewundert.«
Der Kellner schenkt nach, stellt eine Schale mit Nüssen auf die Theke und lächelt uns
freundlich an. Wir greifen beide zu, denn erst jetzt merken wir, dass wir Hunger haben.
Ich bestelle Tartines, belegte Brote.
»Er hat eine Menge seiner Sachen mit zu mir genommen, vor allem seine
Fotosammlung, ganze Kartons voll«, fährt Jeannette fort. »Vielleicht hatte er ja Angst, sie
würden beschädigt – oder kopiert.«
»Eine Fotosammlung?«
»Na, du weißt schon – seine Modefotos! Die jeweiligen Kollektionen, die die Models auf
dem Laufsteg tragen. Er verkaufte sie an Illustrierte und Magazine – in Italien und der
ganzen Welt. Und er schrieb als Berichterstatter Kommentare dazu, über Farben, Stoffe
und Schnitte. Die Presse war natürlich neugierig darauf, welcher Stil demnächst en vogue
sein würde. Er tat immer sehr geheimnisvoll.«
»Komisch«, überlege ich, »in deinem Appartement lagen ein paar solcher Fotos auf
dem Boden. Ich dachte, du hast sie vielleicht verloren.« Ich greife in meine Manteltasche.
»Hier, sieh mal. Ich habe sie in meiner Verwirrung versehentlich eingesteckt.« Ich zeige
ihr die zerknitterten Fotos, doch Jeannette schüttelt den Kopf und macht eine
angewiderte Gebärde.
»Sie gehören Luca. Aber ich kann mir das jetzt nicht mehr ansehen. Wirf sie weg – ich
hab mich sowieso nie für Mode interessiert.« Ich stecke sie wieder in meine Tasche
zurück.
»Ich frage mich bloß, was es für einen Grund geben könnte, einen Modefotografen
umzubringen?«
»Angenommen, es wollte jemand illegal an die Kollektionen herankommen …«
Jeannette schüttelt nur den Kopf, und wir schweigen beide eine Weile.
»Komm, lass uns morgen weiter darüber reden – mit etwas Abstand und einem klaren
Kopf.«
Sie nickt und schwankt ein wenig, als sie vom Barhocker gleitet. »Danke, dass du mich
heute nicht allein lässt. Ich könnte es nicht ertragen…«
Während Jeannette wenig später längst im Land der Träume weilt, starre ich auf die
blinkende Lichtreklame des Hotels, die das Zimmer trotz der Vorhänge mit hellen Streifen
durchzieht. Von der Bar dringt lautes Lachen und Stimmengewirr herüber. Ich kann nicht
schlafen – bin viel zu aufgewühlt. Aber vielleicht hat die Polizei den Täter bis morgen ja
schon gefunden. Irgendwie ist mein ganzer Plan durcheinandergekommen, meine Freude
über die schöne Stadt und das Treffen mit den Studienkollegen ist wie weggefegt.
Ich wälze mich in dem engen Hotelbett von einer Seite auf die andere und habe Angst,
die Augen zu schließen. Dann sehe ich nämlich wieder die Szene vor mir, im halbdunklen
Salon, die leblose Gestalt zu meinen Füßen, das bleiche Gesicht, das Blut, das in den
Teppich sickerte. Mein Herz beginnt zu rasen – ich stehe fröstelnd auf, suche im Koffer
nach meiner Notfallapotheke und spüle eine Schlaftablette mit einem Glas Wasser
hinunter. Am nächsten Morgen bin ich trotzdem früh wach, noch vor Jeannette. Die
gestrigen Erlebnisse haben ein wenig an Schrecken verloren. Schließlich habe ich den
Toten ja gar nicht gekannt. Ich werde Jeannette ins Revier begleiten, meine Tasche
abholen und später zum Studententreffen gehen. Und meinen Rückflug früher buchen,
sobald die Polizei mir meinen Pass zurückgibt. Der Aufenthalt hier ist mir ohnehin
verleidet – und Jeannette kann ich auch nicht weiterhelfen.
Draußen ist es ruhig – Paris, die Riesenstadt, ist noch gar nicht richtig erwacht. Ich
werfe einen Blick aus dem Fenster. Der Morgen graut, die enge Rue Monsieur le Prince ist
finster, die Fassaden alt und schäbig und das Pflaster schmutzig. Nur die Straßenkehrer
sind bereits mit trägen Bewegungen am Werk. Der Anblick ist ziemlich ernüchternd, und
ich frage mich, wieso ich ausgerechnet diese düstere Straße mit den Spuren einer langen
Vergangenheit immer so romantisch gefunden habe. Hier ist es doch genauso touristisch
wie überall in Paris – ob am Louvre oder an der Pont Neuf. Auch der glitzernde Eiffelturm,
die weihnachtliche Festbeleuchtung der Champs-Elysées sind Kulisse – inszeniert wie in
einem Film. Was fand ich bloß so faszinierend daran?
Später sitze ich mit Jeannette im Café neben dem Hotel bei einem Café Crème und
Croissants. Sie ist schweigsam und wie betäubt. Ihre Augen gefallen mir ganz und gar
nicht. Sie hat so einen trüben Blick, mit dem sie mich gar nicht wahrzunehmen scheint.
»Hast du keinen Hunger?«, frage ich ratlos, nachdem wir uns eine Weile
angeschwiegen haben.
»Doch, natürlich. Ich bin nur noch nicht ganz wach«, sagt sie. »Entschuldige mich einen
Moment.« Sie steht auf und geht hastig hinaus. Als sie zurückkehrt, ist sie wie
ausgewechselt, gesprächig und viel gefasster. Sie trinkt mit einem Zug ihren »Crème«
und bestellt noch einen doppelten Espresso.
»Ich glaube, ich war so blind verliebt in Luca, dass ich viele Dinge einfach verdrängt
habe«, sinniert sie und schaut auf die Uhr, denn um elf erwartet man sie auf der
Polizeiwache. »Zum Beispiel weiß ich kaum etwas über seine Vergangenheit. Er wich
immer aus, sagte nur, er sei in der Nähe von Rom geboren, und seine Eltern wären schon
tot. Nur einen jüngeren Bruder hatte er noch, Bruno, über den er nicht gerne sprach. Er
sei vorbestraft, habe nie Lust gehabt zu arbeiten und pendele zwischen Rom und Paris hin
und her. Luca hat ihn unterstützt.« Sie neigt sich mir zu. »Soll ich dir etwas sagen –
ausgerechnet am Tag seines Todes habe ich Luca eine größere Summe in bar geliehen.
Für seinen Bruder. Ich glaube, es war ihm furchtbar peinlich, so knapp bei Kasse zu sein.«
»War sein Bruder denn in Paris?«, frage ich erstaunt.
Sie seufzt. »Anscheinend. Von dem Geld sehe ich sicher nie mehr etwas! Es waren
meine ganzen Ersparnisse.«
»Und … hast du das nicht der Polizei erzählt?«
»Wozu?« Jeannette macht eine resignierende Handbewegung. »Die werden mir das
Geld auch nicht wiedergeben. Dieser Bruno ist ein Säufer, der hat es wahrscheinlich
längst nicht mehr.« Sie legt eine Pause ein, trinkt mit kleinen Schlucken ihren Espresso
aus und stellt die Tasse ab. »Es war komisch, aber manchmal, da verschwand Luca
einfach. Ganz plötzlich war er weg. Auf Reisen. Ich wusste nie, wo er genau war, wenn er
mich ab und zu aus der Ferne auf meinem Handy anrief.«
Ich muss plötzlich ein Gähnen unterdrücken. Die Schlaftablette wirkt noch. Der
bleigraue Himmel vor der Tür, der Anblick des mit künstlichem Schnee bestaubten
Christbaums am Eingang und die Kälte des schlecht geheizten Cafés drücken auf meine
Stimmung. Ich wünsche mich plötzlich nach Hause zurück, in meine warme,
wohlgeordnete Welt mit echten deutschen Tannen, Adventsduft, Plätzchen und
Christkindlmärkten. »Welche Freundinnen hatte er eigentlich vor dir?«, frage ich, um
irgendetwas zu sagen.
Jeannette zuckt die Schultern. »Irgendein Model! Die waren immer blond, groß und
dünn. Die Mädels liefen ihm natürlich nach, damit er Fotos von ihnen schoss, die sie
bekannt machten. Aber Luca hat nur mich geliebt, das weiß ich…« Sie hält ein, ihr Mund
zuckt, und sie wischt rasch die neuen Tränen fort. Überraschend nimmt sie meine Hand.
»Entschuldige – ich hab dir deinen Urlaub wohl gründlich verdorben, oder?«
»Nein, nein«, wehre ich halbherzig ab. »Schließlich kannst du wirklich nichts dafür.
Das…, das war einfach Schicksal. Aber nach allem, was geschehen ist, fliege ich natürlich
früher als geplant zurück. Und jetzt begleite ich dich noch ein Stück zum Polizeipräsidium,
bevor ich zum Treffen der ›Ehemaligen‹ gehe.«
»Nein, lass nur – ich gehe allein. Du hast schon genug für mich getan. Deine Tasche
und deinen Pass kriegst du sicher bald zurück. Ab heute wohne ich übrigens für ein paar
Tage bei Nicole – sie hat mich angerufen und es mir angeboten. Von ihr aus habe ich nur
eine Metro-Haltestelle zur Universität.« Sie winkt dem Kellner, und als der nicht gleich
erscheint, steht sie auf, um an der Theke zu zahlen. Zerstreut beobachte ich, wie sie mit
einem Unbekannten, der halb verdeckt hinter dem Weihnachtsbaum am Eingang steht,
einen lebhaften Wortwechsel führt. Als sie zurückkehrt, ist sie sichtlich nervös, hat rote
Flecken auf den Wangen.
»Hast du eben Ärger gehabt?«, frage ich besorgt, doch sie schüttelt den Kopf.
»Nein, nein. Ein Typ hat mich angemacht – da hab ich ihm nur die Meinung gesagt.«
Ich lege eine Münze als Trinkgeld für das Frühstück auf den Tisch, erhebe mich und
umarme Jeannette. »Ruf mich an. Du musst mir unbedingt erzählen, was die Polizei
inzwischen herausgefunden hat – wer als Täter infrage kommt, und warum.«
Jeannette nickt, zaghaft lächelnd. »Klar. Wir sehen uns auf jeden Fall, bevor du
abfliegst. Und viel Spaß mit deinen Studenten!«
Ich fröstele unter dem kalten Windstoß, der mich draußen empfängt und winke
Jeannette noch einmal zu. Als ich die Hände in die Taschen stecke, knistert Papier. Ach
ja, die Fotos! Ich will sie gerade in den Abfallkübel vor dem Café werfen, doch dann
zögere ich und blättere sie noch einmal durch. Nichts als Modeaufnahmen vom Laufsteg –
Kleider, Hosen und Oberteile. Etwas verschwommen ist im Vordergrund das Publikum zu
sehen. Auf der Rückseite finden sich gekritzelte Bemerkungen über Stoff, Länge und
Farbe. Nach kurzer Betrachtung stecke ich sie wieder ein und beschließe, sie bei
Gelegenheit der Polizei auszuhändigen. Vielleicht können die ja etwas damit anfangen.
Ein seltsames Gefühl in meinem Rücken veranlasst mich zum Umdrehen. Ein Stück von
mir entfernt, am Eingang des Cafés, steht jemand mit einer Baseballkappe, der zu mir
herüberstarrt. Aus der Ferne sieht er fast so aus wie der blonde Clochard, der auf dem
Metrorost vor Jeannettes Tür saß. Ich nehme all meinen Mut zusammen und schlendere
mit einem zufälligen Seitenblick näher. Da drückt er hastig seine Zigarette an der
Schuhsohle aus und verschwindet im Café. War er es oder war er es nicht? Wahrscheinlich
sehe ich schon Gespenster. Das kommt sicher daher, dass ich so schlecht geschlafen
habe. Ich gehe ihm nach.
»He, ma Belle! Hast du was vergessen?« Der Patron des Cafés nickt mir freundlich
grinsend zu.
Ich reiße mich zusammen, schüttele den Kopf und überfliege den Gastraum mit einem
suchenden Blick. Niemand zu sehen, der Mann ist wie vom Erdboden verschluckt.
Wahrscheinlich habe ich mich getäuscht – meine Phantasie hat mir mal wieder einen
dummen Streich gespielt! Ich gehe die wenigen Meter zu meinem Hotel zurück. Dort
werfe ich die Fotos in die hinterste Ecke einer Schublade, bevor ich mich auf den Weg
zum Studententreffen mache. Zum Glück ist es nicht weit zu dem damals billigsten Café
von Paris, das »Le Puce«, das sich in der Nähe von Saint Julien le Pauvre befindet, eine
der ältesten Kirchen von Paris. Im Schatten von Notre Dame, ihrer jüngeren und
prunkvolleren Schwester, ist sie leicht zu übersehen. Als ich durch die vertrauten Straßen
gehe und das »Le Puce« erreiche, das einst mein täglicher Aufenthaltsort war, ist die
Terrasse mit der bescheidenen Glasveranda bereits von lärmenden und fröhlichen
Menschen erfüllt.
»Hey, da kommt Sandra«, kreischt jemand. »Bonjour! Viens!«
Die dunkelhaarige Isabella aus Brasilien breitet beide Arme aus. Und da umringen sie
mich schon und ich stelle erstaunt fest, dass wir diesmal fast vollständig sind. Wir
umarmen uns, schwatzen alle auf einmal durcheinander. Der alterslose Kellner mit den
fettigen langen Haaren strahlt. Er ist immer noch so bleich wie vor ein paar Jahren, wie
auch das Café gleich zugig und ungeheizt und der Boden übersät ist mit
Zuckerpapierchen, Krümeln und Undefinierbarem.
Ich fühle, wie ich sofort auftaue. Die vergangenen Jahre im ordentlichen Deutschland
fallen von mir ab, als wären sie nie gewesen, und ich verwandele mich wieder in die
übermütige Studentin, die ständig kichert und sich von einem Nichts begeistern lässt.
Neuigkeiten werden ausgetauscht. Hélène mit den langen blonden Haaren erzählt, dass
sie das Studium aufgegeben hat, um den Barkeeper Carlo, in den sie schon damals
verliebt war, zu heiraten. Sie wohnen immer noch à la Bohème in einer kleinen Mansarde
der Rue Mouffetard. Sie sieht glücklich aus. Die rastlose Isabella studiert noch – immer
wieder ein neues Fach beginnend. Britta dagegen hat eine Professur an der Universität in
Kopenhagen. Auch der einst so exzentrische Philippe ist seriös geworden, man sieht es
daran, dass sein langer Pferdeschwanz der Schere zum Opfer gefallen ist. Jetzt arbeitet er
bei einer Bank, weil man, wie er etwas von oben herab behauptet, mit Philosophie doch
kein Geld verdient.
Der Kellner bringt unsere ehemalige Leibspeise »Croque Madame« und »Croque
Monsieur«, einen fetten Toast, einmal mit und ohne Spiegelei, und dazu serviert er einige
Runden Pastis. Aus dem Radio dudelt laut unser Lieblingssender »Chant France« mit
seinen schmachtenden Chansons, und langsam fühlen wir uns alle so, als wären wir nie
weg gewesen.
»Was macht eigentlich unser früherer Philosophie Professor? Gibt es ihn noch?
Monsieur Tolendy, der schönste Professor an der Sorbonne?«, schwärmt Anna.
»Und der Klügste«, setzt Hélène seufzend hinzu und verdreht die Augen.
»Vielleicht ist er ja schon längst ein langweiliger Ehemann geworden, den seine Frau
herumkommandiert«, wirft Isabella pragmatisch ein. Alle brechen in lautes Gelächter aus.
»Bestimmt nicht«, rufe ich dazwischen. »Gestern hatte George nur ein paar graue
Strähnen mehr, mit denen er noch besser aussieht.« Ich muss plötzlich abbrechen, weil
mein Herz laut zu klopfen beginnt. Die Erinnerung an die Ereignisse des vergangenen
Abends ist wieder da.
»Gestern?« Anna zieht das Wort genüsslich in die Länge. »Und du nennst ihn Georges –
hast ihn etwa getroffen?« Alle sehen neugierig zu mir hinüber.
»Halb so wild«, ich versuche, meinen plötzlichen Stimmungsumschwung so locker wie
möglich zu überspielen, »meine Freundin Jeannette ist eine Kollegin von ihm.«
Bedeutungsvolle Blicke treffen mich, und ich füge hinzu: »Überhaupt – Georges macht
sich gar nichts aus Frauen. Er ist nämlich schwul.«
Anna scheint beeindruckt. »Und woher willst du das wissen?«
»Ich weiß es eben. Habt Ihr denn noch nie bemerkt, dass er sich schminkt?«
Proteste und Stimmengewirr erheben sich, vereinzeltes Gelächter. »Wie … richtig mit
Lippenstift und so?«, fragt Anna, die schon immer etwas begriffsstutzig war, verwirrt.
»Natürlich nicht! Ganz dezent – würdest du gar nicht merken. Früher ist mir das auch
nicht aufgefallen. Doch als er sich gestern über mich beugte …«
»Na also…«, schreit Anna triumphierend auf, »er kann gar nicht schwul sein, wenn er

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