Homo sociologicus sociologicus sociologicus – oder die Vorstellung

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Homo sociologicus sociologicus sociologicus – oder die Vorstellung
Birgit Griese: Vorlesung im Rahmen des Moduls Theorien und Methoden Sozialer Arbeit
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Homo
Homo sociologicus – oder die Vorstellung von den sozialen Rollen
(Dahren
(Dahrendorf)
von Birgit Griese
„Während die Uneigentlichkeit des Geschehens für das Schauspiel konstitutiv ist, wäre sie im Bereich der Gesellschaft eine höchst missverständliche
Annahme. Der Terminus ‚Rolle‘ darf also nicht dazu verführen, in der rollen‚spielenden‘ Sozialpersönlichkeit gewissermaßen einen uneigentlichen
Menschen zu sehen, der seine ‚Maske‘ nur fallenzulassen braucht, um in
seiner wahren Natur zu erscheinen. Homo sociologicus und der integre ganze Einzelne stehen in einem paradoxen und gefährlichen Missverhältnis zueinander, das zu ignorieren oder bagatellisieren wir uns schwerlich leisten
können. Daß der Mensch ein gesellschaftliches Wesen sei, ist mehr als eine
Metapher, seine Rollen sind mehr als ablegbare Masken, sein Sozialverhalten mehr als eine Komödie oder Tragödie, aus der auch der Schauspieler in
die ‚eigentliche‘ Wirklichkeit entlassen wird“ (Dahrendorf 2006: 32, Hervorhebungen im Original).
1. Einleitung
Der Homo sociologicus, dessen theoretische Konturen anhand einer Arbeit von Dahrendorf (2006) profiliert werden sollen, steht
im Mittelpunkt der heutigen Beschäftigung mit Theorien sozialen
Handelns. Im Anschluss an eine allgemeine Problematisierung
des Zusammenhangs zwischen wissenschaftlichen Theorieentwürfen und im Alltag kursierenden Menschenbildern wird der Ansatz Dahrendorfs in systematisierender Absicht betrachtet. Die für
die klassische Rollentheorie zentralen Begrifflichkeiten sowie die
damit verbundene Forschungsprogrammatik werden anschließend skizziert. Kommentare zur Relevanz im Hinblick auf sozialarbeiterisches Handeln fallen heute leider sehr kursorisch aus,
was ich zu entschuldigen bitte. Die Theorie ist jedoch bei weitem
nicht so komplex, als dass Sie nicht eigenständig weiterdenken
könnten. Zum Schluss gehe ich kurz auf Rollentheorien jenseits
des normativen Paradigmas ein und stimme Sie anhand eines
längeren Zitats aus einer Arbeit von Goffman auf die kommende
Lesung ein.
2. Wissenschaft und Alltag sowie
sowie der Versuch einer einordnenden
Betrachtung
Das als Motto vorangestellte Zitat von Dahrendorf hilft ein soziales Phänomen zu erklären, welches ich vor einigen Tagen in ei-
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nem Seminar beobachten konnte. Zu Gast war eine Theaterpädagogin und Regisseurin, die die Teilnehmenden unter anderem aufforderte, kulturelle Codes, beispielsweise in Form von Begrüßung(sritual)en, aufzuführen. Auch sollten sich die Studierenden in imaginierten Situationen (z.B. im Zoo, im Supermarkt, beim Arzt, in
Krisensituationen) alltäglich, typisch zu verhalten. Schnell waren
unterschiedliche ‚Formate‘ zur Hand und wurden performt. Die
Gruppe hatte, so mein Eindruck, Spaß an den Übungen, war engagiert bei der Sache. Was mich nachdenklich, vielleicht auch etwas neidisch stimmte, war der Umstand, dass die ‚kulturelle Codierung‘ sozialer Situationen hier so umstandslos tolerierte wurde,
allderweil in theoretischeren Sitzungen oftmals Bedrohliches von
der Annahme der Sozialität bzw. Kulturalität menschlichen Handelns auszugehen scheint. Dahrendorfs Unterscheidung zwischen
dem Rollenbegriff in der Soziologie und der Bedeutung von Rolle
in der Theatermetaphorik liefert eine mögliche Erklärung: Man hat
ja bloß gespielt und kann anschließend in das ‚wirkliche Leben‘,
zum ‚wahren Ich‘ zurückkehren. Soziologische oder kulturwissenschaftliche Theorien aber verstellen diesen Rückweg prinzipiell,
graduell oder punktuell. Diese Feststellung führt mich direkt zum
Anhang der Arbeit Dahrendorfs, ein Textstück, in dem sich der Autor zur Frage positioniert, welche anthropologischen Perspektiven
mit der Rollentheorie verbunden sind.
Ähnlich wie Esser argumentiert Dahrendorf, dass es sich beim
Homo sociologicus, der klassischen Rollentheorie, um ein theoretisches Konstrukt handelt (2006: 108; kurz zu Essers Position vgl.
Griese 2008a: 6f.), welches der ‚Wirklichkeit‘ weder entspricht
noch genügt.
„Die Annahme des Rollenkonformismus erweist sich wissenschaftlich
als außerordentlich fruchtbar – doch ist moralisch die Annahme eines
permanenten Protestes gegen die Zumutungen der Gesellschaft sehr
viel fruchtbarer“ (2006: 109).
Doch nicht nur aus moralischer Sicht wendet sich Dahrendorf gegen die in der Rollentheorie ‚vermeintlich‘ verankerten Menschenbilder:
„Homo sociologicus ist als mindestens stilisierende, tatsächlich wohl
empirisch beinahe willkürliche Konstruktion geradezu der nachdrückliche Verzicht auf ein soziologisches Menschenbild – nämlich ein Zeugnis
dafür, daß man erklärungskräftige Theorien des sozialen Handelns ge-
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ben und nicht das Wesen des Menschen richtig und realistisch beschreiben will“ (ebd.: 110f.).
Im Rekurs auf Kant führt er aus, dass die „dogmatische“, „spekulative“ (Anti-)These von der Freiheit des Menschen ihre Berechtigung besitzt, jedoch keinesfalls in eine empirisch ausgerichtete
Soziologie integriert werden kann (ebd.: 91, 85ff.). Die daraus resultierenden Konsequenzen werden kritisch kommentiert: Der Autor bezeichnet die Soziologie als „inhumane(n), amoralische(n)
Wissenschaft“ (89), die mit „dem ganzen Menschen, seinen Gefühlen, Wünschen, Idiosynkrasien und Eigentümlichkeiten“ nichts
zu tun hat (85), die den Diskurs über den entfremdeten Menschen
beflügelt und dieser Verantwortung (in zweiter Instanz) gerecht
werden muss. Natürlich stellt Dahrendorf auch fest, dass soziologische Theorien, wie der Homo sociologicus, Eingang in den Alltagsdiskurs finden. Allerdings interpretiert die Öffentlichkeit die
logische Konstruktion als „wissenschaftliche Wahrheit vom Menschen“ fehl (114) – anthropologische Stellungnahmen und moralische Positionierungen seien diesem Missverständnis entgegen
zu setzen. Hingegen kritiklos, was die ‚fehlerhafte‘ Rezeption im
Alltag betrifft, behandelt Reckwitz dieses Phänomen: „Die Antwort auf die Frage, was Handeln ist (…) bestimmt in nicht unerheblicher Weise das kulturelle Selbstbild des ‚Menschen‘ als gesellschaftliches Subjekt“; diese Bilder wirken „in das Feld politischer und ethischer Debatten hinein“ (2004: 307). In diesem
Kontext ließe sich auch die These von einer „‚Versozialwissenschaftlichung‘ des Alltags“ (Giddens in Bormann 2001: 13; im
Original vgl. u.a. Giddens 1996: 26f.) heranziehen oder konstatieren, dass sich Alltagsstrukturen im Wissenschaftsdiskurs spiegeln
(Keupp 1996: 380f.; Grathoff 1988: 22). Die Richtung der Argumentation ist weitgehend unerheblich: Alltägliche und wissenschaftliche Sinnbezirke beeinflussen sich (vgl. auch Fuchs-Heinritz
2005: 45f.; Hall 1994: 66) und zwar unabhängig vom Begehren
einzelner Wissenschaftlerinnen. Fragen der Moral werden also von
Handlungstheorien, gleichgültig welcher Couleur, aufgerufen, da
Menschenbilder implizit oder explizit, beabsichtigt oder unbeabsichtigt transportiert werden. Ein genereller Freispruch ist unerreichbar, ganz ungeachtet der Frage, ob Dahrendorf konsequent
argumentiert, durchgängig auf die Künstlichkeit des soziologischen Menschen, des Homo sociologicus, hinweist, der „weder lie-
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ben noch hassen, weder lachen noch weinen (kann). Er bleibt ein
blasser, halber, fremder, künstlicher Mensch“ (Dahrendorf 2006:
87). (In eben diesem doppelten Sinne ist auch eine Kenntnis dieser Theorien für das professionelle Handeln und die Forschung
unentbehrlich).
Bevor die „Elementarkategorien soziologischer Analyse“ nach
Dahrendorf (2006: 75) vorgestellt werden, wird wie üblich der
Versuch einer Einordnung unternommen. In der klassischen Rollentheorie liegt, mit Reckwitz gesprochen, „ein naturalistische(s)
Verständnis der menschlichen (Sozial-)Welt vor, das ohne den
Begriff des ‚Sinns‘ auskommt“ (2004: 304). Der geschichtliche
Übergang vom Homo oeconomicus zum Homo sociologicus, der
sich als Wechsel vom zweck- hin zum normorientierten Handeln
beschreiben lässt (306), ist weiterhin dem normativen Paradigma
verpflichtet, wie sich unschwer am konkreten Gegenstandsbezug
erkennen lässt. Auch steht die wissenschaftliche Erklärung (nicht
der Akt des Verstehens oder Interpretierens) im Zentrum der Bemühungen, die nach sozialer Ordnung fragen:
„Dem zweckorientierten Modell der Handlungserklärung wird ein normorientiertes Modell gegenübergestellt, welches Handlungskoordination
aus der kollektiven Geltung von Sollens-Regeln – verstanden als normative Erwartungen, Werte oder Rollen – zu erklären versucht“ (Reckwitz
2004: 307)
Die „intersubjektive Handlungskoordination“ (ebd.: 309, Hervorhebungen im Original) soll mithilfe der Idee von den sozialen
Normen, die Ordnung entstehen lassen, geklärt werden. Mit Fug
und Recht ist die Arbeit Dahrendorfs also als klassisch soziologisch zu bezeichnen, seine Forschungsideen orientieren sich am
naturwissenschaftlichen Modell quantitativer Sozialforschung (vgl.
Dahrendorf 2006: 78ff.; für Beispiele Miebach 2006: 103ff.).
3. Klassische Rollentheorie
Die für Dahrendorf zentralen theoretischen Elemente einer Rollentheorie spiegeln sich in den Begriffen soziale Position, soziale
Rolle, Positions- und Rollensegmente, Bezugsgruppen, Erwartungen und Sanktion (Dahrendorf 2006: u.a. 75, 77, 104.). Allgemein
bezeichnet die soziale Rolle „ein Bündel normativer Verhaltenserwartungen, die von einer oder mehreren Bezugsgruppen an Inhaber bestimmter sozialer Positionen herangetragen werden“ (Peu-
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ckert 2003a: 289). Der lexikalische Eintrag weist schon darauf
hin, dass soziale Position (die in der Soziologie häufig auch als
Status bezeichnet wird, kritisch Dahrendorf 2006: 73f.) und soziale Rolle eng verbunden sind. Am Beispiel Schmidt, das den Text
durchzieht, veranschaulicht Dahrendorf Begriffsinhalte. Vorab ist
aber festzuhalten, was es über Herrn Schmidt zu wissen gibt:
männlich, 35, erwachsen und verheiratet, zwei Kinder, promoviert,
Studienrat, Mitglied in einem Sportverein und in einer politischen
Vereinigung, deutsche Staatsbürgerschaft, Protestant, lebt in einer größeren Kleinstadt oder kleineren Großstadt, spielt Skat,
fährt Auto, ist im Krieg geflüchtet (33). Ausgehend von diesen
‚Bestimmungen‘ entfaltet Dahrendorf seine Begriffe:
„Der Terminus soziale Position bezeichnet jeden Ort in einem Feld sozialer Beziehungen, wobei der Begriff so weit gefaßt werden soll, daß er
nicht nur die Position ‚Studienrat‘ und ‚3. Vorsitzender der Y-Partei‘, sondern auch die ‚Vater‘, ‚Deutscher‘ und ‚Skatspieler‘ umgreift. Positionen
sind etwas prinzipiell unabhängig vom Einzelnen Denkbares. Sowenig
das Amt des Bürgermeisters oder der Lehrstuhl des Professors zu bestehen aufhören, wenn sie vakant werden, sind die Positionen des Herrn
Schmidt an seine Persönlichkeit und selbst Existenz gebunden. Der Einzelne kann nicht nur, sondern muß in der Regel eine Vielzahl von Positionen einnehmen (…). Überdies kann das Positionsfeld, in das eine einzige Position den Einzelnen stellt, eine Vielzahl von unterscheidbaren
Bezügen einschließen (…) Positionen selbst können komplex sein. Es
wird sich als wichtig erweisen, diesen Sachverhalt durch einen eigenen
Begriff zu betonen und soziale Positionen als Mengen von Positionssegmenten zu verstehen. Die Position ‚Studienrat‘ besteht aus den Positionssegmenten ‚Studienrat-Schüler‘, ‚Studienrat-Eltern‘, ‚StudienratKollegen‘, ‚Studienrat-Vorgesetzte‘, wobei jedes dieser Segmente aus
dem Positionsfeld des Studienrates eine Beziehungsrichtung aussondert“ (2006: 34f., Hervorhebungen im Original).
Die Einführung der Idee der (mit steigender gesellschaftlicher
Komplexität zunehmenden) Segmente wird im Verlauf der Argumentation relevant und zwar im Zusammenhang mit den Bezugsgruppen und ihren Erwartungen. Allerdings ist es hier zunächst
sinnvoll, den Begriff der sozialen Rolle anzuschließen.
„(1) Soziale Rollen sind gleich Positionen quasi-objektive, vom Einzelnen
prinzipiell unabhängige Komplexe von Verhaltensvorschriften. (2) Ihr besonderer Inhalt wird nicht von irgendeinem Einzelnen, sondern von der
Gesellschaft bestimmt und verändert. (3) Die in Rollen gebündelten Verhaltenserwartungen begegnen dem Einzelnen mit einer gewissen Ver-
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bindlichkeit des Anspruchs, so daß er sich ihnen nicht ohne Schaden
entziehen kann“ (ebd.: 39).
Deutlich wird, dass die Begriffe soziale Position/soziale Rolle nahezu synonym zu verstehen sind. Allerdings lässt sich nur mithilfe
der Idee der Position die Vorstellung vom (veränderlichen) sozialen Raum und den ‚subjektlosen‘, ‚leeren‘ Positionen sprachlich
vermitteln. Zudem korrespondieren nur die sozial „vorgeprägten
Formen des Handelns“ mit dem Konzept der Rolle (38f.). Ungeachtet dieser Differenzen aber lassen sich Segmente auf Ebene
der Positionen und Rollen lokalisieren. Ausgehend von der Segmentierung wird im Verlauf der Darstellung nicht nur die Vorstellung einer gesellschaftlichen Strukturierung präzisiert, sondern
darüber hinaus der Begriff der Sanktion konturiert. Vorderhand ist
aber darauf hinzuweisen, dass zwei Formen sozialer Position unterschieden werden: die zugeschriebenen (z.B. Alters-, Geschlechts-, Familien-)Positionen (59), die Dahrendorf als „totale
Zwangsbewirtschaftung“ einer Gesellschaft kritisch kommentiert
(60), sowie die erworbenen Positionen (z.B. Beruf, Mitgliedschaften), die eingeschränkt als Elemente freier Wahl betrachtet werden können. Nachdrücklich argumentiert Dahrendorf, dass das
Erziehungssystem einen sozialen Mechanismus darstellt, der die
Zuordnung sozialer Positionen über Qualifikationen reguliert. Die
persönliche Entscheidung konstituiert sich folglich im Spannungsfeld ‚freier Wahl‘ und gesellschaftlicher Kontrolle (ausführlich
ebd.: 60f.). Um die Themen Erziehung und Sozialisation abzuschließen, sei erwähnt, dass der Vorgang des ‚Rollenlernens‘ als
sozialisatorischer Prozess der Internalisierung von Verhaltensmustern entworfen wird. Im Verlauf dieses Prozesses wird der Einzelne
„mit der Gesellschaft vermittelt und als homo sociologicus zum
zweiten Male geboren“ (62, Hervorhebungen im Original); er muss
durch „Beobachtung, Nachahmung, Indoktrination und bewußtes
Lernen (…) in die Formen hineinwachsen, die die Gesellschaft für
ihn als Träger von Positionen bereithält“ (63). „Entpersönlichung“
ist ein Aspekt, den Dahrendorf durchgehend mitthematisiert, der
die Vorstellung eines „wesentlichen Rest(s), welcher sich der Berechnung und Kontrolle entzieht“, mitführt (64) und, wie schon
erwähnt, zumindest theoretisch die Annahme menschlicher Freiheit (Kant) einschließt.
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Das Kriterium der sozialen Normen ist konstitutiv für die soziale
Rolle. Normen werden unterdessen nicht im Modus ‚Gesellschaft
als Akteur‘ gedacht, sondern verschränken sich mit der Idee der
Positions- /Rollensegmente und der Bezugsgruppe:
„Bei der Bestimmung der Kategorien ‚Position‘ und ‚Rolle‘ haben wir betont, daß es für gewisse Zwecke der Analyse nützlich sei, beide Kategorien als Aggregate von Segmenten zu verstehen. Die meisten Positionen
involvieren ihre Träger nicht nur in einer einzigen Beziehung zu einer anderen Position (wie etwa Ehemann-Ehefrau), sondern stellen ihn in ein
Feld von Beziehungen zu Personen und (…) Aggregaten von Personen.
Der Studienrat ist als solcher mit Schülern, Eltern, Kollegen und Vorgesetzten verknüpft, und er kennt für jede dieser Gruppen einen eigenen,
isolierbaren Satz von Erwartungen. (…) Der Versuch bietet sich an, in solchen Gruppen, die das Beziehungsfeld des Trägers einer Position ausmachen, ‚die Gesellschaft‘ im Hinblick auf diese Position zu suchen, d.h.
den Zusammenhang zwischen den Normen dieser Gruppen und den Rollenerwartungen der durch sie bestimmten Positionen zu erkunden“
(Dahrendorf 2006: 49).
Das Konzept der Bezugsgruppe erlaubt es Dahrendorf, Träger von
Rollenerwartungen zu lokalisieren und Normen zu verankern, statt
sie hochabstrakt als gesellschaftliche Phänomene zu klassifizieren:
„Die These, die hier vertreten werden soll, besagt, daß die Instanz, die
Rollenerwartungen und Sanktionen bestimmt, sich in dem Ausschnitt
der in Bezugsgruppen geltenden Normen und Sanktionen finden läßt,
der sich auf durch diese Gruppen lokalisierte Positionen und Rollen bezieht“ (ebd.: 53).
Eine Schwierigkeit lässt sich indessen durch dieses Vorgehen
nicht lösen, doch dazu gleich mehr.
Gemeinhin lassen sich soziale Normen in Kann- (Gewohnheiten/Bräuche), Soll- (Sitte) und Muss-Erwartungen (Recht) unterteilen (kurz: Peuckert 2003b: 256; ausführlich Dahrendorf 2006:
42ff.). Die Idee der sozialen Norm ist eng mit jener der externen
Sanktion verbunden.1 Eine Verletzung der Muss-Erwartungen zieht
1 Reckwitz weist auf Differenzen im Ansatz homo sociologicus hin. Einige Autoren fokussieren
externe Sanktionen, derweil andere (auch) internalisierte Anforderungen – Stichwort Selbstzwang – fokussieren (2004: 309). Dass das Moment der Nachinnennahme sozialer Strukturen von Dahrendorf weitgehend unbehandelt bleibt, veranlasst Spetsmann-Kunkel in einer
Rezension zu einem Kommentar, der das Habituskonzept Bourdieus positiv vom Rollenkonzept Dahrendorfs abgrenzt: „Das von KRAIS und GEBAUER dargestellte Habitus-Konzept
BOURDIEUs veranschaulicht sehr gut, wie der Mensch als sozialer Akteur einerseits durch die
soziale Struktur in seinem Handeln determiniert wird, anderseits aber durch sein Handeln an
der (Re-)Produktion der Struktur maßgeblich beteiligt ist. Damit wird – so KRAIS und
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die „gerichtliche Verfolgung“ nach sich. Hier handelt es sich um
juristisch fixiertes Recht, das die verabschiedete abstrakte Größe
‚Gesellschaft‘ erneut auf den Plan ruft:
„Muß-Erwartungen finden sich ja nur in dem Bereich, in dem die ganze
Gesellschaft und ihr Rechtssystem zur Bezugsgruppe des Einzelnen werden, in dem der Träger einer Position also Vorschriften unterliegt, deren
Einhaltung durch Gesetze und Gerichte garantiert wird“ (2006: 53f.).
Die Soll-Erwartungen finden ihren Ort in „quasi-rechtlichen Institutionen“ (43), welche in Organisationen gebildet werden und die für
die Einhaltung von „Verhaltensvorschriften“ sorgen (denken Sie
neben Gewohnheiten und Sitten hier beispielsweise auch an Leitbilder in Unternehmen und Organisationen). Kennt das Recht spezifische Formen negativer Sanktion (Geldstrafe, Freiheitsentzug,
Arbeit), sorgen ebenfalls negative Sanktionen für die Einhaltung
von Soll-Erwartungen (Ausschluss, Kündigung, Abmahnung, Versetzung, ‚Karriereknick‘). Überhaupt misst Dahrendorf negativen
erheblich mehr Bedeutung bei als positiven Sanktionsmechanismen: „Auch bei den Soll-Erwartungen überwiegen negative Sanktionen, obwohl derjenige, der ihnen stets pünktlich nachkommt,
der Sympathie seiner Mitmenschen sicher sein kann“, da er sich
aus ihrer Sicht korrekt, anständig verhält (43). Kann-Erwartungen
verschränken sich größtenteils mit positiven Sanktionen. Jemand,
der sich im Beruf oder im Verein engagiert, wird wertgeschätzt,
anerkannt. Indessen hängt der berufliche oder der Aufstieg in
Vereinen oft mit einem erhöhten Engagement zusammen (43f.).
Muss- und Soll-Erwartungen können recht leicht präzisiert werden:
Sie spiegeln sich in Gesetzen, Satzungen, Gewohnheiten, Präzedenzfällen. Kann-Erwartungen aber sind mithilfe der soziologischnaturwissenschaftlichen Methodik nur schwer zu fassen, weshalb
Dahrendorf auf die Beschäftigung mit dieser Form weitgehend
verzichtet (54). Grundsätzlich bleibt anzumerken, dass die Übergänge zwischen den Muss-, Soll- und Kann-Erwartungen geschichtlich flexibel sind (44).
Nach den Ausführungen dürfte sich die (Forschungs-)Systematik
nahezu von selbst verstehen. Soziologische Analysen sollten nicht
nur einzelne Rollen präzise beschreiben, sondern das
GEBAUER resümierend – das ältere Rollenmodell (DAHRENDORF 1964), welches zum einen
die Tatsache der internalisierten und inkorporierten Struktur und zum anderen die Möglichkeit zur individuellen Mit-Strukturierung der strukturellen Gegebenheiten ignoriert, zu Recht
kritisiert“ (Spetsmann-Kunkel 2003: Absatz 8, Hervorhebungen im Original).
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• Tableau „typischer sozialer Positionen“ skizzieren,
• Kann-, Soll- und Muss-Erwartungen im Horizont von Position/
Rolle betrachten (Kann-Erwartungen sind experimentell zu erforschen, sie strukturieren einen großen Ausschnitt menschlichen Verhaltens),
• Sanktionen untersuchen und
• Bezugsgruppen analysieren (wobei das Problem der Gewichtung
mitverhandelt wird) (78ff.).
Die Bedeutung der Bezugsgruppe im theoretischen Entwurf Dahrendorfs kann kaum zu hoch veranschlagt werden. Die Vorstellung
sozialen Wandels ist eng mit dieser Kategorie verbunden. Die Legitimität von Normen muss innerhalb von Bezugsgruppen anerkannt bzw. toleriert werden, andernfalls kommt es zu sozialem
Wandel. Zudem können die Erwartungen unterschiedlicher Bezugsgruppen höchst unterschiedlich ausfallen, wie am Beispiel
des Arztberufs illustriert wird: die Patientin optimal versorgen und
den Krankenkassen geringfügige Kosten verursachen (57). Dahrendorf bezeichnet derartige Konstellationen als „soziale Konflikte
(…) innerhalb von Rollen“ (ebd.). Insbesondere die letzte Denkfigur
dürfte Sozialarbeiterinnen in der einen oder anderen Fassung bekannt sein, beispielsweise in Form des doppelten Mandats (stellvertretend vgl. Erath 2006: 69ff.). Dass die von Dahrendorf entwickelten Analysedimensionen Möglichkeiten zur Reflexion der
eigenen Handlungspraxis bereitstellen, ist, so glaube ich, nicht
schwer zu verstehen.
4. (WeiterWeiter-)Entwicklungen
)Entwicklungen und Ausblick
Ausführlich habe ich heute die klassische Version der Rollentheorie behandelt, als deren Vertreter Dahrendorf gelten kann. Diese
theoretische Perspektive zeichnet sich laut Miebach letztlich aber
durch folgende Beschränkungen aus:
„Das Rollenkonzept unterliegt (…) zwei wesentlichen Einschränkungen.
Zum einen erfasst es nur den Aspekt der Gleichförmigkeit der Handlungen unterschiedlicher Individuen und nicht die Variationen zwischen Personen. Zum anderen bezieht sich der Rollenbegriff auf die eingegrenzte
Klasse des normenregulierten sozialen Handelns, das mit institutionell
verankerten Rechten und Pflichten verbunden ist und durch Sanktionen
für den einzelnen Verbindlichkeit erlangt“ (Miebach 2006: 101).
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Dahrendorfs Begrenzungen dienen allerdings auch der Profilierung der Disziplin Soziologie und zwar in Abgrenzung zur Psychologie. Soziologen haben sich im Gegensatz zu Psychologinnen mit
erwartbarem, nicht mit tatsächlichen Regelmäßigkeiten im
menschlichen Verhalten zu beschäftigen, so Dahrendorf (2006:
u.a. 69, 74f.), der im Text immer wieder die Indienstnahme des
‚Rollenbegriffs‘ durch Sozialpsychologen problematisiert (vgl. u.a.
ebd.: 29). Es wäre jedoch ein Akt sträflicher Vernachlässigung,
hier nicht auf weitere rollentheoretische Ansätze zu verweisen.
Miebach bezeichnet Mead als einen der ersten Vertreter dieser
‚anders‘ gelagerten Rollentheorie (2006: 101), ein theoretisches
Projekt, das absichtsvoll in Richtung Sozialpsychologie und Anthropologie steuert (vgl. Peuckert 2003a: 291; im Original stellvertretend Mead 1973: 302f.). Die interaktionistische Rollentheorie
mündet mit den Arbeiten Goffmans schließlich in ein neues Paradigma, in die „Theorie der Alltagsrituale“, in der das tatsächliche
Verhalten der Menschen zum Untersuchungsgegenstand avanciert
und ein Identitätsbegriff mitgeführt wird (vgl. Miebach 2006:
102). Alltägliches und nicht ganz alltägliches, jedoch ebenfalls geregeltes bzw. sinnvolles menschliches Verhalten sowie die damit
verbundene ‚Arbeit am Ich‘ rücken nun in den Blick. Derartige
theoretische Positionen und damit verbundene Analysen der sozialen Wirklichkeit stehen am 20. und 27. Mai auf der Tagesordnung. Ein Zitat Goffmans soll diesen Vortrag ausleiten und Interesse für die kommende Vorlesung wecken:
„In manchen psychiatrischen Einrichtungen ist direkte rituelle Entweihung [des Selbst als geheiligtem Objekt, B.G.] ein ständig auftretendes
Problem. Patienten beleidigen manchmal einen Angestellten oder auch
einen anderen Patienten, indem sie ihn bespucken, ihn ohrfeigen, Kot
nach ihm werfen, Kleider von ihm reissen, ihn vom Stuhl stossen, ihm
das Essen aus der Hand reissen, ihm ins Gesicht schreien, ihn sexuell belästigen, etc. (…) Es muss hier wiederholt werden, dass aus der Sicht des
Handelnden diese Entweihungen zwar ein Produkt blinden Impulses sein
oder auch eine besondere symbolische Bedeutung haben können (…),
dass sie aber aus Sicht der Gesellschaft und ihres zeremoniellen Idioms
keine zufälligen impulsiven Verletzungen sind. Vielmehr gehören diese
Handlungen zu den genau kalkulierten, um völlige Missachtung und
Respektlosigkeit durch symbolische Mittel auszudrücken“ (Goffman
2006: 334).
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Dass Dahrendorf derartiges Handeln nicht im Blick hat, dürfte
nach der Lesung deutlich geworden sein.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
Literatur
Bormann, Regina: Raum, Zeit, Identität. Sozialtheoretische Verortungen kultureller Prozesse, Opladen 2001
Dahrendorf, Ralf: Homo Sociologicus. Ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik
der Kategorie der sozialen Rolle, Wiesbaden 2006
Erath, Peter: Sozialarbeitswissenschaft. Eine Einführung, Stuttgart 2006
Fuchs-Heinritz, Werner: Biographische Forschung. Eine Einführung in Praxis und Methoden, Wiesbaden 2005
Giddens, Anthony: Konsequenzen der Moderne, Frankfurt am Main 1996
Goffman, Erving: Interaktionsrituale, in: Bellinger, Andrèa/Krieger, David (Hg.): Ritualtheorien. Ein einführendes Handbuch, Wiesbaden 2006: 320–336
Grathoff, Richard: Soziologischer Kulturbegriff und alltägliche Begriffskultur. Zum Beispiel Florian Znaniecki, in: Soeffner, Hans-Georg (Hg.): Kultur und Alltag, Göttingen
1988: 21–27
Griese, Birgit: Homo oeconomicus – oder von der Rationalität menschlichen Handelns.
Vorlesung Theorien und Methoden der Sozialen Arbeit, 06. Mai 2008, verfügbar unter: http://www.asfh-berlin.de/hsl/docs/10189/BirgitGrieseVorlesung4.pdf
Hall, Stuart: Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften, Hamburg 1994
Keupp, Heiner: Bedroht und befreite Identitäten in der Risikogesellschaft, in: Barkhaus,
Annette; Mayer, Matthias; Roughley, Neil und Thürnau, Donatus (Hg.): Identität, Leiblichkeit, Normativität. Neue Horizonte anthropologischen Denkens, Frankfurt am
Main 1996: 380–403
Mead, George: Geist, Identität und Gesellschaft aus Sicht des Sozialbehaviorismus,
Frankfurt am Main 1988
Miebach, Bernhard: Soziologische Handlungstheorien. Eine Einführung. Wiesbaden
2006
Peuckert, Rüdiger: Rolle, soziale, in: Schäfers, Bernhard (Hg.): Grundbegriffe der Soziologie, Opladen 2003a: 289–292
Peuckert, Rüdiger: Norm, soziale, in: Schäfers, Bernhard (Hg.): Grundbegriffe der Soziologie, Opladen 2003b: 255–258
Reckwitz, Andreas: Die Entwicklung des Vokabulars der Handlungstheorien: Von den
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Manfred (Hg.): Paradigmen der akteurszentrierten Soziologie, Wiesbaden 2004:
303–328
Reckwitz, Andreas: Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive, in: Zeitschrift für Soziologie, 4/2003a: 282–301
Reckwitz, Andreas: Der verschobene Problemzusammenhang des Funktionalismus: Von
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Jetzkowitz, Jens/Stark, Carsten (Hg.): Soziologischer Funktionalismus. Zur Methodologie einer Theorietradition, Opladen 2003b: 57–81
Spetsmann-Kunkel, Martin: Rezension zu Beate Krais & Gunter Gebauer (2002). Habitus
[9 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung/Forum: Qualitative Social Research
[On-line Journal], 2/2003, verfügbar unter: http://www.qualitative-research.net/fqstexte/2-03/2-03review-spetsmann-d.htm, abgerufen am 09. Mai 2008

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