Rost und Biederkeit

Transcrição

Rost und Biederkeit
KULTUR 43
NORDWESTSCHWEIZ
SAMSTAG, 19. MÄRZ 2016
Zwei rostige Lieferfahrräder als Objets trouvés und Teil der Installation «Ohne Titel (MILCH)» von Reinhard Mucha.
KUNSTMUSEUM BASEL/GINA FOLLY
Rost und Biederkeit
Kunst Die Installation des Künstlers Reinhard Mucha rollt ins «Kunstmuseum Basel | Gegenwart» Basel
VON SIMON KOENIG
Sperrig ist die Ausstellung von Reinhard
Mucha, im räumlichen wie im inhaltlichen
Sinne. Wo beginnt es denn, wo endet der
Ausstellungsraum? Schräg positioniert in
einem grossen, weiss gestrichenen Saal
des «Kunstmuseum Basel | Gegenwart»
(früher Museum für Gegenwartskunst)
setzt ein grosser, mit grauen Gipsplatten
versehener Container neue Achsen und
Wände, die auch mit Kunst behangen werden wollen.
Durch einen Türrahmen tritt man ein in
diesen Raumcontainer. Die Holzzargen
der Türöffnung in edler, hochpolierter
Verschalung wollen nicht recht mit der
groben Aussenhaut des Objektes zusammenpassen. Am Boden liegt ein grauer, etwas schäbig wirkender Teppich, an der
Wand eine braune, biedere Fasertapete.
Die Wände sind überladen mit kleinen
und grossen Bildern, lange Glasvitrinen
stehen auf schief gestellten Holzschemeln.
An der Unterseite dieser Glaskästen sind
Monitore montiert, aus deren Lautsprechern leicht übersteuerte Geräusche plärren.
Chaotisch-improvisiert wirkt diese Inszenierung von gehängt und gestellten
Werken, altmodisch der Raum mit dem
Werktitel Galerie 4.1. Es handelt sich dabei
und bei den darin gezeigten Werken um
Reinhard Muchas Frankfurter Block. Dieser bilde das Zentrum der Exposition, so
Søren Grammel, Kurator der gestern eröffneten Ausstellung Reinhard Mucha.
Frankfurter Block ist ein raumgreifendes
Werk, das sich aus verschiedenen früheren Arbeiten Muchas zusammensetzt.
«Ein Werkensemble», so Grammel, «das
zu einem grossen Teil bereits 2012 in der
Ausstellung ‹Schaffnerlos – Werke ohne
Arbeiten 1981–2012› in der Frankfurter Galerie Grässlin zu sehen war.»
Hommage an Beuys am Anfang
2014 kam ein begehbarer Raum dazu,
den der Künstler für die Ausstellung in
der Berliner Galerie Sprüth Magers baute.
Er entspricht in Grösse und Proportionen
dem Hauptraum der Frankfurter Galerie
Grässlin, dem Ausstellungsort, wo Muchas
Werkensemble erstmals gezeigt wurde.
«Dieser konzipierte Raum wurde kurzerhand in den Hauptraum der Galerie
Sprüth Magers hineingestellt», erläutert
Grammel. Die altmodisch wirkende
Raumgestaltung wiederum bezieht sich
auf die ursprüngliche Präsentation von
Es entsteht eine
gewisse Unvorhersehbarkeit und
Irritation.
Ausstellung Reinhard Mucha im Kunstmuseum Basel |
Gegenwart, St. Alban-Rheinweg 60. Kostenloser Eintritt
bis zur Eröffnung des erweiterten Kunstmuseums Basel
von Mitte April. Öffnungszeiten: Dienstag bis Sonntag, 10
bis 18 Uhr. Montag geschlossen. Öffnungszeiten über Ostern sowie weitere Infos:
www.kunstmuseumbasel.ch/de/besucherinformation/
Block Beuys – einer Installation des deutschen Künstlers Joseph Beuys im Hessischen Landesmuseum Darmstadt. Mucha
baute minutiös jenen Ausstellungsraum
nach, von der Sockelleiste, über die Lüftungsschlitze bis zu der charakteristischen
braunen Fasertapete.
Damit baute sich Mucha also gleichsam
seinen eigenen Ausstellungsraum, den er,
einem Schausteller gleich, mit auf Tournee nimmt, und der so auch selbst zum
Werk wird. Im Innern hängen und stehen
wechselnde Werke. Auch da werden die
Vitrinen – die Verpackung der Arbeiten –
zu wichtigen Bestandteilen der Installationen. Zudem schafft Reinhard Mucha mit
dem Bau des eigenen Ausstellungsraums
einen stabilen Rahmen für seine Werke.
Wie vom Wind verwehte Pflanzen
Das mag nach perfekter Kalkulation
oder gar Pedanterie klingen. Aber das ist
nicht Reinhard Muchas Ding. Seine künstlerische Praxis erinnert vielmehr an die
Ausbreitungsstrategie von Tumbleweed –
diese Pflanzen, auch Steppenroller oder
Bodenläufer genannt, die sich, vom Wind
getrieben, rollend und rutschend durch
die Landschaft fortbewegen. Dabei verteilen sie nicht nur ihre Samen, sondern tra-
NACHRICHTEN
Streamingdienst
Spotify zahlt nachträglich 21 Millionen Dollar
Songschreiber, deren Musik beim Streamingdienst Spotify gespielt wird, die
aber bislang kein Geld dafür bekamen,
sollen nun nachträglich entlohnt werden. Spotify schloss mit dem Verband
der US-Musikindustrie eine entsprechende Vereinbarung. Es gehe um eine
Summe von insgesamt 21 Millionen Dollar, erfuhr AFP aus informierten Kreisen: Forderungen in Höhe von 16 Millionen Dollar, auf die Spotify noch fünf
Millionen Dollar drauflege.
Der Vereinbarung zufolge kann sich
jeder Komponist oder Rechteinhaber
melden, der meint, seine Musik werde
gestreamt, ohne dass er eine Vergütung
gen neben Staub und Dreck auch andere
«Fundgegenstände» mit und verändern
sich damit auf ihrer schier endlosen Reise
immer weiter.
So verwendet Reinhard Mucha in seinen minutiös konstruierten Skulpturen,
die neben dem Frankfurter Block ausgestellt sind, nicht nur Industriematerialien
wie Aluminium, Filz, Lackfarbe, Stahl
oder Tischlerplatten – sondern auch Objets trouvés, Fundgegenstände, die er in
den Museen und Galerien seiner Ausstellungen findet und für weitere Arbeiten
verwendet. Oder die zwei total verrosteten, von Spinnweben verhangenen Lieferfahrräder, über die er in Frankreich stolperte, und die nun Teil seiner Installation
«Ohne Titel (MILCH)» sind.
Es entsteht eine gewisse Unvorhersehbarkeit und Irritation, das zeigt sich beispielsweise auch in einem scheinbar achtlos hingeworfenen Stromkabel, über das
der Museumsbesucher zu stolpern droht.
Aber auch Muchas privates Archiv dient
ihm als Fundkiste. Søren Grammel sagt:
«Mucha setzt auch biografisches Material
ein, zum Beispiel die Kopie seines Meisterschülerbriefs der Staatlichen Kunstakademie Düsseldorf oder ein Foto des
Künstlers als Student.»
erhält. Spotify erklärte, in manchen
Fällen sei kein Geld geflossen, weil das
Unternehmen keinerlei Informationen
über den Komponisten oder Rechteinhaber hatte.
Spotify steht bei vielen Musikern in
der Kritik, weil sie der Meinung sind,
von dem Streamingdienst nicht ausreichend bezahlt zu werden. Erst Ende
Dezember hatte der US-Rockmusiker
David Lowery das Unternehmen aus
Schweden wegen Verletzung von Urheberrechten auf die Zahlung von 150 Millionen Dollar verklagt. Spotify habe
Songs ohne Erlaubnis gestreamt.
Die Folksängerin Melissa Ferrick hatte
im Januar eine Sammelklage gegen Spotify eingereicht. Sie verlangt 200 Millionen Dollar. Lowerys Anwältin Mona
Hanna kritisierte am Donnerstag den
Deal mit der US-Musikindustrie: Spotify
versuche so, sich am Gericht vorbei seiner Verantwortung zu entziehen.
Unzufrieden äusserte sich gegenüber
der «New York Times» Jeff Price über
die Einigung. Price ist CEO von Audiam, das sich auf Nachforschungen zu
Urheberrechtsverstössen spezialisiert
hat. Die niedrige Strafe belohne
«schlechtes Verhalten», sagte er. Die Einigung «spricht das Thema nicht klar
an und behebt es auch nicht». (SDA)
GRAFIKER DES JAHRES
SCHÖNSTES BUCH DER WELT
Amadeus Waltenspühl
ausgezeichnet
Künstlerbuch über
Srebrenica-Massaker
Der 31-jährige Amadeus Waltenspühl
ist zum Schweizer Grafiker des Jahres
gewählt worden. Das Werk des Luzerners beeinflusse die junge Schweizer
Grafikerszene massgeblich, ist die Begründung der Jury. Armin Hofmann
wurde für sein Lebenswerk ausgezeichnet. Das Werk von Waltenspühl
präge nicht nur das Stadtbild von Luzern, sondern auch die Jugendkultur,
heisst es in einer Mitteilung vom Freitag. Der 31-Jährige gestaltet Plakate
von Konzerten, Bands, Partiys, Clubs
und Festivals. (SDA)
Ein niederländisches Künstlerbuch über
das Massaker von Srebrenica ist als
«Schönstes Buch der Welt» ausgezeichnet worden. Mit der Publikation «Other
Evidence: Blindfold» von Titus Knegtel
wird der mehr als 8000 Menschen gedacht, die 1995 bei dem Völkermord ums
Leben kamen und in anonymen Massengräbern verscharrt wurden. «Man wird
dieses Buch verstört als Ausdruck der
Scham wertschätzen, aufbewahren – und
sich fragen: Wie konnte es dazu kommen?», heisst es in der Begründung der
Leipziger Buchmesse. (SDA)

Documentos relacionados