Immobilisation von Traumapatienten

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Immobilisation von Traumapatienten
Version 2; 20.03.2015
Stellungnahme zum Themenkomplex „Immobilisation von Traumapatienten“ durch das
Nationale Board von PHTLS Deutschland (Stand: März 2015).
Erarbeitet durch die Forschungsgruppe präklinische Wirbelsäulen-Immobilisation der PHTLS Europe Research
Group
Die Sinnhaftigkeit der Immobilisation beim Traumapatienten generell, sowie die verschiedenen Möglichkeiten
der Durchführung dieser Immobilisation werden in der wissenschaftlichen Literatur zunehmend kontrovers
diskutiert. Auch in zahlreichen notfallmedizinischen Foren und den verschiedenen sozialen Medien wird z. T.
wissenschaftlich fundiert, z. T. aber auch äußerst emotional über dieses Thema berichtet und diskutiert.
PHTLS Deutschland hat schon vor einiger Zeit damit begonnen die existierenden Kontroversen zu diesem
Thema wissenschaftlich aufzuarbeiten. Im Rahmen der PHTLS Europe Research Group gibt es ein eigenes
Forschungsprojekt zu diesem Thema. Gründliche wissenschaftliche Arbeit, welche auf ausreichenden
Fallzahlen beruht, benötigt allerdings Zeit, weshalb noch nicht ausreichend eigene Studienergebnisse
vorliegen. Zeitgleich erfolgte aber eine ausführliche Literatur-Recherche zum Themenkomplex der
Immobilisation des verunfallten Patienten.
Sowohl die PHTLS-Instruktorinnen und –Instruktoren und mittlerweile auch das PHTLS-Sekretariat erreichen
häufig und zahlreich Nachfragen zu diesem Thema, wodurch auch immer wieder Unsicherheiten bei allen
Beteiligten aufkommen.
Es sollen deshalb zunächst die Kernaussagen der, für PHTLS relevanten, wissenschaftlichen Literatur
zusammenfasst werden (auf Grund der Fülle an Literatur werden hier nur exemplarische Studien aufgeführt):
1) Es gibt keine Evidenz PRO oder CONTRA präklinischer Wirbelsäulen-Immobilisation durch kontrollierte,
randomisierte Studien.
(Kwan et al. 2009; Baez et al. 2006)
2) Es gibt unterschiedliche Ergebnisse bzgl. der Frage, ob das Unterlassen der WirbelsäulenImmobilisation Einfluss auf das Outcome des Traumapatienten hat.
(Hauswald et al. 1998; Masini et al. 1994; Toscano 1988)
3) Es besteht weitgehende Einigkeit über die Tatsache, dass eine alleinig anliegende Zervikalstütze keine
ausreichende Immobilisation der Halswirbelsäule bietet, sondern dies nur durch die GanzkörperImmobilisation erreicht werden kann.
(Horodyski et al. 2011; Lador et al. 2011; Hostler et al. 2009; James et al. 2004; Perry et al. 1999)
4) Durch das Anlegen einer starren Zervikalstütze kann es zur signifikanten Steigerung des Hirndrucks
und zu einem erschwerten Atemwegsmanagement kommen. Bei Patienten mit M. Bechterev kann das
Anlegen einer Zervikalstütze die neurologische Symptomatik z. T. drastisch verschlimmern.
(Clarke et al. 2010; Goutcher et al. 2005; Hunt et al. 2001; Kolb et al. 1999)
5) Durch die Ganzkörper-Immobilisation eines Traumapatienten auf dem Spineboard kann es neben
Schmerzen zur Restriktion der Ventilation, zu Zeitverzögerungen und zur erhöhten Mortalität kommen.
(Bruijns et al. 2013; Morrissey 2013; Connor et al. 2013; Haut et al. 2010)
6) Wird eine Ganzkörper-Immobilisation auf dem Spineboard durchgeführt, bringt die zusätzliche
anliegende Zervikalstütze keinen weiteren Benefit.
(Holla 2012; Butler et al. 2001)
7) Die Vakuummatratze bietet eine bessere Immobilisation als das Spineboard.
(Luscombe et al. 2003; Hamilton et al. 1996; Johnson et al. 1996)
Aus der oben zitierten Literatur und den aktuell gültigen Leitlinien wird für die Behandlung von
Traumapatienten folgende Stellungnahme formuliert:
A) Die Immobilisation der Wirbelsäule darf beim „kritischen Patienten“ weder die Diagnostik im Rahmen
des Primary Survey noch die Therapie akuter ABCDE-Probleme verzögern oder behindern. Alle
notwendigen Maßnahmen sollten bei bestehender Indikation zur Immobilisation der Wirbelsäule nach
Möglichkeit unter Einhaltung der physiologischen Achse der Wirbelsäule durchgeführt werden.
B) Wird die Indikation zur Immobilisation der Halswirbelsäule gestellt, erfolgt zunächst eine manuelle
Immobilisation. Für den Transport ist eine Ganzkörper-Immobilisation durchzuführen. Auch bei
bestehender Indikation zur Immobilisation der Brust- oder Lendenwirbelsäule ist eine GanzkörperImmobilisation durchzuführen.
C) Auf Grund der Nachteile, welche eine Ganzkörper-Immobilisation mit sich bringen kann, ist eine
differenzierte Indikationsstellung wichtig. Dies kann z. B. durch den im PHTLS-Buch abgedruckten
Algorithmus erfolgen (basierend auf den NEXUS-Kriterien). Die Canadian C-Spine Rule kann als sehr
gute Alternative zu diesem Vorgehen angesehen werden.
D) Die Vakuummatratze bietet eine bessere Immobilisationsmöglichkeit während des Patiententransports.
Das Spineboard behält seine Daseinsberechtigung für die akute Rettung des Patienten. Ob der Patient
nach der Rettung mit dem Spineboard auf eine Vakuummatratze umgelagert werden kann, muss im
Einzelfall geprüft werden.
E) Bei Patienten mit symptomatischem Schädel-Hirn-Trauma sollte abgewogen werden, ob das Anlegen
einer starren Zervikalstütze unbedingt erforderlich ist, oder ob dieser Patient auch anderweitig
immobilisiert werden kann.
F) Bei der technischen Rettung eines Patienten sollte auf Grund der z. T. erheblichen Manipulation am
Patienten zusätzlich zur manuellen Inline-Immobilisation eine Zervikalstütze angelegt werden.
Diese Empfehlungen wurden auf Basis der aktuellen Datenlage formuliert. Sie unterliegen den, in der
Medizin üblichen, dynamischen Prozessen und müssen stets auf Aktualität überprüft werden.
Bei der Umsetzung dieser Empfehlungen ist neben der
juristische Dimension zu beachten. Hier sind vor allem
gefragt, klare Indikationen und Vorgehensweisen in
Immobilisation zu geben. Diese sollten auf den aktuellen
und den aktuellen Leitlinien nicht widersprechen.
medizinischen Dimension auch immer die
die Ärztlichen Leiter der Rettungsdienste
Ihren Rettungsdienstbereichen bei der
wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen
Für Rückfragen stehen ihnen die Unterzeichner des Textes gerne zur Verfügung. Für das Nationale Board
PHTLS Deutschland
gez.
Bernhard Gliwitzky
Dr. Christoph Wölfl
(Vorsitzender PHTLS Deutschland)
(Medizinischer Direktor PHTLS Deutschland)
Dr. Dr. Michael Kreinest
Dr. Matthias Münzberg
(Forschungsgruppe präklinische Wirbelsäulenimmobilisation)
(Koordinator PHTLS Europe Research Group)
Literaturverzeichniss:
Baez AA, Schiebel N (2006) Evidence-based emergency medicine/systematic review abstract. Is routine spinal immobilization an
effective intervention for trauma patients? Ann Emerg Med. 47: 110-112
Bruijns SR, Guly HR, Wallis LA (2013) Effect of spinal immobilization on heart rate, blood pressure and respiratory rate. Prehosp
Disaster Med. 28: 210-214
Butler J, Bates D (2001) Towards evidence based emergency medicine: best BETs from the Manchester Royal Infirmary. Cervical
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Haut ER, Kalish BT, Efron DT, Haider AH, Stevens KA, Kieninger AN, Cornwell EE, 3rd, Chang DC (2010) Spine immobilization in
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