Interview Feigenblatt 2011

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Interview Feigenblatt 2011
Selbsthilfegruppe Erektile Dysfunktion (Impotenz)
Interview Feigenblatt 2011
H. Braun: Wie kam es zur Gründung Ihrer Selbsthilfegruppe? Ich kann mir vorstellen, dass es für viele
Männer sehr schwer ist, sich vor Fremden zu Erektionsproblemen zu bekennen.
G. Steinmetz: Bei mir wurde 1997 Prostatakrebs festgestellt. 3 Wochen später wurde mir die Prostata
entfernt. Bei dieser Operation wurden die für die Erektion verantwortlichen Nerven zerstört. Ich kann
daher auf natürlichem Weg keine Erektion mehr bekommen.
Sexualität war und ist für mich sehr wichtig, denn Sex tut gut und ist nun mal die schönste und
intensivste Möglichkeit, sich Nähe, Akzeptanz und Zuneigung zu zeigen. Deshalb war mir klar, dass die
Impotenz eine Nummer zu groß für mich ist, um allein damit fertig zu werden. Ich habe zwar das Glück,
dass meine Frau und ich offen über unsere Sexualität sprechen können. Das hat mir sehr geholfen. Aber
ich wollte mich auch mit anderen betroffenen Männern austauschen, wollte wissen, wie sie mit dem
Problem umgehen, welche Erfahrungen sie machen.
Ich habe dann nach einer Selbsthilfegruppe für mein Problem gesucht und verblüfft festgestellt, dass es
in Deutschland zwar rund 80.000 Selbsthilfegruppen gibt, aber keine zu diesem Thema. Da war für mich
klar, dass ich selbst eine Gruppe gründen würde. Das hat allerdings wesentlich mehr Zeit und Arbeit
gekostet, als ich mir das vorgestellt hatte.
Mir war von Anfang an wichtig, dass die Gruppe offen ist für alle Männer mit Erektionsstörungen,
unabhängig von den Ursachen. Es gibt ja viele Krankheiten, die zu Erektionsstörungen führen können.
Beispiele sind Zuckerkrankheit, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Multiple Sklerose, Operationen im kleinen
Becken nach Blasen-, Darm- und Prostatakrebs und viele mehr. Auch psychische Probleme und
Krankheiten wie Depressionen haben oft Erektionsstörungen zur Folge. Und schließlich gibt es auch eine
ganze Reihe von Medikamenten, die als Nebenwirkung Erektionsstörungen haben können.
Ich hatte zunächst nur an eine lokale Gruppe in München gedacht. Aber unser Internetauftritt hat
bewirkt, dass wir von inzwischen mehr als 5.000 rat- und hilfesuchenden Männern und Frauen aus dem
gesamten deutschsprachigen Raum kontaktiert wurden.
Vielen Männern mit ED fällt es sehr schwer, über das Problem zu reden. Selbst Gespräche mit der
Partnerin werden oft abgelehnt. In einer Selbsthilfegruppe sind Betroffene unter sich. Hier ist also
Scham vollkommen fehl am Platz, alle haben ja das gleiche Problem. Deshalb fällt hier das Reden Vielen
leichter als zu Hause oder beim Arzt. Die Gruppe kann eine Art Spielwiese sein, wo jeder das schwierige
Reden über sexuelle Probleme so ganz nebenbei einüben kann.
Ich bin immer wieder überrascht, wie sichtbar gut es Männern tut, wenn sie zu uns in die Gruppe
kommen. Das Erlebnis, dass sie nicht allein mit dem Problem sind, dass man über die Probleme reden
kann und dass da keine „Schlappschwänze“ sitzen, sondern Männer, die ihr Problem aussprechen und
anpacken, das macht Mut, selbst etwas zu tun. Und aus dem, was andere Männer erleben, kann jeder
Anregungen für seine Situation herausfischen. Wenn keine lokale Gruppe vorhanden ist, dann kann ein
Telefongespräch mit uns diesen Effekt haben.
H. Braun: Gibt es ein typisches Alter für Erektionsprobleme oder zieht sich das quer durch die
Jahrgänge? Und gehen Männer unterschiedlichen Alters unterschiedlich mit ED um?
G. Steinmetz: Eine 1998 in Köln durchgeführte Studie hat ergeben, dass 19,2% aller Männer zwischen
30 und 80 Jahren - das sind rund 5 Millionen - von der erektilen Dysfunktion betroffen sind. Mit
höherem Alter nimmt die Häufigkeit der Erektionsstörung deutlich zu. Bei den 30 bis 39-jährigen waren
2,3% betroffen, bei den 70 bis 80-jährigen waren es dagegen 53,4%.
Dok-Id: Interview-Feigenblatt
Stand: 28.8.2011
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Selbsthilfegruppe Erektile Dysfunktion (Impotenz)
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Die Männer, die sich bei uns melden, haben eines gemeinsam: Sie suchen nach Hilfe. Damit sind sie
nicht repräsentativ für Männer mit ED. Wir sehen bei diesen Männern keine altersabhängigen
Unterschiede im Umgang mit der ED.
H. Braun: Warum lässt in fortgeschrittenem Alter die Erektionsfähigkeit üblicherweise nach?
G. Steinmetz: Mit zunehmendem Alter treten beim Mann folgende Veränderungen im sexuellen
Erleben auf:
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Die Empfindlich am Penis und besonders an der Eichel lässt nach.
Die Erektion ist schwächer als in jüngeren Jahren.
Die Zeit bis zum Erreichen des Orgasmus verlängert sich.
Die Menge der Samenflüssigkeit nimmt ab, der Samenerguss erfolgt oft nur noch tröpfelnd.
Der Penis erschlafft nach dem Orgasmus schneller. Die Zeit bis eine neue Erektion möglich ist
(die sogenannte Refraktärzeit) wird deutlich länger und kann viele Stunden bis Tage dauern.
Die nächtlichen und morgendlichen Erektionen werden seltener und schwächer.
Das sind normale Alterserscheinungen, die nicht unbedingt negativ sein müssen. So kann z.B. die
verlängerte Zeit bis zum Orgasmus durchaus als angenehm empfunden werden. Eine verständnisvolle
Partnerin kann durch eine längere und stärkere Stimulation einige dieser Veränderungen ausgleichen.
Für diese Veränderung gibt es viele mögliche Ursachen. Zwei Hauptursachen sind arteriosklerotische
Veränderungen der Blutgefäße und ein sinkender Testosteronspiegel.
Im Alter wird aber auch der Körper anfälliger für Krankheiten. Viele dieser Krankheiten können sexuelle
Funktionsstörungen zur Folge haben. Dazu kommt, dass sich eine ganze Reihe von Medikamente negativ
auf die Sexualität auswirken.
H. Braun: Die Fähigkeit zur Erektion ist ja für die meisten Männer eine zentrale Quelle des
Selbstbewusstseins und des Selbstverständnisses als sexuelle Wesen. Bricht da bei den Betroffenen eine
Welt zusammen? Wie kann ein Mann damit umgehen, wenn seine Erektionsfähigkeit nachlässt?
G. Steinmetz: In unseren Männergehirnen ist offensichtlich die Vorstellung tief verwurzelt, dass
Männlichkeit und sexuelle Potenz untrennbar zusammengehören. Wenn keine Erektion auf natürlichem
Weg mehr möglich ist, fühlt sich ein Mann schnell als Versager - er ist halt kein „richtiger Mann“ mehr.
Das erzeugt Scham, Verzweiflung, Sprachlosigkeit. Dazu kommt die Angst, den Ansprüchen der Partnerin
nicht mehr zu genügen.
Viele Männer finden keinen Ausweg aus dieser Situation. Sie ziehen sich zurück, können nicht über das
Problem sprechen und vermeiden alle Zärtlichkeiten, damit ja nicht an diese Wunde gerührt wird.
Natürlich leiden auch die sozialen Kontakte und die Arbeitsfähigkeit darunter. Im Extremfall kommen
Depressionen dazu. Auch der Weg zum Arzt ist für viele Männer eine unüberwindbare Hürde.
In dieser Situation ist es zunächst einmal wichtig, die Gefühle und Gedanken zu sortieren und sich
ausführlich über die ED zu informieren. Wer das allein oder mit anderen Betroffenen zusammen angeht
wird schnell herausfinden, dass praktisch jedem Mann mit ED geholfen werden kann. Optimal sind
natürlich auch offene Gespräche mit der Partnerin. Vielleicht wird dann klar, dass die Partnerin ganz
andere Vorstellungen von Männlichkeit und Sex hat als der Mann.
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Stand: 28.8.2011
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H. Braun: Mal ganz ehrlich: Sie haben eine ED, macht Ihnen das nichts aus?
G. Steinmetz: Doch, es gibt Momente wo mir meine verlorene Erektionsfähigkeit sehr weh tut. Aber
die intensive Beschäftigung mit dem Thema, die Gespräche mit vielen anderen Betroffenen und last not
least meine Frau helfen mir immer wieder, nicht auf das zu starren, was nicht mehr geht, sondern das zu
sehen, was möglich ist. Und das ist sehr viel.
H. Braun: Erfuhren die Männer Verständnis und Unterstützung von ihren Partnerinnen? Löst eine
Erektionsstörung oft Beziehungskrisen aus?
G. Steinmetz: Unsere Erfahrung ist eindeutig: In einer intakten Beziehung ist die Partnerin die stärkste
Verbündete im Kampf gegen die ED. Ich bin immer wieder überrascht, wie viel Zeit und Energie Frauen
aufwenden, um sich über die ED und die Situation der betroffenen Männer zu informieren, auch und
gerade dann wenn der Partner selbst nichts unternimmt und das Thema ED in der Beziehung ein Tabu
ist. Schade, dass das oft von den Männern nicht gesehen und gewürdigt wird.
Deshalb halten wir auch die oft zu findende Aussage, dass Erektionsstörungen zu Beziehungskrisen
führen, für falsch. Nicht die Erektionsstörung selbst sondern das Verhalten des Mannes führt zur Krise
und manchmal auch zum Ende einer Beziehung.
H. Braun: Wie sind Ihre Erfahrungen mit Ärzten, was die Diagnose und Behandlung von ED angeht?
G. Steinmetz: Männer berichten uns oft, dass ihr Arzt sehr schnell ein Rezept ausgestellt hat. Eine
gründliche Diagnose bleibt da oft der Strecke. Angesichts der Tatsache, dass Erektionsstörungen ein
erstes Anzeichen einer gefährlichen Krankheit sein können, ist so ein Verhalten nicht akzeptabel. Jeder
Mann mit ED sollte sich daher über Diagnose und Behandlung der ED informieren. Dann kann man
schnell erkennen, ob man in guten Händen ist oder lieber den Arzt wechseln sollte.
Leider behaupten auch viele Ärzte, dass die Diagnostik der ED keine Kassenleistung ist und verlangen
eine private Bezahlung, oft im hohen 3-stelligen Bereich. Dafür gibt es keine Berechtigung.
Natürlich gibt es auch engagierte Ärzte, die sich Zeit für einen Mann mit ED nehmen. Aber die sind leider
rar.
H. Braun: Seit einigen Jahren gibt es Medikamente, die bei vielen Erektionsstörungen tatsächlich
wirken. Ist damit das Problem gelöst oder lenken sich Männer damit nur von den eigentlichen Ursachen
ab? Sollten sie sich vielleicht auch Gedanken über eine erfüllende Sexualität ohne Erektion machen?
G. Steinmetz: Die Entwicklung der modernen Medikamente Cialis, Levitra und Viagra ist sicher ein
großer Schritt nach vorn. Sie sind die mit Abstand angenehmste Form der Behandlung von
Erektionsstörungen. Eine erfolgreiche Anwendung ist allerdings an folgende Bedingungen geknüpft:
1. Die Medikamente bewirken eine ausreichende Erektion, das ist nur bei 70 bis 80% der Männer
der Fall.
2. Es liegen keine Kontraindikationen vor.
3. Die Nebenwirkungen sind erträglich.
4. Die Partnerin ist mit der Anwendung des Medikaments einverstanden.
5. "Mann" kann sich diese Medikamente finanziell leisten.
Viele Männer meinen, dass ihre Beziehung aufblühen wird, sobald sie wieder eine gute Erektion
vorweisen können. Das ist oft ein Trugschluss, denn meistens hat die Partnerschaft schon einen
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empfindlichen Knacks bekommen, weil viele Männer nicht mit ihrer Partnerin über das Problem reden,
sich zurückziehen und Zärtlichkeiten vermeiden. Der dadurch entstandene Vertrauensverlust lässt sich
nicht mit einer Pille reparieren. Wenn die Partnerin vielleicht auch noch entdeckt, dass ein Medikament
heimlich besorgt und eingenommen wurde, dann wird sie das mit Recht als Vertrauensbruch empfinden
und verletzt sein.
Ein Medikament kann keine Beziehung retten und Viagra und Co. machen auch keinen Mann zu einem
besseren Liebhaber. Wenn die Partner aber eine ED zum Anlass nehmen, sich über ihre Wünsche und
Erwartungen bei der Sexualität auszutauschen, dann kann daraus auch eine Belebung der Sexualität und
eine Erweiterung des sexuellen Repertoires entstehen.
H. Braun: Sie schreiben, dass Erektionsstörungen häufig Symptome für tieferliegende Probleme sind,
etwa Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Zuckerkrankheit oder Ähnliches. Gibt es in solchen Fällen auch eine
Chance zur vollständigen Heilung der ED?
G. Steinmetz: Das hängt von der verursachenden Krankheit ab. Eine Arteriosklerose kann man z.B.
nicht rückgängig machen. Deshalb ist eine durch die Arteriosklerose - d.h. von Durchblutungsstörungen verursachte ED auch nicht heilbar. Andererseits kann die Behandlung von Hormonstörungen neben
anderen positiven Effekten auch wieder die Erektionsfähigkeit herstellen.
Auch eine Änderung des Lebensstils (Aufhören zu Rauchen, mehr Bewegung, gesunde Ernährung,
Gewichtsabnahme) kann sich positiv auf die Erektionsfähigkeit auswirken.
H. Braun: Was möchten Sie Männern mit ED mit auf den Weg geben?
G. Steinmetz:
1. Die Klärung und Behandlung der Ursachen kann die zukünftige Lebensqualität stark positiv
beeinflussen. Sie darf deshalb nicht auf die lange Bank geschoben werden.
2. Eine ED muss niemals Verzicht auf Sexualität bedeuten. Auf der einen Seite gibt es
Medikamente und Hilfsmittel, die es praktisch jedem Mann mit ED ermöglichen, wieder eine
Erektion zu bekommen. Auf der anderen Seite gibt es auch befriedigenden Sex ohne Erektion,
der trotzdem für beide Partner zum Höhepunkt führen kann. Deshalb kann auch ein Mann mit
ED ein guter Liebhaber sein!
3. Eine ED ist niemals das isolierte Problem des Mannes, es betrifft auch die Partnerin. Deshalb
gibt es keine dauerhaft befriedigende Lösung ohne offene Gespräche mit der Partnerin. Nach
unseren Erfahrungen führen solche Gespräche entgegen den Befürchtungen vieler Männer oft
zu einer Neubelebung der Partnerschaft und Sexualität.
Deshalb: Wer nichts unternimmt, verliert. Wer bereit ist, seine Vorstellungen von Männlichkeit zu
hinterfragen und den Kampf mit seiner ED aufnimmt, wird erfahren, dass ihm daraus auch Kraft und
neues Selbstbewusstsein erwachsen und dass ihm das Leben auch sexuell noch viel zu bieten hat.
Selbsthilfegruppe „Erektile Dysfunktion (Impotenz)“
Telefon: 08142 59 70 99 und 030 76 68 95 21 (tägl. 10 - 20 Uhr)
E-Mail:
[email protected]
Internet: www.impotenz-selbsthilfe.de
Informationszentrum für Sexualität und Gesundheit (ISG) e.V.
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Telefon:
0180 555 84 84 (14 ct/min,
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