To the Limit

Transcrição

To the Limit
I. ABSCHIED
{18.05. 2008, Köln.} Als Thomas aus dem Auto stieg, roch alles nach nassem Asphalt. Irgendwann in
der Nacht musste ein Schauer runtergegangen sein, aber davon hatte er nichts mitgekriegt — hatte
überhaupt die letzten Stunden nicht mehr viel mitbekommen: die Gesichter, die Mikros, die Autohupen
und das Jubelgebrüll von links und rechts — bis sich alles wie’n gigantischer Strudel um ihn drehte.
Superstar. Sprechchöre. Unglaublich.
Einen Moment lang lehnte er sich gegen die Kühlerhaube, drunter blubberte noch der warme Motor.
Die Luft war feucht und lauwarm wie ein Schwamm, und irgendwo im Gebüsch trillerten schon die
Vögel. Die Villa sah aus wie verlassen, die Straße leer. Unwirklich, wie alles andere auch.
Als Thomas einen ersten Schritt nach vorn machte, kippte der Asphalt schräg nach links weg.
Beinah hätte er die Balance verloren, aber dann ging’s wieder. War vielleicht’n Fehler gewesen, gleich in
dieser Nacht noch einen Abstecher nach Recklinghausen zu machen, aber seine Kumpel hätten ihm
sonst nie verziehen, das musste einfach sein. Die ganze Stadt war noch wach, so wach wie er selbst,
pures Adrenalin. Das schwirrte ihm jetzt noch durch den Körper, obwohl sich seine Arme und Beine
anfühlten wie Beton.
Komm, Alter, geschlafen wird später. Thomas zog sich den Jackenkragen hoch und ging auf die Villa
zu. Waren wirklich schon alle weg, oder saß drinnen irgendwer beim Frühstück? Eigentlich war’s ja
schon Tag, auch wenn ihm die Nacht in den Knochen saß wie ein Cocktail aus Blitzlicht und Blei. Knapp
vor der Tür stoppte er noch mal ab. Nur jetzt bitte keine Spotlights und Kameras mehr — er hielt kurz
die Luft an und ließ sie wieder raus, denn im Flur war alles dunkel. Kein Licht, kein Geräusch, totale
Leere.
Gleich wach ich auf, und es war alles nur ein Traum. Jedenfalls war’s so still, dass er seinen eigenen
Atem hören konnte. Wo war eigentlich Fady abgeblieben? Thomas warf einen kurzen Blick ins halbdunkle
Wohnzimmer, das so aufgeräumt und leblos wirkte wie ’ne Fernsehkulisse. Vielleicht hatte Fady seinen
Kram ja schon gepackt und war los, irgendwohin ins Leben nach DSDS.
Thomas lehnte sich an die nächstbeste Wand, hatte plötzlich so ein ganz blödes, flaues Gefühl im
Magen. Hatte seit dem letzten Frühstück ja auch kaum was gegessen — erst war’s die Nervosität, und
dann blieb keine Zeit mehr. Vielleicht ’n kurzer Abstecher in die Küche — ? Fady würde doch bestimmt
nicht so einfach abhauen, nicht ohne sich zu verabschieden nach der ganzen Zeit. Thomas wischte sich
die Haare aus dem Gesicht. Du musstest ja die halbe Nacht in Recklinghausen feiern, da hatte Fady
gar keine Chance. Verdammt.
Als er sich von der Wand abstieß, kam von oben ein kurzes schurrendes Geräusch, als würde
jemand einen Stuhl wegziehen. Ein Lebenszeichen aus der Nachbargalaxie. Thomas grinste und stieg
schwerfällig die Treppe hoch — zu müde für mehr Tempo — und war von einem Moment auf den nächsten
total davon überzeugt, dass es Fady sein musste. Auf den war einfach immer Verlass.
„Hey!“ Er stieß die Zimmertür im ersten Stock auf, die nur angelehnt war. Durch das weit offene
Fenster schwallte dieser Frühmorgengeruch von nassem Gras und nasser Straße. Fady saß auf
seinem Bett und zerrte gerade am Reißverschluss einer vollgestopften Reisetasche.
„Da bist du.“ Er sah kurz auf und lächelte, aber trotzdem klang das so, als hätte er mit Thomas
überhaupt nicht mehr gerechnet.
„Klar bin ich da.“ Thomas ließ sich auf den einzigen Stuhl im Zimmer fallen. Seine Beine setzten
jetzt ständig Koma-Meldungen ab.
„Und wie geht’s dir?“ Fady hatte den Kampf mit dem Reißverschluss gewonnen und lehnte sich
leicht vor.
„Ich fühl mich wie nach ’ner Mondlandung.“
Jeder andere hätte jetzt wahrscheinlich sowas gesagt wie, du siehst müde aus. Nur eben Fady
nicht. Der lächelte ihn breit an, als würd’ er die Antwort schon ganz genau kennen. „Und wie war dein
Flug?“
„Un-glaub-lich, Mann.“ Thomas rieb sich beide Hände übers Gesicht, wollte sich lieber gar nicht
vorstellen, wie müde er wirklich aussah. Wie halbverdaut und ausgespuckt wahrscheinlich. „Ich kann’s
echt alles noch nicht fassen.“
Aber das wusste Fady bestimmt auch schon. Er legte den Kopf ein bisschen schräg und sah
Thomas einen Moment lang nur an — mit diesem ruhigen, konzentrierten Blick, der gar nichts von
seinen Gedanken erkennen ließ. „Alle haben es kommen gesehen,“ sagte er schließlich langsam, „weißt
du? Alle haben das schon von Wochen gedacht, dass du gewinnst. Nur du nicht.“
„Nee, stimmt.“ Thomas blickte zu Boden und fühlte sich erstklassig vernagelt. „Ich wollt’s auch gar
nicht denken.“
„Naja, das ist...“ Fady suchte kurz nach Worten. „Man kann Angst bekommen von solchen
Gedanken.“
Thomas schluckte kurz und nickte. Angst traute ihm ja keiner zu — außer seinen Eltern, die kannten
ihn besser — und schließlich hatte er’s lang genug trainiert, niemand was merken zu lassen. Alles
runterzukochen auf reines Adrenalin, reine Energie. Und dann raus auf die Bühne damit. Aber von
Angst wusste Fady bestimmt viel mehr als er selbst. Mehr als irgendwer wissen sollte. Noch letzte
Woche waren wieder Kriegsmeldungen aus dem Libanon gekommen, die selbst bis in die Villa durchgedrungen waren. MP-Geknatter aus dem Radio. Zum Glück waren Fadys Eltern da schon in Köln.
„Ich muss los.“ Fady stand auf und wuchtete seine Reisetasche aufs Bett.
„Wie — jetzt gleich?“ Über den Abstand von weniger als einem Meter sah Thomas ihn an, und
trotzdem kam’s ihm so vor, als würde sich der Raum ausdehnen, leer und lang, und seine Reaktionen
schleppten sich im Schneckentempo hinterher. Zu wenig Schlaf, zuviel Irrsinn. „Wo willste denn jetzt
schon hin?“
„Ich habe erst ein Interview, und dann ich fahre in Urlaub. Wenigstens ein paar Tage.“ Fady lächelte
wieder, wirkte ganz zufrieden und entspannt und überhaupt so ausgeruht, als wäre das Finale gestern
nicht mehr gewesen als ’ne nette Party unter Freunden. So war das immer mit ihm. Der ließ sich durch
die Mangel drehen und strahlte schon eine halbe Stunde später nichts als Ruhe aus.
„Und wohin fährst du? Holt dich jemand ab?“ Thomas legte die Hände auf beide Knie — seine Beine
fühlten sich immer noch verdammt wacklig an —, aber schließlich konnte er ja nicht hier sitzen bleiben
wie’n vergessener Betonklotz, während Fady einfach wegging.
„Nach Mallorca.“ Fadys dunkle Augen blitzten ihn an. „Sag jetzt nichts — das war ein Angebot von
RTL!“
„Ich sag ja gar nichts gegen Malle!“ protestierte Thomas und kam schwankend hoch. „Bin selber
noch nie da gewesen, aber das Wetter is’ bestimmt besser als hier.“ Da war Fady schon neben ihm und
hielt ihn am Arm.
„Du brauchst Schlaf, mein Freund.“
„Später.“ Thomas grinste verlegen und lehnte sich trotzdem leicht gegen ihn. „Und, wirst du nun
abgeholt? Sonst könnt’ ich dich auch fahren.“
„Ist schon alles organisiert — und du bist nicht in der façon zum Fahren!“ Fady schob ihm den Arm
um die Taille. „Soll ich dich vielleicht zum Bett bringen?“
„Nee, geht schon!“ Thomas grinste ihn an und streckte den Rücken durch, bewegte sich sonst aber
keinen Millimeter von Fady weg. Irgendwie wär’s jetzt verdammt gut gewesen, wenn sie sich beide
hätten absetzen können: nur für ein paar Tage irgendwo abhängen und die letzten Wochen zusammen
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verdauen. Bis sich das Leben wieder normal anfühlte, wenigstens ansatzweise. „Oder singst du mich in
den Schlaf? Dann überleg ich’s mir vielleicht noch mal.“
Fady lachte. „Keine Zeit, leider.“
Aber im nächsten Moment verschwand dieses übermütige Glitzern aus seinen Augen, und Thomas
wusste genau warum. Spürte das in seinen eigenen Knochen, dieses klamme Gefühl von Ende — auch
wenn er’s noch gar nicht richtig glauben konnte. Fady würde in seinen Urlaub verschwinden und er
selbst wieder in den Strudel abtauchen. Interviews, Musikstudio, Fans, Videodreh — unwirklich. Es kroch
ihm zittrig die Beine hoch.
„Thomas...?“
Er sah Fady an, kriegte aber kein Wort raus. Das einzige, was er jetzt noch machen konnte, war
sich ganz zu Fady hindrehen und ihn umarmen. Okay, vielleicht war’s mehr ’ne Umklammerung, so wie
am Schluss vom Finale, als sie das nervenzerfetzende Warten endlich hinter sich hatten. Mitten in
diesem irren Taumel von Licht und Lärm und totalem Unglauben. Aber jetzt, als er Fady mit beiden
Armen an sich drückte, war’s was anderes. Er konnte ganz genau spüren, wie Fadys Hände seinen
Rücken hoch strichen, durch seine Jacke und sein T-Shirt, langsam und glasklar wie eine Lichtwelle.
Einen kurzen, warmen Atemzug an seinem Hals. Thomas schloss die Augen, ließ sein Gesicht an Fadys
Schulter sinken. Das hier war wirklich. Fady roch nach Dusche und Tee und fühlte sich so verdammt
vertraut an. Wie nichts sonst hier.
„Es wird bestimmt alles ganz toll für dich,“ murmelte Fady dicht bei seinem Ohr. „Mach’s gut.“
Seine Hand schloss sich sanft um Thomas’ Nacken und jagte ihm ein kurzes Kribbeln den Rücken
runter. Als er den Kopf hob, sah er direkt in Fadys Augen.
„Du auch.“ Viel mehr als ein Flüstern kam allerdings nicht mehr dabei raus, seine Stimme schaltete
jetzt auch schon auf Pause. Scheiße. Fady war in den letzten Wochen ein echter Freund geworden und
würd’s auch bleiben — irgendwas in der Art hätte Thomas ihm gern noch gesagt, damit sich das alles
nicht so eisig nach Ende anfühlte. Stattdessen schob er die Hände zu Fadys Schultern hoch und
drückte ihn noch mal kurz. „Pass auf dich auf, okay?“
„Das mach ich.“ Fady lehnte sich vor und als Thomas im selben Moment den Kopf drehte, streiften
Fadys Lippen seine, knapp neben dem Mundwinkel. Nur ein Versehen, das ihm trotzdem wie der Blitz in
allen Nerven fuhr. Dieser Kuss hätte auf seiner Wange landen sollen, schließlich hatte Fady das schon
mal gemacht, sogar vor laufender Kamera, und er wirkte auch gar nicht verlegen deswegen, nur’n
bisschen überrascht. Thomas sah in seine Augen — viel zu schöne Augen für ’nen Mann hatte er
anfangs mal gedacht, aber jetzt —
Fadys Atem strich ganz leicht über sein Kinn, und das kribbelte wie Funkenflug. Irgend’ne Bewegung
musste er gemacht haben, denn im nächsten Moment spürte er Fadys Mund unter seinem. Als wär’s
total selbstverständlich — sich einfach mal vorbeugen und nur diesen kleinen Schauer fühlen. Fadys
Atem, als sich seine Lippen leicht bewegten, als er Thomas entgegenkam statt sich weg zu drehen —
ganz kurz nur und trotzdem wie’n Stromstoß.
Und dann war’s auch schon vorbei, Fady lehnte sich zurück und ließ ihn langsam los. Mit einem
Blick, der Thomas durch und durch ging, ohne dass er noch irgendwas verstand. Die Wirklichkeit hatte
sich grad wieder verabschiedet. Von der Tür her sagte Fady: „Ich melde mich bei dir.“
Thomas nickte, verlangsamt wie ein Schlafwandler, und starrte immer noch auf die offene Tür, als
Fady schon längst die Treppe runter war.
Aber dann kamen Stimmen von unten. Schritte, irgendjemand schleifte was rein, dann ein schrilles,
elektronisches Pfeifen. Thomas griff nach der Stuhllehne und setzte sich wieder hin. Bestimmt war
das RTL, wieder ein Kamerateam. Der Superstar am nächsten Morgen. Aber auf den Anblick würden
sie noch’n Moment warten müssen — wenigstens so lang, bis er wieder wusste, wo er war und was da
gerade passiert war.
***
II. VIDEO
{20.05. 2008, Oberhausen.} Hoch oben im Gasometer pulsierten grüne Laserpfeile, kreuzten sich und
zerstoben wieder. Der ganze gigantische Raum dröhnte vom Sound, und Thomas ließ sich einfach
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mitten reinfallen. Love is you, seeing things like you do... Volle Power, keine Schonung. Und wenn er den
Song noch tausendmal sang, nur mit halber Kraft für die Kamera mimen war nicht drin.
Seit Stunden drehten sie schon sein Video, und mittlerweile fühlte er sich leicht benommen von den
wirbelnden Lichtern, dem kraftvollen Rhythmus, der zwischen den Stahlwänden hin- und hersprang.
Irgendwann war der Raum um ihn nur noch Klangkörper, in seinen Adern nichts als flimmernde Luft,
kein Zeitgefühl mehr. Ein grelles weißes Spotlight senkte sich auf sein Gesicht und verlosch wie in
Zeitlupe.
„So, die Close-ups hätten wir auch.“ Mike, der Chefkameramann, schob sich die Kopfhörer runter
und winkte dem Regisseur zu. „Zwanzig Minuten Pause für alle.“
Thomas hielt auf die Equipment-Kisten zu, die momentan als Ablage für Jacken, Getränke,
Plastikbecher und Adapter dienten, und griff als erstes nach einer Wasserflasche. Sein Hals fühlte
sich inzwischen so trocken an wie fünfzehn Stunden im Nikotinnebel durchgefeiert. Nur gut, dass seine
Stimme nach all den Wochen wieder voll im Training war, sonst hätte er jetzt die nächste
Heiserkeitsattacke zu befürchten. Er drehte noch am Verschluss der Flasche, als ihm von hinten
jemand auf die Schulter tippte.
„Komm mal mit.“ Moni, die Produktionsassistentin mit dem Klemmblock voller Notizen, hakte ihn
unter.
Bin ich etwa schon am Taumeln? Thomas ließ sich von ihr mitziehen, wahrscheinlich war für die
Pause auch wieder’n kurzes Interview geplant. Plötzlich knurrte sein Magen wie verrückt, und er konnte
nur knapp ein Gähnen unterdrücken. Das war vor allem Sauerstoffmangel — wirklich zur Ruhe kommen
konnte er jetzt ohnehin nicht, dafür sorgte schon die rasende Energie, die ihm seit dem ersten Ton des
Weckers durch die Nerven schoss. Irgendwann fall ich dann eben einfach ins Koma...
In der Kommandozentrale mit den hochgestapelten Monitoren und Mischpulten blinzelte er in einen
Streifen graues Tageslicht, der sich durch die Vorhänge in den Raum bohrte. Drinnen im Gasometer
gab’s natürlich keine Fenster, und Thomas hätte schwören können, dass es längst wieder Nacht war.
Superstar, dritter Tag.
„Setz dich.“
Er hatte die Wasserflasche schon am Mund und spritzte sich nass, als er sich gleichzeitig in einen
Sessel fallen ließ. Brauner Cordbezug, ziemlich abgegriffen. Thomas rieb seine Hand an der Sessellehne
trocken, ließ den Kopf zurücksacken und atmete tief durch. „Und was kommt jetzt?“
„Wart’s ab!“ Moni wirbelte lächelnd auf der Achse herum. „Ich besorg dir erstmal was zu essen.“
Sie war kaum weg, da schob sich Mike mit der kleineren Handkamera durch die Tür und fing an, sie
mit dem Mischpult zu verkabeln. Also doch ein Interview. Aber seit Samstag Abend war fast jede
Minute eine Kamera auf ihn gerichtet, und mittlerweile achtete Thomas kaum noch drauf — komisch,
wie schnell man sich an sowas gewöhnen konnte. Er nahm einen langen Zug aus der Flasche, ließ die
Beine nach vorn rutschen und fühlte, wie’n bisschen von der Spannung aus seinen Muskeln sickerte.
„Wir sind gleich soweit,“ sagte der Techniker am Mischpult ohne sich umzudrehen. „Die Leitung
steht.“
„Da bin ich aber neugierig,“ murmelte Thomas. Seit ihm die RTL-Leute den Videoclip vorgespielt
hatten, in dem Christina Aguilera seine Performance kommentierte, war ja mit allem zu rechnen. Links
von ihm sprang ein Monitor an und zeigte ein grelles Farbsignal.
„Nimm mal den Kopfhörer hier.“ Mike reichte ihm einen Ohrstöpsel rüber. „Fertig?“
„Alles klar.“ Der Techniker schob einen Regler hoch, und Thomas drehte sich vor den Bildschirm,
immer noch ganz relaxt — bis Mike ihm von der Seite zugrinste.
„Jetzt kommt die Live-Schaltung nach Mallorca.“
„Echt?“ Thomas hielt die Luft an, sein Puls hatte eben einen knappen Salto geschlagen, aber dann
war das Bild schon da, bunt und flimmernd, als hätte es irgendwer aus seinen eigenen chaotischen
Gehirnwellen zusammengestrickt.
Fady saß im T-Shirt auf einem Liegestuhl, hinter ihm Meer und blauer Himmel. Das wirkte alles
wie’n perfektes Postkartenfoto, unendlich weit weg. Aber im nächsten Moment richtete sich Fadys
Blick direkt in die Kamera, und Thomas lehnte sich vor, plötzlich war die Entfernung wie weggefegt.
Zuerst hörte er nur Fadys Stimme, nur diesen vertrauten Tonfall, und bekam kein Wort mit. Und dann
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— „ich will dir sagen ich freu mich für dich und ich liebe dich —“
Thomas hielt sich auf der Sesselkante an seiner Wasserflasche fest, mit der anderen Hand den
Stöpsel ins Ohr gedrückt, aber der Ton rauschte jetzt total an ihm vorbei. Irgendwas von Freizeit
hatte Fady noch gesagt — Freizeit?
Im nächsten Moment klappte das Monitorbild in tonloses Schwarz zusammen. Am Bildmischer
fluchte der Techniker vor sich hin. Thomas saß bewegungslos da wie in einer großen, weichen Luftblase,
die jedes Geräusch schluckte. Jeden klaren Gedanken auch. Er rieb sich eine Hand über die Stirn. Kann
gar nicht sein, das hab ich geträumt.
Zum Glück waren Mike und der Techniker jetzt beide mit dem Übertragungssignal beschäftigt.
Thomas atmete langsam aus, als Moni sich mit einem Sandwich-Tablett durch die Tür schaukelte.
„Wie, schon vorbei?“
„Naja, da ist wohl mal wieder irgendein Satellit überlastet. Wir hatten Fady nur ganz kurz.“ Mike
fummelte inzwischen wieder an seiner Kamera und nickte zu Thomas rüber. „So, und jetzt kommst du
dran.“
„Jetzt sofort?“ Thomas setzte sich auf und fuhr sich durchs Haar, das war schon Reflex. „Ich
dachte, die Leitung—“
„Wir können das Band später rüberspielen, kein Problem,“ meinte der Techniker, dessen Blick
permanent an seinem blinkenden Pult klebte.
„Sag einfach ein paar Worte.“ Mike brachte schon die Kamera in Anschlag. „Läuft. Also her mit den
Liebesgrüßen!“
Na, toll. Thomas schluckte, stellte die Wasserflasche weg und strich sich nochmal die Haare glatt,
nur um Zeit zu gewinnen. Sein Kopf war leer wie’n Luftballon, von einem nervösen Rauschen in den Ohren
mal abgesehen. Von wegen, an die Kameras hatte er sich schon gewöhnt...
Er räusperte sich. „Fady, ich werd dich mal anrufen... Alter...“ Sein Blick rutschte von der
Kameralinse ab, weil er sich so verdammt beobachtet fühlte. „Viel Spaß auf Malle, Mann.“
„Knapp aber herzlich!“ Mit einem breiten Lächeln schaltete Mike die Kamera ab.
Nee, vollkommen Panne. Thomas grinste schief zurück und warf einen Blick auf den SandwichStapel, aber Hunger hatte er plötzlich keinen mehr. Fady würde ihn bestimmt für einen Volltrottel
halten, wenn er das sah. Quatsch, wahrscheinlich wird er einfach drüber lachen.
Auch ohne Satellitenschaltung konnte er sich das hautnah vorstellen — wie aus Fadys Lächeln
dieses strahlende Lachen wurde, mit dem er ganz nebenher gute Laune um sich verbreitete. Wie seine
Augen dabei aufleuchteten. Thomas hievte sich aus dem Sessel hoch.
„Ich geh mal austreten.“ Nur jetzt allein sein, wenigstens für einen Moment.
Das Bad war hellgelb gefliest, und aus dem Spiegel starrte ihn jemand an, der eindeutig so aussah,
als wär’ er eben vor eine Wand gelaufen. Thomas drehte den Kaltwasserhahn auf und hielt beide Hände
drunter. Dieses Video konnt’s gar nicht geben, Fady hatte das bestimmt nicht gesagt. Oder jedenfalls
nicht so gemeint. Vielleicht war’s im Libanon ja auch ganz normal, dass sich Männer zum Abschied auf
den Mund küssten. Was weiß ich denn schon? Thomas rieb sich die nassen Hände übers Gesicht. In
Polen hätte man dafür eher mit ’nem Tritt in die Eier zu rechnen. Noch so’n absurder Gedanke.
Total absurd war’s jedenfalls, dass ihm momentan das Herz bis zum Hals schlug. Als hätte er
nicht die vergangenen 48 Stunden damit zugebracht, diesen letzten Moment in der Villa irgendwo im
Hinterkopf abzuspeichern und sich nichts mehr dabei zu denken. Die meiste Zeit über ging das ganz
locker, weil ihm selten mehr als ’ne Minute zum Nachdenken blieb. Nur auf den Autofahrten zwischen
den Terminen und in den Momenten vor’m Einschlafen klinkte sich sein Gehirn manchmal aus.
Stolperte durch Bilderserien, in denen Fady viel zu häufig vorkam, oder klebte plötzlich an dieser einen
Erinnerung, die ihm elektrisch unter die Haut kroch.
Thomas schüttelte den Kopf. Bestimmt würde sich das alles nicht so verworren, so abgebrochen
anfühlen, wenn sie immer noch in der Villa wären oder sich wenigstens zwischendurch mal gesehen
hätten. Dann hätte er wieder den Alltags-Fady neben sich statt einer hyperaktiven, viel zu klaren
Erinnerung. Als wär’ von der ganzen Zeit nur ein einziger Splitter mit scharfen Kanten übrig geblieben.
Aber er brauchte nur die Augen zu schließen, dann konnte er wieder jede Einzelheit spüren. Den
leichten Druck von Fadys Händen an seinem Rücken. Das Kribbeln von Fadys Locken an seinem Gesicht
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— und er merkte schon, wie er selbst den Atem anhielt.
Nun komm mal klar. Thomas drehte den Wasserhahn zu. Wie verdammtnochmal bekam Fady das
eigentlich hin? So ruhig in eine Kamera zu lächeln und genau zu wissen, wer das alles mithören würde.
Wahrscheinlich strahlte RTL das Band gleich morgen früh auf allen Kanälen aus. Ich liebe dich.
Thomas riss ein Handtuch vom Haken und wischte sich das Gesicht damit ab. Das ist Fernsehen,
keine Realität. Aber den Klang von Fadys Stimme hatte er immer noch im Ohr, wie ein Musikstück, das
sich unterschwellig festsetzt bis man mitsummt. You found me stranded on your island, it felt like I
was coming home...
Thomas ließ das Handtuch sinken. Fadys völlige Offenheit war wirklich was Besonderes; er selber
hatte seine Gefühle noch nie so direkt in Worte packen können — je ernster, desto weniger. Aber Fady
fand selbst in ’ner fremden Sprache den richtigen Ausdruck dafür, weil’s ihm wichtig war. Der liebte
seine Familie und Freunde eben und zeigte das auch, ohne wenn und aber.
Und du gehörst jetzt dazu, Kumpel, sagte sich Thomas. Was sich bei diesem Gedanken in seiner
Magengrube breit machte, fühlte sich verdächtig nach Sonnenschein an — eine echte Powerpackung
Mallorca oder sowas. Als er dem Spiegel im Wegdrehen noch einen Blick zuwarf, erwischte er sich bei
einem breiten Jackpot-Lächeln. Am liebsten hätte er Fady jetzt mal kurz gedrückt.
Mann, du fehlst mir. Das war’s, was er Fady eigentlich hatte sagen wollen. Nur ganz bestimmt
nicht vor laufender Kamera. Aber anrufen war schließlich auch ’ne Möglichkeit...
***
Als Mike um 22 Uhr 37 wieder eine Pause ansagte, war das Video immer noch nicht abgedreht.
Thomas wanderte in den Regie-Raum und schob sich ein Sandwich zwischen die Zähne, das jetzt schon
ziemlich vertrocknet schmeckte. Kauend warf er einen kurzen Blick durch den Vorhangspalt. Draußen
war’s nun wirklich dunkel, aber hinter dem Zaun warteten noch die Fans, einige hatten sich wegen der
Kälte sogar in Decken gewickelt.
Thomas zog sein Handy aus der Tasche, aber im selben Moment kamen zwei Typen von der
Produktion rein, und er hatte nicht wirklich Bock drauf, vor Publikum zu telefonieren. Außer dem Klo
kam eigentlich nur das Obergeschoss für’n bisschen Privatsphäre in Frage.
Wenn ich Fady überhaupt erreiche... Thomas trat aus dem Fahrstuhl und schob sich an ein paar
Scheinwerfern vorbei zur Galerie. Der Gasometer war ein riesenhaftes Stahlrohr, das selbst jetzt vor
Energie summte. Von der Bühne, die nur noch so groß aussah wie ein Handteller, drang ein Flüstern
verzerrter Stimmen nach oben. Thomas lehnte sich an die Brüstung und klemmte sich das Handy ans
Ohr. Hörte zwischen jedem Tuten ein Knistern in der Leitung, als wären’s seine eigenen Nerven. Aber
dann war Fady wirklich dran.
„Hey, Thomas! Wo bist du?“ Das klang nach Überraschung pur — und nach Freude.
„Noch in Oberhausen, beim Video-Dreh.“ Bestimmt strahlte er jetzt selbst wie’n Spotlight,
jedenfalls fühlte sich das so an. „Viel Arbeit, aber das ist so unglaublich toll hier, das kannste dir gar
nicht vorstellen!“
„Du klingst so,“ sagte Fady mit einem Lächeln in der Stimme. Oder wenigstens bildete Thomas sich
das ein. „So glücklich.“
„Ja, bin ich auch.“ Kunststück, jetzt wo er Fady direkt im Ohr hatte und es ihm vorkam, als wäre
seit den letzten Tagen in der Villa nichts passiert als ein Blitzrausch ohne Bodenhaftung. „Tut echt
gut, deine Stimme zu hören.“
„Deine auch.“ Fadys Stimme senkte sich etwas, im Hintergrund war leise Musik zu hören.
„Und wie is’ Malle so?“ fragte Thomas, bevor die Pause zu lang dauern konnte.
„Sehr relaxing, wo ich jetzt bin. Sonne... und Meer... und Wellen am Strand...“ Fady lachte. „Bist du
schon neidisch?“
„Und wie!“ Bevor Thomas noch was fragen konnte, schoss ihm der Ton von Mikes Trillerpfeife ins
Ohr: das offizielle Pausenendsignal. Scheiße. „Hör mal...“ Er warf einen Blick runter, da flammten die
Scheinwerfer schon wieder auf. „Sieht so aus als würd’s hier weitergehen — ich muss Schluss machen,
tut mir Leid.“
„Kein Problem. Danke, dass du angerufen hast.“
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„Na, immer. Ich meld mich später wieder, okay?“ Thomas sah kurz auf die Uhr. „Oder besser morgen,
ich will dich ja nicht aus’m Schlaf reißen.“
„Du kannst mich immer anrufen,“ meinte Fady. „Wenn ich bin zu beschäftigt oder im Bett, dann
mache ich das Handy ab.“
„Okay.“ Thomas grinste über diesen kleinen Versprecher. „Also, ich meld mich!“
„Gute Nacht. Oder gute Arbeit...“
„Ja... ’Nacht, Fady.“ Thomas brauchte noch einen Moment, um dann widerwillig abzuschalten.
Trotzdem hatte sich seine Laune noch ein ganzes Stück hochgeschraubt — etwa auf die Höhe der
Galerie. Im Fahrstuhl nach unten fing er gleich wieder an zu summen. You let me dive in other waters...
I close my eyes, I learn to see...
***
III. KLANG
{22.05. 2008, Berlin} Um dreizehn Uhr fünfunddreißig — nach einem mörderischen Stau in der Innenstadt ganze fünfzehn Minuten später als geplant — stürmte Thomas zur Maske in den Viacom
Studios am Berliner Osthafen. Sein Viva Live-Termin stand heute Nachmittag an, und momentan sah
er noch reichlich zerknittert aus.
„Na bidde, da isser ja!“ sagte jemand, als er die Tür zur Maske aufriss. Eine vertraute Stimme mit
unverkennbar hessischem Akzent. Mark Medlock räkelte sich vor dem Spiegel, während ihm gerade die
Haare zurechtgegelt wurden.
„Hey, ich wusste gar nicht, dass du hier bist!“ Thomas schwang sich in den freien Stuhl neben ihn
und hatte schon im nächsten Moment die Bürste einer Stylistin im Nacken.
„Wart mal ab, wir treffen uns jetzt alle Nase lang!“ Mark zwinkerte ihm zu.
„Bist du auch bei Viva?“
„Nebenan, bei MTV,“ klärte Mark ihn auf. „Aber vielleicht laden sie uns demnächst ja mal zusammen
ein. Superstar Alt trifft Superstar Neu. Das macht doch was her, wir beide in einer Show!“
Thomas lehnte sich zurück und ließ die eifrige Dame an seinen Haaren herumbürsten. Früher oder
später kam sicher wieder eine kritische Bemerkung wegen seiner Frisur, denn Seitenscheitel waren
nach allgemeiner Auffassung total out. „Gegen dich Showtalent komm ich noch lange nicht an.“
„Dann sieh’s als Herausforderung und steiger dich!“ Mark grinste. „Das hab ich immer zu hören
bekommen, wenn ich plötzlich die Hosen voll hatte und net vor die Leut’ wollte.“
Thomas lachte. Mark war ein echter Lichtblick mit seinen Blödeleien. Der hatte die MarathonStrecke direkt nach dem Superstar-Finale ja auch schon hinter sich.
„Bitte mal einen Moment lang still sitzen,“ sagte die Stylistin hinter Mark ziemlich streng und fing
an, seine Augenbrauen nachzuziehen.
„Ja, das fällt mir schwer...“ nuschelte Mark und rollte die Augen. „Ich hab den Hintern ebbe voller
Hummeln.“
Thomas sackte ein Stück tiefer in den gepolsterten Sitz hinein. Mit Stillhalten hatte er kein
Problem, dafür war er nach dem Termin-Pogo der letzten Tage doch zu geschafft. Neben ihm fing Mark
leise zu trällern an, und die Stylistin seufzte. Thomas grinste in sich hinein, plötzlich stieg ein
nostalgischer Anflug vom alten DSDS-Feeling in ihm hoch — obwohl’s ja nicht mal eine Woche her war,
seit er das letzte Mal so neben Fady gesessen hatte.
Bei Fady beschwerten sich die Damen von der Maske allerdings immer, er würde sie arbeitslos
machen, weil er sich sein Make-up selbst auftrug — und das wie’n Profi. Nur wussten die natürlich
nicht, warum Fady so sehr darauf bestand. Thomas ließ die Augen zufallen, als ihm seine Stylistin eine
hautschonende Creme ins Gesicht rieb, damit er von der vielen Schminke nicht irgendwann Ausschlag
bekam. Als nächstes würde sie dann die blöden Augenringe abdecken.
Er konnte sich noch genau erinnern, wie er eines Morgens früh zu Fady ins Bad gestolpert war, als
alle Zimmer in der Villa doppelt belegt waren und sie sich möglichst schnell für’n Foto-Shooting fertig
machen mussten...
Die Ablage unter dem Spiegel quoll dermaßen über von Fadys Kollektion an Cremes und Tuben, dass
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Thomas grinsen musste. „Hey, du siehst doch schon gut aus, übertreib’s mal nicht!“
Fady warf ihm nur einen Blick von der Seite zu, aber Thomas hatte plötzlich das ungemütliche
Gefühl, in einen Riesenfettnapf gelatscht zu sein. Und wenn er Fady jetzt so ansah — wie er die Lippen
zusammenpresste und geradeaus in den Spiegel starrte — steckte ganz was anderes dahinter als
Eitelkeit.
„Sorry, ich wollt’ dir nicht zu nahe treten.“
Fady drehte sich zu ihm hin, sein Blick wurde wieder offener. „Es ist nur, dass ich mal war verletzt,“
sagte er langsam und lehnte sich etwas vor. „Siehst du, da sind immer noch viele kleine Narben von
den Granatsplittern.“
Obwohl er Fadys Gesicht ganz dicht vor sich hatte, konnte Thomas von Narben kaum was erkennen.
Nur unter seinem rechten Auge wirkte die Haut wie aufgeraut.
„Das muss ja verdammt weh getan haben,“ murmelte Thomas und ärgerte sich über seine blöde
Bemerkung.
„Es hatte sich angefühlt, als war mein Gesicht zerfetzt.“ Fady zuckte die Schultern, aber in seinen
Augen lag ein ganz tiefer Schatten. „Ich konnte mich Jahre lang nicht im Spiegel ansehen. Ich hatte
immer Angst, was ich da sehen werde.“
„Aber jetzt nicht mehr — oder?“ Thomas fasste ihn an der Schulter, als könnte so eine Berührung
Fady irgendwie dabei helfen, das alles hinter sich zu lassen.
„Jetzt es ist schon besser,“ sagte Fady gleichmütig. „Ich stelle mir nicht mehr vor, dass ich
aussehe wie... wie ein Monster, wenn ich vor einer Kamera bin.“
„Nee, tust du nicht, echt nicht.“ Thomas lächelte ihn an bis sich Fadys Mundwinkel hoben und
dieser Schatten aus seinem Blick verflog. Wahrscheinlich war Fady der mutigste Mensch, den er je
getroffen hatte.
Als die Stylistin nun anfing, ihm an den Brauen herum zu zupfen, musste Thomas die Augen
gezwungenermaßen wieder aufmachen.
„Was is’ eigentlich aus deinem Zweiten geworden?“ fragte er Mark, ohne weiter drüber
nachzudenken.
„Meinem Zweiten?” Mark klimperte gekonnt mit seinen frisch getuschten Wimpern. „Wie meinste
denn das jetzt?“
„Mann, dem Zweiten bei DSDS letztes Jahr!“ Thomas lachte. „Was macht der denn jetzt?“
„Martin Stosch?” Mark lispelte den Namen so, dass sich selbst die strenge Stylistin ein kleines
Grinsen nicht verkneifen konnte. „Der macht seine Schule zu Ende, glaub ich. Bei Fady wird das aber
anders laufen, wenn du das meinst.“ Er warf Thomas einen kurzen Seitenblick zu. „Der hat ehrlich viel
mehr Talent und Persönlichkeit. Und vom Aussehen will ich mal lieber schweigen, das is’ ohnehin zum
Verlieben!“
„Echt?“ platzte Thomas raus. War schon komisch, sowas von einem anderen Mann zu hören.
„Fady ist so’n Lieber, den will man einfach beschützen.“ Mark seufzte gespielt. „Aber im Ernst — ich
steh ja mehr auf so große böse Kerle! Und ich könnt’ mich auch mit keinem einlasse’, der net so richtig
out ist, das is’ mal klar.”
Thomas machte den Mund auf, aber zum Glück kam ihm seine Stylistin gleich mit ’nem Puderquast
dazwischen, bevor er irgendwas Dämliches fragen konnte. Wie, richtig out?
Klar, da war irgendwann mal diese üble Skandalstory in der BILD gewesen, aber weil er das Blatt
nicht las, war das zuerst völlig an ihm vorbei gegangen. Bis er in eine Unterhaltung im Wohnzimmer der
Villa reinplatzte und Fady sagen hörte: „Ich will das nicht — ich will nicht so ein Bild von mir abgeben!
Dass alle denken sie wissen, was sie doch nicht verstehen.“
Richtig viel Sinn hatte das in dem Moment nicht ergeben, aber Fadys Stimme hatte leicht
gezittert — klang mehr nach Wut und Enttäuschung als irgendwas sonst — und Thomas hatte sich mit
einer gemurmelten Entschuldigung gleich wieder zurückgezogen.
Erst einen Tag später sickerte dann zu ihm durch, was die BILD über Fadys Privatleben ins Volk
gerotzt hatte: angebliche Ehe mit einem Mann und lila Tapeten und noch’n paar andere blumige
Details. Thomas hatte nur die Achseln gezuckt. Konnte ja gut sein, dass Fady schwul war, aber für ihn
machte das keinen Unterschied. Fady drauf anzusprechen war ihm überhaupt nicht in den Kopf
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gekommen. Schließlich war er selbst nicht der Typ dafür, seine Privatsachen mit den anderen
Kandidaten breitzuquatschen: wenn Fady nicht drüber reden wollte, sollte das respektiert werden.
Aber jetzt... jetzt hätte er Mark am liebsten doch gefragt, ob er irgendwas wusste. Obwohl’s ihn ja
wirklich nichts anging.
***
Das Viva-Interview lief viel lockerer ab, als er sich das vorgestellt hatte, und das Studio war ohnehin
eher klein. Nach den ersten paar Minuten fühlte sich Thomas völlig entspannt. Die Moderatorin hatte
sich auch keine wirklich originellen Fragen ausgedacht, bei denen er erst groß nach Worten suchen
musste. Anfangs hatte er bei Interviews ja ziemlich blöd rumgestottert.
Nach ’ner guten Viertelstunde gab’s dann allerdings doch eine Überraschung. Die Moderatorin
präsentierte ihm einen Video-Einspieler mit Fadys improvisierter Version von Highway to Hell...
Thomas’ Blick klebte sofort an dem leicht wackligen Bild. Ein bisschen unscharf war’s auch, aber
Fadys Stimme kam mit tausend Volt rüber.
Living easy, living free. Season ticket on a one-way ride. Asking nothing, leave me be. Taking
everything in my stride...
Das klang kein bisschen mehr nach AC/DC, sondern nur noch nach Fady. Er brachte den Song
verlangsamt, aber so bluesig angehaucht, dass Thomas die Gänsehaut den Rücken hoch und runter
lief.
„Ja geil!“ entfuhr es ihm, als der Einspieler zu Ende war.
Die Moderatorin an seiner Seite machte auch auf begeistert und ließ sich dann drüber aus, dass
Fady doch viel mehr Rotz in der Stimme hätte, als ihm irgendwer zutraute.
„...und Sex Appeal, würd ich mal behaupten!“ Das rutschte Thomas einfach so raus. Immerhin hatte
er so viel Make-up im Gesicht, dass es sicher niemand vor dem Bildschirm mitbekam, wenn er jetzt
nachträglich rot wurde. Aber schließlich war’s nichts als die Wahrheit. Fadys Stimme und die Art, wie
er sich auf der Bühne bewegte, hatten einfach eine unglaubliche Power. Und bei dem Gedanken flashte
Thomas ein Moment durch den Kopf, den er fast schon vergessen hatte.
Irgendwann mal in der Villa, als er spät abends noch seinen Song probte — Behind Blue Eyes war’s
gewesen — stand Fady plötzlich in der offenen Tür. „Mein erster Gesangslehrer hat oft mir gesagt, in
der Stimme liegt die Seele, und das kann man hören...“
„Ja?“ Thomas grinste ihm zu. „Und wie hört sich meine Seele so an?“
Fady legte den Kopf etwas zur Seite. „Sehr... stark,“ sagte er ganz ernst. „Und schön.“
Thomas blieb erstmal die Sprache weg, sein Gesicht fühlte sich sekundenschnell ziemlich heiß an.
„Wow. Das is’ ja wirklich’n tolles Kompliment,“ murmelte er. „Danke.“
„Nur die Wahrheit.“ Fady lächelte — und war schon im nächsten Moment wieder verschwunden.
Recht hat er gehabt, dachte Thomas jetzt, man kann’s wirklich hören. Ein bisschen Gänsehaut
hatte er immer noch.
***
In seinem Hotelzimmer kam er um ein Uhr vierundzwanzig an, und es roch verdammt muffig, wie
Mottenkugeln. Thomas schleuderte seine Jacke aufs Bett, riss eins der Fenster auf. Die InterviewStrecke war heute wieder endlos lang gewesen, da blieb nicht mal die Zeit, um ein paar Minuten
rauszugehen und frische Luft zu tanken. Von fern röhrte noch die Stadtautobahn. Thomas schnappte
sich sein Handy und zögerte dann doch. Eigentlich war’s schon zu spät, um Fady anzurufen, und sie
hatten ja erst gestern telefoniert.
Mach! sagte er sich selbst, wenn er schon schläft, kannste’s ja morgen wieder versuchen. Er
rechnete nicht wirklich damit, dass Fady drangehen würde. Viermal tutete es aus dem Hörer. In der
kribbligen Stille dazwischen ging sein Puls plötzlich schneller. Aber dann nahm Fady tatsächlich ab,
obwohl er bestimmt schon geschlafen hatte — sein „ja, hallo?“ klang noch viel französischer als sonst.
„Jetzt hab ich dich doch geweckt,“ sagte Thomas schuldbewusst.
„Ich war noch wach... halb.“ Irgendwas raschelte im Hintergrund. Thomas stellte sich vor, wie Fady
sich im Bett aufsetzte, vielleicht eine Lampe anknipste.
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„Ich bin grad erst im Hotel gelandet, sonst hätt’ ich mich eher gemeldet.“ Thomas lehnte sich
gegen die Fensterbank, der kühle Luftzug an seinem Nacken tat nach diesem stickigen Studio-Tag
wirklich gut. „Hör mal, ich hab heute dein Band bei Viva gesehen — das mit Highway to Hell! Hat irre
geklungen, ich war total vom Hocker.“
„Was?“ Fady lachte auf und wirkte nun hundertprozentig wach. „Das hast du gesehen?“
„Du hättest bei DSDS echt drauf bestehen müssen, dass du auch mal solche Titel bringen kannst.
Dann wärst du jetzt der Superstar!“
„Ach was!“ Fady dehnte die Silben und lachte wieder. „Das war schon gerecht so, dass du gewonnen
hast.“
Thomas zog die Stirn kraus und lauschte Fadys gelassenem Ton hinterher. Seit Samstag war ja
gar keine Gelegenheit gewesen, in Ruhe unter vier Augen drüber zu reden, aber gefragt hatte er sich
schon, wie Fady mit der Enttäuschung fertig wurde. Mir hätt’s glatt die Füße weg gerissen... „Sag
mal... kommst du klar damit, Zweiter zu sein? Ich weiß ehrlich nicht, ob ich das an deiner Stelle so gut
durchgestanden hätte.“
Diesmal antwortete Fady nicht so schnell. „Es war leichter, weil ich mich für dich gefreut habe,“
sagte er schließlich. „Und es war einfach... du musst singen, sonst wäre etwas wichtiges verloren.“
„Mann, Fady, du —“ Thomas schluckte, völlig übergangslos hatte er sowas wie’n Kloß im Hals, und
das machte es nur noch schwieriger, die richtigen Worte zu finden. „Du bist’n echter Freund.“
„Das will ich aber hoffen!“ meinte Fady mit gespielter Empörung. „Oder merkst du erst jetzt?“
„Nee, so vernagelt bin nicht mal ich!“ brummelte Thomas zurück. Irgendwie traf Fady immer genau
den passenden Ton, um die Stimmung aufzulockern. „Ey, weißt du schon, dass wir beide zur Talkshow
bei Kerner eingeladen sind? Hat mir das Management heute früh gesagt. Der Termin steht aber wohl
noch nicht genau fest.“
„Ja, ich habe gehört,“ sagte Fady, „heute morgen am Telefon. Ich freue mich schon, dass wir uns
wieder sehen.“
„Ich mich auch,“ murmelte Thomas ein bisschen verlegen, obwohl’s dafür keinen Grund gab. Ihm war
schon wieder zu heiß, und sein T-Shirt klebte ihm fast am Körper. Komisches Wetter, es lag so ein
Druck in der feuchtwarmen Luft als würd’s noch ein Gewitter geben.
„Vor’m Viva-Studio war heute ganz schön was los,“ erzählte er. „Die Mädels haben da wieder
stundenlang gewartet.“ Er schüttelte den Kopf, als könnte Fady ihn sehen. „Einige von denen waren
ziemlich... naja.“ Hysterisch wollte er’s nicht nennen, aber ihm war schon etwas mulmig dabei geworden.
„Aufgeregt?“
„Ja, könnte man so sagen... mindestens.“ Thomas grinste. „Eine wollte unbedingt, dass ich ihr’n
Autogramm auf den Arm gebe, aber dann hat sie dermaßen gezittert, dass nichts mehr ging.“
Fady lachte leise. „Was willst du machen — sie sind alle verliebt in dich.“
„Naja, verliebt...“ Thomas dehnte das Wort skeptisch in die Länge. „Die kennen mich doch gar nicht
und haben wahrscheinlich nur so’ne Wunschvorstellung im Kopf...“
„Aber das ist doch so,“ sagte Fady ganz ernsthaft, „was ist denn sonst Verlieben? Es ist doch vor
allem wie ein Wunsch... dass etwas Besonderes passiert, und dann die ganze Welt sieht anders aus.“
Thomas antwortete nicht gleich, irgendwas in Fadys Stimme hatte sich verändert, und dieser
sanfte Klang kam durch die Leitung wie ’ne langsame Welle, die am Strand hochspült. „Meinst du?“
„Du nicht?“ fragte Fady zurück.
„Ich weiß nicht...“ Thomas zögerte. War verdammt lang her, dass er sich das letzte Mal so richtig
verliebt hatte, und noch länger, seit er mit irgendwem drüber geredet hatte. „Wenn ich ehrlich sein soll
— ich weiß gar nicht mehr so richtig... wie sich das anfühlt, oder so.“
„Nein?“ Fadys Stimme wurde leiser. „Das tut mir Leid für dich.“
Thomas zog die Schultern hoch. „Ist doch normal, oder? Man wird halt älter.“
„Aber kennst du das nicht — wenn du dich fühlst, als wie du von innen leuchtest?“ fragte Fady.
„Alles ist anders, weil es diesen einen Menschen gibt, und das spürst du überall, wo du bist... es ist
Hoffnung, vor allem. Und es ist ein Energie, ein ganz besondere.“
Doch das kenn’ ich. Thomas schloss kurz die Augen. „Ja, stimmt...“ Seine eigene Stimme klang
plötzlich so sonderbar belegt. „Vielleicht denk ich nur nicht mehr so viel drüber nach.“
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„Vielleicht.“
Er konnte Fadys Lächeln fast durchs Telefon hören, als lägen nicht werweißwieviele Kilometer
zwischen ihnen. Irgendwas an dieser Handy-Illusion von Nähe machte Thomas ganz kribbelig. Viel lieber
hätte er Fady direkt vor sich gehabt, um mitzubekommen, was sich in seinem Gesicht abspielte, wenn
er sowas sagte. Aber nächste Woche dann, bei Kerner. Und wenn er Glück hatte, konnte er ja’n
bisschen länger in Hamburg bleiben, wenigstens über Nacht.
Nachdem er sich von Fady verabschiedet hatte, stand Thomas noch eine Weile am offenen Fenster.
Sein Zimmer lag im dreizehnten Stock, vor ihm dehnte sich Berlin aus, ein Labyrinth aus harten,
schwarzen Kanten und unruhigen Lichtern. Weit entfernt grummelte es wie Donner. Thomas rieb sich
seinen verschwitzten Nacken. Verdammt einsam, dieser Ausblick. Und trotzdem fühlte er sich nicht so,
sondern einfach nur... erwartungsvoll.
***
IV. WEIT
{27.05. 2008, Hamburg} Der Raum um ihn war nachtschwarz und konturlos. Licht kam nur von einer
riesenhaften Leinwand, auf der Bildfunken tanzten und sich langsam zusammensetzten — bis er in all
dem Lichtgestöber schließlich Fadys Gesicht erkennen konnte. Seine Lippen bewegten sich, aber zu
hören war nichts. Offenbar war die Leitung mal wieder gestört, weil es irgendeinen Satelliten aus der
Umlaufbahn gerissen hatte. Auch der Fußboden schien wegzurutschen, als sich Thomas langsam auf
die Leinwand zubewegte. Kannst du mich hören? Kein Ton kam aus seiner Kehle. Nur seine Füße hoben
jetzt langsam vom Boden ab, und er breitete die Arme aus...
Ein plötzlicher Ruck riss Thomas aus seinem Traum, instinktiv hielt er sich an den Armlehnen fest.
Der Flieger war gerade in Hamburg-Fuhlsbüttel gelandet, aber als draußen die Flughafengebäude
vorbei zappten, hatte er immer noch dieses merkwürdige Gefühl von Schwerelosigkeit.
***
Über Hamburg war der Himmel hellblau und leicht verwaschen. Thomas dehnte seine Arme und ließ den
Kopf in den Nacken fallen. Bei diesem Wetter wurden die Hamburger schon ekstatisch — jedenfalls
hatte Fady das mal gemeint. Dauergrau mit Regen war wohl eher der Normalfall.
Thomas stieg in den Mercedes mit den abgedunkelten Fensterscheiben, die das bisschen Himmelblau sofort schluckten. Der Wagen war so perfekt gefedert, dass er von der Fahrt kaum was spürte,
der schnurrte ab wie frisch geölt. Thomas zog die neueste Version seiner Songtexte aus der Tasche,
die ihm Sony frühmorgens ins Hotel gefaxt hatte. Im Tonstudio arbeiteten sie am Arrangement, da
gab’s dann immer noch kleinere Änderungen — und morgen sollte er schließlich schon den ersten Titel
für sein Album aufnehmen. Um seinen Magen herum ballte sich jede Menge ruheloser Energie zusammen, aber mit den Aufnahmen hatte das weniger zu tun. Als Thomas die Faxblätter auseinanderfaltete, wusste er gleich, dass das momentan keinen Sinn hatte. Null Konzentration.
Erstmal kam jetzt die Talkshow bei Kerner. Und Fady. Du bist doch bescheuert, sagte Thomas sich
selbst, komm mal runter. An seiner leicht übersteuerten Vorfreude änderte das allerdings gar nichts.
Klar, er freute sich auch, wenn er seine Eltern und seine Freunde in Recklinghausen wiedersah —
wenigstens für einen Blitzbesuch hatte die Zeit endlich mal gereicht — aber mit keinem von denen
hatte er nur halb so oft telefoniert. Was einfach daran lag, dass er in letzter Zeit mit niemandem so
reden konnte wie mit Fady, der ihn meist schon verstand, bevor er einen Satz zu Ende gebracht hatte.
Schließlich wusste Fady ganz genau, wie sich DSDS von innen anfühlte, was einem in diesen Momenten
mörderischer Spannung so alles durch den Kopf zuckte — und er hörte zu wie kaum jemand sonst.
Mittlerweile hatte Thomas das Gefühl, dass er Fady absolut alles anvertrauen konnte. Obwohl sie sich
erst seit’n paar Monaten kannten.
Der Wagen stoppte so sanft ab, als wäre er in einen Watteberg gefahren. Thomas steckte die
ungelesenen Songtexte weg. Und dann wieder rein in ein Fernsehstudio, wieder in die Maske. Nur saß in
dem einzigen schon besetzten Stuhl nicht Fady, wie er halbwegs gehofft hatte, sondern ein älterer
Herr, dem gerade noch die knittrige Stirn gepudert wurde. Offenbar einer der anderen Gäste bei
Kerner.
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„Hallo Thomas!“ Ganz aufgeräumt streckte ihm der Mann die Hand entgegen und stellte sich mit
Graf von Neuhaus oder so ähnlich vor. „Ich weiß schon, wer Sie sind,“ fügte er hinzu, „aber leider erst
seit gestern aus dem Internet.“
„Naja, Deutschland sucht den Superstar ist eben nicht jedermanns Sache, muss ja auch nicht
sein.“ Thomas schüttelte dem Herrn, der sich wahrscheinlich lieber beim Musikantenstadl entspannte,
die Hand. „Ehrlich gesagt würd’ ich auch Beklemmungen kriegen, wenn mich jetzt plötzlich jeder kennt.“
Er warf einen kurzen Blick über die Schulter zur Tür. Warum war Fady nicht hier?
„Was werden Sie uns denn heute zu Gehör bringen?“ fragte der Graf.
Eine ältere Visagistin mit Haarknoten winkte Thomas energisch auf seinen Platz vor dem Spiegel.
„Meine erste Single — ohne viel Begleitung oder so, nur mit E-Gitarre.“ Das hatte er erst unterwegs
erfahren, aber okay, inzwischen konnte er Love Is You bestimmt im Tiefschlaf trallern. Viel wichtiger war
schon, dass Fady auch ’ne Chance bekam, live zu singen. Seit er aus Mallorca zurück war, arbeitete er
einen ganzen Stapel an Angeboten und Interview-Anfragen durch, aber das Wichtigste war jetzt, dass
ihn eine Plattenfirma unter Vertrag nahm und rausbrachte. Möglichst Sony BMG. Thomas hatte
schon ein paar vielversprechende Gerüchte aufgeschnappt, aber selbst dran drehen konnte er ja kaum,
schließlich war er bei Sony nur’n ganz kleines Licht. Und Fady würde das ohnehin nicht wollen.
„So, Sie sind fertig.“ Die Visagistin tippte ihm auf die Schulter.
„Schon?“ Thomas drehte sich zur Seite, aber der Graf von Neuhausen hatte sich in Luft aufgelöst.
Oder irgendwas stimmte mit seinem eigenen Zeitgefühl nicht. Im Spiegel konnte er sehen, wie sich die
Tür langsam öffnete, und war im gleichen Moment auf den Beinen.
„Hey, Thomas.“ Fady stand vor ihm, fertig geschminkt und gestylt, aber Thomas konnte jetzt keine
Rücksicht drauf nehmen, ob er irgendwas wieder durcheinander brachte.
„Mann, du siehst —“ klasse aus, oder sowas in der Art hätte er vielleicht gesagt. Nur hatte er Fady
da schon an sich gezogen — oder Fady ihn, das ging schneller als jeder Gedanke — und zwar so fest,
dass an Loslassen erstmal nicht zu denken war. Thomas schloss die Augen als Fadys Hände über
seinen Rücken hoch zu seinen Schultern glitten. Das fühlte sich an wie aus einem Traum rausgeplatzt
— fremd und vertraut zugleich und total unglaublich.
„Alles klar?“ murmelte er dicht an Fadys Nacken, und weil er Fady gerade so eng an sich drückte,
konnte er spüren, wie sich sein Brustkorb spannte, als er Luft holte.
„Ist schön dich zu sehen.“ Fady löste sich langsam von ihm, lehnte sich zurück und strahlte ihn mit
diesem unwiderstehlichen Lächeln an.
„Naja, wurd’ auch mal Zeit, oder?“ Thomas ließ seine Hände zu Fadys Taille runterrutschen, aber
richtig loslassen wollte er immer noch nicht. „Und nun kommen wir gleich zusammen ins ZDF.“
„Bist du aufgeregt?“ Fady legte eine Hand mitten auf seine Brust, direkt über seinen Herzschlag.
Jetzt schon. Thomas lächelte ihn an, weil er gar nicht anders konnte. „Na, geht so. Und du?“
Fady zuckte leicht die Schultern und wandte seinen Blick nicht eine Sekunde ab.
„Also, wenn ich die Wiedersehensfreude mal einen Moment stören darf,“ kam schließlich die Stimme
der Visagistin dazwischen, die Thomas so total vergessen hatte, als wäre sie’n Stück Wand. „Sind Sie
sicher, dass sie mit diesem Hemd ins Studio gehen wollen?“
Erst dachte Thomas, sie meinte sein schlabbriges Skull Dall-Shirt, das nicht bei allen Leuten
wirklich gut ankam, aber sie hatte es tatsächlich auf Fadys Hemd abgesehen. Das hatte so ein
Nadelstreifenmuster auf dunklem Grund und lag ziemlich eng an.
„Wieso, ist etwas falsch?“ fragte Fady. Leider zog er gleichzeitig auch seine Hand weg.
„Wir nennen das Interferenzmuster,“ erklärte ihm die Dame, „weil so schmale Streifen genau auf der
selben Frequenz liegen wie das Videosignal, und das gibt dann im Fernsehen einen gewissen Flimmereffekt. Haben Sie vielleicht schon mal gesehen.“
„Also ich find das Hemd cool,“ mischte sich Thomas ein. Jetzt, wo er sich einen Moment nahm, um
mal den ganzen Fady zu betrachten, statt ihm nur die Luft abzudrücken, war cool kaum der richtige
Ausdruck. Elegant vielleicht, oder einfach... sexy. Die Haare trug er jetzt auch wieder kürzer und
glatter.
„Das ist gar nicht die Frage,“ meinte die Visagistin etwas angesäuert. „Aber die Zeit reicht ohnehin
nicht, Sie noch mal umzuziehen. Sie müssen in fünf Minuten kamerafertig sein.“
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„Interferenzmuster!“ brummelte Thomas, als sie sich auf den Weg ins Studio machten. „Die hat
Probleme!“
Fady lachte und schüttelte den Kopf. „Jetzt ich bin nervös!“
Dafür gab’s aber gar keinen Grund. Als sie schließlich in diesen sonderbaren Sesselboxen vor
Kerners Pult saßen, wirkte Fady so charmant und souverän, als machte er das täglich. Neben ihm
fühlte sich Thomas so wohl in seiner Haut wie schon lange nicht mehr. Richtig viel hatte er für so’n
Interview mit gehobenem Anspruch ja nicht zu bieten — nur die üblichen Facts zu seiner Platte, zu
Dieter Bohlen und DSDS —, aber immerhin kam er jetzt nicht mehr so leicht ins Stottern und Zögern
wie früher.
Völlig platt war er allerdings, als Fady seinen Superstar-Titel mit den Worten kommentierte, er sei
eben ein Super-Mensch. Alles, was Thomas dazu noch einfiel, war schnell eine Hand ausstrecken — um
Fady wenigstens mit so’ner kurzen Geste zu zeigen, wie sehr ihn diese Bemerkung berührte. So
großzügig konnte einfach nur Fady sein. Der lächelte ihn mit seinen tiefbraunen Augen an, während
das Publikum noch klatschte, und sagte leise: „Es stimmt doch!“
Als Fady dann zum Micro ging, um nochmal Highway to Hell zu singen, konnte Thomas schon gar
nicht mehr dran denken, dass das alles vor ’ner Million Zuschauer ablief. Die Ton-Aussteuerung war
alles andere als perfekt, aber trotzdem kroch ihm ein sanfter Schauer den Rücken runter. In Fadys
Stimme lag so viel Kraft, so viel... Körper, das konnte niemanden kalt lassen. Außerdem hatte er immer was leicht Tänzerisches in seinen Bewegungen, das fiel Thomas jetzt zum ersten Mal richtig auf.
Knapp nach 18 Uhr war die Aufzeichnung dann auch schon vorbei.
„Ich hab jetzt noch’n paar Termine, aber heute abend hätt’ ich frei,“ sagte Thomas, als sie
zusammen durchs Foyer schlenderten. Nach einigem Hin und Her hatte er das mit seinem Management so abgeklärt, dass er noch über Nacht in Hamburg blieb und dann den ersten ICE nahm, um
pünktlich im Tonstudio in Berlin zu erscheinen. „Wollen wir uns vielleicht später treffen?“
„Ah, ich dachte du musst weiter sofort!“ Fady blieb stehen, und sein Gesicht bekam einen
merkwürdig verschlossenen Ausdruck. Nach Begeisterung für diesen Vorschlag sah das nicht gerade
aus. „Das ist... schade. Ich hab eigentlich ein Verabredung, heut Abend.“
„Ach so, naja,“ nuschelte Thomas. In seiner Magengrube zog sich plötzlich alles zusammen. Warum
zum Teufel hatte er überhaupt nicht mit der Möglichkeit gerechnet, das Fady vielleicht schon andere
Pläne hatte?
„Ich kann aber sehen, ob sich das zu verschieben lässt.“ Fadys Blick war nachdenklich, als
versuchte er, irgendwas in Thomas’ Gesicht zu lesen. Wahrscheinlich stand da ENTTÄUSCHUNG in lauter
grellen Leuchtbuchstaben.
„Nur wenn du willst,“ meinte Thomas sofort, „ich hätt’ ja auch schon früher fragen können, kein
Problem.“ Sehr überzeugend bekam er das allerdings nicht raus.
Fady schüttelte den Kopf. „Ich kläre das, und dann ich ruf dich an, ja?“
„Ja klar, okay.“ Thomas warf einen knappen Blick durch die dicken Glastüren nach draußen, wo sich
offenbar eine ziemliche Menschentraube angesammelt hatte. Weiter hinten parkte schon der schwarze
Mercedes, um gleich mit ihm zum nächsten Interview zu rasen. Trotzdem umarmte er Fady noch mal,
wenigstens kurz. „Dann bis später... oder eben am Telefon.“
***
Die nächsten beiden Stunden zogen sich verdammt in die Länge. Nach einem Fototermin im Innenhof
von Radio Hamburg ließ sich Thomas auf eine Bank vor dem Springbrunnen fallen, wo das Wasser aus
asymmetrisch gekrümmten Stahlrohren plätscherte. Kurze Pause, dann noch ein letztes Interview für
heute. Warum hatte Fady sich noch nicht gemeldet?
Thomas zog sein Handy raus — Fehlanzeige. Keine SMS, keine verpassten Anrufe. Nun bleib mal
cool... Er strich mit dem Daumen über das dunkle Display. Schließlich stand in drei Tagen sein Auftritt
im Dome an, und dank RTL würde Fady auch dabei sein. Allerdings mitten in einem Gewühl von Bands,
Star-Gästen und Kamerateams. Danach war an einen entspannten Abend ohne Publikum und Blitzlicht bestimmt nicht zu denken.
Unruhig rieb Thomas seine Handflächen aneinander. Was er wirklich wollte, war einfach mal ohne
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Zeitdruck mit Fady zusammen sein, reden... Und dann? Bis heute Nachmittag hatte er sich da
überhaupt keine Vorstellung gemacht. Aber wenn er jetzt dran dachte, wie Fady zur Tür rein gekommen
war, geriet sein Puls völlig aus der Spur. Nur diese Erinnerung, wie sie sich sofort um den Hals gefallen
waren, wie’s sich anfühlte, Fady in den Armen zu halten —
Stop. Mal kurz den Rückwärtsgang einlegen. Thomas stand mit einem Ruck auf und ging ein paar
Schritte um den Springbrunnen herum, der von der anderen Seite genauso verkorkst asymmetrisch
aussah. Merkste endlich, was da abgeht?
Vielleicht hatte er’s auch gar nicht merken wollen. Aber jetzt, wo ihm die Erinnerung elektrisiert auf
den Leib rückte, war’s mit dem Blind-Stellen auch vorbei. Wenn die Visagistin nicht mit der Debatte
über Fadys Hemd angefangen hätte, hätte er bestimmt nicht so schnell wieder losgelassen. Spürte
jetzt noch, wie Fadys Hand mitten auf seiner Brust lag, als hätte sich diese Berührung eingebrannt.
Thomas atmete langsam durch. Jetzt war wohl echt der Punkt erreicht, wo er mal eins und eins
zusammen zählen sollte. Die Wahrheit ins Auge fassen wie’n erwachsener Mensch. Musste ja sonst
keiner wissen.
Fady hatte eine Wirkung auf ihn, wie er das überhaupt nur von Frauen kannte.
Ach Quatsch — Fady ist vielleicht schwul, aber ich doch nicht!
Über diese pubertäre Panikreaktion musste Thomas schon im nächsten Moment selbst grinsen. Es
gab genug Leute, die waren bi und merkten das früher oder später... oder manchmal eben sehr spät. Im
Leben ging’s meist nicht so glatt gebügelt zu wie in der Theorie. Ganz rational betrachtet hatte er
keine Ursache, auf einmal an sich selbst zu zweifeln.
Schließlich war er als Teenager auch auf den ein oder anderen Sänger abgefahren. Okay, das war
nicht ganz das gleiche, aber außer der tollen Stimme gab’s immer einen besonderen Kick, so jemanden
auf der Bühne zu sehen, wie der sich bewegte, ihm vielleicht sogar mal die Hand zu schütteln. Solche
Konzerte hatten was von ’nem Rausch, Rhythmus bis ins Becken und ein Dauervibrieren im Zwerchfell.
Und wie sein Kumpel Torsten immer meinte: Musik ist wahrer Sex, das kannste gar nicht trennen.
Thomas wanderte zur Bank zurück, setzte sich wieder hin. Und wenn er nun auf Fady stand...
Schließlich hatte er ihn sogar schon mal geküsst.
Bei dem Gedanken flimmerte es ihm plötzlich im Magen. Komisch, seit sie regelmäßig telefonierten,
hatte er diesen kleinen Zwischenfall irgendwie aus seinem Gedächtnis ausgeklammert. Aber er brauchte jetzt gar nicht weiter in dieser Erinnerung rumzustochern: wenn sich die Chance ergab, würde er
bestimmt wieder genauso —
Thomas hielt für einen Moment die Luft an. In seiner Brust spannte sich so’n diffuses Gefühl von
Sehnsucht, drehte sich im Kreis und trieb seine Pulsfrequenz hoch. Dass Fady zufällig ein Mann war,
war echt nicht das Schlimmste. Das Warten, das war momentan kaum auszuhalten.
Gegenüber ging jetzt eine Tür auf, und seine blonde Begleiterin vom Management stakste in ihrem
neongrünen Blazer über den Innenhof. Im selben Moment — als hätte dieses pausenlose Wünschen doch
was geholfen — meldete sich endlich sein Handy. War zwar nur eine SMS, aber die kam von Fady.
Wann hast du Zeit? Sag mir wo ich dich treffen soll. F.
Thomas starrte sekundenlang nur auf das Display und dachte nicht drüber nach, wann sich
Erleichterung zum letzten Mal so atemberaubend angefühlt hatte. Aber dann dehnte sich sein Brustkorb endlich wieder aus, und alles um ihn herum fühlte sich weit offen an. Wie ein Versprechen.
***
V. HAUTNAH
Die Hotel-Lounge war in gedämpftes Licht getaucht, das von ein paar niedrigen Glastischen
abstrahlte. Noch von der Tür aus landete Thomas’ Blick sofort bei Fady, der am anderen Ende des
Raums auf einer Ledercouch saß und eine Zeitschrift durchblätterte. Klarer Fall von Magnetismus.
Jetzt immer mit der Ruhe... Als er auf Fady zuging, schaltete Thomas einen krausen Gedanken
nach dem anderen ab. Keine Ahnung, wie das jetzt weitergehen sollte, aber da gab’s auch nichts zu
planen. Einfach mitten in die Gegenwart reinfallen lassen und dann eben weitersehen. Sich nicht zuviel
anmerken lassen, das kriegte er meist ganz gut hin.
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„Hey, hast du schon lange gewartet?“
Fady trug jetzt Jeans und ein ärmelloses schwarzes T-Shirt, was mindestens genauso... ansprechend aussah wie seine Aufmachung in der Talkshow. Und dieses Lächeln, mit dem er zu Thomas
hochsah, war — umwerfend, gelinde gesagt. „Gar nicht. Zehn Minuten, vielleicht.“
„Wollen wir was essen gehen?“ Thomas streckte eine Hand aus und zog Fady zu sich hoch, das ging
wie von selbst, ein lockerer Griff aus der Hüfte. „Ich hatte heute Mittag mal’n Burger, aber das war’s
dann auch schon.“
„Dann musst du jetzt aber nachholen.“ Es kam Thomas deutlich so vor, als ob Fady seine Hand ein
bisschen länger festhielt als nötig — aber vielleicht war das nur Wunschdenken. „Weißt du wo?“
„Das Restaurant hier soll gar nicht schlecht sein.“
Also wanderten sie zusammen durch den dunklen Frühstücksraum ins Restaurant auf der
Rückseite des Hotels, wo zwar noch Betrieb war, aber nicht gerade Massenandrang. Thomas steuerte
einen leeren Tisch in einer Fensterecke an, ließ mal kurz seinen Blick über die anderen Gäste schweifen.
Anzugmenschen mit Zeitungen — wahrscheinlich Businessleute, die selbst um diese Uhrzeit noch die
Börsenkurse studieren mussten —, ein älteres Paar, das sich mit Sekt zuprostete. Nur an einem Tisch
saßen zwei jüngere Frauen, die vielleicht Anschluss suchten. Insgesamt kein großes Risiko, dass Fady
und er gleich erkannt wurden.
Sie bestellten beide noch vor dem Essen Rotwein. Thomas streckte die Beine von sich, nahm einen
ersten Schluck. „Jetzt erzähl mal, wie sieht’s denn nun aus mit deinem Plattenvertrag?“
„Ich darf noch nichts sagen...“ Fady hatte wieder diesen verschmitzten Ausdruck, und seine Augen
glitzerten.
„Mir schon, mir darfst du alles sagen!“ protestierte Thomas.
„Also gut...“ Fady lehnte sich zu ihm über den Tisch und senkte die Stimme. „Sony BMG will ein
Album mit mir machen!“
„Na super! Noch ein Grund zum Feiern!“ Thomas stieß sein Glas an Fadys. „Wusst’ ich doch, dass
Qualität sich durchsetzt.“
„Und was ist der andere Grund?“ fragte Fady.
„Na, unser Wiedersehen...“ Fast wäre Thomas dabei noch rot geworden, aber dann quatschte er
einfach weiter. Sowas lernte man ja beim Fernsehen. „Wann gehst du denn ins Studio? Und wann
kommt die Single raus?“
Fady erzählte ihm alles, was er wissen wollte, und gab dann noch ein paar Geschichten vom DSDSWiedersehenstreffen auf Mallorca zum Besten. Dass sich Benni endlich mal geschämt hatte für seinen
peinlichen Spruch über schwule Klamotten. Dass aus Lorenzo inzwischen eine Fünfhunderprozentfrau
geworden war und aus Didi Knoblauch ein ziemlich normaler Mann, der jetzt eine Tonlage tiefer sang.
Wie Lisa Bund sich alle Mühe gab, nicht Gift und Galle zu spucken, wann immer ihr Linda ins Visier kam,
und dann früh morgens voll bekleidet im Pool landete — aber geschubst haben wollte sie keiner.
Inzwischen war ihr Essen da, und Thomas musste aufpassen, dass er sich nicht beim Lachen verschluckte. Fady erzählte das alles so lebhaft und so komisch, das war reines Entertainment. „Mann,
ich wünschte ich wär dabei gewesen! Hier war’s nicht halb so lustig.“
Aus dem Augenwinkel bemerkte er, wie drei Tische weiter die beiden jungen Frauen ihre Köpfe
zusammensteckten und verstohlen rüberblickten. Die saßen nun schon ziemlich lange da und tranken
inzwischen mit Sicherheit den fünften Cappuccino.
„Aber es macht dir doch auch Spaß, oder?“ fragte Fady. „Bist du glücklich?“
Das klang nun mit einem Mal so ernst, dass Thomas ihn überrascht ansah. „Na sicher...“ Diese
Frage verdiente allerdings mehr als die spontane Standardantwort. „Also manchmal macht mich
dieses Gewusele um mich herum ganz schön nervös, und manchmal bin ich selbst ’n bisschen
überdreht. Das ist alles so wie — keine Ahnung, Karneval als Dauerzustand! Dann wünsch’ ich mir, es
wär jemand da, der mich wieder runterholt und mit dem ich ganz normal reden kann.“ Er stoppte ab,
sprach’s dann aber doch aus. „So wie du.“
Statt einer Antwort streckte Fady einfach die Hand aus und berührte seine. Nur kurz, aber so
sanft, dass es Thomas prickelnd den Arm hochlief. „Ich möchte immer da sein für dich.“
Also das war definitiv nicht nur Wunschdenken, so wie Fady ihn jetzt ansah. Thomas saß plötzlich
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ein kleiner Kloß im Hals. „Ich, also — danke. Das hat mir echt viel bedeutet, dass ich immer mit dir
reden konnte... Auch wenn ich dich ’n paar mal aus dem Schlaf gerissen hab.“
„Hast du nie.“ Fadys dunkle Augen blitzten herausfordernd.
„Flunker mal nicht.“ Thomas grinste ihn an. „Hab’s ganz genau gemerkt.“
„Du glaubst mir nicht?“ Fadys gespielte Empörung war bühnenreif. „Ich habe dich nicht schlafen
lassen mit mein Gequassel! Und jetzt dein Essen wird noch kalt, weil ich dich abhalte. Iss!“
Irgendwie hatte er selbst es geschafft, all diese Stories zu erzählen und seinen Teller trotzdem
abzuräumen. Obwohl ihm das Essen momentan eher gleichgültig war, machte sich Thomas über seine
Nudeln her. Ein paar mal, als er kurz hochsah, hatte er den Eindruck, als wäre Fady ’n bisschen angespannt und mit den Gedanken woanders, aber in seinem Tonfall war nichts davon zu hören.
„Ich fahre in ein paar Tagen in den Libanon, zu meinen Eltern,“ erzählte er. „Für eine Woche.“
„Ey, du warst doch gerade erst im Urlaub!“ Thomas zwinkerte ihm zu und schüttelte den Kopf.
„Aber ich gönn’s dir ja, und deine Familie freut sich bestimmt ’n Bein ab.“ Trotzdem musste er
unwillkürlich daran denken, dass mit dem täglichen Telefonieren dann bestimmt erstmal Essig war.
„Ich denke es ist mein letzte Chance, noch mehrere Tage aus Deutschlang weg zu sein,“ sagte Fady.
„Wenn meine Single erst herauskommt, werde ich fast so beschäftigt sein wie du jetzt.“
„Mach dich auf was gefasst!“ Thomas prostete ihm mit seinem letzten Schluck Wein zu. „Dann
hast du den Stress, und ich ruh mich mal aus.“
Fady lachte. „Das ist nur gerecht, oder?“
Inzwischen waren sie beim Nachtisch, und das Restaurant hatte sich schon merklich geleert.
Trotzdem drehte irgendwer hinter der Bar die Musik lauter. Bisher war nur das typische Hotelgedudel
aus den Lautsprechern gequollen, irgendwo zwischen synthetischem Wohlfühlen und Einlullen, aber
jetzt spielten sie plötzlich Incubus.
Love hurts, but sometimes it’s a good hurt, and it feels like I’m alive. Love sings...
Thomas summte den Song ein paar Takte lang mit. So verdammt lebendig wie jetzt fühlte er sich
sonst nur auf der Bühne, so völlig eins mit sich und jedem Moment.
Die zwei Frauen saßen mittlerweile vor leeren Cappuccino-Tassen und eine von beiden spielte
unauffällig an ihrem Handy herum. Aber eigentlich war ihnen Thomas ganz dankbar, denn sie machten’s
ihm leichter, seinen Mut zusammenzunehmen. Er nickte mit dem Kopf kurz in deren Richtung. „Sag
mal, wie wär’s wenn wir auf mein Zimmer hoch gehen, ich würd’ mich ganz gern ungestört unterhalten.“
Das war auch die reine Wahrheit, ohne alle Hintergedanken: er wollte einfach nur noch mehr Zeit mit
Fady verbringen. Obwohl’s jetzt schon halb elf durch war. Bestimmt würde das Restaurant auch bald
dicht machen.
Fady lehnte sich einen Moment lang zur Seite und blickte zum Fenster raus. „Ja,“ sagte er dann
langsam, „lass uns gehen.“
„Okay.“ Thomas winkte dem Kellner, der hinter der Bar herumwippte und Gläser ins Regal sortierte.
„Das geht aufs Spesenkonto von meinem Management.“
Kaum waren sie auf dem Weg zum Fahrstuhl kurbelte sich sein Herzschlag schon wieder hoch.
Naja, wünschen und hoffen. Und ihm fiel gleich alles wieder ein, was Fady letztens am Telefon dazu
gesagt hatte. Bloß jetzt nicht zuviel denken. Zuviel —
Alles eben. Der Fahrstuhl öffnete sich mit ein paar stotternden elektronischen Klängen als hätte
er Schluckauf.
„Da wären wir...“ Im dritten Stock stieß Thomas nach einigem Gefummel mit der Schlüsselkarte seine
Zimmertür auf und tastete nach dem erstbesten Schalter. Eine Stehlampe warf blassgelbes Licht
durch einen Stoffschirm mit Troddeln. Das künstliche Aroma von irgendeinem Raumspray lag in der
Luft.
Während Fady noch die Tür hinter ihnen schloss, ging Thomas quer durchs Zimmer. Frei atmen
können war jetzt mit das Wichtigste. „Ich mach mal die Balkontür auf...“
Balkon war’n bisschen zuviel gesagt, man konnte so eben einen Schritt nach draußen machen, aber
immerhin lag sein Zimmer nicht zur Straße. Hinter Grünflächen dehnten sich die Tennisplätze vom
Rothenbaum aus, und die Luft roch nach frisch gemähtem Rasen.
Fady trat neben ihm ans Balkongitter. „Hamburg in der Nacht!“ Lächelnd schüttelte er den Kopf.
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„Man sieht nichts.“
„Nee...“ Allerdings war das Thomas momentan herzlich egal, sein Blick klebte ohnehin an Fadys
Profil. „Ich hab auch noch kaum was von der Stadt mitbekommen. Nur einen Blick auf die Alster hatt’
ich heute vom Auto raus.“
„Wenn du wieder hier bist und hast mehr Zeit, ich zeige dir die Stadt,“ schlug Fady vor. „Es gibt
schöne Spaziergänge um die Alster. Mir gefällt Hamburg wie kein anderer Platz.“
„Klar, das machen wir bei nächster Gelegenheit,“ sagte Thomas sofort. „Is’ schließlich auch deine
Stadt.“
„Jetzt, ja...“ Fady beugte sich vor, lehnte sich mit beiden Armen auf die Brüstung. „Als ich hier bin
angekommen in Deutschland, war ich erst wie verloren. Ich dachte niemals wird das sein ein Zuhause.“
„Kann ich mir kaum vorstellen, wie das ist. Ich war noch so klein als wir aus Polen weg sind, dass ich
mich gar nicht mehr richtig dran erinnern kann.“
Als Fady jetzt in die Dunkelheit schaute, ganz still und versunken, war ihm die Einsamkeit dieser
ersten Zeit immer noch anzumerken. Thomas legte ihm eine Hand auf den Rücken — das war völlig
unüberlegt, weil’s ihm um nichts anderes ging, als diese Erinnerung irgendwie von Fady abzuschütteln.
Aber als Fady sich dann aufrichtete und zu ihm hindrehte, wollte Thomas die Hand nicht gleich wieder
wegziehen. Stattdessen schob er sie zu seiner Schulter hoch. So dicht, wie sie voreinander standen,
konnte er Fadys Körperwärme spüren wie einen Sonnenschatten.
„Das muss ganz schön schwer für dich gewesen sein,“ murmelte Thomas.
„Aber ich habe viel gelernt. Es war auch... aufregend.“ Plötzlich schwang in Fadys Stimme sowas
mit, als ging’s nicht mehr nur um den Sprung vom Libanon nach Hamburg und all die Veränderungen,
die da mit dran hingen. Sein Blick jagte Thomas einen kurzen Adrenalinschauer ins Blut und löste
jeden halbwegs vernünftigen Gedanken in bloße Spurenelemente auf.
Also gab er einfach einem blinden Impuls nach und zog Fady in eine feste Umarmung — atmete erst
wieder aus, als sich Fadys Arme um seinen Rücken schlossen — und roch die Nachtluft, den leichten
Geruch von Shampoo in Fadys Haaren. Ihn nur so festzuhalten, das reichte schon, das fühlte sich an,
als wär’ er aus irgendeinem fensterlosen Raum mitten in die Sonne gestolpert. .
„Ich kenn echt niemanden, der so mutig ist wie du.“
„Das bin ich gar nicht,“ flüsterte Fady. Seine Handflächen streiften sacht zu Thomas’ Schulterblättern hoch, und trotzdem wurde diese Umarmung nur noch enger. „Nicht so, wie ich gern wäre.“
„Glaub ich nicht...“ Thomas schluckte. Sein Mund war plötzlich trocken und sein Kopf leer, von Mut
konnte bei ihm sowieso keine Rede sein. Aber irgendwas musste er jetzt tun, sonst gab’s gleich
irgendwo einen Kurzschluss.
Er senkte den Kopf, berührte mit den Lippen vorsichtig Fadys Wange. In jedem Nerv vibrierte soviel
Spannung, da war’s schon fast nicht mehr möglich, seine Bewegungen zu steuern. Der Hauch von
Fadys Atem glitt warm über sein Gesicht. Thomas ließ den Kopf noch ein bisschen sinken, merkte im
selben Moment erst, wie nah sich ihre Lippen dabei kamen, und hatte doch keine Ahnung, wie über diese
paar Millimeter wegzukommen war. Aber dann schlossen sich Fadys Finger um seinen Nacken, Thomas
ließ die Augen zufallen und das letzte bisschen Abstand verschwand ganz einfach.
Zuerst war’s mehr Atem als Berührung, völlig schwerelos. Fadys Mund an seinem, die leichte
Bewegung, als sich seine Lippen öffneten — und dann fuhr’s Thomas wie ein kurzer Stromstoß durch
den ganzen Körper. Nur eine Spur mehr Druck genügte schon, und es wurde ein richtiger Kuss,
vielleicht noch’n bisschen unsicher, aber unwiderstehlich warm. Fadys Lippen fühlten sich weich und
fest zugleich an und drängten sich sanft an seine.
Gott. Mit einem Stoßseufzer zog Thomas ihn noch dichter zu sich ran, legte den Kopf etwas
schräg, bis es sich einfach perfekt anfühlte — Fadys Mund bewegte sich an seinem, mit ihm, und er
umschloss mit einer Hand Fadys Kinn. Endlich endlich endlich sang’s ihm in den Nerven.
Schon im nächsten Moment geriet sein Puls ins Schlingern, denn Fadys Zunge streifte an seiner
Unterlippe entlang. Thomas gab ihm nach und sich selbst auch, drang ein kleines Stück vor bis er
Fadys Zunge an seiner spüren konnte, ihn immer wieder einholte. Daraus wurde ein langsames, sanftes
Gleiten, das ein Funkeln in all seine Nerven spülte. Sein Atem flog in diesen Kuss hinein, vertiefte sich,
während Fadys Hand über seine Rippen streifte, die sich immer mehr ausdehnen wollten. Luft,
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Atemholen. Er sah in Fadys Augen und bekam verdammt weiche Knie — oder merkte das vielleicht erst
jetzt, während ihm das Herz bis in die Kehle pochte.
Er wollte überhaupt nichts anderes mehr als Fady küssen — von mir aus die ganze Nacht lang,
dachte Thomas noch — und im nächsten Moment tat er genau das. Fady hielt ihn mit einem Arm um
die Taille geklammert; die Finger seiner anderen Hand streichelten Thomas’ Gesicht, vom Kiefer hoch
bis zur Schläfe. Diese leichten Berührungen fühlten sich an, als hätte er schon mal davon geträumt.
Seine eigenen Hände wanderten über Fadys Rücken nach unten, spürten der Spannung in seinen
Muskeln hinterher bis zu seinen Hüften. Nie hatte er sich das träumen lassen, dass er irgendwann mal
einen anderen Mann so anfassen wollte, aber jetzt gab’s nur noch Fady, der sich ihm mit der selben
Kraft entgegendrängte bis ihre Oberschenkel aneinander gepresst waren und jede kleine Bewegung wie
eine sanfte Welle durch Thomas’ Körper ging. Er fuhr mit seiner Zunge tiefer in Fadys Mund, spürte ein
heftiges Prickeln im Unterbauch, je leidenschaftlicher diese Küsse wurden. Zwischendrin merkte er
auch, dass er Fady ans Balkongitter gedrückt hielt — hoffte nur, dass das nicht zu unbequem war,
denn aufhören konnte er einfach nicht.
„Thomas...“ flüsterte Fady direkt an seinen Lippen, schob ihn schließlich ein kleines Stück von sich
weg.
Thomas öffnete langsam die Augen, lehnte seine Stirn an Fadys. Konnte erstmal gar nichts sagen.
Die kühle Nachtluft auf seinem erhitzten Gesicht kam wie aus ’ner anderen Welt. Sein Atem ging viel zu
laut.
Aber dann tauchte Fadys Blick unter seinem weg, und auf Thomas’ Schulter krampfte sich seine
Hand zusammen. Vielleicht ging ihm das alles plötzlich zu weit. Oder er suchte selbst nach Worten.
Thomas schluckte — keine Ahnung, ob er jetzt’n zusammenhängenden Satz rausbringen konnte.
Aber irgendwas in seinem Hinterkopf war ohne sein Zutun schon vorwärts marschiert und kam ihm
über die Lippen noch bevor er’s richtig kapiert hatte. „Kannst du — kannst du heute Nacht vielleicht
hierbleiben?“
***
VI. ANDERERSEITS
Kaum waren die Worte raus, biss Thomas sich fast auf die Zunge. Das musste ja so klingen, als wär’ er
auf einen schnellen One-Night-Stand aus — aber seine Gedanken verhedderten sich bei dem Versuch,
noch irgendeine Erklärung abzugeben. Fadenriss.
Fady lehnte sich zurück gegen die Brüstung, seine Hände rutschten über Thomas’ Arme nach unten
weg. Von einem Moment zum anderen wirkte sein Gesichtsausdruck verschlossen und so voller Anspannung, dass es sich Thomas kalt in der Magengrube zusammenballte.
„Ich muss dir etwas sagen...“ Fady hob den Kopf, um ihm direkt in die Augen zu sehen, seine Stimme
zitterte leicht. „Es ist — es gibt schon jemand in meinem Leben.“
Ein Streifen Licht aus dem Hotelzimmer schimmerte auf seiner Wange, der Rest seines Gesichts
lag in tiefen Schatten. Thomas starrte ihn an. „Und das sagst du mir jetzt?“
Sein Magen zog sich zusammen wie kurz vor’m Absprung ins Bodenlose. Ihm war’s nicht mal
ansatzweise in den Kopf gekommen, dass Fady nicht mehr solo sein könnte, trotz der BILD-Story
damals. Wie vernebelt konnte man eigentlich sein? Thomas verschränkte die Arme — hauptsächlich,
damit sein Magen Ruhe gab — aber das half auch nicht wirklich.
„Dann hätten wir wohl besser nicht — also war das alles ’n Versehen, oder was?“ Er wollte sich
wegdrehen, bloß weg.
„Warte.“ Fady packte ihn am Handgelenk, mit viel mehr Kraft als Thomas erwartet hätte, und hielt
ihn fest. „Hör mir zu, bitte. Es ist kompliziert.“
Thomas holte tief Luft. Kompliziert war das letzte, was er jetzt noch verarbeiten konnte. Der
Fluchtreflex saß ihm in den Knochen wie ’ne verhakte Sprungfeder. Aber da war schließlich noch mehr:
Fadys Finger um sein Handgelenk, die sich langsam etwas lösten ohne loszulassen, genau an seinem
Puls. Die Art, wie Fady ihn jetzt ansah, als könnte er ihn nur mit diesem Blick festhalten, irgendwie zur
Ruhe bringen. Und schließlich war Fady immer noch sein Freund — da war zuhören wohl das Mindeste.
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„Okay. Schieß los.“ Das klang ziemlich schroff, aber mehr bekam er im Moment einfach nicht hin.
„Ich bin schon ein ganze Zeit mit ihm zusammen.“ Trotz Fadys ruhigem Tonfall merkte Thomas ganz
genau, wie er nach Worten rang. Der französische Akzent kam wieder stärker durch, wie immer, wenn
Fady unter Stress stand. „Aber es ist nicht mehr so... im Anfang haben wir gedacht, es ist alles
perfekt, aber —“ Mit seiner freien Hand vollführte Fady eine flattrige Geste.
Thomas zuckte mit den Schultern. An seinem Handgelenk bewegten sich Fadys Finger ganz leicht,
und diese Berührung reichte jetzt schon aus, dass er mit dem Verstand nicht mehr hinterherkam.
„Es hat sich so sehr verändert.“ Fady schluckte. „Du bist... ganz anders als er.“
„Ja, zum Beispiel bin ich nicht schwul!“ Thomas machte sich mit einem Ruck los und wollte einfach
nur abhauen — bis ihm wieder einfiel, dass es schließlich sein Hotelzimmer war. Und dieser Spruch war
mit Sicherheit das Idiotischste, was er überhaupt hätte sagen können. „Scheiße!“
Fady hatte die Augen geschlossen und beide Arme vor den Körper gepresst.
„Tut mir leid, das war total daneben.“ Trotzdem brauchte er jetzt ’ne Pause, Abstand, wenigstens
ein paar Meter. Mit langen Schritten ging Thomas ins Zimmer und ließ sich aufs Bett fallen.
Ich hab schließlich angefangen. Er starrte zur Decke hoch. Wahrscheinlich hatte er Fady total
überrumpelt, aber andererseits —
„Okay.“ Thomas stützte sich auf den Ellenbogen hoch. Was gerade in Fadys Kopf vorging würde er
sich in tausend Jahren nicht zusammenreimen können. „Red’ mit mir, sag mir was los ist.“
Einen Moment lang stand Fady noch unbeweglich am Balkongitter, dann löste er sich mit einem
Ruck und kam ins Zimmer. Blieb wieder stehen, den Blick zu Boden gerichtet.
Wenigstens bin ich hier nicht der Einzige, der nicht mehr weiter weiß... Thomas fuhr sich durch die
Haare. So wie Fady jetzt da stand, konnte er die Hochspannung selber spüren wie einen Schraubstock
um die Brust. Das war wie in den letzten Minuten vor der Entscheidung beim Finale, als Fady erst
seine Hand umklammerte und sich dann im letzten Moment losriss, weil’s unerträglich wurde.
„Fady, setz dich mal hin... und red mit mir.“ Seine Stimme klang verdammt rau. „Ich will’s echt
verstehen.“
Die ganze Zeit hatte er gedacht, dass er Fady ziemlich gut kannte, dass der ihm genauso viel von
sich erzählte wie er umgekehrt. Aber jetzt fühlte sich das alles plötzlich hohl an — er fühlte sich hohl,
als wär’ in seiner Lunge statt Luft nur noch Vakuum. Naja, ich bin halt total überflüssig. Als Freund
und auch sonst. Die Matratze wippte unter ihm, als sich Fady neben ihn setzte.
„Ich wusste nicht, ob ich heute hierher kommen soll...“ Fady stockte wieder, presste die Handflächen gegeneinander. „Und ob du — aber dann ich hab gedacht, wir sind so... wir sind so nah als
Freunde, und das ist auch alles, was du willst.“
„Hab ich auch gedacht,“ murmelte Thomas, „bis heute Nachmittag etwa.“
„Bisher es gab kein Grund, dir das zu erzählen,“ sagte Fady. „Es ist — weißt du, wenn es in einer
Beziehung Probleme gibt, ich finde nicht, dass andere das wissen sollen. Das ist so...“
„Unloyal?“ Thomas beobachtete ihn von der Seite. Vorgebeugt, die Finger ineinander verhakt, saß
Fady da als brauchte jedes Wort volle Konzentration. Oder ’ne Kraftanstrengung. Aber immerhin, an
diesem Punkt konnte Thomas seine Reaktion soweit nachvollziehen.
„Ja.“ Fady atmete hörbar aus. „Man liebt ein Menschen nicht nur, wenn alles gut geht. Aber es ist
nun schon lange nicht mehr...“ Seine Stimme schwankte, und Thomas konnte den Schmerz darin so
klar hören als gäb’s eine direkte Verbindung zu diesem quälenden Druck in seiner eigenen Magengrube.
Trotzdem sprach Fady jetzt weiter. „Es dauert eine Zeit, bis man versteht, wie anders alles geworden
ist. Es gab kein Streit zwischen uns oder so. Aber dann kommen Nächte, wenn du allein schlafen
möchtest, immer häufiger. Oder du sagst nicht mehr, was du denkst...“
Fady zog die Schultern hoch, rieb sich nervös die Narbe unter seinem rechten Auge, und Thomas
hatte das sichere Gefühl, dass er beim besten Willen nicht noch mehr preisgeben konnte. Immerhin
kamen seine eigenen Gedanken allmählich auf ’ne halbwegs geradlinige Spur. Er gab sich selbst einen
Ruck.
„Hör mal, du musst mir das nicht alles erzählen.“ Da gab’s noch eine Privatsphäre in Fadys Leben,
von der er bisher nicht mal was geahnt hatte. Die Fady aus Rücksicht auf seinen Freund unbedingt
schützen wollte. Eigentlich hatte er überhaupt kein Recht, sich da einzumischen.
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„Ich möchte aber, dass du weißt...“ Fady drehte den Kopf zu ihm rüber, seine Stimme klang völlig
gepresst. „Es ist so viel passiert, das ich jetzt nicht alles erklären kann. Aber wir sind immer noch
zusammen, wie Brüder jetzt mehr, und ich dachte auch, es geht so...“
„Das kenn’ ich,“ murmelte Thomas. Es hatte schon seine Gründe, warum er ausgerechnet mit
Fairytale Gone Bad bei DSDS angetreten war. Und wenn er Fady da so sitzen sah, total verkrampft
und am Ende mit seinem Latein, kam die Erinnerung in ihm hoch wie lauter Schwaden abgestandener
Luft.
Man war noch zusammen ohne genau zu wissen, warum eigentlich, und dachte lieber nicht drüber
nach. Nur tief nachts kam plötzlich der Gedanke an Trennung wie’n Befreiungsschlag, wie endlich
wieder frei atmen können. Aber bei Tageslicht sackte man ganz schnell zurück in die liebe Gewohnheit,
die Trägheit, denn eigentlich gab’s keinen klaren Grund für den ganzen verdammten Trennungsstress.
Und man sagte sich immer wieder: Das hat doch mal gepasst, war doch mal gut, irgendwie müssen wir
da nur wieder rankommen...
„Ich weiß nicht, wie es weitergeht,“ sagte Fady langsam. „Er war auch immer mein bester Freund,
und ich will niemand verletzen.“
„Ich auch nicht, Fady.“ Thomas schob sich ein Stück hoch, um ihn besser ansehen zu können. „Und
wenn du meinst, ich wollte hier nur mal auf die Schnelle was Neues ausprobieren, dann liegst du total
falsch.“
Fady schüttelte heftig den Kopf. „Das habe ich nie gedacht.“
„Okay. Ich wollt’s nur klarstellen.“ Thomas richtete seinen Blick auf die offene Balkontür, den pechschwarzen Nachthimmel, als läge da irgendwo ein Ausweg. Er hatte jetzt ’ne ungefähre Vorstellung
davon, wie Fadys Beziehung aussah. Wie sich diese lähmende Enttäuschung anfühlte, wenn irgendwas
unwiederholbar verloren gegangen war und trotzdem keiner aufgeben wollte. Aber eins war auch klar: in
so’ner Lage war eine Affäre mit jemand anderem schlimmer als gar keine Lösung.
„Warst du schon mal —“ Thomas zögerte, fragte dann aber doch: „Warst du schon mal mit jemand
anderem zusammen, seit eure Beziehung so ist?“
„Nein,“ sagte Fady leise, „und er auch nicht. Aber wir haben davon gesprochen, dass es passieren
kann.“
„Und was ist dann wenn’s passiert?“
„Ich weiß es nicht,“ flüsterte Fady.
Thomas ließ sich aufs Bett zurücksacken. „Sorry, aber ich glaub nicht, dass ich den Lückenbüßer
spielen kann.“
„Das ist kein Lücke!“ Fady griff wieder nach seiner Hand. Seine Finger fühlten sich eiskalt an und
zitterten. „Das ist viel mehr... Du bist so wichtig für mich. Aber bis heute ich hab geglaubt, das ist für
dich ganz anders. Nicht wie für mich, nicht so —“
„Das wusst’ ich ja selbst nicht.“ Thomas drückte seine Finger und brauchte diese Berührung
plötzlich mehr als jeden vernünftigen Gedanken. Trotz allem. An der Zimmerdecke zeichneten sich die
großen Fenster und die Balkontür in grauen Rechtecken ab. „Und du bist mir auch wichtig... als Freund
und überhaupt. Ich hätte nur nie — also, wenn ich das alles gewusst hätte, dann hätt’ ich nie
irgendwas —“ Dämliches Gestotter. Was man tun konnte, ließ sich ja wohl auch aussprechen. „Ich hätt’
dich nie geküsst.“
„Und... tut es dir Leid?“
Vor’n paar Minuten hätte er wahrscheinlich ein wütendes ja, verdammt! abgeschossen. Und die
Moral-Abteilung in seinem Hinterkopf fand auch, dass es ihm gewaltig Leid tun sollte. Dass es jetzt
das Beste, das einzig Richtige wäre, so zu tun, als hätt’s diese Küsse nie gegeben.
„Nee, tut’s nicht.“
Thomas hielt die grauen Rechtecke im Blick, das einzig Klare im Moment. Fadys Geständnis hatte
überhaupt nichts geändert, nicht da, wo er’s fühlen konnte. Das reichte nicht hin bis zu dieser
verdammten Sehnsucht, mit der er Fadys Hand immer noch festhielt und sich wünschte —
„Ich hätte gern ’ne Chance gehabt. Dass wir rausfinden können, was das mit uns wird.“ Und zur
Hölle mit allem, das wollte er immer noch. Egoist war die einzig passende Bezeichnung. Aber jetzt nicht
ehrlich zu sich selbst zu sein, wäre noch schlimmer. Ohne drüber nachzudenken hatte er seinen Griff
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gelockert, streichelte mit zwei Fingern über Fadys Handrücken, als könnte sie das beide beruhigen.
„Sag mal, was —“ fing Thomas zögernd an. „Kannst du dir wirklich so’n Typen wie mich in deinem
Leben vorstellen?“
Diese Frage war eigentlich sinnlos, und bestimmt gab’s tausend Dinge, die Fady und seinen Freund
verbanden — Mode oder Kunst oder Paris und Libanon, oder eben eine von Fadys Dutzend Begabungen.
„Du weißt aber gar nichts!“ Fadys Tonfall war mit einem Mal so anders, so leidenschaftlich, dass
Thomas ihn einfach ansehen musste. Was wahrscheinlich ein Fehler war, denn Fadys Blick zog ihn zu
sich hin als läge nichts zwischen ihnen außer diesem halben Meter Luft.
„Ich habe mit dir gespürt, wie es ist, zusammen in der Musik zu sein,“ sagte Fady, „und immer hast
du mir Kraft gegeben und mir vertraut. Du hast nie etwas erwartet von mir, und einfach mich so
genommen, wie ich bin.“
„Das war ja auch überhaupt nicht schwer,“ murmelte Thomas.
Fady schüttelte den Kopf. „Es ist einfach, vielleicht, wenn man sich ähnlich ist. Aber wir beide, wir
sind sehr verschieden. Was ich in dir finde, ist alles neu... und schön.“
„Mann, Fady...“ Jedes Wort — und wie Fady das sagte, mit so viel unverhülltem Gefühl — ging
Thomas glatt ins Herz und breitete sich in ihm aus wie ’ne langsame Schwingung, die vom Bauch
hochsteigt. Wie der gespannte, kraftvolle Rhythmus aus diesem Song... Love hurts, but sometimes it’s
a good hurt... Er zog seine Hand weg und berührte Fady kurz an der Schulter. Sorry. Das ging so nicht
weiter, er konnte jetzt nicht einfach diesem kopflosen Wunsch nachgeben.
„Eins ich muss dir noch sagen.“ Fady straffte den Rücken als wäre er schon halb im Aufbruch. „Ich
habe ihm auch gesagt, dass ich zu dir gehe... dass ich bei dir sein will. Deswegen ich hab heute so lang
gebraucht dir die SMS zu schreiben.“
So war das also. Thomas ließ sich nach hinten aufs Bett fallen und rieb sich die Hände übers
Gesicht. „Und er hat dich gehen lassen? Das macht ihm nichts aus?“
„Natürlich es macht was! Aber...“ Fady machte ein fahrige Bewegung mit der Hand. „Es wird nichts
besser von Unehrlichkeit. Ich habe so lang gewartet auf ein Veränderung und alles, was ich konnte, hab
ich dafür versucht. Jetzt kann ich nicht tun, als fühle ich nicht, was in meinem Herz ist.“
Diese schonungslose Offenheit traf Thomas frontal, wirbelte seinen eigenen Herzschlag durcheinander. Unglaublich. Obwohl Fady ihm schon mal gesagt hatte, dass er ihn liebte — wenn auch nur
über diese wacklige Satellitenleitung und in einem Ton, als wär’s selbstverständlich. Aber das war’s
nicht. Es ging ums Ganze, um all das, was sich in den letzten Tagen bei ihm selbst hochgestaut hatte.
Thomas gab sich alle Mühe, aus seinen wirren Gedankengängen den einen rauszufischen, der den
Ausweg brachte. Nur drehten die sich immer noch im Kreis.
„Ich hab echt keine Ahnung, was ich jetzt machen soll,“ sagte er schließlich. „Ich würd’ gern das
Richtige tun.“ Aber nach allem, was er jetzt wusste, gab’s den einen richtigen Weg eben nicht.
Fady beugte sich über ihn und berührte sein Gesicht, kurz und vorsichtig. „Und was willst du?“
Seine Stimme, sein Atem waren Thomas so nah, dass er die einzig mögliche Antwort wie einen
Schauer auf der Haut spüren konnte. Er schüttelte stumm den Kopf.
„Soll ich gehen?“
Diese einfache Frage war wie’n Schnitt durch die Wirklichkeit. In einem Sekundenbruchteil konnte
Thomas fühlen, wie das sein würde — die Nacht hier wach zu liegen, an die Decke starren, während sich
jeder Gedanke, jedes Gefühl nur um diesen abgebrochenen Anfang drehte. Diese elend kalte Leere lag
ihm noch immer im Magen.
Wenn nicht jetzt, wann dann? In den nächsten Wochen war sein Terminkalender so voll, dass einem
schwindlig davon werden konnte. Und bei Fady würde das demnächst nicht anders aussehen.
Irgendwas in die Zukunft zu verschieben hatte keinen Sinn. Und vielleicht gab’s ja überhaupt keine.
Thomas stützte sich hoch und legte Fady eine Hand um den Nacken, zog ihn langsam an sich, bis
er seine Stirn an Fadys lehnen konnte. Es gab nur diese Nacht, nur Jetzt oder Nie, weiter konnte er
nicht mehr denken. „Bleib hier. Ich kann jetzt nicht... ich kann dich jetzt nicht gehen lassen, auch wenn
ich’s wahrscheinlich sollte.“
Er schloss die Augen als Fady einen Arm um seine Schultern schlang, und in seinem Brustkorb
lösten sich ein Dutzend Spannungsknoten mit einem einzigen tiefen Atemzug. „Mann, ich brauch dich...
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hier bei mir... nicht am Telefon oder sonstwo.“
Damit war dieses bleischwere Zögern endlich vorbei. Seine eigene Entscheidung stand fest,
glasklar, und mehr konnt’ er jetzt nicht machen. Auch wenn das alles Konsequenzen haben würde. Die
musste er dann eben durchstehen, nur würd’s für ihn bestimmt nicht halb so schwierig werden wie
für —
„Fady...“ Er strich sacht über die kurzen, weichen Strähnen in Fadys Nacken. „Bist du echt sicher?
Bin ich überhaupt so’n Risiko wert?“
Fady hob den Kopf nur einige Zentimeter, dann streifte sein Mund Thomas’ Oberlippe. Sein Blick war
völlig offen. “Was meinst du, warum ich bin hier?“
***
VII. FLUG
Weißt du wirklich, was du da machst? Thomas warf seinem Spiegelbild einen schrägen Blick zu,
während er sich die Zahnpasta aus dem Mund spülte. Schleuderte seine Klamotten über den Wannenrand und zog das ausgeleierte blaue T-Shirt über, das er meist zum Schlafen trug. Er hatte ohnehin
ins Bad gemusst, und dieses bisschen Normalität half gegen das blödsinnige Flattern in seinen
Nerven.
Nee, weiß ich nicht, aber ich werd’s schon rausfinden. Nach diesem endlos langen Tag hätte er
eigentlich müde sein müssen wie’n ausgewrungenes Handtuch, stattdessen fühlte er sich fast
hyperwach.
Als er aus dem Badezimmer kam, hatte Fady eben seine Jeans über einen Stuhl gelegt und stand
jetzt wie er selbst in T-Shirt und Shorts da. Im Zimmer war’s dunkel, so dass Thomas seinen Gesichtsausdruck bestenfalls ahnen konnte. Fady sah kurz zu ihm rüber und schlug dann die Bettdecke
zurück, um sich hinzulegen.
Nun steh’ hier nicht rum... Mit langsamen Schritten bewegte sich Thomas aufs Bett zu, fühlte sich
eher wie’n Schlafwandler. Erst als er schon auf der Bettkante saß, fiel ihm auf, dass er das Licht im
Bad angelassen hatte. Ein schmaler gelber Streifen drang noch in den Raum, aber er hatte jetzt
wirklich nicht den Nerv, noch mal rüberzugehen. Also streckte er sich auf der Seite neben Fady aus —
Platz war ja genug, momentan blieb noch verdammt viel Abstand zwischen ihnen — und sah ihn nur an.
So langsam gewöhnten sich seine Augen an das Halbdunkel... und Fady wirkte genauso unsicher wie er
selbst sich grad fühlte.
„Du musst nicht denken...“ Fady senkte die Stimme. „Also, wir müssen gar nicht —“
— in genau dem Moment, als Thomas eine Hand nach ihm ausstreckte. „Komm her.“
Das war leichter als er geglaubt hätte: Fady an sich ranzuziehen, ihn einfach in den Arm zu nehmen
bis er ihn am ganzen Körper spüren konnte. Nur diese Nähe.
„Ich weiß...“ murmelte Thomas. „Dass wir nichts müssen und so.“ Es ging nur ums Wollen, und davon
steckte ihm jede Menge in den Knochen.
Fady streichelte seine Schulter, mehr zur Beruhigung als sonstwas, und an seinem unregelmäßigen Atem konnte Thomas genau merken, dass er wirklich nervös war. Er fuhr mit den Fingerkuppen über Fadys Rücken, ein Stück die Wirbelsäule runter und dann wieder zum Nacken hoch. Spürte
ein kurzes Kribbeln auf der eigenen Haut, wie einen verqueren Echo-Effekt, bis seine Hand an Fadys
Gesicht lag. Dann drehte Fady leicht den Kopf und streifte Thomas’ Handfläche mit seinen Lippen.
Thomas blieb einen Moment lang der Atem weg. Aber er brauchte sich nur ein paar Zentimeter zu Fady
runterzubeugen, dann lag Fadys Mund schon an seinem, als gäb’s nichts einfacheres. Und nichts, was
sich richtiger anfühlen konnte...
Thomas ließ die Augen zufallen, streichelte Fadys Gesicht und streifte mit den Fingern durch seine
Haare, während er ihn so küsste — langsam erst, aber schon beim nächsten Atemzug mit etwas mehr
Druck, weil sich Fadys Lippen jetzt für ihn öffneten und er alles auf einmal in sich aufnehmen wollte.
Jede kleine Bewegung von Fadys Mund an seinem, wie Fadys Wimpern an seiner Haut kribbelten, und
wie ihm jedesmal ein kurzes Flackern durch die Nerven ging, wenn Fadys Zunge mit seiner spielte —
absolut alles.
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Aber irgendwas war auch anders als vorhin, auf dem Balkon — da war diese sonderbare Spannung in
seiner Brust, die sich nur ganz allmählich löste und sich dann wie flirrende Wärme immer weiter
ausbreitete — während Fady seinen Nacken umklammerte und sein eigener Atem immer schneller ging.
Vielleicht war’s eine Art Nachbeben von all den Erschütterungen vorhin, oder einfach nur’n Gefühl, das
er schon zu lange links liegen gelassen hatte. Was er wirklich wollte, hatte nur zum Teil mit Sex zu
tun... wahrscheinlich zum geringeren Teil.
Thomas holte tief Luft, löste sich kurz und legte seine Hand auf Fadys Brust, wo er dicht unter
dem Knochen jeden einzelnen Herzschlag spüren konnte. „Was würd’ ich jetzt hier ohne dich machen...“
Fady schüttelte wortlos den Kopf und hielt seine Hand fest. Ich bin hier. Ganz einfach. Thomas
beugte sich über ihn und strich mit dem Daumen über seinen Wangenknochen, erwiderte diesen
konzentrierten Blick, in dem noch so viel Schatten lag. Morgen früh würde wahrscheinlich nichts mehr
einfach aussehen, aber das war alles so weit weg wie das nächste Jahrtausend.
Er rollte mit Fady zur Seite als sie sich wieder küssten, ineinander verhakt und verschlungen und
mittlerweile mit ziemlich viel Hautkontakt. Ziellos und auch ’n bisschen unbeholfen fühlte sich das an,
aber Thomas hatte im Moment sowieso keine klare Vorstellung davon, was er eigentlich vorhatte —
außer Fady festzuhalten. Bis diese Küsse immer drängender wurden und er einfach irgendwas tun
musste.
„Fady...“ Thomas küsste ihn atemlos auf den Mundwinkel. „Wahrscheinlich hast du’s schon gemerkt,
aber ich war noch nie... mit’m Mann zusammen.“ Immerhin bekam er das noch klar raus, wenn auch
ohne viel Stimme. „Also... wenn ich irgendwas falsch mache, sag’s mir, okay?“
„Es kann aber nicht falsch sein,“ flüsterte Fady zurück, „gar nichts.“
Thomas nickte langsam und konnte nur hoffen, dass er Recht damit behielt. „Trotzdem... gib mir
mal ’ne kleine Orientierungshilfe.“
Fady ließ sich auf den Rücken sinken und lächelte — dabei lag ein Glänzen in seinen Augen, ganz
wach und vielleicht etwas überrascht. Er nahm Thomas’ Hand und legte sie an den Saum seines TShirts, das über seinem Bauch schon ein Stück hochgerutscht war. „Ich möchte deine Hände fühlen,
auf meiner Haut.“
Nur wie er das sagte brachte Thomas’ Puls schon wieder ins Schleudern. Er schob eine Hand unter
Fadys T-Shirt hoch und den Stoff gleich mit. Seine Handfläche fühlte sich rau an auf Fadys Haut,
aber im nächsten Moment war das vergessen, denn er konnte sich nur noch auf eins konzentrieren. Wie
sich Fadys Bauchdecke spannte, diese eindeutig männliche Mischung aus sanften Linien und trainierten Muskeln, der Rhythmus seines flachen Atems... Ihn nur so zu berühren reichte überhaupt nicht
aus, um das alles richtig zu begreifen.
Also rutschte Thomas etwas nach unten und fuhr mit den Lippen über Fadys Bauch, während seine
Hände höher glitten, bis zum Ansatz seiner Rippen, wo Fadys Herzschlag jetzt am deutlichsten zu
fühlen war. Wie ein gedehnter, dunkler Trommelschlag, dem er einfach nur folgen musste.
Thomas presste seinen Mund auf diese Stelle, seine Hände waren ihm schon ein Stück voraus. Er
fuhr mit dem Daumen über eine Brustwarze, spürte ein leichtes Zittern und wie sich Gänsehaut genau
da ausbreitete, wo sein Mund jetzt über Fadys Rippenbögen wanderte. Also schob er sich etwas höher
und strich mit der Zunge um Fadys Brustwarze, saugte ganz vorsichtig — und dann etwas stärker —
Fadys heftigen Atemstoß fühlte er dabei mehr als er ihn hörte. Seine Hände legten sich um Fadys
Brustkorb, packten etwas fester zu als Fady sich unter ihm bewegte. Dabei schlug ihm selbst das
Herz bis zum Hals.
Um kurz Luft zu holen hob Thomas den Kopf und vergaß das mit dem Atmen beinah, weil jetzt so
viele ungebremste Empfindungen über Fadys Gesicht flogen. Seine Finger spielten noch mit Fadys
Brustwarzen — unglaublich fühlte sich das an, wie Fady auf jede seiner Berührungen reagierte. Auf
Thomas’ Lippen und Zunge lag der leichte Salzgeschmack feuchter Haut. Er drückte einen Kuss in die
kleine Grube zwischen Fadys Schlüsselbeinen, aber dann war wieder das T-Shirt im Weg. Thomas
stützte sich hoch — „Das muss jetzt mal weg...“ — und zog es ihm kurzerhand über den Kopf.
„Deins auch.“
Zwar ging das nicht, ohne vorübergehend loszulassen, aber einen Moment später war Thomas sein
schlabbriges Shirt auch schon los. Fady schlang beide Arme um ihn und drückte ihn an sich, holte ihn
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zurück in einen ziemlich atemlosen Kuss. Thomas gab dem Drängen seiner Zunge sofort nach — so viel
Haut an Haut, das ging ihm mit hundertfacher Beschleunigung in die Blutbahn. Er schob seinen
Oberschenkel zwischen Fadys Beine, hielt einen Moment den Atem an, während ein kurzer, rauer Ton
aus Fadys Kehle kam. Thomas hielt ihn an sich gepresst, spürte, wie Fady die Finger in seinen Haaren
vergrub. Was sich in seiner Bauchhöhle ausbreitete, fühlte sich an wie’ne unaufhaltsame BassSchwingung, pure Erwartung.
Seine Lippen streiften an Fadys Kiefer entlang, bis zu dem Punkt direkt unter seinem Ohr, wo die
Haut fast seidenweich war, glitten an seiner Kehle über den flatternden Puls. Fady drückte die
Schultern zurück, seine Hände strichen jetzt ruhelos über Thomas’ Brust, fassten schließlich seine
Hüften, um ihn noch enger an sich zu ziehen. Thomas drückte seine Lippen an die sanfte Beuge
zwischen Hals und Schulter und presste sich ihm entgegen. Ein Prickeln wie von Gewitterluft legte sich
überall auf seine Haut. Nichts von all dem hätte er sich je vorstellen können. Wie das war, einen
anderen Mann so zu berühren. Totales Neuland zu betreten.
Seine Hand streifte über Fadys Oberschenkel nach oben zu seiner Hüfte, glitt ein Stück nach innen,
aber dann stoppte er plötzlich ab. Als gäb’s irgendein eingepflanztes Warnsignal in seinem Kopf. Weiter
nur auf eigene Gefahr. Rückweg ausgeschlossen.
„Thomas...“ murmelte Fady. „Tu nichts, was du nicht willst.“
Seine Stimme ging wie ein Schauer über Thomas’ Haut, tief und ein bisschen rauchig, wie sie jetzt
klang. Verdammt, ich will ja. Er lehnte sich vor und küsste Fady leicht auf den Mund. „Is’ nur’n bisschen
ungewohnt.“
Und grinste dann über sich selber. Er benahm sich wirklich nicht wie’n dreißigjähriger Mann, der
schon so seine Erfahrungen gemacht hatte. Gefühlte fünfzehn, das kam hin. Bevor Fady ihn fragen
konnte, was er ausgerechnet jetzt komisch fand, küsste Thomas ihn gleich wieder.
Er schob seine Hand sanft über Fadys Shorts, spürte sofort seine Erektion, und wie Fady sich
anspannte, um jetzt bloß stillzuhalten. Ungewohnt war das wirklich — vor allem deswegen, weil sich die
bloße Berührung bei ihm selbst bemerkbar machte wie ein Trommelwirbel am Beckenboden.
Fady stöhnte auf, als er seine Hand langsam bewegte, und Thomas lief es heiß den Rücken runter.
Was immer da eben in seinem Kopf Alarm geschlagen hatte, war definitiv erledigt. Er konnte Fadys
Erregung jetzt so direkt spüren wie seine eigene, als flögen ununterbrochen elektrische Impulse
zwischen ihnen hin und her. Fady drängte sich gegen seine Hand, und dieses letzte bisschen Stoff war
mit einem Mal furchtbar im Weg.
Mit etwas Gefummel zog ihm Thomas die Shorts von den Hüften, beugte sich wieder über ihn und
fing Fadys Keuchen mit seinen Lippen ab. Schloss seine Hand sanft um Fadys Erektion, um nicht doch
irgendwas falsch zu machen und nichts zu verpassen — unglaublich feine Haut über einem jagenden
Puls — außerdem zitterten seine Finger jetzt auch ein bisschen. Immerhin fühlte er sich überhaupt
nicht komisch dabei, das war alles gar nicht so fremd, sondern einfach nur... Fady. Und im Moment
kam’s Thomas so vor, als wäre er noch nie einem Menschen so nah gewesen.
Fady hatte einen Arm um seinen Nacken geschlungen, seine andere Hand fuhr über Thomas’ Brust
und Bauch und zog überall kleine Hitzespuren. Zwischen stürmischen, offenen Küssen ging ihr Atem
immer schneller — Thomas wusste überhaupt nur noch halb, was er da eigentlich machte. Sein Puls
hatte sich auf reines Stakkato verlegt, und er presste sich unkontrolliert an Fadys Oberschenkel,
während er ihn so streichelte. Langsam den Druck erhöhte, seine Finger auf und ab gleiten ließ und
schließlich einen Rhythmus fand, der Fady dazu brachte, mit den Hüften immer wieder nach oben zu
stoßen.
„Thomas...“ Fady atmete heftig aus. „Du musst bitte jetzt aufhören sonst —“
Thomas konnte sich schon denken, was sonst — schließlich war der hitzige Druck in seinem eigenen
Becken mittlerweile auf Risikolevel angestiegen. Umso schwerer fiel’s ihm, sich jetzt zu bremsen. Fadys
Blick war leicht verschleiert, sein Gesicht gerötet, und Thomas war jetzt verdammt froh, dass das
Licht im Bad noch brannte — sonst hätte er diesen atemberaubenden Anblick glatt verpasst. Er
drückte einen Kuss auf Fadys sanft geschwungene Lippen und strich dann mit den Fingerkuppen
darüber.
„Mann, Fady... du bist...“ Thomas schüttelte den Kopf, Worte reichten da einfach nicht aus. „Total
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einzigartig, weißt du das? Ich könnt’ ewig so weitermachen.“
„Vielleicht du!“ Fady lachte atemlos. „Wie du mich berührst — das fühlt sich an wie...“ Seine Finger
streiften über Thomas’ Wange und zitterten ganz leicht. „Schöner als ich es sagen weiß.“
Thomas merkte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss, sah verlegen beiseite. Statt einer Antwort
küsste er Fadys Finger. Die völlige Offenheit, mit der Fady sowas aussprechen konnte, warf immer
noch jeden halbfertigen Gedanken aus der Bahn.
„Nur eins ist, das stört...“ flüsterte Fady und griff zielstrebig nach dem Bund seiner Shorts — „darf
ich?“ Schon im nächsten Moment machte er kurzen Prozess damit. Irgendwo neben seinen eigenen
Shorts landeten die von Thomas auf dem Boden.
„So das ist viel besser...“ Fady streckte sich aus und griff nach Thomas’ Schultern, zog ihn in einer
einzigen Bewegung ganz an sich, über sich. Seine Arme schlossen sich um Thomas’ Hüften. „Findest
du?“
Allerdings bekam Thomas im Moment nicht mehr raus als ein abgehacktes Keuchen. Er schob sich
näher an Fady, zwischen seine Oberschenkel, jeder Nerv in seinem Körper fing jetzt an zu summen wie
eine Hochspannungsleitung. Fady drückte seine Hüften nur ein Stück nach oben, aber das reichte aus
— eine Hitzewelle stieg Thomas aus dem Bauch hoch und kribbelte wie Sonnenbrand überall auf seiner
Haut. Blindlings suchte er Fadys Mund, küsste ihn ungestüm und hielt sich an seinen Schultern fest.
Vielleicht war’s einfach zu lang her, dass er sowas erlebt hatte, aber vielleicht war’s auch völlig neu.
Dieses total unkontrollierbare Verlangen und gleichzeitig ein Flimmern in seiner Brust, ein Gefühl wie
reiner Sauerstoff. Einen Augenblick lang fühlte er sich ganz benommen davon.
„Fady,“ murmelte er dicht an Fadys Lippen, „du weißt das, oder? Ich will nicht nur... das hier...“
Obwohl er sich jetzt beim besten Willen nicht erinnern konnte, wann sich Sex das letzte Mal so intensiv
angefühlt hatte.
„Ich weiß.“ Fadys Hände strichen sanft über seinen Rücken. „Das ist Körper, Herz und Seele, alles,“
flüsterte er. „Und das ich möchte jetzt teilen, mit dir...“
Für einen Moment schnürte sich Thomas die Kehle zu. Sagen konnte er nichts mehr, senkte nur den
Kopf und küsste Fadys Gesicht — diese kleinen Narben, die außer Fady niemand mehr sah — über die
Wange bis zum Ohr und wieder zurück zu seinem Mund. Alles in seinem Körper fühlte sich so grenzenlos
lebendig an, während sie sich miteinander bewegten als gäb’s irgendwo einen unaufhaltsamen Wellenschlag, der sie beide antrieb. Langsamer Rythmus, stoßweise Atmen. Thomas konnte fühlen, wie sich
jedesmal die Muskeln in Fadys Rücken dehnten, wenn er die Hüften nach oben presste — immer mehr
Reibung und Spannung, bis ihm bei jeder Bewegung Schauer über die Haut flogen.
Fady stöhnte in seinen Mund, warf schließlich den Kopf zurück, und dieser Anblick allein war beinah
schon zuviel.
„Fady...“ flüsterte Thomas heiser, „...ich halt das jetzt nicht mehr lange aus...“
Fadys Oberschenkel waren um seine Hüften gepresst, die Muskeln zitterten vor lauter Anspannung.
Irgendwie hatte Thomas das sichere Gefühl, dass Fady unbedingt auf ihn warten wollte. Nicht mehr
lange, dachte er noch, dann schob Fady eine Hand zwischen ihnen nach unten, fasste ihn nur ganz
leicht, aber das war mehr als genug. Thomas spürte nur noch Fadys Atem an seinem Ohr, wie er seinen
Namen flüsterte, bevor es ihn wegriss — das war nichts als ein Sog aus freigesetzter Energie und
lauter Licht, das ihm gleißend durch den Körper strömte.
Nur Fadys Stimme war immer noch bei ihm — keine Worte mehr, nur noch Klang — Fadys Hände, die
sich jetzt um seine Schultern verkrampften, ihn nach unten zogen, während er die Hüften ein paar mal
heftig hochstieß. Mit geschlossenen Augen hielt Thomas ihn fest, spürte jede von Fadys Bewegungen
in seinem eigenen Körper wie kribbelnden Nachhall, der nur ganz langsam verebbte.
„Thomas...“ Fadys Lippen berührten sein Ohr, dabei klang er genauso fassungslos wie sich Thomas
gerade fühlte.
Er legte seine Hände um Fadys Gesicht, küsste ihn durch diesen Nebel aus purem Staunen und
kompletter Erschöpfung und ließ schließlich seinen Kopf an Fadys Schulter fallen. Keinen Muskel mehr
im Leib, der sich noch irgendwie rühren wollte. Aber so gut sich das für ihn anfühlte, wahrscheinlich
bekam Fady gerade nicht mehr viel Luft...
Mit einem Stoßseufzer rollte Thomas sich langsam neben ihn, zog Fady mit sich, bis er dicht an
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seiner Seite lag. Völlig verschwitzt und ausgepowert lagen sie da, während ihre Atemzüge wieder länger
und ruhiger wurden. Es dauerte allerdings noch ’ne Weile, bis Thomas seine Stimme wiederfand.
„Hey... geht’s dir gut?“ Er drehte den Kopf so weit, dass er Fady in die Augen sehen konnte.
„Gut ist dafür kein Wort...“ Fady drückte ihm einen Kuss auf die Schulter. „Und du?“
„Ich glaub... ich hab grad rausgefunden, dass ich doch fliegen kann.“
Sowas sagte man wahrscheinlich nur, wenn man so total aufgewühlt und überwältigt war wie er
jetzt. Trotzdem kam’s der Sache einfach am nächsten. Am liebsten hätte Thomas laut gelacht, aber
dazu fehlte ihm immer noch der Atem.
Also streichelte er nur über Fadys Haare und ließ die Augen zufallen. Die ganze mitgeschleppte
Müdigkeit der letzten Tage senkte sich plötzlich auf seine Glieder wie zentnerschwere Sandsäcke. Er
wollte jetzt wirklich nicht so einfach wegpennen, aber das kam über ihn wie ’ne einzige graue Woge,
Widerstand war völlig zwecklos. Das Letzte, was noch in sein Bewusstsein drang, war, wie sich Fadys
Hand sanft über seinen Herzschlag legte.
***
VIII. NACHKLANG
{28.05. 2008, Hamburg.} Mitten in der Nacht wurde Thomas plötzlich wach. Im Zimmer war’s jetzt
vollständig dunkel, nur hinter den Fenstern blinkten weit weg irgendwelche verstreuten Lichter. Schon
im selben Augenblick meldete sich ein Prickeln unter seiner Haut, und lauter Erinnerung rauschte ihm
durchs Blut noch bevor sich ein vernünftiger Gedanke berappelt hatte. Aber eins wurde ihm schlagartig bewusst: Fady lag nicht mehr an seiner Seite. Und es war verdammt still.
Thomas drehte langsam den Kopf. Ein Stück neben ihm lag Fady mit offenen Augen auf dem
Rücken.
„Hey... du schläfst ja gar nicht.“ Er streckte eine Hand aus, strich mit den Fingerknöcheln über
Fadys Arm.
„Ich hab doch nicht dich geweckt, oder?“ Fady drehte sich sofort zu ihm hin. Es war jetzt wirklich zu
dunkel, um irgendwas an seinem Gesicht abzulesen.
„Alles in Ordnung mit dir?“ fragte Thomas sicherheitshalber.
„Natürlich.“
Das klang auch ganz überzeugend, aber Thomas wusste trotzdem nicht so recht, wo Fady in seinen
Gedanken gerade war und ob dieser Abstand zwischen ihnen irgendwas zu bedeuten hatte. In seinem
schlafbenebelten Zustand würde er’s ohnehin nicht erraten. Also schob er kurz entschlossen einen
Arm unter Fadys Nacken durch. „Wenn’s dir nichts ausmacht... ich möcht’ dich gern ’n bisschen näher
bei mir haben...“
„Ausmacht? Was meinst du?“ Schon im nächsten Moment lag Fady eng an seiner Seite, seine
Hand streifte an Thomas’ Kehle hoch zu seinem Gesicht.
„Hat sich schon erledigt...“ murmelte Thomas und war trotzdem erleichtert. Vielleicht sollten sie
drüber reden, was zwischen ihnen passiert war, was das bedeutete, aber seine Gedanken bewegten
sich unendlich träge. Wollten sich überhaupt nur damit beschäftigen, wie warm und vertraut sich
Fadys Körper an seinem anfühlte, während die Dunkelheit sich um sie legte wie weicher Stoff. Das alles
war gleichzeitig wie’n Traum und absolut real — und irgendwie mehr als beides. Seine Finger streiften
ziellos über Fadys Oberarm, aber die Gänsehaut bekam er selber.
Thomas drehte sein Gesicht zu Fady, der ihn aus nächster Nähe ansah. Sein Lächeln war gerade
noch so zu erkennen. Einen Augenblick zögerte Thomas noch — diesmal nicht aus Unsicherheit, sondern
wegen der Erwartung, die sich hochschraubte bis es ihm fast in den Nerven knisterte — und berührte
dann Fadys Lippen mit seinen. Weich und elektrisch ging ihm das unter die Haut, dieser langsame
Übergang von bloßer Ahnung zu ’nem richtigen Kuss, zu totaler, gedankenloser Nähe. Fadys Hand glitt
über seine Brust bis zur Bettdecke, stoppte dann aber plötzlich ab.
„Warum hörst du denn auf?“ murmelte Thomas. „Fühlt sich gut an...“
Fady stützte sich auf dem Ellenbogen hoch und küsste ihn auf die Stirn. „Du sollst schlafen,
deshalb... in ein paar Stunden du musst schon wieder aufstehen.“
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„Ach was...“ Thomas hob den Kopf und küsste ihn mit Nachdruck auf den Mund. „Schlafen kann ich
auch im Zug nach Berlin.“ Von der Zeit, die jetzt noch blieb, wollte er möglichst wenig verpennen. Sein
Körper war ohnehin schon wieder hellwach. „Außerdem...“
„Was?“ flüsterte Fady.
„Naja, ich will schließlich nichts verpassen...“ Thomas streichelte seinen Nacken und merkte, wie
Fadys Entschluss dabei ins Wanken kam. „Keine Sekunde.“
„Ich auch nicht...“ Fady beugte sich über ihn, küsste ihn langsam und innig, während seine Hand sich
weiter unter die Decke schob, an Thomas’ Seite entlangfuhr bis zu seiner Hüfte. Mit dem Daumen
strich er über Thomas’ Hüftknochen, wo plötzlich alle Nervenenden kribbelten und wirre Impulse in jede
Richtung schickten. Thomas holte knapp Luft, denn Fadys Mund glitt jetzt abwärts an seinem Kiefer
entlang und fand mit traumhafter Sicherheit die empfindlichste Stelle an Thomas’ Hals, dicht über
der Schulter. Thomas drückte die Schultern nach hinten und seufzte unwillkürlich. Das war als würde
er immer tiefer ins Bodenlose abtauchen, jeder Gedanke verschwamm dabei, und jeder Funken Energie,
den er noch im Leib hatte, konzentrierte sich da, wo Fady ihn gerade berührte. Kaum vorstellbar, dass
er je genug davon bekam.
Fady zeichnete mit der Zungenspitze langsame Kreise über seine Brust bis es Thomas kalt und
heiß durch die Adern rieselte. Ein Schauer nach dem anderen rann ihm über die Haut — er fühlte nur
noch Fadys Mund, seine Hände, überall — aber so langsam wurde ihm dabei auch klar, dass Fady sich
vorhin zurückgehalten hatte, ihn hatte machen lassen, damit er sich erstmal dran gewöhnen konnte.
Als sich Fady über ihn schob, atmete Thomas so tief und heftig aus, als hätte er nur darauf
gewartet, viel länger als er selbst wusste. Das fühlte sich an, als würde sich alles in seinem Körper
ausdehnen — und er brauchte jetzt nichts anderes mehr zu tun, als sich einfach treiben zu lassen.
***
Der hässliche Summton des Hotelweckers riss ihn aus dem Schlaf wie ein plötzlicher Aufprall. Thomas
wäre hochgefahren, nur lag Fadys Arm quer über seiner Brust, Fadys Kopf an seiner Schulter, und so
blieb’s bei einer ruckhaften Bewegung. Fady schlief jetzt wirklich tief und fest. Draußen wurd’s schon
hell, ein graues Dämmerlicht lag im Raum, und die Vögel krakeelten hinter der offenen Balkontür.
Thomas streichelte langsam über Fadys Arm und merkte, wie er nach ’ner Ausrede suchte, um
noch ein bisschen liegen bleiben zu können. Keine Chance. Sein Zug nach Berlin ging in anderthalb
Stunden, da blieb verdammt wenig Zeit. An Frühstück war ohnehin nicht zu denken. Ganz langsam
schob er sich von Fady weg, bis er sich aufsetzen konnte, stolperte dann ins Bad und machte erst das
Licht an, nachdem er die Tür zugezogen hatte.
Unter der Dusche kamen seine Gedanken allmählich in Gang, schlingerten kreuz und quer durch die
letzte Nacht. Aber er landete immer wieder an dem selben Punkt: Wie das jetzt weitergehen sollte, war
total unklar. Gestern Abend hatte er Fady gesagt, dass er ’ne Chance wollte, um rauszufinden, was
das alles werden sollte. Und die hatte er ja auch irgendwie bekommen...
Thomas rubbelte sich mit einem Handtuch die Haare trocken, zum Föhnen reichte die Zeit nicht,
aber er musste schließlich nur ins Tonstudio, nicht zu ’nem Foto-Termin. Immerhin weiß ich jetzt
genau, was ich will.
Mit Fady zusammen sein, so wie letzte Nacht, wo er mit jeder Faser seines Körpers gespürt hatte,
wie nah sie sich schon waren und wie viel weiter das noch gehen könnte... Wenn’s nach ihm ging, würde
sich Fady von seinem Freund trennen, nichts anderes stand dem ja im Weg.
Thomas schüttelte den Kopf, schmiss das Handtuch beiseite und warf sich einen kritischen Blick
im Spiegel zu. Mach mal halblang. Er konnte wirklich nicht von Fady verlangen, dass der jetzt seinetwegen gleich alles über den Haufen warf. Kein vernünftiger Mensch würde sowas tun. Mit etwas
Anstrengung versuchte Thomas sich vorzustellen, wie das für ihn ausgesehen hätte, wenn er Fady in
der Endphase seiner Beziehung mit Jenny kennengelernt hätte... Aber das war genauso zwecklos wie
Schrauben mit Glühbirnen vergleichen. Oder er hatte einfach nicht genug Fantasie.
Und was willst du jetzt machen? Thomas griff nach seinen Klamotten. Schließlich war nicht mal
klar, ob er überhaupt irgendwas tun konnte, außer planlos im Nebel rumstochern. Einfach auf Fady
vertrauen und abwarten, sagte er sich. Das sollte ja eigentlich nicht so schwer sein.
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Dabei fiel ihm wieder ein, wie sie zum Abschluss des Finales zusammen My Way gebracht hatten
und er abrupt einen totalen Aussetzer hatte — völlige Leere im Kopf und keine Ahnung mehr, was als
nächstes kam. Fady hatte das sofort gemerkt, hatte ihn da durchgelotst, als hätten sie schon
unzählige Male zusammen auf der Bühne gestanden. In diesen Momenten waren Fadys ruhiger Blick,
die kleine Bewegung, mit der ihm den Einsatz gab, seine einzige Orientierung.
Und Fady hatte nicht einen Augenblick gezögert, wär’ nicht im Traum drauf gekommen, Thomas
jetzt auflaufen und in einen monumentalen Patzer reinstolpern zu lassen, der ihn noch kurz vor
Schluss den Sieg hätte kosten können. Stattdessen wirkte Fady seinetwegen so angespannt, als
wär’s ihm selbst passiert. Obwohl er sich den Sieg ja genauso wünschte.
So muss das sein, genau so. Thomas drückte den Rücken durch. Was Fady selbst wollte, was ihn
glücklich machte, war jetzt eben wichtiger als seine eigenen chaotischen Vorstellungen. Er hatte noch
immer kein schlechtes Gewissen wegen der vergangenen Nacht. Aber er musste jetzt ’ne klare Haltung
zeigen, damit das alles für Fady nicht noch schwieriger wurde als es ohnehin schon war.
Als er ins Zimmer zurückkam, brannte die Lampe auf dem Nachttisch. Fady hatte sich hochgesetzt
mit einem Kissen im Rücken und blinzelte ihm verschlafen entgegen.
„Guten Morgen.“ Diesmal zweifelte Thomas keinen Moment daran, dass Fady ihn jetzt bei sich
haben wollte. Er setzte sich neben ihn auf die Bettkante und fuhr ihm über seine vom Kissen zerdrückten Haare. Ein paar Strähnen standen in alle Richtungen ab.
„Ich bin noch... in Schlaf,“ nuschelte Fady, nur sein Lächeln wirkte völlig wach.
„Dann bleib doch einfach noch liegen. Das Zimmer is’ schon bezahlt — und das Frühstück übrigens
auch. Ich hab dafür jetzt gar keine Zeit mehr.“
Fady schüttelte den Kopf, was wahrscheinlich heißen sollte, dass ihm das Frühstück egal war, und
rieb sich die Augen. „Musst du gehen jetzt gleich?“
„Ja, so ziemlich.“ Und damit wurde das plötzlich real — schon wieder so ein Abschied und dazu
dieses verdammt mulmige Gefühl im Bauch. „Ich würd’ gern noch bleiben, das kannste mir glauben.“
Statt zu antworten zog Fady ihn an sich. Thomas umarmte ihn lange und fest, sein Gesicht an
Fadys Schulter gedrückt, und atmete nur seinen Geruch ein. Fühlte, wie Fadys Herzschlag durch sein
Hemd drang. Und mit jedem Moment wurd’s schwerer, ihn wieder loszulassen.
„Fady...“ Er schluckte trocken, setzte sich auf, um Fady in die Augen zu sehen. „Ich werd’ dir keine
Fragen stellen oder so. Wie das jetzt mit — mit deiner Beziehung weitergeht, kann niemand außer dir
entscheiden, und ich will dir keinen Druck machen, okay? Also denk nicht, du musst mir darüber
Rechenschaft ablegen...“
Fady sah ihn zweifelnd an. „Und wie wird das sein für dich?“
„Das Einzige, was ich jetzt machen kann, ist abwarten.“ Klang leicht, würd’s aber nicht sein — das
war ihm jetzt schon klar. Er zuckte die Achseln und grinste Fady zu, um bloß keine Missverständnisse
aufkommen zu lassen. „Naja, dann mach ich das halt.“
„Wenn du bist sicher...“ sagte Fady langsam und sah dabei ziemlich unglücklich aus.
Nur meinetwegen. Thomas nahm ihn bei den Schultern, gab sich alle Mühe, jetzt nicht auch noch
so’n geknickten Eindruck zu machen. „Hey, du kennst mich doch!“
Durch Fadys Blick wirbelten lauter offene Fragen, nur lief ihnen jetzt endgültig die Zeit weg. Thomas
holte kurz Luft, umfasste Fadys Gesicht mit beiden Händen und beugte sich vor. Dafür musste Zeit
sein, wenigstens noch’n letztes Mal — und Fady kam ihm sofort entgegen, so dass aus diesem
schnellen Kuss zum Aufbruch doch ein langer wurde. Viel zu lang für’n entspannten Abschied und viel
zu kurz, um diese verdammte Sehnsucht zu bändigen. Fady küsste ihn mit soviel Gefühl, dass es
Thomas heiß und eng in der Brust wurde. Nur ganz langsam lehnte er sich zurück, ließ seine Hand von
Fadys Schulter nach unten sinken bis sich nur noch ihre Finger berührten.
„Ruf mich an,“ flüsterte Fady.
Thomas nickte und stand auf, wie ferngesteuert. Irgendwie war alles gesagt und nichts, jetzt gab’s
nur noch Warten. Und jede Menge Arbeit, in die er sich möglichst schnell stürzen sollte. Er griff nach
seiner Tasche, steckte das Handy ein. Vorwärts. Aber im letzten Moment, die Türklinke schon in der
Hand, warf er noch einen Blick über die Schulter. „Also... wir sehen uns dann Freitag in Bremen.“
Als er die Tür hinter sich zufallen ließ, ging’s ihm plötzlich wie ein Stich ins Herz. Am liebsten hätte
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er auf dem Absatz kehrt gemacht und Berlin, das Tonstudio, seine Plattenaufnahmen für heute
einfach gestrichen. Hoffnungslos unprofessionell, sowas.
Nee, hoffnungslos verliebt. Der Gedanke stoppte Thomas so abrupt wie quietschende Bremsen aus
nächster Nähe. Er stand vor dem Fahrstuhl und starrte sein verzerrtes Spiegelbild in den polierten
Türen an. Viel zu heftig, viel zu plötzlich, aber unbestreitbar. Mann, Fady... Er drehte sich noch mal um,
sah den Korridor runter zur Tür seines Zimmers. Am Ende des Gangs seifte eine Putzfrau schon eifrig
ein Fenster ab.
Thomas atmete langsam aus, bis sein Herzschlag wieder ein halbwegs normales Tempo annahm.
Jetzt gab’s ohnehin kein Zurück mehr.
***
IX. DRAUSSEN
{30.05. 2008, Bremen.} Im Backstage-Bereich des AWD-Dome war der Teufel los. Überall Presse, die
die Promi-Zone belagerte, überall Gesichter, die Thomas bisher nur aus’m Fernsehen kannte — so wie
jeder normale Mensch eben. Den ersten Fototermin und ein halbes Dutzend Kurzinterviews hatte er
schon hinter sich gebracht — wo immer er rumlief, stieß ihm ohnehin jemand ein Mikro vor den Mund —
und langsam fühlte er sich davon einigermaßen wirr im Kopf. Dabei stand sein Auftritt erst spät
abends an. Live, zum ersten Mal seit DSDS.
Er hätte gern mal ’ne Viertelstunde für sich gehabt, nur zum runterkommen, durchatmen, drauf
einstellen, aber da ging absolut nichts. Selbst in der Garderobe, die ihm und seiner Band zugeteilt
worden war, gab’s keine fünf Minuten Ruhe. Ständig lief irgendwer rein und raus, oder jemand riss die
Tür auf und machte Ansagen wie „RTL will noch mal den Durchlauf von hinten!“ Da wartete Thomas
lieber, bis jemand vom Management ihm das übersetzte oder ihn holen kam.
Immerhin hatte er auf dem Rückweg vom Klo nur zweimal die Frage beantworten müssen, wie er sich
fühlte. Und die Garderobe war momentan leer bis auf Torsten, der sich mit seinem Handy in eine Ecke
verzogen hatte, einen Finger ins freie Ohr gedrückt, um überhaupt was zu verstehen. Von draußen kam
ein Soundgemisch aus hektischen Stimmen und Trommelgedröhn.
Thomas winkte Torsten kurz zu und setzte sich auf einen harten Plastikstuhl. Trotz Riesenspektakel mit Medienaufmarsch strahlten die Garderoben etwa so viel Komfort aus wie die Umkleide in
jeder x-beliebigen Turnhalle. Große weiße Tische — Marke Abwaschbar — und eben diese reichlich
unbequemen Stühle. Das Einzige nicht so Turnhallenmäßige war der Obstteller auf dem Tisch, der sah
mehr nach Tierfütterung im Zoo aus. Sei lieber dankbar, dass du’n warmes Mittagessen bekommen
hast, sagte sich Thomas, das fiel schließlich oft genug aus.
„Ach, das ist doch Käse!“ sagte Torsten gerade ins Handy, „und — was? Ich versteh nix.“
Thomas grinste. War schon ein echter Lichtblick, dass er Torsten und Sebastian in der Band hatte.
Einen Draht zu anderen Musikern bekam man nicht von jetzt auf gleich, das lief erst recht nicht unter
Druck. Aber gestern beim Proben mit den beiden hatte sich was vom alten Wink-Feeling wieder eingestellt, das reduzierte seine Nervosität schon um ein paar Prozent.
Thomas griff nach einer Banane, da klopfte jemand an die Tür. Das war neu, bisher war noch jeder
hier reingestürzt als gäb’s die Kurzstreckenolympiade zu gewinnen. Als es zum zweiten Mal klopfte, rief
Thomas schließlich „Is’ offen!“ — und klappte dann den Mund mit Verzögerung wieder zu.
Mit Fady hatte er in diesem Moment überhaupt nicht gerechnet. Und auch nicht damit, dass sein
Puls sofort in die Höhe schoss, als müsste er jetzt den Kurzstreckenlauf gewinnen. Aber da war Fady
nun, schloss die Tür hinter sich, und sagte: „Wenn ich störe, ich komme später wieder.“
„Ach was, nee!“ Nach der ersten Schrecksekunde war Thomas schon auf den Füßen, wobei’s ihm
allerdings so vorkam, als würd’ er über Watte laufen. Fady lächelte ihn an — seine Augen strahlten
dabei am meisten — und im nächsten Moment hatte Thomas ihn schon im Arm. Er drückte Fady an
sich, schloss die Augen, alles andere war wie weggewünscht. Fady hielt ihn genauso fest, nur seine
Finger bewegten sich sanft über Thomas’ Schulterblätter. Endlich. Ein wirbeliges Hochgefühl flimmerte
in Thomas’ Nerven, aber darunter lag eine ganz tiefe Ruhe, als wär’ ein Gleichgewicht wieder hergestellt. Keinen Millimeter wollte er sich davon wegbewegen.
Aber schließlich musste er sich doch aufraffen, denn schon im nächsten Moment konnte wieder
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jemand reinplatzen und Fady die Tür in den Rücken rammen. Als er sich gerade aufrichtete, streiften
Fadys Lippen seinen Hals — das ging viel zu schnell, um drauf zu reagieren, aber ein paar Zündfunken
sprangen sofort über. Thomas atmete vorsichtig aus und streichelte Fady sanft über den Nacken,
bevor er endlich losließ.
„Ich hab vorhin schon mal nach dir Ausschau gehalten, ich wusst’ ja gar nicht genau, wann du
kommst.“ Thomas wedelte mit einer Hand in Richtung Tür. „Das is’n solches Chaos hier, ich hab da
total keinen Durchblick mehr.“
„Ja, ich hab auch ein Weile gebraucht dich zu finden!“ Fadys Blick schweifte kurz von ihm weg, in den
Raum hinein, und erinnerte Thomas daran, dass sie nicht allein waren.
Als er sich umdrehte, hatte Torsten sein aussichtsloses Telefongespräch beendet, klappte das
Handy mit einem entnervten Gesichtsausdruck zu und kam zu ihnen rüber. „Hi, Fady.“
Er war ein paarmal bei den DSDS-Shows dabei gewesen, aber richtig kennengelernt hatten sich die
beiden noch nicht.
„Das ist Torsten, der Mann am Schlagzeug,“ stellte Thomas ihn vor. „Wir kennen uns schon ganz
lange, musikmäßig und auch sonst.“
„Hallo.“ Fady gab ihm die Hand. „Das freut mich.“
„Ganz meinerseits,“ sagte Torsten grinsend.
Thomas beobachtete das Ganze fasziniert. Die beiden hätten kaum unterschiedlicher sein können,
das war fast so, als würden zwei Welten aufeinandertreffen, sein altes Leben und sein neues.
„Und, lassen sie dich auch was singen?“ fragte Torsten.
Fady schüttelte den Kopf. „Ich bin nur hier, Thomas zu unterstützen. Linda und Benni sind auch
gekommen, auf die Einladung von RTL.“
„Ach, sperren die euch nachher etwa auf die VIP-Tribüne?“ Torsten rollte die Augen und fing
Thomas’ fragenden Blick auf. „Haste das nicht gesehen, das Podest hinten in der Arena?“
Thomas erinnerte sich momentan nur schattenhaft. „Das is’ ja ganz am anderen Ende!“ Er legte
Fady einen Arm um die Schultern, das war reiner Reflex. „Hoffentlich kannst du da überhaupt was
sehen.“
„Wenn nicht, ich werde doch hören.“ Fady lächelte ihn an, dass es zum Luft-Anhalten war.
„Das mit Sicherheit! Der Sound ist mega-geil.“ Torsten grinste. „Sagt mal... wenn ihr allein sein
wollt, zum DSDS-Stories-Aufwärmen und so, kann ich auch’n Abstecher in die Kantine machen.“
Das war ohnehin nicht ernst gemeint, aber bevor Thomas drauf antworten konnte, ging auch die Tür
schon wieder auf. Sebastian kam mit einem der Tontechniker in die Garderobe, um in seiner Reisetasche nach einem der zwanzig bis dreißig Adapter zu kramen, die er immer mit sich rumschleppte. Die
beiden waren in ein Gespräch über schwergängige Regler vertieft. Fast auf dem Fuß folgte eine
Angestellte von Sony, die ein Fax loswerden wollte. Fehlte nur noch ein Kamerateam.
Thomas seufzte und zog Fady am Arm beiseite. Manchmal half Wunschdenken eben überhaupt
nicht. „So geht das schon den ganzen Tag. Auf der Bühne werd ich’s richtig ruhig haben dagegen!“
Fady lachte. „Ich glaube nicht! Da erst wirst du merken, wieviel Leute gekommen sind.“
„Na, auf jeden Fall wird hier noch die halbe Nacht die Hölle los sein...“ Thomas zuckte bedauernd die
Schultern. Nur die Leute vom Management hatten die Übersicht über seine Termine und wussten, wer
von der Presse unbedingt noch bedient werden musste bevor er irgendwann Feierabend machen konnte. „Also ich hoffe, wir sehen uns später nochmal!“
„Ich auch.“ Fady senkte die Stimme ein bisschen. „Ich bin froh, dass ich kommen konnte um das zu
teilen mit dir.“
„Und ich bin verdammt froh, dass du hier bist!“ Thomas fasste ihn noch mal kurz an der Schulter,
mehr ging jetzt nicht vor all den Leuten, er fühlte sich schon wie auf ’nem Präsentierteller in Dauerrotation. Außerdem konnte es viel zu leicht passieren, dass er doch noch den Kopf verlor, wenn er Fady
erstmal im Arm hielt.
Als Fady zur Tür raus war, setzte Thomas sich hin und las brav das Fax durch. Da ging’s um seinen
Auftritt bei Rock the Race in Oschersleben, aber bis auf’n paar Details stand nichts Neues drin.
Thomas ließ das Blatt sinken, seine Gedanken wanderten schon längst in eine andere Richtung — Fady
hinterher, wohin auch sonst.
30
Diese paar Minuten, die Fady hier gewesen war, hatten irgendwas Verrücktes mit ihm angestellt,
wie’n plötzlicher Energieschub war das. Naja, so soll das ja sein, wenn man verliebt ist... Thomas
grinste, schüttelte den Kopf über sich selbst und fing an, eine Banane zu schälen. Sonst würde ihn
bestimmt bald jemand fragen, warum er mit ’nem leicht weggetretenen Gesichtsausdruck die Tür anstarrte. Das war alles immer noch gewöhnungsbedürftig... diese kribblige Unruhe, die ihn manchmal
beim bloßen Gedanken an Fady überfiel, das Herzklopfen, wenn er Fadys Stimme am Telefon hörte...
eben alles.
Seit Hamburg hatten sie allerdings nur einmal in Ruhe telefonieren können. Im Vergleich mit dem
hektischen Presserummel war die konzentrierte Arbeit im Tonstudio zwar fast ’ne Erholung, aber die
anderen Termine wurden deswegen nicht weniger. Selbst während der Autofahrten saß Thomas
eingekeilt zwischen den Jungs und Mädels von 313 Music, die permanent in ihre Handys quasselten.
Und hier gab’s keinen einzigen unbeobachteten Winkel, in den er sich mit Fady zurückziehen konnte,
selbst wenn später noch Zeit blieb.
Immerhin hatte Fady eben richtig glücklich ausgesehen — kein bisschen so, als bereute er im Nachhinein irgendwas. Warum auch? sagte sich Thomas nicht zum ersten Mal. Er hat schließlich ’ne
bewusste Entscheidung getroffen, so wie ich auch. Trotzdem stellte er sich jeden Tag diese Art von
Fragen und konnte nur hoffen, dass er mit der Zeit etwas gelassener wurde.
Bestimmt hatte Fady seinem Freund inzwischen erzählt, was passiert war. Aber wie der drauf
reagiert hatte, konnte sich Thomas nicht mal ansatzweise vorstellen. Und wollte es eigentlich auch
lieber nicht. Nur in einem war er sich ganz sicher: so vorsichtig und rücksichtsvoll wie Fady über seine
Beziehung geredet hatte, hatte er bestimmt auch über ihn gesprochen. Ohne irgendwas preiszugeben,
das nur sie beide was anging.
Thomas biss ein Stück von der klebrigen Banane ab, sowas beruhigte ja angeblich den Magen. Wenn
er nachher auf der Bühne stand, würde Fady da sein... Dieser Gedanke fühlte sich unbeschreiblich gut
an, so als könnte jetzt gar nichts mehr schieflaufen. Nur da rausgehen, die Treppe runter ins Scheinwerferlicht — und loslegen.
***
{10.06. 2008, Berlin.} Als Thomas aufwachte, war ihm so heiß, dass er die Decke von sich warf und
gleich danach noch das verschwitzte T-Shirt loswurde. Er atmete viel zu heftig, als wär’ er eben ein
paar Kilometer gerannt. Sechs Uhr drei, sagte der Wecker: in einer knappen Viertelstunde hätte er
ohnehin aufstehen müssen. Durch die Vorhänge schälte sich ein blasses Frühmorgengrau.
Thomas streckte langsam die Arme durch, ließ die Augen wieder zufallen, während ihm ein kühler
Luftzug über die Haut strich. Aber diese fiebrige Hitze saß ihm noch tief und unruhig im Leib und ihm
wurde auch schnellstens klar, warum. Wieder so ein Traum, einer von denen, die ihn neuerdings dauernd
aus dem Schlaf katapultierten.
Vor ihm ging eine Tür auf — „gerade durch zur VIP-Lounge,“ sagte jemand — und dann stand er plötzlich
in einem Raum, der nur aus Stahlträgern und riesigen Fenstern bestand. Dahinter die Rollbahn, wo ein
Flugzeug gerade durchstartete und dann in einer Staubwolke abhob. Thomas sah zu, wie sein eigener
Atem die Scheibe beschlug. War’s denn jetzt schon so kalt draußen?
Trotzdem lief ihm mit einem Mal ein Wärmeschauer über den Rücken. Und er wusste sofort, warum...
Fady stand hinter ihm, sie waren beide ganz allein in diesem gigantischen Raum. Aber all das verschwand wie ausgeblendet, als er Fady in seine Arme nahm. „Was machst du denn hier?“
„Ich hab auf dich gewartet schon lange,“ flüsterte Fady.
„Tut mir leid, dass ich so spät dran bin.“ Thomas zog ihn dichter an sich. „Lass uns jetzt einfach
abhauen... “
Beim letzten Wort lagen Fadys Lippen schon an seinen, sie küssten sich übergangslos, atemlos
aneinandergepresst, so dass es Thomas heiß durch den ganzen Körper strömte. Er schob seine
Hände unter Fadys Hemd, spürte den ruhelosen Herzschlag unter seinen Rippen. Eigentlich sollte er
sich nicht so gehen lassen, da gab’s lauter ungeklärte Fragen, die ihm jetzt nur nicht mehr einfielen.
Aber alles löste sich auf in diesem Strudel aus tausend Wünschen und einem übermächtigen Glücksgefühl, das kaum auszuhalten war.
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Thomas schnappte nach Luft. „Du hast ja keine Ahnung, wie’s in mir aussieht...“
„Dann sag es mir doch.“ Fady sah ihn forschend an, seine Hände schlossen sich fest um Thomas’
Schultern. „Ich möchte es wissen, alles.“
Bevor er auch nur an eine Antwort denken konnte, splitterte irgendwo hinter ihm plötzlich Glas. Als
hätten die Fenster dem Luftdruck nicht mehr standgehalten. Thomas spürte einen eiskalten Hauch im
Nacken, wollte sich um keinen Preis umdrehen — aber dann kam ein Sog, der ihn einfach herumschleuderte und nach draußen riss...
Thomas seufzte, selbst in der Erinnerung fühlte sich das alles noch viel zu real an — dieser heftige
Druck in der Lendengegend war’s jedenfalls. Das Schlimmste an solchen Träumen war, dass sie immer
viel zu früh abbrachen. Komm, Alter, dagegen hilft jetzt nur ’ne kalte Dusche...
Die Dusche stellte er dann aber doch nur auf lauwarm ein, gab ja keinen Grund, es gleich zu
übertreiben. Thomas gähnte lautstark und rechnete lieber nicht nach, wieviele magere Stunden Schlaf
die letzte Nacht hergegeben hatte. Das mit den Träumen hatte angefangen, als Fady bei seiner
Familie im Libanon war und sie nicht mal telefonieren konnten. Nur E-Mails schreiben ging noch, aber
das war einfach nicht dasselbe. Jeden Abend, wenn er hundemüde in sein Zimmer stolperte, hatte
Thomas gemerkt, wie sehr er sich schon dran gewöhnt hatte, alles mit Fady durchzuquatschen. Sich
aufs Bett zu schmeißen, Augen zu, und völlig entspannt mit Fadys Stimme allein zu sein.
Zum Glück war Fady mittlerweile wieder in Hamburg und mit den Aufnahmen für seine erste CD beschäftigt. Gestern Abend hatten sie über eine Stunde telefoniert, da war Fady noch völlig aufgekratzt
von seinem Videodreh.
„In ein Schloss — das war gigantisch, ich kann gar nicht warten, das fertige Video zu sehen...“ Er
sprudelte über, als er Thomas das in allen Einzelheiten beschrieb.
„Und du bist dann der Märchenprinz mittendrin.“ Thomas grinste, er konnte sich das problemlos
vorstellen, sofort rauschte ihm ein glitzernder Film durch den Kopf. Er hörte Fady lachen und wünschte sich zum hundertsten Mal, dass in ihren prallvollen Terminkalendern irgendwo eine Lücke auftauchte
und sie sich endlich wiedersehen konnten.
Hamburg war zwölf Tage her, und das Warten wurde mit der Zeit nicht einfacher, funkte ihm dazwischen, so bald er mal ’ne Minute Leerlauf hatte, und setzte ihn dann schonungslos unter Strom.
Dabei konnte er gar nichts anderes machen als immer nur von einem Tag zum nächsten zu denken. Mal
klappte das besser, mal schlechter.
Nach ’ner Weile merkte Thomas dann auch, wie er langsam ungeduldig wurde, weil sie nur über
Plattenaufnahmen, Songs und Termine redeten. Wie er drauf wartete, dass Fady endlich das Thema
wechselte. Ihm irgendwas sagte, was sich nach ’ner gemeinsamen Zukunftsperspektive anhörte, oder
ihm wenigstens einen Anhaltspunkt gab. Aber er hatte Fady schließlich versprochen, ihn nicht mit
Fragen zu nerven, und da hielt er sich eisern dran. Außerdem hatte Fady jetzt den Kopf voll mit ganz
anderen dringenden Entscheidungen, zum Beispiel der Song-Auswahl für sein Album.
„Lass dich bloß nicht zu sehr auf eine Schiene festlegen,“ meinte Thomas dazu. „Die Sony-Leute
haben mir ziemlich viel Freiheit gelassen, und das machen die bei dir auch, wenn du denen klar sagst,
was deine Linie ist.“
„Ja, ich bin vielleicht ein bisschen zu... nachgiebig.“ Fady klang leicht verlegen. „Aber ich bin so froh
und auch dankbar, so ein Chance zu bekommen!“
„Ach, die sollen dir mal dankbar sein! Deine Single verkauft sich bestimmt wie warme Brötchen, und
Sony kassiert dann schließlich die meiste Kohle,“ sagte Thomas mit viel Nachdruck. Schließlich
bestand ein gewisses Risiko, dass sich Fady in seiner Gutmütigkeit von denen über den Tisch ziehen
ließ.
Wie immer war’s ihm schwer gefallen, sich zu verabschieden. Da hing so eine Stille voller elektrischer
Spannung zwischen ihnen, die mit jeder Sekunde zunahm. Bis Fady dann sagte: „Du fehlst mir... jeden
Tag immer mehr.“
„Ja, Mann...“ Thomas atmete langsam durch. „Du mir auch.“
Er wusste selbst nicht genau, warum’s ihm so verdammt schwer fiel, sowas auszusprechen.
***
32
Als er um kurz nach acht beim Tonstudio ankam, standen schon ein paar Mädchen mit Handys im
Anschlag vor der windigen Einfahrt und wirkten leicht verfroren.
„’Morgen,“ sagte Thomas in die Runde. Später am Tag würden das noch mehr werden — gegen
Nachmittag waren meist dreißig bis vierzig da — und die meisten kannte er inzwischen. Autogramme
hatte er denen auch schon gegeben und freundlich in ihre Handys und Kameras gegrinst, aber die
kamen trotzdem immer wieder.
Empfangen wurde er mit einem Wirrwarr aus „Hallo, Thomas!“ und „Schau doch mal her!“ und dauernden Knipsgeräuschen. Nur eins der Mädchen rührte sich nicht vom Fleck, sondern starrte ihn nur
an. Sehr blond und knochig, außerdem trug sie viel zu hohe Absätze für ihre dünnen Beine. Thomas
winkte in ihre Richtung, weil sie irgendwie aussah wie’n verlassener kleiner Vogel. Daraufhin kam sie
dann auf ihn zugestöckelt.
„Hallo!“ Thomas nickte ihr zu, während er gerade eine CD mit seinem Namen bekritzelte, was das
schön designte Cover eigentlich nur verschandelte.
Das blonde Mädchen hatte hektische rote Flecken im Gesicht und sagte kein Wort. Nur atmete sie
so schnell, dass es fast beängstigend war. Als Thomas sie so ansah, fiel ihm wieder ein, was Fady
übers Verliebtsein gesagt hatte — und am Ende hatte er damit ja irgendwie Recht behalten. Nach
seinem Traum heute morgen hatte er selber fast genauso hilflos gejapst.
„Haste was für mich zum Unterschreiben?“ Thomas lächelte das Mädchen an, nach seiner bisherigen Erfahrung beruhigten sich solche Fälle am schnellsten, wenn er sich ganz normal verhielt.
Hinter ihm machte sein Fahrer, der in solchen Situationen gern zum Bodyguard mutierte, einen
Schritt auf ihn zu. Als gäb’s irgendeine Gefahr, dass sich die Blonde plötzlich mit Reißzähnen auf ihn
stürzte. Sie hielt ihm jetzt mit zitternden Fingern ein Foto hin.
„Und welchen Namen soll ich draufschreiben?“
„Julia...“ hauchte sie und blinzelte nervös mit dick getuschten Wimpern. Dabei sah sie eher nach
vierzehn aus als nach sechzehn.
„Alles klar, Julia.“ Thomas unterschrieb das Foto, immerhin schien sie allmählich wieder genug Luft
zu bekommen. „Hör mal, ich will mich ja nicht einmischen, aber musst du um diese Zeit nicht in der
Schule sein?“
„Ich bin auf Klassenfahrt hier... die anderen sind alle schon los ins Museum.“ Ihre Stimme klang
immer noch piepsig, aber nicht mehr so schlimm nach Atemnot.
„Dann tu mir mal’n Gefallen und sieh zu, dass du auch ins Museum kommst — bevor ich noch Ärger
mit deinem Lehrer krieg, okay?“ Thomas kniff ihr ein Auge zu und kam sich dabei etwas albern vor, so
unpassend väterlich. Im Wegdrehen sah er noch, wie sie sich das Foto vor die Brust drückte.
„Lach nicht!“ brummelte er den Fahrer an, als sie durch die Tür marschierten und der Typ ein
dämliches Glucksen nicht unterdrücken konnte.
Klar, er selber fand’s immer noch extrem merkwürdig, so von den Mädels angestarrt zu werden,
aber es gab auch keinen Grund, sich drüber lustig zu machen. Schließlich brachten die TeenieMagazine jetzt dauernd Stories über ihn, stellten ihm Fragen über seine Traumfrau und wie er sich’n
romantischen Abend vorstellte, mit oder ohne Kerzenlicht. Meist bekam er’s hin, seine Antworten so
allgemein zu halten, dass nichts wirklich gelogen war. Komisch fühlte er sich trotzdem dabei. Weil’s
jetzt schließlich eine Wahrheit gab, von der er kein Wort sagen konnte.
***
Kaffee, war Thomas’ erster Gedanke, als der Tonmeister am Spätnachmittag alle zur Pause rauswinkte. Was sich so Pause nannte. Schließlich konnte man nicht einfach mit einer Tasse Kaffee in den
nächsten Sessel fallen, ohne dass nebenher noch ein ganzer Wust von anderen Themen geklärt werden
musste. Diesmal ging’s um den Terminplan für die nächste Woche, den Lutz von 313 gerade wieder
überarbeitet hatte. Übermüdet wie er war, musste Thomas ein paarmal blinzeln, bis er die ziemlich klein
gedruckte Schrift erkennen konnte.
„Was iss’n das da?“ Er tippte auf den leeren Absatz in der Rubrik DIENSTAG.
„Ein freier Tag,“ sagte Lutz achselzuckend, „jedenfalls bisher. Könnte morgens noch ein Radiotermin
dazu kommen.“
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Freier Tag. Das klang jetzt schon so exotisch wie’n Kurztrip nach Timbuktu.
„Nee, lass mal gut sein.“ Thomas hielt den Zettel fest, als würde ihm das die freie Zeit retten. „Also, das heißt, ein Termin morgens wär’ schon okay, aber den Rest hätt’ ich dann wirklich gern mal frei.“
Während Lutz noch weitererzählte, stürzte Thomas seine erste Tasse Kaffee runter und war
geistig schon mitten in diesem terminfreien Dienstag gelandet. Der ICE nach Hamburg brauchte
schließlich nur anderthalb Stunden — oder vielleicht konnte er Fady ja auch dazu überreden, mal für
einen Tag mit ihm durch Berlin zu bummeln. Wenn Fady nicht gerade selbst Termine am anderen Ende
von Deutschland hatte. Dann gibt’s halt’n Flugzeug, das mich da hinbringt. So schnell wollte er den
Gedanken jetzt nicht wieder aufgeben.
Thomas stand auf, zapfte sich die zweite Tasse Kaffee aus der Zehnliterkanne und warf nebenher
einen Blick zur Uhr. Eigentlich sprach nichts dagegen, dass er gleich mal bei Fady nachfragte, ob er
Dienstag schon was vorhatte. Manchmal schickten sie sich tagsüber die ein oder andere SMS, aber
heute hatte Fady sich noch nicht gemeldet.
„Ich bin mal eben auf’m Klo...“ Thomas winkte Lutz zu, allerdings hatte der schon wieder sein Handy
am Ohr. Umso besser.
Die Toiletten waren in Hochglanzweiß gekachelt und momentan völlig verlassen. Ein Anflug von
Nervenflattern stieg Thomas aus dem Bauch hoch, als er sein Handy rauszog. Schwachsinn, sowas —
Fady würde nächsten Dienstag ja wohl keinen Auftritt in der Antarktis haben.
Es dauerte ziemlich lange, bis er dran ging. Fast hatte sich Thomas schon auf die Mailbox eingestellt, aber dann meldete sich Fady so leise, dass er kaum zu verstehen war.
„Stör ich gerade?“ fragte Thomas vorsichtshalber.
„Ich bin —“ Fadys schien krampfhaft Luft zu holen. „Thomas, es tut mir leid... ich kann jetzt gar
nicht reden.“ Dafür konnte es tausendundzwei Gründe geben, nur klang Fady überhaupt nicht nach
wichtigem Gespräch mit Sony oder Presse, sondern gehetzt und ziemlich aufgelöst.
„Naja, dann ruf ich eben später wieder an, kein Problem,“ sagte Thomas zögernd. Als Fady nicht
gleich antwortete, klumpte sich in seiner Magengrube ein ganz ungutes Gefühl zusammen. „Aber
kannste mir nicht sagen, was los ist, nur die Kurzfassung?“
„Thomas...“ Fadys Stimme zitterte heftig. „Ich muss — ich weiß nicht wie ich dir soll sagen...“
Scheiße. Thomas ließ sich gegen die Wand sacken und starrte den Handtuchspender an. Jetzt kam
wohl der Moment, vor dem er sich die ganze Zeit nicht hatte fürchten wollen. Der Druck direkt unter
seinem Zwerchfell stieg mit jedem Atemzug an. „Is’ okay. Ich hör dir zu.“
„Es geht nicht.“ Fady flüsterte nur noch — aber trotzdem war’s für Thomas ganz deutlich zu
merken, dass er mit den Tränen kämpfte. „Bitte, ich schreibe dir ein E-Mail, ja?“
Es knackte im Hörer.
„Fady?“ Am liebsten hätte Thomas das laut rausgebrüllt, aber das hätte auch nicht mehr geholfen,
die Leitung war tot. Fady hatte noch nie so einfach aufgelegt. Oder so verzweifelt geklungen. Was zur
Hölle war da los?
Für einen Moment war Thomas nah dran, sein Handy gegen die Fliesen zu knallen, aber den Impuls
bekam er gerade noch so in den Griff. Wenn Fady dermaßen außer sich war, dann konnt’s eigentlich
nur um seine Eltern gehen oder... Um uns, um seinen Freund, um alles. Und wenn was mit seinen Eltern
passiert wäre, hätte er bestimmt trotz aller Panik ein paar Worte dazu gesagt.
Thomas schob sich von der Wand weg und strengte sich an, lang und tief durchzuatmen. Fühlte
sich eingesperrt in dieser Stille, zwischen den gekachelten Wänden und den strahlenden Spiegeln. Die
zeigten ihm alle nur, dass er verdammt kalkig im Gesicht aussah. Fady konnte ja auch nicht ahnen,
dass er bestimmt erst nach Mitternacht wieder ’ne Chance haben würde, seine E-Mails abzurufen. Und
wie er die Stunden bis dahin durchstehen sollte... das war völlig unklar.
***
X. STILL
{11.06. 2008, Berlin.} Um ein Uhr sieben kam Thomas in seinem Zimmer an. All seine Energie war den
Abend über dafür draufgegangen, sich nichts anmerken zu lassen. So lange er selber vor dem Mikro
stand, ging’s ja noch; wenn er erstmal sang, war alles andere wie weggeblasen. Aber in den Pausen
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dazwischen, während die Instrumental-Tracks eingespielt wurden, hatte er ständig diese kreiselnde
Unruhe im Bauch. Kriegte keinen Gedanken mehr zu Ende, weil er von einer Frage zur nächsten
schlitterte und nie irgendwo ankam.
Er knipste das Licht an und schob einen Stuhl vor den Schreibtisch, ohne die diversen T-Shirts von
der Lehne zu nehmen, die er mal in Hektik drüber geworfen hatte. Klappte den Laptop auf und starrte
auf den schwarzen Bildschirm. Die letzten sieben Stunden hatte er immer wieder gehetzt zur Uhr geschielt, weil er sofort wissen wollte, was verdammtnochmal los war. Aber jetzt brachte er’s mit einem
Mal nicht fertig, den Laptop anzuschalten. Naja, er konnte noch die halbe Nacht hier sitzen oder —
Los jetzt. Mehrere Dutzend Nachrichten plumpsten im Eiltempo in seine Mailbox, das Meiste
ohnehin nur Spam. Thomas’ Magen sackte um einige Handbreit nach unten, als er Fadys Absender dazwischen entdeckte. Das wär’ jetzt der richtige Zeitpunkt für’n Stoßgebet gewesen, nur fiel ihm keins
ein...
Lieber Thomas,
was ich jetzt dir sagen muss fällt mir unendlich schwer. Daswegen ich schreibe auch, ich konnte
am Telefon einfach nicht sprechen. Manchmal meine Stimme verlässt mich, wenn zuviel passiert
was ich nicht ertragen kann. Bitte verzeih mir und glaub mir das geht nicht anders...
Als du heute mich angerufen hast, ich hatte gerade ein sehr schweres Gespräch mit meinem
Partner.
Thomas holte Atem, konnte einen Moment lang nicht weiterlesen. Nach diesen ersten Sätzen lag’s ihm
schon wie’n eiskalter Stein im Magen. War’s das etwa, aus und Ende? Auf dem Monitor flackerten die
Buchstaben, als würden sie sich gleich auflösen.
Er will das wir versuchen unser Beziehung zu reparieren. Ich weiss nicht ob es möglich ist, das
habe ich ihm auch gesagt. Aber wir waren so viel Zeit zusammen, und er möchte dass ich ein
letzten Versuch mache ihm noch eine Chance zu geben. Für die nächsten zwei Wochen wenigstens. Denn später wird kein Zeit mehr sein, die ich ihm geben kann. Dieser Versuch geht nur,
wenn ich dich nicht sehe, das ich musste ihm versprechen. Und ich glaube, ich schulde ihm das.
„Ach ja?“ sagte Thomas laut. „Das ist scheißunfair, sonst gar nichts!“ Wenigstens war das noch nicht
das Ende der Mail...
Thomas, ich wünsche mir sehr das es wäre anders. Du fehlst mir jeden Tag. Und glaub nicht ich
hab dich aufgegeben, denn ich bin in Gedanken bei dir, das ändert sich nicht. Aber ich habe diese
Verantwortung auch, die ich nicht wegwerfen kann. Ich kann dich nicht bitten immer zu warten
auf mich, nur versuch mich zu verstehen... Es ist schwerer als ich dir sagen kann.
Fady
Thomas lehnte sich in seinem Stuhl zurück und starrte den Bildschirm an als gäb’s irgendeine Hoffnung, dass sich der Inhalt dieser Nachricht schlagartig änderte. Er fühlte sich benommen und wütend
und trotzdem eine Spur erleichtert — aber gerade dem Gefühl war nicht zu trauen. Schließlich gab’s
immer noch keine endgültige Entscheidung, und wenn sie dann fiel...
Thomas stand abrupt auf. Konnte das alles noch gar nicht fassen. Dieser Typ bekam jetzt zwei
Wochen Zeit, Fady an alles zu erinnern, was sie mal verbunden hatte, und weißderteufelwas zu unternehmen, um ihn wieder für sich zu gewinnen. Nur weil er sich quasi in letzter Sekunde überlegt hatte,
dass er Fady doch noch wollte. Arschloch, dachte Thomas, dabei war der Mann immer noch eine
gesichtslose Nullnummer für ihn. Und er wusste viel zu wenig, um sich ausrechnen zu können, wie das
nun weiterging. Manchmal gab’s das ja offenbar, dass so ein Seitensprung eine Beziehung plötzlich
wiederbelebte, die schon scheintot war.
Das war aber kein verdammter Seitensprung. Für mich sowieso nicht, und für Fady auch nicht.
Thomas wanderte im Zimmer auf und ab, rieb seine kalten Handflächen aneinander. In seiner Magengrube fing irgendwas rebellisch zu zittern an und drückte von unten gegen seine Rippen.
Ruhe, rational denken — irgendwie. Wenn er selbst an der Stelle von Fadys Freund gewesen wäre,
hätte er dann nicht auch mit allen Mitteln versucht, die Beziehung zu retten? Wahrscheinlich. Aber
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nicht mit solchen Mitteln, nicht mit so ’nem erpressten Versprechen, das war mal klar. Schließlich
hatte Fady ein Recht drauf, seine Entscheidung frei zu treffen.
Das hab ich jedenfalls gewollt. Thomas blieb am Fenster stehen und starrte wütend ins Nachtgeflimmer über Berlin. Blöd nur, dass sich Fadys Freund nicht an dieselben Spielregeln hielt. Verdammt
ungerecht. Aber Fady war nun mal so — der riss sich für die Menschen, die ihm was bedeuteten, ohne
weiteres einen Arm aus, nur damit alle glücklich waren. Das hatte sein Freund eben für sich ausgenutzt.
Und wo bleib ich dabei?
Am liebsten hätte er Fady jetzt sofort angerufen und gesagt: So geht das nicht, da mach ich
nicht mit! Aber klar, das war die beste Methode, damit Fady sich noch zerrissener fühlte als ohnehin
schon. Und er würde nur eins erreichen: dass Fady zu ’ner sofortigen Entscheidung gezwungen war.
Thomas setzte sich wieder vor den Laptop, der mittlerweile auf Standby geschaltet hatte. Dieser
Druck auf der Brust stieg ihm langsam die Kehle hoch, er schluckte krampfhaft. Nur kein Selbstmitleid, das brachte überhaupt nichts. Aber irgendwas musste er jetzt tun. Konnte sich nur zu gut
vorstellen, in was für ’ner Verfassung Fady gerade war — so wie der vorhin geklungen hatte. Er würde
jetzt sicher auf irgendeine Reaktion warten.
Viel heftiger als nötig drückte Thomas eine Taste nach unten. Das E-Mail-Programm flammte
wieder auf. Blinkte ihn an, als wär’s ein Reflex der chaotischen Impulse in seinem Gehirn. Seine
Gedanken machten immer noch wilde Sprünge — aber irgendwas aufzuschreiben war mit Sicherheit
besser als nur seinen verworrenen Gefühlen nachzuhängen.
Einen richtigen Brief bekam er trotzdem nicht zustande, nur’n paar abgehackte Sätze, die er
fünfmal abänderte. Mal klang’s zu vorwurfsvoll, dann wieder zu nüchtern.
Fady, ich wünschte du hättest mir das wenigstens am Telefon sagen können. Sowas zu lesen
macht’s ja nicht gerade leichter, und ich hab damit einfach nicht gerechnet. Ich sitz hier immer
noch als hätte nebenan der Blitz eingeschlagen. Aber ich hab dir schon gesagt: das ist deine
Entscheidung und du musst wissen, was du tust. Ich will dir da nicht reinreden. Also pass auf
dich auf, ich denk an dich.
Mehr ging jetzt nicht. Nachdem er die Mail abgeschickt hatte, saß Thomas noch ’ne ganze Zeit wie
angenagelt vor dem Laptop und wusste nicht, wohin mit sich. Das fühlte sich an, als hätte irgendwer
ein Stück aus seinem Leben rausgesplittert, und er hing jetzt an der Bruchstelle fest. Knapp vor
einem Nullpunkt, der ihm gnadenlos den Atem abdrückte.
***
{15.06. 2008, Köln.} Die Kölner Luft roch verbraucht und stickig. Thomas goss sich einen Plastikbecher mit Cola voll und ging raus auf die Dachterasse. Hinter ihm fummelten der Fotograf und sein
Assistent hektisch an der Blitzanlage rum. Irgendein Schaltkreis hatte sich eben mit ’nem heftigen
Knall verabschiedet. War nur zu hoffen, dass sie’s bald wieder hinbasteln konnten.
Thomas trank ein paar Schlucke von der Cola, die auch nicht mehr richtig frisch schmeckte. Er
hatte heute schon die Lagebesprechung mit der Public Relations-Abteilung von BMG hinter sich gebracht, danach ging’s ohne Pause weiter zum Fotoshooting — Pausen konnte er jetzt überhaupt nicht
brauchen. Vom Straßenverkehr hörte man hier oben nur’n ersticktes Summen. Dafür drückten sich
überall auf den Dächern die Tauben rum, flatterten auf oder liefen planlos durcheinander, ein graues
Gewimmel auf grauem Aluminium. Sonst gab’s nichts zu sehen als den dunstigen Umriss des Kölner
Doms. Die ganze Stadt lag wie unter Watte.
Thomas stützte sich mit einer Hand auf das Geländer, trank seine Cola und beobachtete die
Tauben. Verdammter Leerlauf. Er konnte schon wieder spüren, wie die Stille in ihm hochkroch.
Seit letzter Woche kam’s ihm immer mehr so vor, als würde sein Leben auf zwei getrennten
Tonspuren ablaufen. Auf der einen hektischer Rhythmus und auf der anderen nichts als Rauschen.
Immerhin fraß sein Job fast jede Stunde, die er nicht zum Schlafen brauchte, da konnte er zu hundert
Prozent drin abtauchen. Mit Vollpower rein in die Strömung und an nichts anderes denken. Sein Album
war inzwischen reif für die CD-Brenner, die ersten Hörproben wurden schon rumgereicht, und die
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Vorbereitungen für die Promotion liefen auf Hochtouren. Nur kurz vor’m Einschlafen gab’s immer diese
Momente, in denen ihn alles wieder einholte. Viel zu viele Erinnerungen, die sich in der Dunkelheit breit
machten. Dieses schmerzhaft hohle Gefühl im Bauch. Und die Träume, die hörten auch nicht auf.
„Thomas?“ sagte jemand. Als er sich umdrehte, stand Katja, die zuständige PR-Frau von BMG, in
der offenen Tür. Wedelte mit einer CD, die in der Bewegung aufblitzte wie’n ganzer Regenbogen. „Vielleicht willst du dir das ansehen, so lange es hier nicht weitergeht.“
Wahrscheinlich war das wieder ein Presse-Portfolio mit den neuesten Bildern und Materialien.
Thomas zuckte die Schultern, zerknüllte den leeren Becher und warf ihn zu den Tauben runter. „Klar.“
Erst als ihn Katja ins Büro des Fotografen gewinkt hatte, wo ein Laptop ganz oben auf einem
schwankenden Stapel Bildmappen geparkt war, konnte er einen Blick auf die CD werfen. Blessed hatte
jemand mit Textmarker draufgeschrieben.
Katja tippte schwungvoll auf die Klappe des CD-Laufwerks. „Ich dachte, du willst vielleicht mal
sehen, womit dein schärfster Konkurrent an den Start geht! Die Videopremiere ist morgen.“ Zum Glück
erwartete sie keine Antwort, schob die CD rein und war schon wieder auf dem Weg zur Tür. „Ich frag
mal nach, wie lange das mit dem Blitzgerät noch dauert.“
„Ja, danke,“ murmelte Thomas. Dass sie jetzt ausgerechnet mit Fadys Video ankam, war schon ein
ganz spezieller Fall von Ironie. Einen Moment spielte er unschlüssig mit dem Kopfhörer, schob ihn sich
dann aber doch über die Ohren und klickte den Mediaplayer an.
Long before you came, I knew...
Fadys Stimme kam sanft über den Kopfhörer und ging ihm gleich dermaßen unter die Haut, dass
Thomas die Lautstärke runterdrehen musste. Sonst bestand nicht die geringste Chance, dass er vom
Rest des Videos überhaupt was mitbekam.
Die Bilder waren schwarzweiß und schwebten hintereinander weg, wie hingehaucht. Fady am Flügel,
irgendwo mitten im Wald. Fady in einem Kornfeld, während sich die Kamera in den Himmel hochschraubte. Alles wirkte leicht verzögert und fernab von jeder Realität. Aber dann kam eine Einstellung,
in der Fady die Arme zurückwarf und einfach losrannte. Vollkommen frei. Thomas atmete langsam aus
und merkte trotzdem, wie sich ihm in der Brust alles zusammenzog.
...blessed, I’m blessed, hauchte ihm Fadys Stimme ins Ohr. So weich und tief, dass er selbst jetzt
’ne Gänsehaut davon bekam. Und ihm fiel wieder ein, wie Fady mal gesagt hatte, der Song erzählte
seine eigene Geschichte. Aber an wen er dabei gedacht hatte—? Besser nicht drüber spekulieren.
Thomas verschränkte die Arme, während sich diese elende Traurigkeit in ihm ausbreitete wie ’ne dunkle
Welle, die ihn langsam verschluckte. Selbst schuld.
Er zog sich den Kopfhörer runter und schaltete auf Pause. Drüben im Studio telefonierte der
Fotograf jetzt lautstark, wahrscheinlich mit der zuständigen Hotline für defekte Blitzgeneratoren.
Thomas schwang sich auf dem Drehstuhl ein Stück zur Seite, konnte aber trotzdem nur Bruchstücke
aufschnappen. Wenn sich das noch länger hinzog, sollte er wohl besser Torsten anrufen und ihm
Bescheid geben. Er hatte sich extra den letzten Flieger nach Berlin buchen lassen, damit genug Zeit
für’n Besuch blieb. Und den wollte er absolut nicht verpassen.
Thomas drehte sich zurück zum Bildschirm, der zeigte immer noch das letzte Videobild. Fady am
Klavier, den Kopf auf eine Hand gelegt, die Augen geschlossen. Ab morgen würden das Millionen Leute
sehen und sich alles Mögliche dabei zusammenträumen. Aber keiner von denen schlug sich mit so
verdammt lebendigen Erinnerungen herum, die einfach nicht in den Griff zu kriegen waren. Fadys Hände
an seiner Haut. Fadys heftiger Atem an seinem Ohr, als er seinen Namen flüsterte... Thomas fluchte
tonlos und klappte den Laptop zu.
Dass er Fady vermisste, war ja nichts Neues mehr. Aber seit dieser E-Mail fühlte sich das anders
an, das steckte ihm in den Knochen und fraß sich immer tiefer rein, selbst wenn er mit dem Kopf ganz
woanders war. Manchmal war er schon drauf und dran gewesen, Fady einfach anzurufen. Nur um seine
Stimme zu hören. Aber so lange nichts endgültig geklärt war — so lange Fady nicht wirklich wusste,
was er wollte — würde das Warten anschließend nur noch schwerer zu ertragen sein. Dann schon lieber
Funkstille.
Dem Rauschen auf der anderen Spur zuhören, bis vielleicht doch noch ein Ton kam — ein einziger,
gedehnter Ton wie klingendes Glas.
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Thomas schüttelte den Kopf über diesen total abwegigen Gedanken. Aber einer der alten WinkSongs spulte sich jetzt ganz von selbst aus seinem Gedächtnis ab.
Es gibt keinen Tag, an dem ich nicht ertrinke, und keinen Moment, in dem ich nicht versinke. Es ist
still in mir...
Fady hatte ihn einfach abgehängt, vorübergehend aus seinem Leben gestrichen. Weil’s da eben
jemand anderen gab, der ihm momentan wichtiger war. Man konnte das drehen und wenden wie man
wollte, darauf lief’s immer wieder raus. Anfangs war’s Thomas bei diesem Gedanken jedesmal heiß aus
dem Bauch hochgestiegen — ein explosives Gemisch aus Wut und Verletztheit und Enttäuschung, das
er nur mit Mühe runterschlucken konnte. Aber inzwischen hatte sich das verzogen, da war nur noch
dieses eisige Gefühl von Verlust. Fady hatte ja keine Ahnung.
„So, wir können gleich wieder!“ sagte Katja von der Tür her und klang so begeistert, als hätte sie
schon nicht mehr damit gerechnet.
Thomas atmete auf und ließ die CD im Laptop stecken. Raus vor die Kamera, da konnte er mittlerweile einen Schalter im Kopf umlegen und genau das bringen, was von ihm erwartet wurde. Nur da sein,
wo die Leute ihn haben wollten. Weg von diesem drückenden Leerlauf und seinen eigenen Gedanken.
***
In Torstens Wohnzimmer hing noch der Geruch von Steaks mit Salsa, und aus den Boxen kam eine
Highspeed-Version von Worldmusic, mit viel Getrommel natürlich. Aus der Küche lieferte Torsten einen
scheppernden Beat dazu, während er die Spülmaschine einräumte. Thomas lehnte sich träge auf
seinem Stuhl zurück. Jetzt, nach dem Essen, saß ihm eine bleierne Müdigkeit im Leib. Kein Wunder,
schließlich hatte ihn der Wecker heute um viertel nach fünf zum Flughafen abkommandiert.
„Noch’n Bier?“ Die Kühlschranktür klirrte. Torsten tauchte mit zwei Flaschen Pils hinter dem unfertigen Durchbruch zur Küche auf.
„Eins geht noch.“ Thomas wuchtete sich hoch, um ihm eine Flasche abzunehmen, und wanderte
damit zum Fenster. Nebenan im Studio glitzerten die Becken und Hi-Hats von Torstens Schlagzeug in
einem dünnen Lichtstreifen. Früher, zu Wink-Zeiten, hatten sie oft alle hier zusammengehockt und an
tausend unmöglichen Plänen rumgesponnen. Zwei Jahre war das her, aber Thomas kam’s inzwischen
vor wie ’ne mittlere Ewigkeit, wie lauter verwackelte Schnappschüsse aus ’ner anderen Zeit.
Er blieb vor Torstens ausuferndem CD-Regal stehen, das bis zur Decke reichte und trotzdem schon
wieder überquoll. Torsten hörte Musik, wo er ging und stand, und trieb die absolut obskursten Sachen
auf. Die endlose Trommelei ging mit ein paar jagenden Wirbeln zu Ende, dann kam eine langsamere
Nummer aus den Lautsprechern. Saxophon mit Congas in Moll. Thomas verzog das Gesicht, melancholische Musikbegleitung konnte er jetzt am allerwenigsten brauchen. Er legte den Kopf schräg und las
die Titel von ein paar CDs, aber die meisten sagten ihm nichts.
Die Musik kreiselte in immer engeren Schleifen um ihn herum. Irgendwie hatte er sich vorgestellt,
dass er hier bei Torsten einen klaren Schädel kriegen würde und alles andere wenigstens für ’ne Stunde
von ihm abfiel. Stattdessen rauschten ihm die Bilder aus Fadys Video durch den Kopf — zu dieser
Musik, die sich um ein einziges schwermütiges Motiv drehte. Das klang wie pure Einsamkeit. Wie mitten
im Auftakt stecken geblieben und dann nicht mehr von der Stelle gekommen.
„So, das Abräumkommando war erfolgreich.“ Torstens Stimme fegte diesen nutzlosen Gedankengang beiseite. Mit der Bierflasche in der Hand schlenderte Torsten zum Sofa und setzte sich. „Hey,
weißt du eigentlich schon, wann’s nun auf Tour geht?“
„Steht immer noch nicht genauer fest, wahrscheinlich im August.“ Thomas sah sich nach dem
Flaschenöffner um. Neuerdings gab’s bei Sony BMG Pläne, ihn mit Fady zusammen auf Tour zu
schicken — aber gerade davon wollte er jetzt nicht anfangen. Konkret war ohnehin noch nichts.
„Tom, hör mal...“ sagte Torsten plötzlich mit Nachdruck. „Is’ irgendwas mit dir?“
„Wieso, was soll denn sein?“ Vorsichtig ließ sich Thomas neben ihm auf dem durchgesessenen Sofa
nieder. Wenn man da nicht aufpasste, hatte man leicht ’ne abgebrochene Sprungfeder in den Weichteilen, aber Torsten hing nun mal an dem alten Stück.
„Naja, seit du hier bist, hab ich dich die ganze Zeit zugetextet und von dir grad mal drei oder vier
vollständige Sätze gehört. Du bist doch sonst nicht dermaßen schweigsam.“
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Thomas strich sich die Haare aus dem Gesicht und zuckte die Schultern.
Torsten reichte ihm den Flaschenöffner rüber. „Ehrlich, du wirkst ganz schön fertig.“
„War ja auch ziemlich stressig, die letzte Zeit.“ Thomas schnipste den Bierdeckel von der Flasche
und nahm einen Schluck. Klar war Torsten ein guter Freund, dem er so ziemlich alles sagen konnte.
Aber ihm jetzt die ganze Geschichte mit Fady zu erzählen war völlig ausgeschlossen. Da gab’s keinen
klaren Ausgangspunkt und kein Ende, und besser würde das alles vom Reden sowieso nicht. „Vielleicht
steh ich im Moment einfach’n bisschen neben mir.“
„So sieht’s für’n Außenstehenden jedenfalls aus,“ meinte Torsten lakonisch und wartete einfach ab.
Das melancholische Saxophon gab endlich Ruhe. Thomas drehte die Bierflasche unschlüssig hin und
her, hätte am liebsten doch irgendwas gesagt und sich’n Rat von Torsten geholt, der eigentlich in
jeder Situation einen kühlen Kopf behielt. Vielleicht gab’s ja ’ne Möglichkeit, die Sache so allgemein zu
halten, dass es nicht gleich nach ’ner triefenden Tragödie klang.
„Was machst du eigentlich,“ fing er langsam an, „wenn du ’ne Entscheidung getroffen hast, von der
du anfangs total überzeugt warst... aber dann kommen ganz andere Faktoren dazu, und Andere treffen Entscheidungen, mit denen du gar nicht gerechnet hast...?“ Das klang einigermaßen wirr. Kein
Wunder, dass ihn Torsten erstmal nur lang ansah.
„Business oder privat?“ wollte er schließlich wissen.
Thomas schluckte. „Privat.“
“Aha.” Torsten zog die Augenbrauen hoch. Fragte sich wahrscheinlich, woher er überhaupt die Zeit
für irgendwelche privaten Probleme nahm. „Naja... ich würd’ dann eben meine Entscheidung überdenken
und mich fragen, ob ich einen Fehler gemacht hab. Und dann gibt’s genau zwei Möglichkeiten: entweder
Zähne zusammenbeißen und durch... oder was dran ändern, wenn’s im Nachhinein nicht mehr
funktioniert.“
„Und wenn der Zug schon abgefahren ist?“
„Mann, Tom, ich kann dir leider nicht ganz folgen!“ Torsten seufzte und klopfte ihm freundschaftlich
aufs Knie. „Aber so wie ich das sehe, hast du immer die Möglichkeit, den ganzen Deal abzusagen. Egal,
was die andere Seite macht. Klare Ansage und raus, das geht immer.“
„Du meinst abhauen geht immer...“ Mit einem Ruck stand Thomas auf. Wollte sowas nicht denken.
Außerdem gab’s auch keinen Deal. Er hatte Fady von sich aus versprochen, dass er warten würde,
keiner hatte das von ihm verlangt. Weil er da noch geglaubt hatte, das würd’ sich in allernächster Zeit
mehr oder weniger von selbst lösen. Fady musste es seinem Freund nur beibringen, und der würde dann
schon einsehen, dass ’ne Trennung das einzig Vernünftige war. Als hätte das irgendwas mit Vernunft
zu tun...
Als er wieder zu Torsten rübersah, musterte der ihn mit ’nem ziemlich nachdenklichen Blick. Thomas
schüttelte den Kopf. “Nicht was du jetzt denkst, das hat nix mit Jenny zu tun.”
„Na, okay, ist ja auch deine Sache.“ Torsten sah auf seine Armbanduhr. „Wann genau geht dein
Flieger nochmal?“
***
{18.06. 2008, Berlin.} Ein schepperndes Gedröhn riss Thomas so abrupt aus dem Schlaf, dass er
erstmal völlig orientierungslos auf dem Rücken lag. Das nervötende Geräusch kam vom Nachttisch.
Viel zu laut und verzerrt sang Grönemeyer aus dem Radiowecker was von Flugzeugen im Bauch. Ich
kann nichts mehr essen, ich kann dich nicht vergessen, aber auch das gelingt mir noch...
Thomas rieb sich die Stirn und rollte sich zur Seite, um nach dem Wecker zu fummeln. „Halt die
Klappe, Herbert...“
Gib mir mein Herz zurück, du brauchst meine Liebe nicht — endlich erwischte er den Knopf zum
Abschalten mit der Handkante. Das Radio ging mit einem elektrischen Knacksen aus. Nur sagte dieser
Song genau das, was er nicht denken wollte. Nicht mehr warten müssen. Keinen Tag mehr so
weitermachen.
Thomas wälzte sich aus dem Bett und marschierte direkt ins Bad. Erstmal wach werden, dann
nachdenken — oder auch nicht, wach ließ sich das jedenfalls besser vermeiden. Die Dusche war so heiß,
dass sie das ganze Bad vernebelte, aber vernünftig einstellen ließ sich das Ding irgendwie nicht, da
ging nur frostig oder knapp vor’m Verbrühen.
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Auf dem Rückweg ins Zimmer fiel ihm wieder ein, dass er seinen Wecker heute auf ’ne Stunde früher
eingestellt hatte, schließlich musste er noch seinen ganzen Krempel zusammenpacken. Nachher ging’s
ein letztes Mal ins Tonstudio und dann gleich weiter nach Köln, zur Aufzeichnung der Geissen-Show.
Thomas warf das feuchte Handtuch aufs Bett und zog seine Reisetasche raus. Viel zu packen war ja
nicht: die getragenen Klamotten in den Wäschebeutel, die frischen in die Tasche; ein gutes Dutzend
CDs und die Mappe mit Papierkram lagen noch herum.
Thomas hatte gerade die CDs verstaut, als sein Handy auf dem Nachttisch vibrierte. Mit einem
hektischen Griff schnappte er sich das Ding, spürte dabei den kurzen, unvermeidlichen Adrenalinstoß.
Dafür gab’s allerdings keinen Grund, 313 hatte ihm nur ’ne SMS mit seinen Flugdaten geschickt. Einen
Moment lang starrte er noch auf das Display, als würde das was ändern.
Jedes verdammte Mal wenn sein Handy losging, dachte er, dass das Fady sein musste. Trotz
allem. Scheiße.
Thomas sah sich im Zimmer um. Nur der Laptop war noch nicht eingepackt, die ganze Aktion hatte
knapp zehn Minuten gedauert. Da blieb ihm also eine gute Dreiviertelstunde, um drüber nachzudenken,
warum Fady sich nicht meldete. Und wie immer in solchen Momenten würd’ ihm die Erinnerung dazwischenfunken. Ihm nochmal in Zeitlupe vorspielen, wie Fady ihn in Hamburg beim Abschied festgehalten hatte, als würd’ jeder Herzschlag zählen.
Direkt unter Thomas’ Rippen sammelte sich schon wieder diese atemlose Anspannung. Er hatte
einfach viel zuviel an diese eine Erinnerung gehängt. Zuviel Erwartung, zuviel blödsinnige Hoffnungen —
zuviel von allem. In Hamburg war er absolut sicher gewesen, dass das bloß der Anfang sein konnte...
und dass Fady das genauso empfand, genauso wollte. Aber jetzt fühlte er sich seit Tagen so, als wär’
alles schon vorbei und gelaufen. Wartete eigentlich nur noch drauf, das von Fady selbst zu hören.
Wann bin ich eigentlich zum Masochisten mutiert? Thomas ging zum Fenster und schob die
Vorhänge ein Stück auseinander, der Himmel war fast wolkenlos blau. Manchmal kam er sich ganz
beschissen naiv vor. Verliebtsein war schließlich keine Garantie für irgendwas, es konnte ja trotzdem
alles schiefgehen. Oder man verliebte sich eben in die falsche Person. Früher war er da vorsichtiger
gewesen, hatte sich nicht zu sehr reingehängt bevor’s nicht klar war, dass auf der Gegenseite auch
Interesse bestand. Wenn er erstmal sicheren Boden unter den Füßen hatte, konnte er sich dann
schrittweise drauf einlassen. Nur eben bei Fady nicht, das ging Hals über Kopf.
Vielleicht hab ich mich da in was reingesteigert... Thomas lehnte sich gegen die Fensterbank, kühles
Glas im Rücken. Schließlich steh ich sonst ja echt nicht auf Männer. Daran hatte sich auch überhaupt
nichts geändert. Jemals mit ’nem anderen Mann was anzufangen, käme ihm nie in den Kopf, erotisch
war das völliges Niemandsland. Andererseits brauchte er sich nur an die Nacht mit Fady zu erinnern —
Schluss damit! Thomas schob sich vom Fenster weg. Er sollte mal besser dran denken, dass Fady
jetzt vielleicht mit seinem Freund in der Kiste lag. Einem Typen, mit dem er bestimmt auch Französisch reden konnte und der von Fady viel mehr wusste als er selbst. Der schon lange einen festen
Platz in Fadys Leben hatte. Sowas brauchte Fady auch — diese Sicherheit, dass jemand immer für ihn
da war.
Das hätte doch nie funktioniert mit uns, nicht bei all dem Stress, dachte Thomas. Wir hatten nie
’ne echte Chance. War doch ernsthaft gar nicht vorstellbar, dass sie in dieser Situation ’ne einigermaßen stabile Beziehung hätten aufbauen können. Und dazu gab’s ja noch die wirklich gravierenden
Komplikationen. Er schüttelte den Kopf. Ich bin die Komplikation, so ist das nun mal.
Bestimmt war’s für Fady nur noch belastend, dass zwei Leute aus verschiedenen Richtungen an
ihm rumzerrten. Während er eigentlich seine ganze Kraft für andere Dinge brauchte, für seine Musik
zum Beispiel.
So wie ich auch. Thomas wanderte rüber zum Schreibtisch, fuhr mit dem Daumen an der Kante
seines Laptops entlang. Und merkte selbst, wie sehr er sich das mittlerweile wünschte. Nicht mehr so
kopflos und unfähig durch jeden Tag rudern, sondern wieder völlig da sein — da, wo er immer hingewollt
hatte. Nicht mehr feststecken zwischen einem Verlust, den’s noch gar nicht richtig gab, und der
Erinnerung, die ihn nicht losließ. Aber irgendwann würde das schon abflauen, nach und nach rückten
solche Erinnerungen ja immer ab, bis nur’n paar undeutliche Bruchstücke übrig blieben.
Torstens Vorschlag hatte er auch noch im Ohr: Klare Ansage und raus... Thomas atmete tief durch,
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obwohl sich sein Magen bei dem Gedanken auf Faustgröße zusammenzog. Das war wohl so’ne verzweifelte Abwehrreaktion: bloß den Tatsachen nicht ins Auge sehen. Aber statt sich selbst Leid zu
tun, sollte er endlich ’ne eigene Entscheidung treffen. Am besten gleich.
Er setzte sich vor den Laptop. Vielleicht war er unterbewusst schon auf diesen Moment zugesteuert und hatte das Ding deswegen noch nicht eingepackt. Zum ersten Mal seit letzter Woche rief
er sich Fady bewusst vor Augen. Wie gestresst und verunsichert er in Hamburg gewirkt hatte, als er
von seiner Beziehung redete. Wie er zwischen Wünschen hin und her schlingerte, die einfach nicht
zusammenpassten. Thomas schloss für’n Moment die Augen, ließ diese unkontrollierbare Gefühlsmischung einfach durch sich hindurchrollen — Sehnsucht, Trauer, Zärtlichkeit, Enttäuschung — bis sich
das Ganze ’n bisschen gesetzt hatte. Was er sich für Fady und sich selbst wünschte, sah ziemlich
genauso aus wie der schönste Moment in Fadys Video. Ungebremste Lebensfreude, völlige Freiheit.
Aber nun lag die ganze verfahrene Situation endlich glasklar vor ihm, mit all ihren Ecken und Kanten.
Und zum ersten Mal hatte er’n gewissen Abstand dazu.
Als Thomas das E-Mail-Programm öffnete, saß ihm ein ziemlicher Kloß im Hals, aber schließlich
hatte er in seinem Leben schon öfter sowas durchgestanden. Träumen, durchstarten, abstürzen —
und dann irgendwie wieder auf die Füße kommen. Nicht jede richtige Entscheidung fühlte sich sofort
gut an, das hatte er auch schon kapiert. Diese tat scheißweh.
Daran gemessen klang die E-Mail, die er in einem Anlauf runterschrieb, eigentlich ziemlich geradlinig.
Lieber Fady,
ich hab in letzter Zeit viel nachdenken müssen, und jetzt ist wohl der Punkt gekommen, an
dem mir endlich einiges klar wird. Keine Ahnung, ob ich hier die richtigen Worte finde, aber ich
werd’s versuchen. Das mit uns hat mir echt viel bedeutet, und genau deswegen kann ich so nicht
mehr weitermachen.
Ich komm überhaupt nicht mehr zur Ruhe. Ständig steh ich unter Strom und kann das
langsam nicht mehr aushalten. Weil ich nur noch drauf warte, wieder was von dir zu hören, und
dass du endlich eine klare Entscheidung triffst.
So ist das nun mal: ich warte drauf, dass du dich von deinem Freund trennst. Und das ist
einfach nur mies. Ich hab mich nie in irgendeine Beziehung reindrängen wollen, und unter Druck
setzen will ich dich auch nicht. Aber ich krieg’s auch nicht hin, das abzustellen. Einfach nur
abzuwarten und dir die Zeit zu lassen, die du halt brauchst. So eine Entscheidung kannst du
schließlich nicht unter Stress treffen, dann kommt nämlich mit Sicherheit das Falsche dabei
raus.
Vielleicht hast du mich ja deswegen erstmal aufs Abstellgleis geschoben. Oder vielleicht hast
du einfach nicht gewusst, wie’s mir dabei gehen würde. Das klingt vielleicht hart, aber ich werd
damit nicht fertig, so dermaßen in der Luft zu hängen. Aber letzten Endes ist das meine eigene
Schuld, das hab ich mittlerweile eingesehen.
Ich hab dir was versprochen, was ich nicht halten kann. Ich dachte, ich krieg das hin und hab
mir leider zuviel zugetraut. Es wird höchste Zeit, dass ich dir das sage, auch wenn ich mich
ehrlich beschissen dabei fühle. Aber ich will mich nicht mehr selbst belügen — und dich auch
nicht.
Ich kann jetzt einfach nicht mehr warten, Fady. Das tut mir nicht gut und dir bestimmt auch
nicht. Verzeih mir bitte, dass ich dir jetzt so plötzlich damit komme. Dass ich geglaubt hab, ich
wäre stärker als ich nun mal bin. Das ist nicht deine Schuld, und ich bereue auch nichts.
Vielleicht haben wir einfach den total falschen Zeitpunkt erwischt. Aber so wie’s jetzt ist, kann
sich zwischen uns nichts mehr weiter entwickeln, was immer auch draus geworden wäre.
Ich muss dir aber noch was anderes sagen: du bist ein ganz toller Freund und selbst so ein
Super-Mensch, falls du das nicht weißt. Und egal was sonst noch passiert, ich wünsch mir
wirklich, dass wir Freunde bleiben. Nur brauch ich jetzt erstmal etwas Abstand. Hör auf dein
Herz und triff die Entscheidungen, die für dich richtig sind, okay? Nicht weil andere sie von dir
erwarten. Wir sehen uns bestimmt irgendwann.
Thomas
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P.S. Ich hab dein Video gesehen, die Single wird sich bestimmt rasend verkaufen. Also genieß
deinen Erfolg, den hast du total verdient.
Thomas lehnte sich zurück, atmete gegen das krampfige Gefühl in seiner Brust und las alles noch
mal durch. Als er wieder beim Ende angekommen war, hatte sich diese bohrende Traurigkeit schon
etwas verzogen, und er fühlte sich vor allem... hohl. Aber irgendwie auch befreit von dieser dauernden Unsicherheit, dem Alleinsein mit lauter abgerissenen Möglichkeiten.
Einen Moment brauchte er trotzdem noch, um endlich auf ’senden’ zu klicken, aber dann schoss
die E-Mail raus wie’n Blitz aus heiterem Himmel. Thomas sah auf die Uhr, in spätestens fünf
Minuten würde sein Fahrer hier auftauchen. Immerhin stimmte sein Timing heute.
***
Als er spät abends seinen Laptop startete, saß er in einem Kölner Hotelzimmer, das aussah wie
tausend andere und nach angeschmortem Plastik roch. Völlig egal, morgen früh ging’s eh gleich weiter
nach Frankfurt zum Hessischen Rundfunk.
Fadys E-Mail war eine der letzten in seiner Mailbox, erst vor ’ner halben Stunde abgeschickt. Um
sich gar nicht erst irgendwas zusammenzufantasieren, fing Thomas sofort an zu lesen. Dass sein Puls
dabei in hartes Stakkato verfiel, war momentan eben nicht zu verhindern.
Lieber Thomas,
ich habe dir ein langen Brief geschriben und dann ihn wieder gelöscht. Denn was ich dir
wirklich sagen soll und muss ist ganz kurz. Ich respektire deine Wünsche mehr als alles. Es ist
nichts zum verzeihen, nur mir es tut leid was ich dir alles zumuten habe, ich kann dir nicht sagen
wie. Verzeih mir wenn du kannst!
Ich danke dir für die freundlichen wort, die ich sicher nicht habe verdient. Und ich werde
warten von dir wieder zu hören. Wann die Zeit dafür richtig ist weisst nur du. Aber ich halte dich
immer in meinem Herz. Du hast mir viel mehr gegeben als du weisst und ich dir nur so wenig. Das
ist was am meisten schmerzt.
Ich wünsche dir nur gutes und ich weiss das tust du auch mir.
Fady
Das war’s jetzt also. Kein Widerspruch, kein zurück mehr. Thomas saß einfach nur da, hörte dem Surren des Laptops zu und dem Rauschen in seinen Ohren, weil sein Herzschlag immer noch aus der Spur
lief. Wünschte sich einen verrückten Moment lang, Fady hätte ihm doch den längeren Brief geschickt.
Komplett sinnloser Gedanke. Er würde jetzt auch nicht weiter drüber nachdenken, was Fady ihm
vielleicht noch gesagt hätte, oder wie ihm beim Schreiben dieser Kurzfassung zumute war. Letzten
Endes konnte man nun mal in keinen anderen Menschen reinsehen. Und dieses verdammte Brennen in
den Augen würde er einfach ignorieren, bis es aufhörte.
War ja auch kein Abschied für immer. Früher oder später liefen sie sich bestimmt wieder über den
Weg, im Zweifelsfall vor irgend ’ner Kamera. Und bis dahin würd’ er das alles schon irgendwie wegstecken, den nötigen Abstand gewinnen. Wenn er Fady das nächste Mal sah, dann nur noch als
Freund.
Thomas gab sich selbst das Kommando zum Aufstehen und öffnete ein Fenster bis zum Anschlag.
Durchatmen, loslassen — ohne irgendwas zu bedauern — das wurde höchste Zeit. Ab morgen würd’s ihm
schon besser gehen, dann konnte er endlich wieder voll bei der Sache sein. Ohne Kompromisse in das
Leben einsteigen, das schon ’ne ganze Weile unter seinem Namen lief. Ohne auf irgendwas zu warten.
Er ging zum Tisch zurück und schaltete den Laptop aus. Und dann war’s völlig still.
* * * the end (for now) * * *
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