Zeig mir, was du drauf hast!

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Zeig mir, was du drauf hast!
AARGAUER SPORT
Sonntag | Nr. 4 | 31. Januar 2010
Seite 35
BILD: CHRIS ISELI
BILDER: AWA/ROJ
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«Die Jungs müssen spüren, dass Schläge auch
wehtun», sagt Adrian Häggi (links) und feuert
Andreas N. an: «Komm, schlag zu. Zeig mir, was
du draufhast.»
«Zeig mir, was du draufhast»
Straffällige Jugendliche finden bei «work and box» von Adrian Häggi Halt und Struktur
VON FELIX BINGESSER
Der 51-jährige Adrian Häggi steht im
Boxring und beobachtet aus seinen Augenwinkeln, wie der 18-jährige Andreas
N. um ihn herumtänzelt. Die Schläge
von Andreas prallen an der Deckung von
Häggi ab. Hin und wieder vergisst sich
der junge Mann und greift ungestüm
an. Häggi kontert. Er schlägt nicht richtig zu. «Aber die Jungs müssen spüren,
dass Schläge auch wehtun. Sie müssen
die Balance finden, sie müssen ihre Aggression kontrollieren lernen», sagt Häggi. Und als Andreas schon schwer atmet,
ruft Häggi: «Komm, schlag zu. Zeig mir,
was du draufhast.»
ANDREAS IST 18 JAHRE ALT. Er ist mit
13 Jahren von der Schule geflogen, war
danach drei Jahre in einem Internat für
Schwererziehbare, hat später eine Maurerlehre angefangen und wieder abgebrochen und ist am Ende immer tiefer
in den Sumpf geraten. Alkoholexzesse,
Einbrüche, Diebstähle, ein Leben auf der
Strasse und ohne Perspektive. Er wurde
zu einem jener jungen Menschen, für
die es in der Gesellschaft keinen Platz
gibt. 35 offizielle Delikte zieren inzwischen seinen verpfuschten Lebenslauf.
Und als er im vergangenen Dezember
aus dem Bezirksgefängnis in Baden entlassen wurde, da hat ihn die Aargauer
Jugendanwaltschaft zu Adrian Häggi geschickt. Sein Projekt trägt den Namen
«Türöffner», verbunden mit dem Zusatz
«work an box». Die Arbeit von Häggi
beginnt da, wo alles andere aufhört. Wer
beim neu lancierten Projekt Türöffner
landet, für den ist anderswo kein Bedarf
mehr. Der taucht in der gesellschaftlichen Buchhaltung nur noch als Störfall
und als Kostenfaktor auf.
«DIESE JUNGEN MÄNNER haben das ganze Programm hinter sich», sagt Häggi. Er
weiss, wovon er spricht, denn er spricht
genau die Sprache seiner «Jungs», wie er
sie liebevoll nennt. Denn auch Häggi
selber war kein Kind von Traurigkeit. Er
war lange Zeit Chef der Motorrad-Gang
Rebels of Road, einer Organisation ähnlich den Hells Angels. Er war ein VorzeigeRocker. Und er hat in jüngeren Jahren
gerne auch mal selber zugeschlagen.
«Aber ich habe immer meine Grenzen
gekannt. In meiner Lehre als Plättlileger
haben wir das Gefängnis in Lenzburg renoviert. Da hat mich ein Gefangener einen Morgen lang in seiner Zelle eingesperrt. Da habe ich gewusst: Hier will
ich nie mehr hin», sagt Häggi. «Und früher», so der Aargauer, «hat auch die Gesellschaft stärker korrigierend eingewirkt. Die Lehrer hatten noch mehr Autorität. Auch die Nachbarn haben mehr
hingeschaut. Heute interessiert sich jeder nur noch für sich selber. Und alle
schauen weg.»
So hat er sich in den letzten Jahren
immer intensiver mit gewalttätigen und
schwer erziehbaren jungen Männern beschäftigt. Und hat sich zum diplomierten Arbeitsagogen ausbilden lassen. Im
vergangenen Jahr hat er sein Projekt
«work and box» lanciert. Hier gibt er
arbeitslosen und gewalttätigen Jugendlichen eine Tagesstruktur. In einer ersten Phase geht es darum, morgens um
8 Uhr pünktlich zur Arbeit zu erscheinen. «Das ist für viele schon eine grosse
Herausforderung. Ich habe den einen
oder anderen auch schon aus dem Bett
geholt. Aber ich darf ihnen nicht ständig auf den Füssen stehen. Sie brauchen einen eigenen inneren Antrieb,
sonst werden sie das Leben nie meistern», sagt Häggi. Wenn es bei der Arbeit
zu Spannungen kommt, wenn einer
«Es interessiert sich jeder
nur noch für sich selber.»
auszuflippen droht, wenn der «Kessel
dampft», wie es Häggi formuliert, dann
geht es blitzartig in den Boxring. Ihre
aufgestaute Energie können sie dann
da unter der Kontrolle des Chefs abbauen. «Über das Boxen», erklärt er, «kann
ich sie anders ansprechen, als wenn ich
sie immer bei der Arbeit kritisiere.»
SPÄTER SITZT ANDREAS N. im Büro von
Häggi und erzählt. Beim Projekt «Türöffner» hat er erstmals seit Jahren Halt
gefunden, sagt er selber. Der Fall ins Bodenlose ist gebremst. Stolz erzählt er,
dass er seit drei Monaten keinen Alkohol
mehr trinkt und nun eine Freundin hat.
«Ich habe beim Boxen schon gelernt, Respekt zu haben. Es ist halt anders, wenn
man mit einem Kollegen im Ring steht,
als wenn man sich auf der Strasse prügelt», sagt er. Andreas ist auf einem guten
Weg. «Aber Stabilität hat von denen kei-
«Türöffner»
Das Projekt «Türöffner, work an box» ist
auf private Initiative des Aargauers Adrian
Häggi entstanden. Häggi arbeitet mit
der Jugendanwaltschaft des Kantons Aargau
zusammen und betreut derzeit in einer
Tagesstruktur fünf schwer erziehbare und
gewaltauffällig gewordene junge Männer. Unterstützt wird das Projekt auch von Privaten,
in erster Linie von der Baufirma Walo Bertschinger. Das Boxen ist neben
der Eingliederung in den Arbeitsprozess ein
wichtiger Bestandteil der Tagesstruktur.
Mehr dazu unter www.workandbox.ch (SO)
ner, es ist alles immer eine Gratwanderung», sagt Häggi. Enttäuschungen und
Rückschläge gehören bei seiner Arbeit
dazu. Zwei Tage vor dem Besuch unserer
Zeitung sind zwei seiner Schützlinge verhaftet worden. Sie haben einen Mann auf
offener Strasse ausgeraubt. Einer hat danach im Gefängnis seinen 16. Geburtstag
gefeiert. Davor war er bereits fünf Monate im Projekt, «und ich habe jeden Tag
mit ihm über die Gefahr eines Rückschlages gesprochen», sagt Häggi.
INZWISCHEN BITTET ER seine Schützlin-
ge wieder in den Boxring. Dort achtet er
auch darauf, dass sie immer mit beiden
Füssen Bodenkontakt haben. «Wenn einer schon beim Boxen ständig auf einem Bein rumhüpft, dann steht er auch
im Leben nicht mit beiden Beinen auf
dem Boden.» Und wenn ihn einer seiner
Jungs verbal mal wieder unter der Gürtellinie attackiert, dann kann es durchaus sein, dass er bei der nächsten Boxeinheit auch mal kräftiger zulangt.
Die gewalttätigen Jugendlichen brauchen eine Tagesstruktur. Morgens um 8 Uhr pünktlich zur Arbeit zu erscheinen, ist für viele eine grosse Herausforderung.
BILD: CHRIS ISELI
«Wenn niemand mehr weiss,
wohin mit ihnen, dann kommen sie zu mir», sagt Adrian
Häggi. Häggi betreut «schwere
Fälle», und dabei hat der Sport
eine grosse Bedeutung.

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