Mit Plastikpalmen in die 50er

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Mit Plastikpalmen in die 50er
TOURI S MUS
DONNERSTAG, 18. MÄRZ 2010
36
Mit Plastikpalmen in die 50er-Jahre
In den Wildwoods wurde einst
der Rock ’n’ Roll geboren –
und mit ihm das typische
Doo-Wop-Motel. Nun sollen
auf der Insel vor der Küste des
US-Bundesstaates New Jersey
die letzten Exemplare erhalten
werden.
Doch die sonnigen Zeiten sind
längst vorbei. Jedes zweite Doo-WopMotel steht nicht mehr. Allein in den
letzten fünf Jahren wurden derer 50
abgerissen. 2006 setzte der National
Trust, die US-Denkmalschutzstiftung,
die Doo-Wop-Motels auf die Liste der
gefährdetsten historischen Stätten
des Landes. «Inzwischen», sagt John,
«begleitet mich auf jeder Fahrt in die
Wildwoods die bange Frage: Welches
Motel ist diesmal verschwunden?»
Der Niedergang der Doo-WopMotels begann in den 80er-Jahren.
Ihre Ausstattung entsprach nicht mehr
den allgemeinen Ansprüchen, Buchungen gingen zurück. Dafür stiegen
die Grundstückspreise. Immobilienhändler boten Summen, denen viele
Motel-Besitzer nicht widerstehen
konnten. So war Schluss mit lustig in
den Wildwoods. Die Abrissbirne begann ihr Werk, um Platz zu schaffen
für gesichtslose Apartmentblocks.Wie
Spielverderber stehen sie heute zwischen den verbliebenen Motels.
Von Dominik Fehrmann
Jedes Frühjahr bauen sie die Palmen
zusammen. Richten sie das Paradies
wieder her. Während die Sonne den
Atlantik erwärmt und den breiten
Sandstrand trocknet, lehnen Leute
auf Leitern an Plastikpalmen und
befestigen die winters eingelagerten
Plastikpalmwedel. Überall auf der
Insel. An jedem Motel. Es ist das untrügliche Zeichen für den Beginn der
Feriensaison. Für neues Leben in der
guten alten Zeit.
Auch am Pool des «Caribbean»
wurzeln frisch ergrünte PalmenAttrappen. Und fügen sich bestens
ins Bild. Denn kitschiger Übermut
herrscht in den Wildwoods an allen
Ecken und Enden. Vom roten Neonröhrenschriftzug auf dem Dach, der
mit lässigem Schwung den Motel-Namen an den Himmel zeichnet, bis zur
rosa Rampe, die in kühnem Bogen
vom Pool zum lindgrünen Sonnendeck führt, dessen Panorama-Lounge
raumschiffartig über den parkenden
Autos schwebt. Kein Zweifel: Das
1957 erbaute «Caribbean» ist ein
Prachtexemplar von einem DooWop-Motel.
Neue Hoffnung
in der Krise
«Doo-Wop» und
Zuckerwatte
In der Doo-Wop-Architektur gipfelt
die US-Motelkultur der 50er- und
60er-Jahre. Benannt ist sie nach dem
gleichnamigen Musikstil, einer Variante des Rock ’n’ Roll mit Harmoniegesang auf Nonsens-Silben wie eben
«doo-wop». Und nirgends findet
sie sich so geballt wie hier in den Wildwoods, bestehend aus den drei nebeneinander liegenden Ortschaften
North Wildwood,Wildwood und Wildwood Crest. Als Wildwoods wurden
sie nach dem Zweiten Weltkrieg zum
Mythos. Zum Inbegriff einer Ferieninsel für die amerikanische Arbeiterschaft. Für Leute wie den Mechaniker
John Campanicki und seine Frau
Gerry aus Pennsylvania. Wie viele
Feriengäste in den Wildwoods hat
John schon als Kind seine Ferien hier
verbracht. Ende der 50er-Jahre kam
er mit seinen Eltern zum ersten Mal
ins «Caribbean». Als er später Gerry
heiratete, verbrachten die beiden
ihre Flitterwochen hier. Seitdem
Die 50er- und 60er-Jahre lassen grüssen: In den Wildwoods finden sich Reliquien aller Art aus einer lange
zurückliegenden Zeit.
kommen sie jedes Jahr, für zwei
Wochen, 200 Meilen mit dem Auto.
«Es ist unser zweites Zuhause», sagt
John. «Ein kleines Paradies. Und der
Boardwalk ist nur zwei Minuten entfernt.»
Der Boardwalk begründete einst
den Ruf der Gegend. Drei Kilometer
zieht sich der breite Holzsteg im Ort
Wildwood den Strand entlang, gesäumt von Spielhallen, Schiess- und
Imbissbuden. Dazu drehen sich auf
fünf Piers unzählige Karussells und
Riesenräder. Es riecht wie vor 50 Jahren, nach Popcorn und Zuckerwatte,
nach Karamellbonbons und Pizza.
Nur andere Musik liegt in der Luft,
Pop und Hip-Hop, nicht mehr der
Rock ’n’ Roll, der in den Wildwoods
in den 50igern gross rauskam.
Das Wichtigste in Kürze
■ Reisezeit. Angenehm warmes Klima herrscht in den Wildwoods von
Mai bis September. Im Juli und August sind viele Motels allerdings ausgebucht und die Preise mitunter
doppelt so hoch wie in den anderen
Monaten. Einige Motels bleiben
zwischen November und April geschlossen.
■ Anreise. Sowohl Continental als
auch Swiss fliegen von Zürich direkt
zum relativ günstig gelegenen Flughafen Newark; die restlichen rund
220 Kilometer in die Wildwoods am
besten mit dem Mietwagen.
■ Unterkunft. Die Auswahl an Motels ist immer noch gross. Die
quietschgrünen Zimmer des «Caribbean» vereinen Fifties-Retro-Design
und modernste Technik wie W-LAN
und Flachbildfernseher; Doppelzimmer ab etwa 60 Franken; Tel:
001-609-522-8292;
www.caribbeanmotel.com.
Das «Imperial 500» – 1968 gebaut
und seit 35 Jahren in Familienbesitz
– ist weniger schrill, bietet dafür
aber Zimmer mit Küche und Strandblick, ein separates Kinderschwimmbecken und eine Hufeisenwurfanlage; Doppelzimmer ab etwa
60 Franken; Tel: 001-609-522-6063;
www.imperial500.com.
■ Besichtigungen. In der Hauptsaison von April bis Oktober: Das ehrenamtlich betriebene Doo-WopMuseum ist allabendlich zugänglich.
Die vom Museum aus startenden
Doo-Wop-Bustouren werden dienstags, mittwochs und donnerstags angeboten und kosten etwa zehn Franken pro Person.
■ Auskunft. Informationen zu Unterkünften und Veranstaltungen bietet das örtliche Fremdenverkehrsamt: www.wildwoodsNJ.com.
Die Doo-Wop-Preservation-League informiert über ihre Arbeit und
die Geschichte des Doo-Wop:
www.doowopusa.org.
Little Richard, Fats Domino, Duane
Eddy – sie alle standen seinerzeit auf
den Bühnen der hiesigen Clubs und
begeisterten die halbstarken Feriengäste. Im «Hofbrau Hotel» spielte
1954 ein gewisser Bill Haley erstmals
«Rock Around The Clock». Im «Rainbow Club» debütierte 1960 Chubby
Checker mit «The Twist». Die Clubs
sind längst verschwunden. Doch in
den Doo-Wop-Motels ist das Lebensgefühl jener Jahre zu Architektur geronnen. «Schau Dir das ‹Caribbean›
an», sagt John. «Diese Ausgelassenheit. Es war einfach eine richtig gute
Zeit, damals.»
Damals, das waren die Nachkriegsjahre, als die USA vor Selbstvertrauen strotzten und vor Vertrauen in die
Zukunft. Die Wirtschaft boomte, der
Weltraum schien bald erobert, und
wer Geld hatte, bestieg derweil die
ersten Düsenflieger nach Miami oder
Hawaii, das gerade 50. Bundesstaat
geworden war. Aber auch Arbeiter
und kleine Angestellte konnten sich
nun Ferienreisen leisten. In chromblitzenden Automobilen erkundeten sie
ihr Land, das durch ein Netz von
Interstate-Highways «erfahrbar» geworden war.
Gäste, spielten sie mit Form, Farbe
und Licht.Ausladende Dachkonstruktionen, grellbunte Türen, blinkende
Pfeile, Figuren und Schriftzüge: Noch
heute ähnelt die Ocean Avenue einem
Strassenstrich, auf dem Freudenmädchen die Autofahrer zu einer gemeinsamen Nacht verführen wollen.
Und die Motel-Namen sprechen
Bände über die Träume jener Zeit.
Den Zauber des Exotischen beschworen das «Atztec», das «Pyramid»
oder das pagodenartige «Shanghai».
Weltraumfantasien bedienten das
«Satellite», das «Apollo» und das
«Astronaut». Einen Hauch von Jetset
verhiessen das «Monaco», das «Attaché» und das «Eden Roc», das sich im
Glanz einer gleichnamigen Hotellegende in Miami Beach sonnte.
Dass der Rock ’n’ Roll hier nicht komplett planiert wurde, ist auch der DooWop-Preservation-League zu verdanken. Seit zehn Jahren kämpft dieser
Verein für den Erhalt der Motels. Unter seinem Einfluss betrachten manche Investoren eine bewahrte DooWop-Kultur inzwischen als Standortvorteil. Einzelne Motels sind zuletzt
behutsam modernisiert worden.
Selbst einige Neubauten haben jetzt
ein Doo-Wop-Design. Auch die Immobilienkrise kommt den MotelSchützern zugute: Seit die Preise im
Keller sind, ruht die Abrissbirne.
So erglimmen denn, wenn es dämmert, an der Ocean Avenue die Glühbirnen wie 1000 Funken Hoffnung.
Besonders hell leuchtet es vor einem
pavillonartigen Gebäude, dem früheren «Surfside Diner», Baujahr 1963.
Seit 2007 beherbergt es ein kleines
Doo-Wop-Museum. Die Attraktion
des Museums aber steht direkt an der
Strasse. Es ist der so genannte «Neon
Sign Garden», eine Gruppe aufgeständerter Leuchtreklameschilder abgerissener Motels. Jahrelang haben
sie in einem Schuppen gelegen. Doch
seit Kurzem flackern sie allabendlich
wieder auf, und mit ihnen die Erinnerungen. An das «Satellite», das «Cavalier», das «White Star» – Namen,
die einst für eine grenzenlose Zuversicht standen, nun aber für eine Sehnsucht nach vergangenen Zeiten, die
nirgends so genährt wird wie in den
Wildwoods, wo die letzten palmenbewachsenen Tempel der Unbekümmertheit stehen.
Es blinkte und
leuchtete
Mit den Strassenkreuzern kamen die
Motels – Billigquartiere, die auf die
breiten Gefährte der Gäste ebenso
zugeschnitten waren wie auf deren
schmale Geldbeutel. Um ihnen zumindest den Anschein von Exklusivität zu verleihen, wurden ihre Fassaden oft mit allerlei Dekorelementen
aufgetakelt. Nirgends aber trieb man
es so bunt wie in den Wildwoods. Zwischen 1952 und 1970 entstanden
rund 250 Motels. Entsprechend eifrig
buhlten die Besitzer um die Gunst der
Ein Ort zum Vergnügen: Der Boardwalk in Wildwood bietet alles, was die UnterBilder Dominik Fehrmann
haltungsindustrie zu bieten hat.

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