Neu im Brain-Download: Biedermeier 2.1

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Neu im Brain-Download: Biedermeier 2.1
Neu im Brain-Download: Biedermeier 2.1
Sehr geehrte Leserinnen und Leser!
Biedermeier … das war die Zeit zu Beginn des 19. Jahrhunderts, in welcher die Masse der
Menschen gerade in Deutschland der Kriege und des politischen Chaos überdrüssig waren
und sich mehr auf sich selbst besannen. Sie erfährt aktuell eine dramatische Wiederbelebung. Und wie es so mit Dingen ist, die sich eher unbewusst einschleichen, kommen auch
die automatischen Updates, ohne dass die Masse der Menschen es bemerken würde. Kurz:
Nach Biedermeier 2.0, das vor gut zehn Jahren begann, die Hirne der Bürger zu infizieren, ist
die Version 2.1 aktuell. Was ist neu?
Da nicht alle meine Kolumnen seit Jahren lesen und der Marktkommentar „Biedermeier 2.0“
mehrere Jahre alt ist, zunächst die Antwort auf die Frage: Was gab es denn bisher schon an
Veränderungen gegenüber der Zeit zuvor? Es ist eine unglaubliche Politikmüdigkeit entstanden, die sich auch massiv auf das Interesse an der Welt an sich ausgedehnt hat. Während
verblüffend viele wissen, wer gerade bei DSDS rausgeflogen ist, im Dschungelcamp hockt,
wer gerade von wem ein Kind bekommen hat oder sich nach nur ein paar Tagen Ehe scheiden ließ, sollte man besser nicht auf der Straße nach dem Namen unseres Wirtschaftsministers, dem aktuellen Stand des BIP oder den Mitgliedsstaaten der Eurozone fragen. Immer
mehr Menschen sehen sich nicht als Teil eines Volkes oder einer Wirtschaftsgemeinschaft,
sondern als „Ichs“. Was bisweilen, wie ich merke, sogar Familien betrifft, die keine mehr sind,
sondern wie zufällig zusammen gewürfelte Konglomerate aus Egozentrikern wirken.
Das alles sehen wir seit mehreren Jahren. Jetzt, so zumindest mein Eindruck, ist die nächsthöhere Stufe gestartet, die indes nichts Neues an sich bringt, weshalb ich diese Phase nicht
als Biedermeier 3.0 einstufen möchte. Wie sollte sich eine Gesellschaft in diesem Stadium
der Lethargie und des Desinteresses auch auf eine umfassend andere Stufe des Dahinvegetierens begeben können, ohne dass man sie dorthin trägt. Und die Sofas natürlich gleich mit.
Vor allem: Da, wo die Masse der Menschen jetzt ist … bzw. sich fläzt … soll sie ja auch hin:
Auf das Sofa. Augen auf Halbmast, Hirn auf Standby und Spielkonsole an. Genau das spielt
denen in die Karten, die gerne ungestört von Wählergesindel oder gar politisch interessiertem Pack tun will, was ihnen beliebt.
Der unmittelbare Anlass, die nächste Stufe des langsamen Abgleitens in ein passives, introvertiertes Dasein auszurufen, ist aus meiner Sicht die Gegenüberstellung von drei Zahlen:
1,2 Milliarden, 16,25 Millionen und 8,9 Millionen.
Ende 2013 hatte Facebook über 1,2 Milliarden Nutzer, die mindesteins einmal im Monat aktiv
waren. Aktuell liegt die Zahl der Spieler in der Handy-App „Quizduell“ bei 16,25 Millionen.
Und nur noch 8,9 Millionen Deutsche sind Aktionäre … davon 4,6 direkt als Aktienbesitzer,
der Rest passiv über Fondsanteile. Was bedeutet:
Die Zahl derer, die die sogenannten „sozialen Netzwerke“ nutzen, nimmt immer noch zu. Der
bequeme Weg, mit Menschen zu kommunizieren, ohne aus dem Haus gehen zu müssen,
sich echten sozialen Kontakten „aussetzen“ zu müssen. Bequemlichkeit pur, die natürlich
noch dramatischere Folgen hat als die Einführung des Privatfernsehens oder der Siegeszug
der Computerspiele. Von der Degeneration sozialer bzw. emotionaler Kompetenz abgesehen
führt dieser Prozess dazu, dass das Empfinden, sich mit anderen in einer echten Gemeinschaft zu befinden, wie dies Familie, Freundeskreis oder Vereine bieten, schwindet. Und es
hat zur Folge, dass die wachsende Zahl der „Sofa-lägerigen“ das Risiko vermindert, dass
„das Volk“ aufsteht und sich gegen nicht akzeptable Veränderungen und/oder Machenschaften auflehnt. Zum einen, weil es zu anstrengend wäre. Zum zweiten, weil man gar nicht mehr
mitbekommt, dass sich etwas ändert – zumal es einen nicht interessiert, solange man selbst
nicht unmittelbar betroffen ist. Und zum dritten, weil die meisten gar nicht mehr wüssten, wie
man ggf. Petitionen startet, wo man wen zum Demonstrieren findet oder wie man überhaupt
gegen egal was etwas unternimmt. Kurz: Weil es „das Volk“ nicht mehr gibt.
Schöne neue Welt, für die einen urgemütlich in ihrer Lethargie, für die wenigen anderen, die
an den Hebeln der Macht sitzen, ebenso. Denn es ist, als hätten sie überhaupt niemanden,
den sie regieren, beschützen, versorgen müssten. Gebt den Leuten Brot und vor allem Spiele
… und sie halten die Schnauze. Freie Bahn … für alles.
Ach ja … die anderen beiden Zahlen: Die Zahl der Aktionäre nimmt ab, die der QuizduellSpieler epidemisch zu. Nicht, dass man bei diesem Spiel nicht auch was lernen könnte …
wenn man will. Wobei ich festgestellt habe, dass es einige nur als Ratespiel nutzen und
schlicht kein Interesse daran haben, aus den Antworten eigenes, haften bleibendes Wissen
zu ziehen. Wozu auch .. was man nicht weiß, kann man googlen ... weiß es dann für ein paar
Sekunden, bevor es vom Kurzzeitgedächtnis in den mentalen Mülleimer wandert … und googelt es einfach beim nächsten Mal erneut. Bei etwas über einer Milliarde liegt die Zahl der
Google-Anfragen momentan täglich. Viele haben damit so etwas wie eine externe Festplatte
fürs Hirn. Damit mehr Platz ist, um sich merken zu können, wer noch bei DSDS dabei ist …
Doch beim Quizduell geht es nur um Punkte. An der Börse geht es um Geld … das man sehr
wohl verdienen bzw. „gewinnen“ könnte. Aber die Zahl derer, die diesen Weg wählen,.
Nimmt ab. Trotz der erbärmlich niedrigen Zinsen! Und obwohl die Indizes seit fünf Jahren
steigen. Wie ist das nur möglich?
Es ist eine Kombination aus steigendem Desinteresse an einem Weg der Geldanlage, der
Eigeninitiative, vor allem den Willen, sich zu informieren, erfordert und einer wachsenden
Desillusionierung, dass an der Börse ja sowieso nur die „Großen“ die „Kleinen“ über den
Tisch ziehen. Und es ist ein Prozess, der dazu führt, dass genau das geschieht. Während der
Anteil an Aktien und anderen Wertpapieren in Händen der großen Adressen, durchaus bewusst gestützt durch das billige Geld der Notenbanken, immer mehr zunimmt, nimmt der Anteil privater Anleger sukzessive ab. Somit ist wird es immer leichter für die Finanzindustrie,
die Börsen nach Belieben zu steuern. Und es wird so immer leichter, ein Bild scheinbarer
Prosperität vorzugaukeln, indem die steigenden Börsen dem an einem anstrengenden Blick
hinter den Vorhang uninteressierten Biedermeier suggerieren, dass alles in allerbester Ordnung ist.
Eine kleine Gruppe von Entscheidern hat es so immer und immer leichter, das dösende, desinteressierte und zunehmend auch bildungs- und informationsmüde Volk beliebig zu steuern
wie ein Puppenspieler. Ein Skandal?
Sicher, im Prinzip schon. Aber was genau ist das Unerträgliche dabei? In meinen Augen ist
es weit weniger der Versuch, das Volk in einen rosa Dämmerzustand zu versetzen, als die
Tatsache, dass eben diese Biedermeiner es willfährig geschehen lassen. Daher ist es für all
diejenigen, die diese Kolumne lesen und damit beweisen, dass sich noch wachen Geistes
sind, an der Zeit, die Sofa-Penner um sie herum wachzurütteln. Und wenn es sein muss, mit
einem saftigen Tritt.
Denn ich zweifle sehr, dass der Weg, der für uns seitens der Puppenspieler vorgesehen ist,
ein guter Weg ist. Ich zweifle sehr, dass man dort wirklich imstande ist, unbeaufsichtigt sein
eigenes Süppchen zu kochen, ohne dass es überkocht und uns alle verbrennt, die wir dumm
und träge unter dem Topf stehen. Ob Regierungen, Notenbanken oder die Finanzindustrie:
Sie alle haben doch in den vergangenen Jahren, eigentlich schon seit der Entstehung der
„Dot.Com-blase“ von 15 Jahren, immer wieder bewiesen, dass sie jederzeit imstande sind,
Mist zu bauen. Und das soll nun sukzessive ohne unsere Aufsicht geschehen? Lassen Sie
das nicht zu: Ein jeder wecke nun bitte seinen Nachbarn!
Mit besten Grüßen
Ronald Gehrt
(www.baden-boerse.de)
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