KIWI Unterrichtsmaterialien

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KIWI
Schauspiel von Daniel Danis
Materialien
1
Inhaltsverzeichnis
Besetzung …………………………………………………………….. Seite 4
Zum Autor ……………………………………………………………... Seite 5
Zum Stück ………………………………………………………………Seite 6
Straßenkinder …………………………………………………………. Seite 7
Straßenjugendliche in Deutschland ………………………………….Seite 8
Geschichten von Straßenjugendlichen …………………………… Seite 14
Straßenjugendliche in Hamburg …………………………………….. Seite 15
Kinderarmut in Deutschland …………………………………………..Seite 16
Interviews mit Straßenjugendlichen ………………………………….Seite 33
Film- und Literaturtipps ………………………………………………. Seite 42
Theaterpädagogik …………………………………………………….. Seite 43
Angebote und Veranstaltungen zu „Kiwi“ ………………………….. Seite 46
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Liebe Lehrerinnen und Lehrer, liebe Leserinnen und Leser!
Unser neues Jugendstück „Kiwi“ von Daniel Danis behandelt ein Thema, mit dem Sie
hoffentlich bislang nicht selbst zu kämpfen hatten (und Ihre Schüler hoffentlich auch
nicht), von dem aber jeder schon einmal gehört hat. Straßenkinder gibt es auch in
unserer Nähe – vielleicht nicht in Lüneburg, aber in Hamburg ganz sicher. Und in
Berlin, Köln, Frankfurt, München … In Südosteuropa, in Asien, Afrika und in Amerika
– kurz: Straßenkinder gibt es weltweit.
Für diese Materialien haben wir einige Informationen zur Situation von
Straßenkindern in aller Welt zusammengetragen, außerdem finden Sie Hinweise auf
Quellen im Internet, die weitere Fakten bieten. Falls Sie ein Projekt zum Thema
Straßenkinder planen, möchten wir Sie auf die Aktion „Straßenkind für einen Tag“
von Terre des Hommes hinweisen, die für Schüler und Schulen konzipiert ist.
Sie können Ihre Schüler mithilfe der Fakten-Materialien auf den Vorstellungsbesuch
vorbereiten, oder aber unsere Theaterpädagogik-Tipps auf Seite 43 nutzen, um
einen ersten Einstieg in das Stück und das Thema Straßenkinder zu bekommen.
Auch für eine weiter gehende Auseinandersetzung nach dem Vorstellungsbesuch
haben wir eine Reihe von Übungen und Tipps für Sie zusammengestellt.
Wenn Sie ab Oktober in eine unserer Vorstellungen kommen, können Sie außerdem
im Foyer des T.3 eine Foto-Ausstellung zum Thema Straßenkinder sehen, die uns
Terre des Hommes freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat.
Und falls Sie nach der Einarbeitung in das Thema eventuell ein Projekt mit Ihrer
Klasse über Straßenkinder machen wollen, stehen wir Ihnen gern mit Rat und Tat zur
Verfügung! Wir können Sie auf weitere Informationsquellen hinweisen, Kontakt zu
Terre des Hommes oder Streetworkern in Hamburg herstellen und Ihnen Tipps für
Projekttage geben. Kontaktieren Sie mich einfach wie immer unter
[email protected] .
Und auch wenn das Stück „Kiwi“ kein leichter Stoff und das Thema Straßenkinder
wahrlich nicht zum Lachen ist: Die Figur Kiwi, die Daniel Danis geschaffen hat, ist bei
allem, was sie erlebt, so voller Lebensdrang, Sehnsucht und Kraft, dass sie auch Mut
machen kann, mitreißen kann und den Glauben gibt, dass man die Welt vielleicht
doch noch ändern – im Sinne von verbessern – kann!
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen einen guten und anregenden Theaterbesuch und
viel Freude mit unseren Materialien!
Sabine Bahnsen
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Kiwi
Straßenkinder im Überlebenskampf
Schauspiel von Daniel Danis
Aus dem Französischen von Gerda Gensberger
Kiwi …………………………………… Claudia Grottke
Litchi ………………………………….. Gregor Müller
Schatten/ Statisterie ………………… Anna Sophie von
Mansberg/ Merle Schneefuß/
Vera Perten
Dominik Semrau / Felix Barthelmes
Calvin Noel Auer / Dennis Bressem
Till Krüger
Regie …………………………………. Sabine Bahnsen
Bühne und Kostüme ………………... Erwin Bode
Dramaturgie ………………………….. Katja Stoppa
Regie-Assistenz/ Abendspielleitung .. Dario Barbato
Premiere am 21. September 2012
Aufführungsdauer ca. 65 Minuten, keine Pause
Aufführungsrechte: S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main
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Zum Autor
Daniel Danis (geb. 1962 in Rouyn-Noranda, Québec, Kanada) arbeitete als
Schauspieler und Regisseur und lebt heute als Schriftsteller und bildender Künstler
in Saguenay, Québec. Die Arbeiten des Frankokanadiers wurden in Kanada und
Frankreich mehrfach ausgezeichnet. Er gilt heute als einer der wichtigsten
französischsprachigen Schriftsteller. Seine Werke werden in Quebec, Schottland,
Irland, Frankreich, Belgien, Italien und Deutschland gespielt.
„Kiwi“ entstand auf Grund eines Pressefotos, welches die Überbelegung der
rumänischen Gefängnisse mit Kindern dokumentierte.
Über seine eigene Arbeit sagt Daniel Danis:
"Wenn meine Charaktere tragische Leben führen, dann befähigt sie das, ihrem
immensen Wunsch nach Leben Ausdruck zu verleihen. Mein Theater richtet sich
mehr an das Unbewusste als an die Psychologie.“
Weitere Theaterstücke von Daniel Danis:
Celle-là (Deutsch von Almut Lindner)
Das Lied vom Sag-Sager (Deutsch von Uta Ackermann)
Die Steinbrücke und die Bilderhaut (Deutsch von Almut Lindner)
Kieselasche (Deutsch von Andreas Jandl)
Zungenspiel der Felsenhunde (Deutsch von Almut Lindner)
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Das Stück
Kiwi ist ein zwölfjähriges Mädchen und hieß früher anders. Ihre Eltern sind lange tot,
die Verwandten, bei denen sie lebte, haben sie allein zurück gelassen, als die Slums,
in denen sie wohnten, zwangsgeräumt wurden. Seither lebt Kiwi auf der Straße und
muss allein zurechtkommen. In der Stadt trifft sie auf eine Gruppe von obdachlosen
Jugendlichen, die sich zusammen getan haben, um gemeinsam das Überleben zu
meistern. Sie nennen sich „Familie“ und geben sich Namen von Früchten – von ihnen
bekommt auch Kiwi ihren neuen Namen. Alle in der Gruppe sehnen sich nach
Wärme und Geborgenheit und träumen von einem besseren Leben. Kiwi findet hier
eine Zeitlang tatsächlich so etwas wie eine neue Familie, die Halt gibt und Zuflucht
bietet. Sie freundet sich mit Litchi, einem Jungen aus der Gruppe, an und wird sogar
von der Gruppe mit ihm „verheiratet“. Alles scheint gut zu werden, ein kleines Glück
unter schwierigen Bedingungen. Aber die Gruppe ist in Gefahr, die Geheimpolizei
jagt obdachlose Jugendliche und eines Tages spitzt sich die Situation dramatisch
zu …
„Daniel Danis' Blick auf die Notsituation von Straßenkindern bewahrt sich bei aller
Düsternis den Trost menschlicher Beziehungen unter den Kindern, die einander die
Möglichkeit von Vertrauen und Fürsorge wieder lehren. Danis findet dafür nicht nur
eine anrührende Geschichte, sondern auch poetische Sprachbilder, die sich der
Trostlosigkeit zu widersetzen scheinen. Drei Jahre umfasst der Bericht des
Mädchens Kiwi, der den Leser und Zuhörer sehr schnell in seinen Bann zieht. Der
Autor, der das Stück zunächst selbst zur Uraufführung brachte, verschränkte den
narrativen Redefluss mit filmischem Material. Unabhängig aber von Danis' aktuellen
Recherchen rund um neue Technologien auf der Bühne, behauptet sich der Text
durch eine selbstbewusste, poetische Sprache, die nicht oberflächlich auf
Jugendlichkeit setzt.“
Barbara Engelhardt: Vorwort in: Theater der Zeit, Scène 10, Kinder- und
Jugendtheater, Herausgegeben von Barbara Engelhardt
Quelle: http://www.theaterderzeit.de/Book/Preface/24
„Kiwi“ wurde 2008 mit dem vom Bundesministerium für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend ausgestatteten Deutschen
Jugendtheaterpreis ausgezeichnet.
Begründung der Jury:
“Kiwi, Litchi und die anderen Kinder haben ihr altes Leben „unter einem
Scheißhaufen begraben“ und sich Obst- und Gemüsenamen gegeben. Aus dem
Gefängnis für Waisen geflohen, leben sie miteinander am Rande einer Metropole in
einer eigenen Gemeinschaft. In dieser gibt es die gleichen Probleme wie überall auf
der Welt, doch die ständige existenzielle Bedrohung ihres Lebens zwingt diese
Teenager, über sich hinaus zu wachsen.
Daniel Danis lässt seine Protagonisten ohne jede Sentimentalität von einem Leben
am anderen Ende der Welt berichten. In der Gegenwärtigkeit und Atemlosigkeit der
Erzählung liegt ein Sog, der der Geschichte dieser Namenlosen eine große Kraft
verleiht.“
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Straßenkinder
Die Straße als Lebensmittelpunkt
Hintergründe und Ursachen eines weltweiten Phänomens
Zahlen und Fakten
Schätzungsweise 100 Millionen Straßenkinder gibt es weltweit. Darunter fallen
ebenso verlassene, obdachlose Kinder wie auch Jugendliche und junge Erwachsene,
die einen Großteil des Tages auf der Straße verbringen.
Deutschland:
9.000 Jugendliche und junge Erwachsene, die Hälfte von ihnen unter 18 Jahren
Südafrika:
etwa 30.000 Mädchen und Jungen, davon etwa 3.200 in der Provinz Gauteng
(Johannesburg)
Mosambik:
3.500 bis 5.000 Straßenkinder
Kolumbien:
30.000 Straßenkinder, etwa 3.000 in Bogotá
Indien:
11 Millionen Straßenkinder (Schätzung der indischen Regierung aus dem Jahr 1997)
Kambodscha:
etwa 10.000 bis 20.000 Kinder, Phnom Penh (Hauptstadt) etwa 1.200
Quellen:
terre des hommes,
Consortium for Street Children,
www.strassenkinderreport.de
Schätzungsweise 100 Millionen Straßenkinder gibt es weltweit. So gewaltig diese
Zahl ist, so unterschiedlich sind die Lebensumstände der Kinder: Es gibt Mädchen
und Jungen, deren Eltern in Kriegswirren oder bei Katastrophen verschollen sind und
die sich in den Großstädten allein durchschlagen müssen. Oder es sind ausgesetzte
Kinder, um die sich niemand mehr sorgen wollte. Als Straßenkinder gelten auch
junge Menschen, die den ganzen Tag auf der Straße arbeiten und abends zum
Schlafen nach Hause gehen, ohne dass sich jemand um sie kümmert. Allen ist
gemein, dass sie gravierende Lücken in ihrer Sozialisation haben. Normalerweise
entwickelt sich ein Kind über die Stationen Familie, vielleicht Kindergarten, Schule,
Freundeskreis und Beruf zum aktiven und mündigen Mitglied der Gesellschaft. Bei
Straßenkindern reduziert sich die Sozialisation auf die Erfahrung von Mangel an
Essen oder einer lieblosen Kindheit. Familiäre Gewalt ist der Normalfall. Daher
brechen Kinder häufig selbst den Kontakt nach Hause ab –
zumeist erst, nachdem sie bereits eine Zeit lang zwischen Familie, eventuell einem
Heim und der Straße gependelt sind. Die Straße wird zum Lebensmittelpunkt.
Zusammenhalt und Hilfe
Straßenkinder sind ein Metropolenphänomen. In der Stadt fällt die Flucht leichter,
Ausreißer können einfacher untertauchen. Oft bilden sich feste Gruppen von
Straßenkindern, die zusammenhalten und sich gegenseitig helfen. Doch wer glaubt,
dass sich damit alle Probleme lösen, sieht sich oft getäuscht. In den Gruppen
wiederholen sich die zu Hause erlebten Muster der Gewalt, insbesondere
zwischen Jungen und Mädchen, zwischen Anführern und »Fußvolk«. Dennoch bleibt
die Gruppe oft über Jahre der einzige Bezugspunkt. Bei den Älteren können
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Paarbeziehungen entstehen. Trotz hoher Raten von Abtreibungen und Kindersterblichkeit gibt es vielerorts schon die
»zweite Generation« – Kinder, die auf
der Straße geboren wurden und nun auch dort aufwachsen.
Straßenkinder sind bisweilen apathisch, andere sind aggressiv. Der ständige
Überlebenskampf zerfrisst Körper und Seele. Er fördert aber auch Tugenden wie
Schnelligkeit, Einfallsreichtum und Eigenverantwortlichkeit. Straßenkinder brechen
Normen der Gesellschaft und sind den Behörden ein ordnungspolitisches Ärgernis.
Viele Straßenkinder versuchen, sich mit schlecht bezahlten Arbeiten über Wasser zu
halten. Sie arbeiten als Straßenverkäufer, sammeln verwertbaren Müll, machen
Straßenkunst oder verdingen sich als Putzkraft oder Lastenträger auf dem Markt.
Andere wenden sich Prostitution, Alkohol- und Drogenkonsum zu und leben vom
Betteln.
Viele Stadtverwaltungen versuchen, das Problem mit zwangsweiser
Heimunterbringung oder Vertreibung von öffentlichen Plätzen zu lösen. Doch so
werden nur die Symptome bekämpft, ohne dass sich an den Ursachen etwas ändert.
Impressum
Herausgeber
terre des hommes
Hilfe für Kinder in Not
Redaktion
Wolf-Christian Ramm (verantwortlich),
Athanasios Melissis
Redaktionsassistenz
Cornelia Dernbach
Straßenjugendliche in Deutschland
Inhaltsverzeichnis
Armutsberichte. Zahlen und Fakten
Ursachen für das Verlassen der Familie
Charakterisierung der Herkunftsfamilien
Armut und die Folgen
Schule und Exklusion
Überlebensstrategien. Individuelle Ressourcen
Links und Literatur
Armutsberichte. Zahlen und Fakten
Wie in anderen Ländern, so ist auch in Deutschland die Bezeichnung "Straßenkinder" umstritten, die
vorgeschlagenen Definitionen sind uneinheitlich und nicht befriedigend. Was das Alter der Betroffenen
angeht, so stößt man auf deutschen Straßen auf Jugendliche, kaum aber auf Kinder unter 14 Jahren.
Bei ihnen handelt es sich meist um Ausreißer, die kurzfristig von zu Hause oder aus einer Einrichtung
weggelaufen sind. Um sie näher in den Blick fassen zu können, ist es hilfreich, zwischen
Jugendlichen, die einen Großteil des Tages auf der Straße verbringen, obdachlosen Jugendlichen und
Jugendlichen, die auf der Straße arbeiten, zu unterscheiden.
Es liegen keine empirischen Studien vor, aus denen eindeutig hervorgeht, wie
viele Straßenjugendliche es in Deutschland gibt. Alle zugänglichen Angaben sind bloße Schätzungen.
Im Jahr 2001 ging das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung in seinem ersten Armuts- und
Reichtumsbericht von 7 000 in Deutschland auf der Straße lebenden Jugendlichen aus - junge
Menschen unter 18 Jahren, die einen erheblichen Teil ihres Lebens auf der Straße zubringen (siehe
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Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (Hg.): Lebenslagen in Deutschland, Bonn 2001, S.
116). Dabei handele es sich um Personen in "extremen Unterversorgungslagen". Bisherige
Untersuchungen, so der Text, seien unzureichend. Überhaupt lieferten die amtlichen Statistiken keine
hinreichenden Angaben über die Menschen, die, wie Obdachlose oder Straßenkinder, am Rande der
Gesellschaft stehen und von Maßnahmen des Systems sozialer Sicherung nicht oder nicht mehr
erreicht würden. "Sie werden von ihren Sorgepflichtigen vernachlässigt oder entziehen sich deren
Aufsicht. Ihren Lebensunterhalt bestreiten sie oftmals durch Bettelei, Diebstahl, Prostitution oder
Drogenhandel." (ebenda) Für viele von ihnen bestehe der Wunsch, "ein ganz normales Leben" mit
Partner, Wohnung und Arbeit zu führen, aber ein Ausstieg sei oftmals schwierig. Für diese
Minderjährigen fehle es an angemessenen Therapiemöglichkeiten, etwa zum Drogen- oder
Alkoholentzug. Generell seien für die Betreuung von Straßenkindern die örtlichen Jugendämter
zuständig, die über ein breites Spektrum an Hilfen und Maßnahmen (wie Vollzeitpflege,
Heimerziehung, betreutes Wohnen oder intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung) verfügten.
Im Jahr 2002 meldete die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe, dass 72 000 Kinder und
Jugendliche in Obdachlosensiedlungen lebten. Jährlich gingen bundesweit etwa 30 000
Vermisstenmeldungen bei der Polizei ein. Davon beträfen etwa 50 Prozent Kinder und
Jugendliche. Allerdings wären nicht alle vermissten Kinder Straßenkinder. Manche Jugendlichen liefen
aus freien Stücken von zu Hause weg und kehrten bald wieder zurück. Andere würden von ihren
Eltern verstoßen. Mädchen ertrügen schwierige Familiensituationen leichter oder länger als Jungen.
Da sich männliche Jugendliche mehr als weibliche außerhalb des Hauses aufhielten, ginge der
Übergang in eine Straßenkarriere bei ihnen meist schneller vonstatten. Dennoch nähere sich die
früher geringere Zahl der betroffenen Mädchen der der Jungen immer mehr an. Mädchen, die der
Prostitution nachgehen oder Unterschlupf bei einem Freier finden, seien naturgemäß schwerer
wahrnehmbar und erreichbar als Jungen.
Im zweiten Armutsbericht der Bundesregierung aus dem Jahr 2005 ist die Rede von Kindern,
Jugendlichen und jungen Volljährigen mit "Straßenkarrieren". Die Betroffenen, so heißt es, hielten sich
in den City-Szenen von Großstädten über einen längeren Zeitraum auf, hätten keine anderen (oder
nur geringfügige andere, nämlich vor allem familiäre) Orientierungen und Anbindungen als die Straße.
Exakte Zahlen für Deutschland lägen immer noch nicht vor. Sie könnten wegen der fließenden
Übergänge zwischen der normalen Existenzweise und einer Straßenkarriere, vor allem aber wegen
des häufigen Ortswechsels der Betroffenen nicht vorgelegt werden. Das Dokument geht aufgrund von
Szenenschätzungen in neun deutschen Großstädten auch für 2005 von 5000 bis 7000 Personen "des
harten Kerns von Kindern und Jugendlichen auf der Straße" aus. Kennzeichnend für sie sei entweder
eine abrupte Flucht aus den bisherigen Lebenszusammenhängen oder eine schleichende Abwendung
von Familie, Jugendhilfeeinrichtungen und Schule bzw. Ausbildung. Besonders die Jüngeren unter
ihnen hätten neben der Straße eine bisweilen stärkere, bisweilen schwächere Anbindung an ihre
Familien. Viele pendelten zwischen Straße, Familie und Jugendhilfe ("Pendelkarrieren"). Die meisten
seien im Alter von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, Kinder unter 14 Jahren fänden sich kaum.
Ein gefährliches Vorstadium zur Straßenkarriere sei das Schuleschwänzen von Kindern schon ab 8
Jahren. Die meisten von ihnen kömen aus Familiensituationen, die durch Diskontinuität
(Aufenthaltswechsel, Heime, Beziehungsabbrüche, problematisches Beziehungs- und
Erziehungsverhalten) gekennzeichnet seien. Nicht selten sei es in diesen Familien, in denen oft
Arbeitslosigkeit und Finanznöte herrschten, zu Drogenkonsum, Missbrauch und sexuellen Übergriffen
gekommen.
Der dritte Armutsbericht der Bundesregierung aus dem Jahr 2008 nennt im Blick auf Kinder und
Jugendliche der Straße überhaupt keine Zahl mehr. Stattdessen werden Maßnahmen zur Betreuung
der Betroffenen genannt: Hilfen zur Erziehung, Eingliederungshilfen, Hilfe für junge Volljährige,
Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen, Jugendarbeit, Jugendsozialarbeit. Da Armut und
Ausgrenzung zumeist mit Bildungsarmut beginnen, liegt der besondere Nachdruck auf dem Ausbau
des Kinderbetreuungsangebots. Im Rahmen der Jugendsozialarbeit werden aufsuchende und
akzeptierende Angebote der Straßensozialarbeit betont. Darüber hinaus gibt es Anlaufstellen für die
Grundversorung (Essen, Waschen, Schlafen), medizinische Hilfe und psychosoziale Beratung. Die
Kinder und Jugendlichen, die überwiegend aus hoch belasteten Familien stammen, sollen in betreute
Wohngruppen integriert und aus dem schädigenden Umfeld der Straße herausgelöst werden.
Im Unterschied zu den Armutsberichten der Bundesregierung wagen verschiedene Einrichtungen für
Straßenjugendliche präzisere Schätzungen. Die niedrigste Zahlenangabe stammt von der landesweit
engagierten Nichtregierungsorganisation Off Road Kids in Donaueschingen. Demnach gäbe es
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höchstens 1.500 Straßenkinder in Deutschland. Von den nahezu 2.500 Minderjährigen, die jährlich auf
die Straße gelangten, würden nur etwa 300 zu richtigen Straßenbewohnern. Von "terre des hommes"
wird die Zahl der unter 18 Jahre alten Obdachlosen in Deutschland auf mindestens 2.000 geschätzt.
Der Anteil der Mädchen soll 30 bis 40 Prozent ausmachen. Indessen nennt der Berliner Verein
"Straßenkinder e.V." allein für die deutsche Hauptstadt eine je nach Jahreszeit zwischen 3.000 bis
5.000 schwankende Anzahl. Zwei Drittel von ihnen leben angeblich noch bei der eigenen Familie, bei
Freunden oder in einer sonstigen Wohnung.
Uwe Britten, der unter Straßenjugendlichen alle Minderjährigen zusammenfasst, die die Straße als
ihren Sozialisationsmittelpunkt gewählt haben, dabei aber durchaus noch Kontakt zu den Eltern
pflegen, bei ihnen übernachten oder in alternativen Wohnstätten schlafen, nennt die Zahl von 9.000
bis 10.000 Jungen, Mädchen und jungen Erwachsenen in Deutschland (siehe seine Recherche für
terre des hommes). Er beschreibt sie als "Pendler" zwischen Familie, Heim und Straße. Im Jahr 2007
ergab eine Stichprobe von terre des hommes, dass etwa 2,5 Prozent der in Straßenkinderprojekten
betreuten Personen unter 14 Jahren, 20 Prozent zwischen 14 und 16 Jahren, 27,5 Prozent zwischen
16 und 18 Jahren alt sind. Gut die Hälfte von ihnen ist volljährig.
Der Übergang vom Leben in der Familie zum Aufenthalt auf der Straße geht bei deutschen wie
ausländischen Jugendlichen bisweilen langsam, manchmal auch rasch oder in Etappen vonstatten. Es
gibt Kinder und Jugendliche, die vor zu strengen Regeln und Geboten, aus Angst vor Strafe für
begangene Vergehen, vor Schlägen oder Demütigung fliehen. Im Grunde sind es in Deutschland und
in Entwicklungsländern dieselben Ursachen, die Kinder und Jugendliche dazu bewegen, ein Leben
auf der Straße zu beginnen. Lediglich der Grad der Belastung unterscheidet sich. Deutschen und
ausländischen Straßenjugendlichen sind multiple Deprivationen gemeinsam - materielle Armut,
Arbeitslosigkeit, unzureichende Wohnverhältnisse, mangelnde Bildung und Ausbildung, Drogen- und
Alkoholabhängigkeit sowie ausgeprägte Konfliktlagen in den Herkunftsfamilien. Viele Betroffene
haben Gewalt- und Missbrauchserfahrung gemacht, und die Wenigsten können auf ein belastbares
soziales Netzwerk zurückgreifen.
Ursachen für das Verlassen der Familien
Bevor Jugendliche ihre Familie verlassen und den Schritt auf die Straße wagen, müssen sie zu Hause
äußerst belastende Situationen ertragen. Ihre Familien verfügen meist nur über ein niedriges
Einkommen. Armut und Exklusion prägen ihre Lebenslagen. Die Arbeitsverhältnisse der Angehörigen
von Straßenjugendlichen sind fast immer prekär. Ihre Wohnverhältnisse lassen zu wünschen übrig.
Aber schwerer wiegt, dass die Beziehungen der Kinder und Jugendlichen zu ihren Eltern gespannt
sind. Institutionen wie Schule oder Einrichtungen der Jugendhilfe, von denen Hilfe zu erwarten wäre,
erweisen sich als unfähig, auf die gegebene Problemsituation einzugehen und lebensdienliche
Hilfestellung zu geben.
Armut, Niedriglohn und belastete Sozialräume sind Merkmale, die die Herkunft von
Straßenjugendlichen in Deutschland wie in Entwicklungsländern charakterisieren. Die Situation
betroffener deutscher Familien ist dermaßen prekär, dass sie sich häufig verschulden müssen, um die
nötigsten Bedürfnisse befriedigen zu können. Exklusion und Armut als Ursache für die Entstehung von
Straßenkarrieren sind in Entwicklungsländern naturgemäß stärker ausgeprägt als in Deutschland.
Straßenkinder in südamerikanischen Ländern entstammen fast ausschließlich Familien, die in
absoluter Armut leben. rn rn
Charakterisierung der Herkunftsfamilien
Die Hauptbezugspersonen von deutschen Straßenjugendlichen, insbesondere ihre Eltern, haben in
der Regel einen niedrigen Bildungsstand. Für die Ausübung eines Berufes sind sie häufig nur müßig
qualifiziert. So gut wie nie können sie einen höheren Bildungsabschluss vorweisen, die meisten von
ihnen haben lediglich eine Hauptschule oder Sonderschule besucht. In Entwicklungsländern ist dieses
Merkmal noch drastischer ausgeprägt: Sehr viele Eltern südamerikanischer Straßenkinder haben
überhaupt keinen Schulabschluss. Sie haben häufig nicht einmal die Primaria (Grundschule)
absolviert. Nicht wenige sind Analphabeten. Ihrer Bildung und Ausbildung entsprechend gehen die
Eltern deutscher Straßenjugendlicher häufig Tätigkeiten nach, für die man keine Ausbildung braucht
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(Nichtausbildungstätigkeit). In Entwicklungsländern sind Eltern von Straßenkindern fast immer im
informellen Sektor (zum Beispiel als Putzfrau, Gelegenheitsarbeiter, Bettler usw.) tätig.
Solange deutsche Straßenjugendliche noch zuhause lebten, waren ihre Wohnverhältnisse meist
beengt. Bisweilen hatten sie nicht einmal ein eigenes Bett. In Drittweltländern ist dieses Merkmal noch
drastischer ausgeprägt. Allerdings ist die Belastung durch Enge dort ein allgemein verbreitetes
Phänomen und trifft den größten Teil der Bevölkerung sowie die meisten Familien des (unteren)
Mittelstandes.
Unter deutschen Straßenbewohnern sind Drogen- und Alkoholkonsum weit verbreitet. Oft beginnt der
Missbrauch bereits im Kindesalter, zumal wenn die eigenen Eltern alkohol- oder drogenabhängig sind.
In Deutschland soll es 3 bis 4 Millionen Kinder und Jugendliche geben, die mit Drogen
konsumierenden Erwachsenen aufwachsen. Die Drogenabhängigkeit wird oft von Generation zu
Generation weitergereicht. In Entwicklungsländern, zum Beispiel in Südamerika, sind so gut wie alle
Straßenbewohner drogenabhängig. Die Möglichkeit, Drogen zu konsumieren, ist für viele Kinder und
Jugendliche ein ausschlaggebender Grund, die Familie zu verlassen und auf der Straße zu leben.
Armut und die Folgen
Armut ist nicht nur Mangel an materiellen Gütern. Sie beeinträchtigt die Lebensqualität und wirkt sich
auch sozial und psychisch aus. Arme sind isoliert, sie werden räumlich ausgegrenzt und sind
gesundheitlich beeinträchtigt und besonders belastet. Kinder aus armen Familien haben meist
geringere Chancen auf ein gedeihliches Leben und sind kaum fähig, ihre Lage zu verbessern.
Dauerhaft materieller Mangel belastet auch die Beziehungen in den Familien. Trennungen und
Scheidungen kommen häufig vor. Viele deutsche Straßenjugendliche stammen von Eltern ab, deren
Ehen gescheitert sind. Arbeitslosigkeit, Mangel am Überlebensnotwendigen und Verschuldung führen
leicht zu innerfamiliären Spannungen und zu plötzlichen Ausbrüchen von Gewalt. Ehe deutsche
Jugendliche auf der Straße landen, haben sie in der Regel gravierende Defiziterfahrungen im
familiären Zusammenleben gemacht. Vielen ist es nicht gelungen, eine enge gedeihliche Beziehung
zu Vater, Mutter oder Verwandten zu entwickeln. Stattdessen mussten sie Vernachlässigung,
Missachtung, Misshandlungen oder gar Missbrauch erfahren.
Innerfamiliäre Konflikte verhinderten den Aufbau eines stabilen Netzwerkes sozialer Beziehungen.
Kontakte zu Verwandten, etwa zu Tanten und Onkel, können die in der frühen Kindheit erfahrenen
Defizite der Eltern-Kind-Beziehung nicht ersetzen oder ausgleichen. Dieses Merkmal trifft auch auf
Straßenbewohner in Entwicklungsländern zu. In Kolumbien zum Beispiel haben viele Kinder, ehe sie
auf der Straße landen, bereits ihren Vater oder gar beide Elternteile verloren. Nachdem sie ihr
Zuhause verlassen haben, bricht der Kontakt zur Herkunftsfamilie nach und nach oft ganz ab. Viele
Straßenkinder wissen nicht einmal, ob ihre Eltern noch leben. Gewalterfahrung und Defizite in der
Elter-Kind-Beziehung sind häufigste Ursache für die Flucht junger Menschen aus dem Elternhaus
(Christoph Butterwegge u.a.: Armut und Kindheit, Opladen 2003, S. 145).
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Schule und Exklusion
Für deutsche Straßenjugendliche sind Freundschaften überaus wichtig. Dies gilt genauso für Kinder
und Jugendliche der Straße in anderen Ländern. Durch die Bildung von Gruppen und Gangs
versuchen sie, früher erlebte Konflikte und Gewalterfahrungen zu kompensieren. Im Unterschied
hierzu spielen institutionelle Hilfen und auch erlebte Heimaufenthalte kaum eine positive Rolle. Auch
die Schule stellt oft einen Anlass dar, um das Leben auf der Straße aufzunehmen. Dieses Phänomen
wird im Bildungswesen von Entwicklungsländern seit langem beobachtet. Es trifft mehr und mehr auch
auf Deutschland zu. Die Schule erweist sich als unfähig, defizitäre Erfahrungen aufzugreifen,
erfolgreich zu bearbeiten und zu kompensieren. Schule und Unterricht stellen für problembelastete
Kinder und jugendliche offenbar keine Hilfe dar. Sie sind vielmehr Instrumente der Selektion und
Exklusion. Lehrern gelingt es nicht, Kinder und Jugendliche von Flucht und Ausbruch abzubringen.
Vielmehr stiften sie sie durch Disziplin und Noten unbewusst dazu an, dem feindlich gesonnenen
System Schule den Rücken zu kehren. Wenn Jugendliche ein auffallend aggressives, gewalttätiges
und respektloses Verhalten zeigen, wird ihnen selten Hilfe zuteil; stattdessen werden sie bedroht und
früher oder später aus dem Schulsystem ausgeschlossen. Schule integriert nicht, sondern segrediert.
In Entwicklungsländern ist es nicht anders. Kinder und Jugendliche der Straße tragen oft negative
Schulerfahrungen, sie sind angesichts von Misserfolgen und Zurückweisung oft enttäuscht und
traumatisiert. Entsprechend ablehnend reagieren sie mitunter auf neue Bildungsangebote.
Überlebensstrategien. Individuelle Ressourcen
Wenn Jugendliche die Straße als Lebensmittelpunkt gewählt haben, bleibt ihnen selten eine
realistische Chance, ihre materielle Situation zu verbessern. Sie kommen nur schwer an Geld, haben
kaum eine Möglichkeit, sich weiter zu bilden und sind gesundheitlich ständigen Gefahren ausgesetzt.
Wohn- und Übernachtungsmöglichkeiten sind äußerst prekär. Die Grenzen zwischen legaler und
illegaler Tätigkeit auf der Straße sind fließend. Lukrativer als legale Gelegenheitsjobs - Schuhe
putzen, Autos bewachen, Zigaretten verkaufen und Waren transportieren - sind Diebstahl,
Drogenhandel und Prostitution. Dies gilt in Deutschland und erst recht in Entwicklungsländern. Als
Mittel zur Sicherung der elementarsten Bedürfnisse reicht jedoch auf Dauer weder das eine noch das
andere aus.
Hinsichtlich der Frage nach den individuellen Ressourcen zur Bewältigung des Alltags von
Straßenjugendlichen kann man in Anlehnung an Bourdieu zwischen sozialem, kulturellem und
biophysischem „Kapital“ unterscheiden. Beim sozialen Kapital handelt es sich um emotional-affektive
sowie sozial kommunikative Fähigkeiten. Kulturelles Kapital betrifft den kognitiv-rationalen,
biophysisches Kapital den psychomotorischen Bereich. Was Straßenjugendlichen in Deutschland wie
in anderen Ländern mangelt, ist ein gesund ausgeprägtes Selbstwertgefühl. Die wenigsten haben
optimistische Zukunftserwartungen. Dieses Manko beeinträchtigt sie in seelischer wie sozialer
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Hinsicht. Stattdessen ist bei ihnen die Neigung verbreitet, Konflikte rasch und handgreiflich durch ein
aggressives, gewalttätiges Verhalten zu bewältigen.
Unter den deutschen Straßenmädchen kommt die Neigung zu Selbstverletzungen als vermeintliches
Problemlöseverhalten häufiger vor. Wenn es darum geht, Kontakte zu knüpfen, fühlen sich
Straßenjugendliche häufig durch eine eingeschränkte sprachliche und kommunikative Kompetenz,
mangelnde Bildung und schulische Defizite minderwertig und behindert. Indes hegen viele
Jugendliche der Straße in Deutschland wie in Entwicklungsländern den dringenden Wunsch, ihre
abgebrochene Schullaufbahn fortzusetzen. Sie möchten zu einer angemessenen Berufsausbildung
kommen. Nicht selten trifft man auf der Straße junge Menschen an, die sich für Kunst und Literatur
interessieren und auch Talente zum Malen, Schreiben, Musizieren und Theaterspielen aufweisen.
Der Konsum von Drogen ist für Straßenbewohner in Deutschland wie anderswo ein Mittel zur
Lebensbewältigung. Rauschgift kann für eine gewisse Zeit Angst, Ekel, Frust, Wut und
Hoffnungslosigkeit besänftigen oder beseitigen. Im Blick auf die Zukunft hegen so gut wie alle
Jugendlichen der Straße die Hoffnung, ihre Situation verbessern zu können. Sie möchten gerne einer
geregelten Arbeit nachgehen, einen Schulabschluss machen und eine Berufsausbildung absolvieren.
Später möchten sie genügend Geld verdienen, eine Familie gründen und Kinder haben. Während bei
Straßenjugendlichen in Deutschland diese Perspektiven meist durchaus realisierbar erscheinen, sind
die Zukunftswünsche von Kindern und Jugendlichen der Straße in Entwicklungsländern leider oft
illusionär.
Links und Literatur
BMA - Bundesministerium f�r Arbeit und Sozialordnung (Hg.): Lebenslagen in Deutschland � Der erste Armutsund Reichtumsbericht der Bundesregierung, Bonn 2001.
BMA - Bundesministerium f�r Arbeit und Sozialordnung (Hg.): Lebenslagen in Deutschland. Der 2. Armuts- und
Reichtumsbericht der Bundesregierung, Bonn 2005.
BMA - Bundesministerium f�r Arbeit und Sozialordnung (Hg.): Lebenslagen in Deutschland. Der 3. Armuts- und
Reichtumsbericht der Bundesregierung, Bonn 2008.
Butterwegge, Christoph u.a.: Armut und Kindheit. Ein regionaler und internationaler Vergleich, Opladen 2003,
insbes. S. 127ff.
Seidel, Markus: Straßenkinder in Deutschland, Frankfurt am Main / Berlin 1994.
13
Britten, Uwe: Abgehauen. Wie Deutschlands Straßenkinder leben, Bamburg 1995.
Bodenmüller, Martina: Auf der Straße leben - Mädchen und junge Frauen ohne Wohnung, Münster
1995.
Kilb, Rainer: Out of Order? Straßenleben von jungen Erwachsenen, Jugendlichen und Kindern am
Beispiel Frankfurt am Main, in: Sozialmagazin 12/1996, S. 50ff.
Pfennig, Gabriele: Lebenswelt Bahnhof. Sozialpädagogische Hilfen für obdachlose Kinder und
Jugendliche, Neuwied 1996.
Lutz, Ronald u.a. (Hg.): Weggelaufen und ohne Obdach. Kinder und Jugendliche in besonderen
Lebenslagen, Weinheim/München 1999.
Quelle: Straßenkinderreport; www.strassenkinder.de
Alle Menschen die man liebt sterben
"Meine Ma is gestorbn. Sie fehlt mir so aber niemand dem ich sagn kann das meine Ma net nur schlecht war. Alle
glaubn sie war n schlechter Mensch aber das stimmt net. Ich habe ein Geheimnis. Nur meine Ma und ich wissen
das. Ich hab geschworn es nie jemanden zu sagen aber eigentlich will ich es jemand sagn. Ich hab n große
Schwester. Sie war einfach so da aber manchma weis ich net ob sie wirklich da is. Warum will sie überhaupt
meine Schwester sein? Irgendwann is sie auch einfach weg und vieleicht stirbt sie auch.
Alle Menschen die man liebt sterben. Ich glaube das is sowas wie n Fluch. Deswegn ist es besser wenn man
niemand liebt. Vielleicht bin ich auch schuld. Wenn ich ein besserer Sohn gewesen wäre würd mein Dad und
meine Ma noch öeben. Ich frag mich immer warum mein Dad sich umgebracht hat. Warum meine Ma sich ins
Koma gesoffen hat. Sie haben es einfach net mit mir ausgehalten. Und niemand mit dem ich drüber reden kann.
Ich darf nicht drüber reden was passiert is.
Alle sagn es wird jetzt alles besser. Aber das ist eine Lüge!! Ich will wieder laufen können aber ich werde es nie
wieder könn. Wenn ich frag hörst du mich sagn alle ja ich hör dich aber sie hören nicht zu. Sie hören nicht was ich
sage."
Jedes mal wenn ich vor der haus tür stehe
"Jedes mal wenn ich nach hause komme überlege ich ob ich irgentwas falsch gemacht habe irgendwas
verbrochen habe. Immer komme ich zu entschluss das alles gut ist, aber dann beim tür aufschließen höhre ich
schon die stimme von meiner ma “ lea wo warst du, lea räum deine wäsche weg, lea räum die spüle aus, lea lea
lea“. Immer werde ich einfach kritisiert, ohne erklärung wiso?! weshalb?! Jedes mal wenn ich vor der haus tür
stehe überlege ich ob ich einfach weglaufen sollte?! Aber wohin?! Zu wehm?! Jedes mal wenn ich am bahnhof
stehe überlege ich ob es weh tut, der tot. Oder ich mehr leiden müsst als ich ohnehin schon leiden muss."
(Texte von Straßenjugendlichen in Berlin (KUB): http://hoerstdumich.wordpress.com/2012/03/02/jedes-mal-voninnerer-schmerz/)
14
Zum Beispiel: Hamburg
(Meent Adden, Gaby Hoppe)
St. Georg
Anhand von Experteninterviews wurde im Zeitraum von Dezember 1995 bis Januar 1996 die Situation
am Hamburger Hauptbahnhof mit angrenzendem Stadtteil St. Georg sowie der Stadtteil St. Pauli
beleuchtet. Hierzu wurden folgende Ergebnisse veröffentlicht:
Nach Schätzungen der Experten lag zum damaligen Zeitpunkt die Größe der Gruppe von
Jugendlichen zwischen 50 und 200 Personen. Das Durchschnittsalter dieser Gruppe am
Hauptbahnhof wurde von mehreren Interviewten mit 15-17 Jahren angegeben. Kinder unter dem 14.
Lebensjahr wurden selten angetroffen. Insgesamt ergab eine Zählung der BHH
(Betreuungsgesellschaft Hauptbahnhof) in dem Zeitraum vom 03. bis 12. März 1995, dass sich
Gruppen mit den Merkmalen „Drogenabhängige/Stricher/Prostituierte" sowie
„Dealer/Streetkids/Andere" in einer Größenordnung von N=1.858 Personen in den o.g. Zeitraum
aufhielten. Die Kriterien, nach denen diese beiden Gruppen gebildet wurden, ließen sich nicht
rekonstruieren, ebenfalls undifferenziert waren die Altersgruppen. Somit lässt die durchgeführte
Zählung nur wenige Rückschlüsse auf den Anteil von Jugendlichen in dieser Gesamtgruppe zu
(Institut für soziale Arbeit: Lebensort Straße, S. 116). Gleichwohl lassen sich aus diesen
Kategorisierungen Rückschlüsse über die vorliegenden Problemlagen ziehen.
Der Hauptbahnhof, insbesondere der Hachmannplatz, spielt seit Anfang der neunziger Jahre eine
entscheidende Rolle als zentraler Treffpunkt für Jugendliche und Jungerwachsene, die harte Drogen
konsumieren (z.B. Heroin, Benzodiazepine etc.). Der Handel mit Drogen wurde nach Einschätzung
der Experten damals meist von minderjährigen, unbegleiteten Flüchtlingen organisiert. Die befragten
Experten wiesen darauf hin, dass es eine enge Verflechtung mit den Bereichen Drogenkonsum,
Prostitution und kriminellen Delikten gibt. Hinsichtlich der Prostitutionsszene führten die
Experten/innen an, dass es drei Verhaltensformen der Prostitution gibt:
· Prostitutionskontakte von Jungen und jungen Männern zu Männern;
· Kontakte von männlichen Kindern und Jugendlichen zu Päderasten;
· Prostitutionskontakte von Mädchen und jungen Frauen zu Männern.
Aus den Schilderungen der Interviewten lässt sich schließen, das weibliche Prostituierte nicht direkt
zum Hauptbahnhof kamen, um sich zu prostituieren, sondern um an dem dortigen Szeneleben
teilzunehmen und die Versorgungsangebote (Grundversorgung der am Bahnhof vorhandenen
Einrichtungen) wahrzunehmen. Die Prostitution der jungen Frauen fand im angrenzenden Stadtteil St.
Georg statt. Im Gegensatz dazu fand die Prostitution der männlichen Szeneangehörigen eher
verdeckt am Bahnhofsvorplatz statt (ebd.: S.119-120).
Zu den weiteren Gruppen, die sich zu diesem Zeitpunkt am Hauptbahnhof aufhielten, zählten nach
Angaben der Interviewten die jugendlichen Migranten/innen der zweiten und dritten
15
Migranten/innengeneration sowie die darunter subsumierten Gruppen der minderjährigen
unbegleiteten Flüchtlinge, die in Hamburg einen Asylantrag gestellt haben.
Der Hauptanteil der deutschen Kinder und Jugendlichen, die sich in der Szene rund um den
Hauptbahnhof aufhielten, stammten zum Befragungszeitraum aus Hamburg. Der Anteil aus
Hamburger Jugendhilfeeinrichtungen wurde laut Experten/innen auf 30 % bis 50 % geschätzt (ebd.: S.
121).
Stadteilszene St. Pauli
Auch im Stadtteil St. Pauli ließen sich anhand der Experten/innenbefragung unterschiedliche Gruppen
und Szenen identifizieren. Über den Umfang der einzelnen Szenen ließen sich nach Angaben der
Interviewten keine genauen Zahlen finden. Eine Einrichtung der offenen Kinder- und Jugendarbeit
bezifferte ihre tägliche Frequentierung mit durchschnittlich 72 Kindern und Jugendlichen. Eine andere
Einrichtung, die mit Punks und Drogenabhängigen arbeitete, bezifferte ihre tägliche Besucherzahl mit
30 bis 50 Personen. Die Experten/innen gaben an, dass es sich bei den Streetpunks um junge
Menschen handelte, die überwiegend nicht aus Hamburg kamen. Die Streetpunks sind männliche
Jungerwachsene im Alter von 18 bis 27 Jahre mit einem Durchschnittsalter bei 20 bis 22 Jahren.
Diese sind nach Auffassung der Interviewten nicht langfristig an dem Stadtteil gebunden. Die
Aufenthaltsdauer betrug in der Regel bis zu zwei Jahren. Exzessiver Alkoholkonsum sowie die
Einnahme von Designerdrogen seien in dieser Szene weit verbreitet (ebd.: S 123).
Die Drogenszene im Stadtteil unterschied sich hinsichtlich der Lebensbedingungen nicht grundlegend
von der am Hauptbahnhof. Die Angehörigen nutzen die vor Ort vorhandenen Hilfeeinrichtungen.
Sowohl bei den Punks als auch bei den Drogenkonsumenten/innen wurden Kinder nicht erwähnt. Dies
bezog sich hauptsächlich auf so genannte harte Drogen (Heroin, Kokain, Benzodiazepine). Für die
Kinder und Jugendlichen, die aus dem Stadtteil kamen, spielten nach Ansicht der Experten/innen
Alkohol und Cannabis eine Rolle.
Insgesamt waren die Lebensbedingungen in St. Pauli laut Experten/innen geprägt von
Arbeitslosigkeit, Sozialhilfeabhängigkeit und Alkoholproblemen der Eltern.
Folgende Trends und Veränderungen wurden in der Untersuchung von den Experten/innen im
Stadtteil und am Hauptbahnhof genannt:
· Die Zahl der Jugendlichen auf der Straße steige bedingt durch die Verarmung in den Familien in den
Stadtteilen und die geringe berufliche Qualifikation an.
· Immer mehr Jugendliche fielen aus dem Jugendhilfesystem heraus und würden auf der Straße
landen.
· Die Kinder und Jugendlichen auf der Straße würden immer jünger.
· Die Gewalt zwischen den Jugendlichen nehme zu.
· Das Drogenkonsumverhalten am Hauptbahnhof verändere sich. Heroin würde weniger intravenös
gespritzt, Designerdrogen in Tablettenform umso mehr konsumiert.
16
Entwicklungen seit 1996 in der Region St. Georg/ Hauptbahnhof und St. Pauli
Seit 1996 gilt in Hamburg das Sicherheits- und Ordnungsgesetz. Dieses wurde aufgrund der Tatsache
eingeführt, dass es in der Region um den Hauptbahnhof zu einer massiven Szenenbildung kam.
Durch eine höhere Streifendichte und Erteilen von Platzverweisen sollte die Szene am Hamburger
Hauptbahnhof gestört werden. Dies führte dazu, dass die Drogenszene in andere Stadtteile
abwanderte. Gleiches galt für einen Teil der Jugendlichen, die sich in dieser Region aufhielten. Vor
der Bürgerschaftswahl 2001 wurde direkt am Hauptbahnhof eine Sicherheitswache eingerichtet, die
von der Polizei als auch von Sicherheits- und Ordnungsdiensten genutzt wurde. Durch den
Regierungswechsel (CDU/FDP/Schill-Partei) wurde der Druck auf die Szene stark erhöht, was zu
weiteren Abwanderungstendenzen führte.
Fast zeitgleich mit der Einführung der SOG gab es innerhalb der Drogenszene eine zunehmende
Trendwende im Bereich der Substanzen. Lag die Prävalenz in den Jahren zuvor bei Heroin und
diversen Medikamenten (z.B. Benzodiazepine), wurde im Verlauf der zweiten Hälfte der neunziger
Jahre im zunehmenden Maße Crack geraucht und Kokain intravenös konsumiert.
Mit dem Regierungswechsel in Hamburg kam es ab 2002 zu Kürzungen bei Einrichtungen im
Hamburger Stadtgebiet. Hierdurch wurde die Hilfelandschaft sehr verändert. So wurden einige
Einrichtungen um 50 % gekürzt, andere Angebote wie z.B. die Straßensozialarbeit St. Pauli (eine der
Einrichtungen, deren Mitarbeiter/innen in den o.g. Abschnitt als Experten/innen interviewt wurden)
stellten ihre Angebote aufgrund der Kürzungen endgültig ein. Dabei weist gerade dieser Stadtteil
erhebliche Gefährdungslagen auf. Im Bereich des Spielbudenplatzes sammeln sich an den
Wochenenden die unterschiedlichen Jugendgruppen. Sehr oft kommt es hier zu heftigen
Auseinandersetzungen untereinander, teilweise bedingt durch massiven Kontrollverlust durch Drogen
(Ecstasy, Amphetamine und andere Substanzen) und Alkohol. Daher gilt auf der Reeperbahn ein
strenges Waffenverbot. Getränke aller Art dürfen an Kiosken nur in Dosen verkauft werden, weil die
Flaschen häufig als Waffen verwendet werden.
Diese Faktoren führten dazu, dass an anderen Orten der Stadt neue Szenen entstanden und sich
neue Streetwork-Angebote neu konzipieren mussten. Dies gilt insbesondere für den Bereich der Arbeit
mit Jugendlichen in besonderen Problem- und Lebenslagen. Nach wie vor spielt der Hamburger
Hauptbahnhof eine zentrale Rolle als Treffpunkt für unterschiedliche Gruppen junger Menschen,
dennoch treffen sich viele auch in anderen Stadteilen wie z.B. in St. Pauli.
(Aus: „Draußen und anderswo", Meent Adden, Standort Hamburg, Jahresbericht 2008. Zur Situation von Straßenkindern in
Deutschland, S. 9-12.)
17
Kinderarmut in Deutschland
(Hartwig Weber, August 2009)
Inhaltsverzeichnis
Armut. Armutsrisiko
Kinderarmut
Wohnungslose. Migranten. Straßenjugendliche
Minderung des Armutsrisikos durch Bildung
Links und Literatur
Deutschland gehört zu den reichsten Ländern der Welt. Dennoch beträgt die
Armutsrisikoquote bei Kindern im Alter zwischen 0 und 15 Jahren über 14 Prozent,
Tendenz steigend. Im europäischen Vergleich sind deutsche Kinder zwar privilegiert.
Aber die Gefahr, arm zu werden, liegt bei ihnen höher als bei der
Gesamtbevölkerung. Das Risiko zu verarmen ist in Deutschland in den letzten zehn
Jahren beständig gewachsen, und der langfristige Trend ist ungebrochen. Im Jahr
2010 leben 11,5 Millionen Bundesbürger an der Armutsgrenze, das sind 14 Prozent
der Gesamtbevölkerung. Dies trifft insbesondere für Familien (Haushalte mit
mehreren Kindern) und junge Erwachsene zu (Studie des Deutschen Instituts für
Wirtschaftsforschung, 2010; DIE ZEIT, Nr. 8, 18. Februar 2010, S. 22). Hauptgrund
ist Arbeitslosigkeit. Minderjährige stellen heute diejenige Altersgruppe dar, in der es
die meisten Armen gibt. Kinder sind vor allem dann von einem erhöhten Armutsrisiko
betroffen, wenn sie zu einem Haushalt mit geringer Erwerbsbeteiligung und zumal
von Alleinerziehenden gehören. Im Jahr 2008 lebte in Deutschland jedes vierte (so
die Arbeitsgemeinschaft der Kinder- und Jugendhilfe, AGJ), jedes fünfte (so das
Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung) oder jedes sechste Kind (so UNICEF) in
Armut. Arm sein bedeutet für Kinder nicht nur Mangel in der Grundversorgung
(Wohnen, Nahrung, Kleidung); es betrifft auch die Bildung, die soziale Integration
und die Gesundheit der betroffenen Kinder.
Armut. Armutsrisiko
Was den Anteil der Armen an der Gesamtbevölkerung betrifft, so liegt Deutschland
nach Irland, Portugal und der Slowakei (21 Prozent) mit Frankreich (14 Prozent) und
Österreich (13 Prozent) etwa gleich auf. Die Gefahr, arm zu werden, ist in den
skandinavischen Ländern mit einer Armutsgefährdungsquote von 11 Prozent
niedriger. Untersuchungen zur Armut in Deutschland zeigen, dass sich die Zahl der
Bedürftigen in den letzten 15 Jahren verdreifacht hat. In den 80er Jahren des 20.
Jahrhunderts waren vor allem ältere Menschen betroffen, die unter unzureichender
Rentenversorgung zu leiden hatten. Heute gehören vor allem Kinder und
Jugendliche zu den Armen
.
Armut und soziale Ausgrenzung stellen ein komplexes Phänomen dar, das neben
materiellen auch immaterielle Aspekte der Lebenssituation umfasst. Verarmung wirkt
sich nicht nur auf den Lebensstandard aus, sondern bestimmt auch den sozialen
Status eines Betroffenen, berührt seine Einbindung in die Gesellschaft und belastet
seine psychische und physische Befindlichkeit. Deshalb spricht man statt von Armut
häufig von Exklusion. Armut schränkt die Chancen ökonomischer und sozialer
Teilhabe ein und behindert die Selbstverwirklichung einer Person. Jede Regierung ist
deshalb bemüht, Armut und soziale Ausgrenzung zu vermeiden oder zu überwinden.
Schlüssel dazu sind Bildung und Beschäftigung. Gute Bildung vom frühen
Kindesalter an erhöht die Chancen auf eine bessere Ausbildung und einen
angemessenen Arbeitsplatz.
18
1975 beschlossen die Länder der Europäischen Gemeinschaft, dass alle
Mitgliedsstaaten regelmäßig so genannte Armutsberichte erstellen sollten. Im Jahr
2000 beschloss der Deutsche Bundestag, in der Mitte jeder Legislaturperiode einen
Armuts- und Reichtumsbericht zu veröffentlichen. Die Bestandsaufnahmen begannen
im Jahr 2001. Im ersten Bericht wird ein Mensch als arm bezeichnet, wenn er viel
weniger verdient als der Durchschnitt der Bevölkerung. Genauer gesagt, wird die
Armutsrisikoquote als Anteil der Personen definiert, deren Einkommen weniger als
60 Prozent des Mittelwertes (Median) aller Personen beträgt. Dieser Grenzwert heißt
auch Armutsrisikogrenze.
Armut ist aber nicht nur Einkommensarmut. Sie stellt vielmehr eine Kumulation
verschiedener Aspekte von Unterversorgung und sozialer Benachteiligung dar, die
sich zum Beispiel im Lebensbereich Wohnen (drohender Wohnungsverlust, teure
Mieten, schlechte Wohnqualität und Wohnlage), im Bereich Gesundheit
(Erkrankungen, Sucht, Pflegebedürftigkeit, Stress) oder im Blick auf Bildung
(fehlende Bildungschancen, Kosten für Aus- und Weiterbildung) auswirkt.
Zu den hauptsächlichen Risiken, arm zu werden, zählen Arbeitslosigkeit und
fehlende Bildungsabschlüsse. Deshalb gehören Arbeitslose (zu 43 Prozent),
Personen ohne abgeschlossene Berufsausbildung (zu 19 Prozent) und
Alleinerziehende (zu 24 Prozent) zu den besonders gefährdeten Gruppen. Das
Armutsrisiko ist mit 15 Prozent in Ostdeutschland höher als in Westdeutschland, wo
es 12 Prozent der Menschen betrifft (vgl. Lebenslagen in Deutschland. Der 3.
Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, S. 55). Wer keine Arbeit hat,
gerät nicht nur in die Gefahr zu verarmen, sondern auch sozial ausgegrenzt zu
werden. In den letzten Jahren ist die Armenquote bei Arbeitslosen stetig gestiegen.
Mit steigendem Bildungsniveau sinkt die Gefahr, arm zu werden. Bildung, eine
wichtige Voraussetzung, um Zugang zum Arbeitsmarkt zu finden, ist ein Schlüssel für
kulturelle und gesellschaftliche Teilhabe. Ohne einen berufsqualifizierenden
Abschluss schwindet die Chance, erwerbstätig werden zu können. Im Jahr 2006
belegte der erste nationale Bildungsbericht, dass das Bildungsniveau der deutschen
Bevölkerung in den zurückliegenden Jahrzehnten kontinuierlich gestiegen ist (vgl.
Lebenslagen in Deutschland. Der 3. Armuts- und Reichtumsbericht der
Bundesregierung, S. 58). Problematisch ist aber die Tatsache, dass in Deutschland
die Bildungschancen mehr als in vielen anderen europäischen Ländern an die
soziale Herkunft der Kinder gekoppelt sind. Mädchen und Jungen aus Familien mit
hohem sozialem Status bekommen zum Beispiel nach der Grundschulzeit leichter
eine Gymnasialempfehlung und nehmen später häufiger ein Studium auf als Kinder
aus einem Elternhaus mit niedrigem sozialen Status. Es zeigte sich auch, dass die
Zahl der Personen mit geringen formalen Qualifikationen vergleichsweise konstant
bleibt. Im Jahr 2006 hatten 7,9 Prozent der jungen Menschen zwischen 18 und 24
Jahren keinen Schulabschluss ("Schulabbrecher"). Obgleich ihnen später eine zweite
Chance geboten wird, die versäumten Bildungs- und Ausbildungsabschlüsse
nachzuholen, bleibt eine wachsende Teilgruppe der 18- bis 24-jährigen ohne
allgemeinbildenden und beruflichen Abschluss des Sekundarbereichs. Diese Gruppe
ist seit 1996 leicht gewachsen. Im Jahr 2006 zählte somit jeder fünfte junge Mensch
zu der auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt extrem gefährdeten Gruppe.
Durch Armut sind überproportional viele Alleinerziehende bedroht. In Deutschland
nimmt der Anteil der Kinder, die in Haushalten von Alleinerziehenden und
19
nichtehelichen Lebensgemeinschaften leben, deutlich zu. Inzwischen wachsen etwa
16 Prozent der minderjährigen Kinder bei alleinerziehenden Elternteilen auf; im Jahr
1996 waren es nur etwa 12 Prozent (vgl. Lebenslagen in Deutschland. Der 3.
Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, S. XXI.). Die Grenze zur
Armutsgefährdung lag im Jahr 2004 für eine Familie mit zwei Kindern unter 14
Jahren bei 1.798 Euro, für eine allein erziehende Mutter mit einem Kind unter 14
Jahren bei 1.113 Euro, für eine alleinstehende Person bei 856 Euro. Von den
Alleinerziehenden wären 56 Prozent armutsgefährdet, wenn es für sie keine
Sozialtransfers gäbe. Durch Transferleistungen (Arbeitslosengeld, ALG 2, Hartz IV,
Sozialhilfe, Kindergeld) wird in Deutschland verhindert, dass etwa 25 Prozent der
Bevölkerung als armutsgefährdet gelten müssten. Trotz der Hilfeleistungen bleiben
von den Alleinerziehenden dennoch 30 Prozent in Armutsgefährdung.
Kinderarmut
Zu den 13 Prozent der deutschen Bevölkerung, die armutsgefährdet sind, gehören
1,7 Millionen Kinder unter 16 Jahren. Ihre Armutsgefährdungsgrenze lag in den
neuen Bundesländern bei 17 Prozent, in den alten Bundesländern bei 12 Prozent.
Etwa 1,5 Millionen Minderjährige in Deutschland sind auf Sozialhilfe, Sozialgeld oder
Kinderzuschläge auf Sozialhilfeniveau angewiesen. Vor diesem Hintergrund hat man
von einer "Infantilisierung der Armut" gesprochen. Die Kluft zwischen Wohlstand und
Armut wird immer tiefer. Wie die Armut im Allgemeinen, so steigt in Deutschland
auch die Kinderarmut im Besonderen. Gefährdet sind außer kinderreichen Familien
und Alleinerziehenden vor allem Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund.
Nach Berechnung des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes lebten 2007 mehr als 1,7
Millionen deutsche Kinder auf Sozialhilfeniveau. Weitere 200.000 Kinder verzichteten
auf Hartz IV, obwohl sie auf diese Leistung Anspruch hätten. In seinem "Dossier
Kinderarmut" ging das Bundesfamilienministerium davon aus, dass 2,4 Millionen
Kinder, also jedes sechste Kind in Deutschland, armutsgefährdet ist. Dieselbe Zahl
nennt auch UNICEF in seinem Bericht zur Lage der Kinder in Deutschland (2008).
Kinderarmut bedeutet nicht nur Geldmangel, sondern auch verminderte
Bildungschancen, schlechtere Gesundheitsversorgung und weniger Möglichkeiten,
am kulturellen Leben teilzunehmen. Der Report "Child Poverty in Perspective: An
Overview of Child-wellbeing in Rich Counntries" (2007) weist auf sechs Dimensionen
der Betroffenheit durch Armut hin: materielle Lage, Gesundheit und Sicherheit,
Bildung, Beziehung zu Eltern und Freunden, Risiken im Alltag und subjektives
Wohlbefinden. In Deutschland variiert die Armutsgefährdung von Kindern je nach
Bundesland und Wohnregion. In den westlichen Bundesländern scheint es ihnen
besser als im Osten und im Süden besser als im Norden zu gehen.
Die Folgen von Armut sind bei den betroffenen Kindern bereits im Vorschulalter
erkennbar. Sie können zu deutlichen Fehlentwicklungen führen. 40 Prozent der
armen Kinder, aber nur 15 Prozent der nicht armen Kinder weisen Mängel in der
Grundversorgung (Wohnung, Kleidung, Ernährung) auf. Je früher und je länger ein
Kind in Armut lebt, desto gravierender sind die Folgen. Arme Kinder besuchen
seltener und später eine Kindertagesstätte als andere. Arme Kinder werden öfter
verfrüht oder verspätet eingeschult. Sie wiederholen bereits in der Grundschule
häufiger eine Klasse, bekommen schlechtere Durchschnittsnoten und werden öfter
auf Sonderschulen, hingegen seltener auf ein Gymnasium geschickt als andere
Kinder.
20
Wohnungslose. Migranten. Straßenjugendliche
Obdachlose sind Menschen, die meist in extremer Armut leben. Der 3.
Armutsberichts der Bundesregierung (S. XXVII) nennt für das Jahr 2006 280.000
wohnungslose Personen. Das sei gegenüber 1998 weniger als die Hälfte. Damals
waren 530.000 Personen obdachlos. Die Zahl der wohnungslosen Kinder und
Jugendlichen habe sich als Folge der Präventionsarbeit der Kommunen seit 2003
halbiert.
Im Jahr 2006 lebten in Deutschland 14,8 Millionen Personen mit
Migrationshintergrund. Häufiger als andere sind sie vom Risiko zu verarmen bedroht.
Es handelt sich dabei um Menschen, die im Inland oder im Ausland geboren oder
zugewandert sind, eingebürgerte Ausländer oder in Deutschland Geborene mit
deutscher Staatsangehörigkeit, deren Eltern einen Migrationsstatus haben. Sie
machen ein Fünftel der Gesamtbevölkerung aus. Unter ihnen sind mehr als 7
Millionen Ausländer.
Liegt die Armutsrisikoquote von Kindern unter 15 Jahren ohne Migrationshintergrund
bei 13,7 Prozent, so steigt sie bei Kindern mit Migrationshintergrund auf 32,6 Prozent
an (vgl. den 3. Armutsbericht der Bundesregierung, S. 141). Diese Kinder und
Jugendlichen laufen vermehrt Gefahr, eine geringere schulische und berufliche
Qualifikation zu erwerben, was eine maßgebliche Ursache für eine schwächere
Einkommenssituation darstellt. 2006/07 besuchten - gegenüber nur knapp 15
Prozent der deutschen Jungen und Mädchen - über 38 Prozent der ausländischen
Jugendlichen die Hauptschule, Während fast die Hälfte der deutschen Jugendlichen
auf ein Gymnasium geht, ist dies unter den ausländischen Jugendlichen nur bei
einem Fünftel der Fall. 13 Prozent der Bevölkerung mit Migrationshintergrund bleiben
ohne Schulabschluss, bei den Deutschen ohne Migrationshintergrund sind es
lediglich 2 Prozent. 37 Prozent der Männer und etwa 50 Prozent der Frauen im Alter
von 25 Jahren und mehr mit Migrationshintergrund erwerben keinen beruflichen
Abschluss. Die schlechte Bildungs- und Ausbildungsbeteiligung führt bei ihnen
naturgemäß zu einer relativ hohen Arbeitslosigkeit. Die Situation ist für Erwachsene
mit türkischem Hintergrund besonders gravierend.
Im 1. und 2. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung (2001, 2005, S.
174) wurde die Zahl der "Straßenkinder" und "Straßenjugendlichen" in Deutschland
auf 5000 bis 7000 geschätzt. Im 3. Armutsbericht (2008) werden keine Zahlen mehr
genannt. Straßenkarrieren sind Lebenslagen in extremer Armut. Um betroffene
Kinder und Jugendliche in Deutschland unterstützen zu können, werden Hilfen zur
Erziehung und zur Eingliederung angeboten. Da Armut zumeist mit Bildungsarmut
beginnt, wird mit Nachdruck der Ausbau des Kinderbetreuungsangebots gefördert.
Im Rahmen der Jugendsozialarbeit gibt es vor allem aufsuchende und akzeptierende
Angebote der Straßensozialarbeit sowie Anlaufstellen für die Grundversorgung
(Essen, Waschen, Schlafen), die medizinische Hilfe und die psychosoziale Beratung.
Die Kinder und Jugendlichen, die überwiegend aus hoch belasteten Familien
kommen, sollen durch die Sozialarbeit in betreute Wohngruppen integriert und aus
dem schädigenden Umfeld der Straße herausgelöst werden.
Minderung des Armutsrisikos durch Bildung
Das finanzielle Auffangnetz für bedürftige Personen bildet in Deutschland vor allem
die Sozialhilfe. Am 31. Dezember 2006 bezogen in Deutschland rund 682.000
Personen Leistungen zur Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Mit
dem Vierten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt und dem
21
Kommunalen Optionsgesetz wurde für die Bezieher von Arbeitslosenhilfe und die
erwerbsfähigen Sozialhilfeempfänger ein einheitliches System geschaffen (das SGB
II). Arbeitslosigkeit als die wesentliche Voraussetzung von Armut und Ausgrenzung
soll dadurch abgebaut werden. Das Sozialhilfegesetz wurde als Zwölftes Buch in das
Sozialgesetzbuch eingegliedert (SGB XII).
In Deutschland kommen arme Kinder in den Genuss sozialer Dienstleistungen wie
materieller Zuwendungen in Form von Geld- und Sachleistungen, aber auch
persönlicher Betreuung und erzieherischer Hilfe. Diese Leistungen gewährleistet der
Staat (vgl. Gerda Holtz: Kinderarmut und familienbezogene soziale Dienstleistungen,
in: Ernst-Ulrich Huster u.a. (Hg.): Handbuch Armut und soziale Ausgrenzung,
Wiesbaden 2008, S. 483ff.). Sozial- und familienpolitische Transferleistungen sind
Arbeitslosengeld II, Sozialgeld, Sozialhilfe, Kindergeld, Kinderzuschlag, Wohngeld
und Erziehungsgeld bzw. Elterngeld. Diese Leistungen reduzieren die relative
Einkommensarmut deutscher Familien von 34 auf 12 Prozent (vgl. 3. Armutsbericht,
S. 93). Da das Armutsrisiko von Kindern von der Bildung abhängt, setzt die
Regierung vor allem auf eine Verbesserung der frühkindlichen Bildung, um damit die
gesellschaftlichen Teilhabechancen insbesondere von Kindern aus
einkommensschwachen, bildungsfernen oder ausländischen Familien zu erhöhen.
Links und Literatur
- Gerda Holtz: Kinderarmut und familienbezogene soziale Dienstleistungen, in: ErnstUlrich Huster u.a. (Hg.): Handbuch Armut und soziale Ausgrenzung, Wiesbaden
2008, S. 483ff.
- Lebenslagen in Deutschland. Der 3. Armuts- und Reichtumsbericht der
Bundesregierung , Bonn 2008
Interviews
(Die Gespräche wurden geführt und aufgeschrieben von Maren Basfeld, März 2010. Namen und Orte
sind geändert, um die Anonymität der Befragten zu wahren.)
Alex
Frage: Warum lebst du als Punk auf der Straße?
Alex: Ich war mal Punk. Bin’s nicht mehr, will gar nicht. Weißt du, heute verkleiden sich die Leute nur
noch wie nen Punk, leben aber nicht mehr die Ideologie, die dahinter steht. Die Kids schneiden sich
einfach Iros, färben sich die Haare und tackern sich mit Sicherheitsnadeln Punkrocksprüche auf die
Jacken. Dann rennen die als Punks durch die Gegend, aber eigentlich wissen die doch gar nicht, was
Punkrock ist. Da hab’ ich mir gesagt, ich nenn mich nicht mehr Punk.
Frage: Was ist dann deine Ideologie?
Alex: Ich schimpfe ja auf den Staat, und wenn man den Staat zum Kotzen findet, sollte man das auch
durchziehen. Deswegen beantrage ich auch kein Hartz IV. Obwohl, das ist schon was, so 350 Euro im
Monat!
Frage: Wie kommst du dann über die Runden?
22
Alex: Ich schlage mich seit bald 15 Jahren auf der Straße durch. Lebe gut so, will es gar nicht anders
haben. Aber ganz unabhängig vom System kannste dann eben doch nicht sein. Man kann nicht frei
entscheiden, lebt doch in den Strukturen. Ganz ohne Staat geht’s nich’, auch wenn man’s will. Auf der
Straße gehts noch am besten.
Frage: Was gefällt dir dann am Straßenleben?
Alex: Ich erziehe gerne die anderen Kids, zeige denen etwas Anstand. Die Kids heute sind doch nicht
mehr richtig erzogen. Ich erziehe die. Wenn die ne Flasche hinknallen, gehe ich hin und sage: „Eh,
was machst du für eine Scherbenscheiße?"
Deswegen bin ich jetzt auch verhasst bei die Kinder. Ich bin ja der Assi-Alex bei die Kids, weil ich halt:
„Was machst du für ne Scheiße", weil ich die halt mal bissl erziehen will.
Frage: Sprichst du alle Kinder und Jugendlichen auf der Straße an?
Alex: Ja, du musste die ansprechen, und die sehen das nicht ein, die 15-Jährigen, sind cool genug, ne
Flasche zu zerdeppern. Deswegen hab ich ja Bewährung, wegen so ner Scheiße! Weil gegenüber in
der A. Straße, kommt einer her mit ner Flasche, lässt die Flasche fallen. Aber ihm egal. Ich hin:
„Machst du die Scherben da mal weg?".
„Warum denn?"
„Ja, und wenn meine Hunde da rein treten, he, wer zahlt dann die Rechnung?"
„Mach i ni, mach i ni!" Und dann muss ich den verprügelt haben, war betrunken, und dann hier
Anzeige bla, Gerichtsverhandlung, und jetzt habe ich zwei Jahre auf Bewährung wegen so einem
kleinen Scheißvieh, was nicht kapiert, was!
Ich erziehe eben gerne. Klaus hab ich auch deswegen aufgesammelt. Der wär’ sonst auch so’n
Scheißer geworden. Habe gesagt: „Komm Klaus, zeige dir mal, was wirklich Punkrock ist".
Klaus: Ja, genau
Alex: Außerdem hat er auf meine Hunde aufgepasst, als ich im Krankenhaus war.
Frage: Das war aber nett von ihm!
Alex: Ja, meine Hunde sind das Wichtigste. Wenn’s denen gut geht, geht’s mir auch gut.
Meine Ideologie is nich mehr so der Punkrock.
Frage: Man ordnet sich doch immer einer Gruppe zu, oder?
Alex: Ich nicht. Ich will mich gar nicht mehr Punk nennen. Weil, will ich gar nicht. Punk, ich sag mal, ist
jetzt so allgemein. Ich tu halt leben, so gut ich kann, will nirgendwo abhängig sein.
Frage: Ist das der Grund, weshalb du auf der Straße lebst?
Alex: Ja. Ich mach mein Ding einfach, und gut. Dafür brauch ich mich nicht Punk nennen.
23
Frage: Das ist wahr, man kann sich heute nicht immer aussuchen, wie man leben möchte.
Alex: Aussuchen schon, aber ganz ohne (Staat/Gesellschaft) geht’s nicht. So wie Anarchie. Viele
Faschos, die schimpfen auf den Staat und dann hocken sie doch faul rum und beziehen Geld vom
Amt. Voll falsch. So kann man auch nicht leben. Aber irgendwie, irgendwo ist man dann doch wieder
gebunden. Zum Beispiel wenn man zum Arzt muss. Oder so. Ich gehe auch nicht zum Arzt. Nur mit
meinem Bein, da musste ich.
Frage: Was ist da passiert?
Alex: Hat mir so’n Fascho bei ner Demo nen Stein drauf getrümmert. Hab ja keine Versicherung. Also
haben die das Bein nur notdürftig zusammen geflickt. Musste nach nen paar Tagen schon wieder raus
aus dem Krankenhaus. Kann jetzt nicht mehr richtig laufen. Siehst ja.
Frage: Wenn ihr Schnorren geht, wo bekommt ihr am meisten Geld?
Alex: Anfang vom Monat und wenn’s Wetter gut ist. Bei Regenwetter geht so. Und Weihnachten, in
der Weihnachtszeit, da geht’s echt gut!
Frage: Weil die Leute ein schlechtes Gewissen haben?
Alex: Ja, ja. Es gibt Städte, da läuft’s gut, und es gibt Städte, da läuft’s nicht gut. In F. läuft’s gut. Und
im Januar läuft’s scheiße.
Frage: Du hast gesagt, du kannst grade nicht zurück nach Hause?
Alex: Ja, werde gesucht, mit Haftbefehl, weißt’e? Muss aber wieder hin, weil meine Schwester, die
heiratet.
Frage: Gehst du hin?
Alex: Ja, wahrscheinlich schon. Vielleicht, mal gucken.
Ein anderer Junge läuft vorbei. Alex stellt ihm ein Bein und schupst ihn.
Frage: Was hast du gegen ihn?
Alex: Kann den nicht ausstehen. Scheiß Junky. Ging mal mit ’nem Messer auf mich los.
Frage: Wie ist das hier mit Messern auf der Straße? Hat da jeder eines dabei?
Alex: Ich hab eins dabei, zum Brot schneiden. Aber ich hab’s auch gut eingepackt, damit ich’s nicht so
schnell rauskriege. Is’ wie mit ’ner Knarre. Wenn ich eine hätte, dann würde ich auch abdrücken.
Sonst brauch’ ich ja keine Knarre ham’.
24
Frank
Frage: Im Fragebogen hast du erwähnt, dass Lehrer ein Bewusstsein für Hochbegabtenförderung
besitzen sollten. Hat dich das in deiner Schulzeit selbst betroffen?
Frank: Ja. Das war so. Ich bin hochbegabt und hätten die das in der Schule geschnallt, wäre ich sicher
nicht beim Heroin gelandet, nicht so schnell und überhaupt.
Frage: Warst du der einzige Hochbegabte in deiner Familie?
Frank: Nein, mein Vater und mein Onkel hatten beide ein eins-nuller Abi, damals in der DDR. Mein
Vater war sehr gescheit. Aber er hat mir gesagt, ich solle nicht auf das Gymnasium gehen. Da müsse
ich viel mehr arbeiten als auf der Realschule. Heute bereue ich es total, dass ich damals auf ihn
gehört habe. Überhaupt spielt mein Vater eine große Rolle, wenn es um meine Drogenabhängigkeit
geht, auch wenn ich natürlich weiß, dass ich mir selbst die Schuld zuzuschreiben habe. Dass ich harte
Drogen konsumiere, hat aber auch mit meiner beschissenen Schulkarriere zu tun.
Frage: Man sieht dir das von außen wenig an!
Frank: Ja, ich bin meist nach außen sehr gelassen.
Frage: Wie bist du an die Drogen heran gekommen?
Frank: Ich war zwölf, als ich mit Kiffen angefangen habe. Wenig später kamen dann die härteren
Drogen. Mit sechs habe ich schon Alkohol getrunken. Das war wegen meinem Vater. Der hat mich
aus pädagogischen Gründen, wie er sagte, Bier probieren lassen, um mir richtiges Trinken bei zu
bringen. Habe in dem Alter auch angefangen zu, obwohl ich wusste, dass das schädlich war. Mit zwölf
war es dann eben schon Marihuana. Bei mir auf der Realschule war Kiffen ganz alltäglich. Jeder hat
da in diesem Alter schon Marihuana geraucht. Bevor ich angefangen habe, habe ich mich eine Woche
lang im Internet und der Bibliothek erkundigt, welche Wirkung die Droge bei welcher Dosierung hat
und was die Wirkstoffe sind. Was mich erstaunt hat war, dass in den „Hippiebüchern" Marihuana als
was sehr Positives und Harmloses dargestellt wurde. Das fand ich damals schon unmöglich. Das kann
doch nicht sein. So habe ich das oft gemacht, mir Sachen durchs Lesen Zuhause beigebracht. Wann
immer ich etwas wissen wollte, habe ich das nachgelesen.
Frage: Was denkst du über Marihuana- und Haschischkonsum?
Frank: Ich bin der Meinung, dass dies gesundheitlich sehr schädlich ist und man schnell in
Abhängigkeit gerät. Damit ist nicht zu spaßen und die Hippie-Literatur liegt sehr falsch, wenn sie es
auf die leichte Schulter nimmt. Ich weiß ja, wovon ich rede. Ich habe es teilweise auch auf die leichte
Schulter genommen. Auch wenn ich einige Gründe hatte, Drogen zu konsumieren. Ich möchte die
Schuld aber nicht auf meinen Vater oder die Schule schieben. Ich bin selbst für mich verantwortlich
gewesen. Doch jetzt, in der Abhängigkeit, kann ich nicht mehr frei entscheiden. Dennoch bin ich der
Meinung, hätte ich eine andere Schulkarriere durchlaufen, wäre meine Identität anders geprägt
25
gewesen, wäre ich heute nicht drogenabhängig. Meiner Meinung nach spielt Schule bei der
Identitätsfindung eine sehr entscheidende Rolle. Läuft da was schief, hast du dein Leben lang damit
zu kämpfen.
Frage: Wie war das für dich in der Schule?
Frank: Schon in der sechsten Klasse habe ich mich sehr für Quantenphysik interessiert. Ich habe in
der Schule immer Fragen gestellt. Doch wurde ich zum Schweigen verurteilt, da das Lernstoff der
Universitäten oder höheren Klassen sei. Diese Fragen seien fehl am Platz. Da habe ich irgendwann
aufgehört, überhaupt etwas für die Schule zu tun. Habe mich da nur gelangweilt. Ich hatte immer das
Gefühl, das alles hat nichts mit mir zu tun. Schule hat nichts mit mir zu tun. Viel zu spät habe ich
begriffen, dass Schule genau das ist. Ich lerne, weil ich weiter wachsen möchte, mich entwickeln, und
nicht aus Zwang. Schule muss direkt mit mir zu tun haben. Der Lernstoff hat mit mir und meiner
Entwicklung unmittelbar zu tun. Ich lerne in der Schule für’s Leben. Diesen Zusammenhang habe ich
viel zu spät erkannt.
Die da oben (Bildungspolitik) müssen endlich begreifen, wie wichtig Begabtenförderung ist und dass
die Schule einen sehr großen Anteil am Erfolg und der weiteren Lebensentwicklung ihrer Schüler hat.
Frage: Wie sieht der Drogenkonsum deiner Meinung nach in Schulen aus?
Frank: Egal wo, an Realschulen kommst du nicht an Drogen vorbei. Da konsumiert wirklich jeder. Das
ist knallharte Realität. Nur die stabilen Leute können den Drogen widerstehen.
Susanne
Frage: Bist du öfter hier?
Susanne: Ja. Ich denke, ich komme jetzt regelmäßig.
Frage: Wie geht es dir?
Susanne: Ach, geht so. Mein Ex disst mich. Er und seine Leute haben Schiss, dass ich sie verpfeife.
Der ist kriminell. Ich kenn halt viele von seinen Kollegen. Der hat mich mit dem Stress auch voll in den
Drogenkonsum geritten. Jetzt haben die Schiss vor mir und nerven. Ich hab denen gesagt, ich will
einfach meine Ruhe und verpfeife niemanden, die, die lassen mich nicht. Ich habe jetzt echt Angst,
dass die mir was tun. Ich kenne die.
Frage: Trinkst du deswegen so oft?
Susanne: Ja, schon. Mal bin ich voll gut drauf und dann nehm’ ich alles wieder zu ernst, mach mir voll
den Stress. Boa, ich zittere wieder voll, das geht gar nicht.
Frage: Warum zitterst du?
26
Susanne: Habe heute schon wieder nen starken Kaffee getrunken (lacht), du weißt ja, den mit Schuss.
Brauche jetzt noch eine Kaffee, aber nen normalen.
Frage: Hast auf der Straße gelebt?
Susanne: Teilweise ja.
Frage: Wie alt warst du, als du auf die Straße gegangen bist?
Susanne: Ich war 14. Meine Eltern haben sich getrennt als ich noch klein war. Dann bin ich immer hin
und her zwischen meinen Eltern. Die meiste Zeit hab ich aber bei meinem Vater gelebt. Dann hat der
geheiratet und seine Frau hatte kleinere Kinder. Ab da hab ich mich wirklich wie das fünfte Rad am
Wagen gefühlt. Ich musste alles machen. Auf die Kleinen aufpassen, aufräumen, putzen. Echt, die
hatten die viel lieber als mich. Ich war der Depp. Immer wenn etwas schief lief, war ich schuld. Ich
habe alle Emotionen abfangen müssen. Von denen, meinem Vater und meiner Mutter. Und als
Punkerin war ich dann endgültig die Schande der Familie. Da hat mich mein Vater wie verstoßen. Ich
kann dir sagen, so hart das Straßenleben auch sein mag, da hab’ ich’s echt besser als Zuhaus’
gehabt. Da hast’e wenigstens echte Freunde, Freunde die dich nehmen so wie du bist.
Frage: Hast du seitdem auf der Straße gelebt?
Susanne: Nee, mal so mal so. Bin manchmal zu meinem Vater und seiner neuen Familie
zurückgegangen. Da gab’s aber immer nur Stress.
Frage: Worüber habt ihr euch denn gestritten?
Susanne: Ich wollte gerne alleine wohnen, aber das hat mein Vater nicht erlaubt. Seitdem hab ich den
nicht mehr gesehen. Wir sind krass auseinander gegangen, das kann ich dir sagen. Bis heute hat der
sich nicht bei mir gemeldet.
Markus
Frage: Was machst du hier?
Markus: Was mach ich’n? Ich schnorre nicht, ich mach es viel krasser. Ich weiß nicht, ob man das
noch schnorren nennen kann! Ich mach lieber meinen Deal. Ich klau lieber. Konsumiere meine Drogen
Tag für Tag. Gehe jeden Tag klauen, damit ich Geld hab’.
Frage: Wirst du nicht erwischt?
Markus: Bis jetzt noch nicht!
Frage: Kein Mal?
Markus: Nein. Noch kein einziges Mal.
27
Frage: Dann kommt ihr mit den Kisten an?
Markus: Genauso sieht’s aus. So lebt man sich’s in Deutschland. Man muss halt die Dreistigkeit
ausnutzen. Das geht besonders gut bei Rentnern. Also fast 80 Prozent von Deutschland sind Rentner.
Die haben eh Angst, dass ihnen da draußen einer was tut, also machst du einfach dein Ding oder die
vergessen es gleich. Weil die so ne, wie nennt man das gleich, Amnesie haben, oder so? Was soll
man dazu noch sagen! Ich lebe eigentlich mein Leben. Ich hab keine Sperre, kann so meine Miete
bezahlen, was soll ich dazu noch sagen.
Frage: Wo wohnst du denn?
Markus: Im Süd-Westen der Stadt. Da wohnen eigentlich fast nur Russen. Aber die Russen ham auch
Familienconnection. Da steht wieder alles auf Drogen und Waffen. Und Diebstahl. Und von daher ist
alles optimal. Hier, der Jonas, das ist ein Kumpel, der grad bei mir wohnt. Der trinkt am liebsten
Whisky und hat ein Kind.
Frage: Hast du auch ein Kind?
Markus: Nein, ich habe kein Kind. Ich hab ne verlobte Kirsche damals gehabt, die hat dann keinen
Bock gehabt.
Frage: Welche Drogen konsumierst du?
Markus: Also, das ist auf jeden Fall schon mal Koks. Alkohol ist auf jeden Fall immer dabei, der zählt
sowieso. Amphetamine zurzeit nicht mehr so.
Frage: Warum nicht?
Markus: Warum nicht? Weil es mir grad zu denken gibt. Weil ich mich um mich selbst kümmern muss.
Tschüss!
Stefan
Frage: Ich hab gehört, ihr ward mal in Italien?
Stefan: War’n wir, vor paar Jahren, ja!
Frage: Wie seid ihr dahin gekommen?
Stefan: Das war ein Verwandter von der Freundin von einem Freund oder so.
Frage: Deiner Freundin?
Stefan: Ja, unserer besten Freundin, von mir und Jens, verstehst du? Jens, mein bester Freund ist
der. Der ist cool, der Jens. Bin mit dem seit Jahren Platte machen.
28
Das war cool da in Italien. Da waren wir nämlich auf ’nem Hof. Da war nen Hahn, paar Hühner und
paar Ziegen und da haben wir auf die aufgepasst. War echt geil.
Frage: Habt ihr da etwas verdient?
Stefan: Nö, waren da nur so zum Urlaub da. War echt geil gewesen. Im Winter!
Frage: Im Winter?
Stefan: Ja, das war super. Is’ wärmer als hier. Da gab’s immer so Felsen, da haben die nen Loch
reingebuddelt und die Häuser hin gebaut. War geil so. War der Hammer.
Frage: Wie bist du hierher gekommen?
Stefan: Mit nem Wochenendticket halt. (lacht) Ja, seit sechs Jahren bin ich halt hier.
Frage: Du hast mal erzählt, dass du lange Zeit in F. gelebt hast! Stimmt das?
Stefan: Ja, ganz als erstes war ich in U. Dann war ich in G., K., dann war H. auch, R., ja, D. F. war’n
wir auch schon.
Frage: Wo gefällt es dir am besten?
Stefan: Oh, is schwer zu sagen. D. gefällt’s mir gut, F. gefällt mir auch gut. H. eigentlich auch.
Frage: Dein Kumpel meinte, ihr habt noch nie einen festen Wohnsitz gehabt?
Stefan: Im Sommer tun wir draußen pennen, immer so.
Frage: Wo pennt man da am besten?
Stefan: Am Fluss! Da ham’ wir dann immer nen Flusscamp, schön. Da ham’ wie so ne Halbinsel nen
bissle. Bisschen Wald, bisschen abgelegen.
Frage: Vertreibt euch die Polizei da nicht?
Stefan: Ja, die kommen nur, wenn man nen riesen Feuer macht. Dann müssen wir’s ausmachen.
Letztes Jahr war’s Camp nicht, schade eigentlich.
Frage: Sind da mehrere oder nur ihr?
Stefan: Ne, mehrere. Familie halt. Lauter gute Leute.
29
Mandy
Frage: Hast du mal auf der Straße gelebt?
Mandy: Ja, vor allem hier. Hab aber auch in anderen Städten Platte gemacht. Immer in Cliquen mit
Freunden. Das war cool. In Cliquen macht Plattemachen Spaß.
Frage: Und wenn du alleine bist?
Mandy: Als Frau? Das geht nicht, entweder haste ne Clique oder du hast ne, na Beziehung will ich es
nicht nennen, denn das ist nur zum Schutz von einem. Hat gar nichts mit Liebe zu tun. Also so ne
richtige Liebesbeziehung haste auf der Straße nicht, würde ich sagen. Manchmal vielleicht, aber eher
selten. Die Beziehungen halten auch meist nicht so lange, es sei denn der Zweck is nen guter.
Frage: Was hat der Mann von einer solchen Zweckbeziehung?
Mandy: Der hat ne Schnecke an seiner Seite, jemanden, mit dem er sich groß fühlen kann.
Frage: Wo warst du noch? Seid ihr auch mal ins Ausland gegangen?
Mandy: Ja, manchmal sind wir gereist. Ich war in Spanien und Portugal z.B. Schon wegen dem Wetter
sind wir da im Winter hin. Mit nen paar Leuten sind wir da hin. Ich war schon mal als Kind da. Das ist
echt ne schöne Erinnerung die ich habe.
Frage: Wie beschützt du dich auf der Straße? Habt ihr Waffen?
Mandy: Ich komme auf der Straße schon klar. Ja, manche ham Waffen, aber der beste Schutz ist in
ner Clique zu sein.
Frage: Hast du auch in Notunterkünften geschlafen?
Mandy: Da würde ich niemals hingehen. Die sind das Allerletzte. Da wirst’e nur beklaut und bedroht,
ihh, niemals, echt nicht. Ganz selten habe ich in Frauenhäusern übernachtet, die sind besser, aber
sonst halt mit Freunden auf der Straße.
Frage: Aber jetzt bist du hier?
Mandy: Ja, und ich möchte hier auch bleiben. Hoffe, ich hab bald ne eigene Bude. Wohne im Moment
bei Kumpels. Ich trinke nur bissle viel. Will jetzt einen Entzug machen. Aber erst, wenn sich bei mir
alles mit dem Amt und der Bude geklärt hat. Sonst gehts nicht, mache dann Radikalentzug.
Frage: Das ist schwer! Warum senkst du den Pegel nicht Stück für Stück?
Mandy: Das funktioniert bei Alkohol nicht. Entweder ganz oder gar nicht. Wenn du ein bisschen trinkst,
dann willst’e mehr, dann ist die Hemmschwelle unten und sobald du betrunken bist, kannst du’s nicht
mehr kontrollieren, peilst du nicht mehr, wie viel du trinkst. So bleibt der Pegel doch immer gleich.
Habe deswegen auch mein Kind verloren, meinen Sohn. Hab zu viel getrunken, konmnte nicht mehr
30
auf ihn achten, da war er eins, jetzt ist er drei. Der lebt jetzt bei Pflegeeltern in M. Wollte mich damals
umbringen.
Frage: Du wolltest aufgeben?
Mandy: Ich habe für mich im Leben damals keinen Sinn mehr gesehen. War schon am Bahnhof.
Wollte noch ne letzte Kippe rauchen. Hatte aber keine. Da stand ein Typ, den hab ich dann gefragt
und der hat mir eine gegeben. Wir haben gequatscht. Dann hat der mich gefragt, ob wir uns morgen
auf einen Kaffee treffen wollen. Ja, und dann bin ich nicht gesprungen. Das war mein Ex, der, wegen
dem ich jetzt so viel Stress habe.
Frage: Also hat er doch etwas Gutes getan und dich am Selbstmord gehindert?
Mandy: (sehr verächtlich) Nur das es derselbe Typ ist, weswegen ich später einen weiteren
Selbstmordversuch unternommen habe. Als der missglückte, bin ich in die Geschlossene gekommen.
Eigentlich sollte ich da jetzt auch sein und Psychopharmaka soll ich nehmen. Aber die darf man nur
unter Beobachtung einnehmen. Hab die Zuhause, weiß nicht, was der Arzt sich dabei gedacht hat.
Auch meine Freunde sagen alle, ich soll die Finger davon lassen. Die würden mich lieber totschlagen,
als das ich die nehme, haben die gesagt. Auf dem Zettel steht, dass das Suizidrisiko erhöht würde und
Depressionen verstärkt werden in den ersten Wochen der Einnahme. Hallo? Wie sollen die mir dann
noch helfen? Also nehme ich das Zeug nicht. Trinke halt morgens schon ordentlich. So kleine Kräuter
in den Kaffee oder Whisky. Geht sonst gar nicht. Zitter’ dann nur. Nur so komm ich runter, bleibe
ruhig. Ich will aber aufhören, auch, um wieder Kontakt zu meinem Sohn zu haben. Nen Job will ich
kriegen, hier und ne Wohnung und vielleicht auch meinen Realschulabschluss nachmachen. Mal
sehen.
Robert
Mädchen kommt vorbei und kneift Robert in seinen Bauch!
Mädchen: He, hast ja ne dicke Wampe.
Robert: Ja, das ist mein Knastbauch!
Frage: Dein Knackbauch?
Robert: Nee, mein Knastbauch. Im Knast nehme ich immer etwas zu.
Frage: Wann warst du das letzte Mal im dort?
Robert: Letztens. Nen Scheißknast war das.
Frage: Wieso?
Robert: War ne Viererzelle und ich hatte drei Faschos auf Zelle.
Frage: Da war dann einiges los?
Robert: Ja, habe ständig Keile gekriegt. Musste Klo putzen und Kippen wegräumen und so.
31
Frage: Ist dort die Hierarchie so streng?
Robert: Ja. Wenn du’s nicht machst, ja dann haste verschissen, ne. Ja, das ist schon scheiße.
Frage: Wie lange warst du da?
Robert: Fünfzehn Tage. Hat aber gereicht. Ich war in einem von den krassen. Sind die schlimmsten
Knasts in Deutschland.
Frage: Wegen der Leute, die darin sitzen?
Robert: Ja, sind ganz harte Jungs. Und auch Faschos und so. Muss man sich schon
beherrschen.(Zeigt auf einen anderen Jungen). Der da, der war drei Jahre drin. Ist erst nen Monat
raus oder so.
Frage: Welche Gruppen gibt es denn draußen außer den Punks?
Robert: Na die Faschos. Die sind scheiße.
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Straßenkinder in Rumänien
In Rumänien soll es Tausende von Obdachlosen geben. In der Millionenstadt Bukarest leben über
3000 meist drogenabhängige Straßenkinder. „Von zu Hause weggelaufen, verstoßen, von
sogenannten Kinderheimen ausgerissen und überall zu finden, das sind die Kinder der Straße. In den
Bahnhöfen, Markthallen, Hinterhöfen von Wohnblocks und in der Kanalisation suchen sie Wärme,
Geborgenheit und Unterschlupf. Ihren Hunger, die Kälte und die Angst betäuben sie meist mit Lack,
den sie aus Plastikbeuteln schnüffeln. Dieses Schnüffeln bewirkt irreparable Schäden im Gehirn und
verwehrt ihnen die Aufnahme in ein besseres Leben. Keine Schulbildung, kein Beruf, mal
Gelegenheitsarbeit, mal betteln - warten auf was?" (vgl.
http://www.salvatorianer.at/content/site/missionsoziales/sozialprojekttemesvar/article/298.html)
Die Angaben über die Anzahl der rumänischen Kinder und Jugendlichen der Straße sind uneinheitlich
und widersprüchlich. Sie reichen von knapp zweitausend bis 30 000 oder gar 100 000 (vgl.
http://www.zeit.de/1997/31/Die_Kinder_vom_Bahnhof_Bukarest; Videos:
http://wn.com/Street_Children_in_Romania). Straßenkinder gab es bereits in kommunistischer Zeit.
Allerdings wurde das Phänomen von der damaligen Regierung geleugnet. Einige Quellen behaupten,
die Anzahl der Straßenkinder gehe seit den 1990er und frühen 2000er Jahren zurück, andere
sprechen vom Gegenteil: Die Anzahl der Straßenkinder nehme dramatisch zu (Vgl.
http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-8849263.html).
Wie in anderen Ländern, so reagiert auch in Rumänien die Bevölkerung mit Ablehnung,
Nichtbeachtung und Diskriminierung auf die obdachlosen Kinder und Jugendlichen auf der Straße. In
der rumänischen Umgangssprache werden Straßenkinder als „Ratten", „Müll" und „Abschaum"
bezeichnet. Internationale Proteste und Aufrufe zu Maßnahmen zum Schutz der Kinder blieben
weithin folgenlos.
Der hauptsächliche Grund für die Existenz von Straßenkindern ist die Armut ihrer Eltern. Hinzu kommt
eine verspätete Auswirkung der Bevölkerungspolitik von Nicolae Ceaușescu (vgl.
http://de.wikipedia.org/wiki/Nicolae_Ceau%C8%99escu): Im Jahr 1966 hatte er Empfängnisverhütung
und Abtreibungen gesetzlich untersagt, um die Bevölkerungszahl zu erhöhen. Bereits nach einem
Jahr verdoppelte sich die Geburtenziffer. Aus dieser Maßnahme entstanden mit der Zeit gravierende
soziale Probleme. Illegale Abtreibungen führten häufig zur Geburten behinderter Kinder. Sie wurden
zusammen mit anderen unerwünscht geborenen Kindern in Sozialwaisenhäusern untergebracht, wo
sie unter menschenunwürdigen Bedingungen leben mussten. Infolge wachsender Armut konnten viele
Familien ihre Kinder nicht mehr ernähren. Sie gaben sie in den Waisenhäusern ab oder töteten sie.
Nach 1989 nahm die Zahl der (nun legalen) Schwangerschaftsabbrüche rapide zu. 1997 lebten eine
Million Kinder in staatlichen Heimen (vgl. C. Prets: „Bis zu 800.000 Männer, Frauen und Kindern
werden jedes Jahr Opfer des Menschenhandels." Siehe
http://www.ceiberweiber.at/index.php?type=review&area=1&p=articles&id=1043).
1990 hat Rumänien die Kinderrechtskonvention der
Vereinten Nationen und 2002 auch die
Zusatzprotokolle zur Ächtung von
Kinderprostitution, Kinderhandel und
Kinderpornografie ratifiziert. Trotzdem leben, wie
aus Studien von UNICEF hervorgeht, mehr als eine
Million rumänischer Kinder in Armut, 350 000 in
extremer Armut leben. Die körperliche
Misshandlung von Kindern soll in rumänischen
Familien an der Tagesordnung sein. Zehntausende
Minderjähriger sind auf die Straße geflohen.
Verbreitet unter Jugendlichen ist der Missbrauch von Alkohol. Viele leiden unter Depressionen.
Aufenthaltsorte von minderjährigen Straßenbewohnern sind Kanalisationssysteme, insbesondere in
der Nähe von Fernheizungsrohren, Stationen der U-Bahn, Bahnhöfe und Großbaustellen. Die Kinder
und Jugendlichen sind ärmlich gekleidet und schmutzig. Verbreitet sind Krankheiten (Tuberkulose,
Geschlechtskrankheiten, Hepatitis, Aids (Vgl. Raluca Nelepcu und Olivian Ieremiciu:
33
http://www.funkforum.net/print.php?page=ARTICLE&particleid=536). Straßenkinder schnüffeln
Farbenverdünnungsmittel, das die Atemwege beschädigt und Herz-, Hirn- und Nervenerkrankungen
verursacht.
Wie in anderen Ländern, so leben auch rumänische Straßenkinder in hierarchisch gegliederten
Gruppen mit rigider Binnenmoral. Bettel, Diebstahl und andere Kleinkriminalität sind die
hauptsächlichen Erwerbsquellen. Oft lehnen die Minderjährigen die Hilfe von Institutionen ab,
insbesondere wenn sie sich dabei bestimmten Regeln unterwerfen müssen – sie ziehen „die Freiheit
der Straße" vor.
Viele Straßenkinder werden sexuell missbraucht und ausgebeutet. Rumänien (Bukarest) scheint ein
Anziehungspunkt für pädophile Straftäter zu sein (vgl. http://www.youtube.com/watch?v=7mkHf4hy9g). Im Jahr 2001 wurde ein Gesetz zur Bekämpfung des Menschenhandels und sexuellen
Missbrauchs erlassen. Obgleich der sexuelle Missbrauch von Kindern mit Haftstrafen bis zu fünfzehn
Jahren bestraft wird, sollen nach wie vor Frauen und Kinder aus Rumänien in andere europäische
Länder verschleppt und zum Beispiel in Hamburg, Berlin und Amsterdam sexuell missbraucht werden.
Nach 1996 sind Tausende von rumänischen Kindern zur Adoption ins Ausland vermittelt worden. Im
Jahr 2001 wurde diese fragwürdige Maßnahme ausgesetzt. Die Adoptionspraxis ließ sich jedoch
bisher nicht wirklich abstellen (siehe
http://forum.gofeminin.de/forum/adoption/__f366_adoption-Kinderheime-in-Rumanien.html).
Videodokumentationen:
- youtube.com, RTL, Rumänische Straßenkinder, Kinderzuhälter in Bukarest, 8:54 min
- youtube.com, Streetwise Kids - Romania, in englischer und rumänischer Sprache, ohne Untertitel,
15:44 min
- youtube.com, Russia Today: Slumdog Kids. Abandoned children of Romania, 16. September 2009,
in englischer Sprache, 3:36 min
- youtube.com, Public Broadcasting Service, European Journal, Erin Condit: Romanian Street
Children. 9. Oktober 2008, in englischer Sprache, 5:12 min
- youtube.com, Edet Belzberg: Children Underground (deutscher Titel Asphaltkinder in Bukarest),
2001, in englischer Sprache, 12 Teile von jeweils etwa 9 min, zusammen etwa 108 min.
Straßenkinder in Rumänien
aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
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Die Straßenkinder in Rumänien (rumänisch copii de strada) sind mehrere Generationen verstoßener Kinder,
Waisenkinder oder Ausreißer im Alter von 3 bis 17 Jahren, die teilweise auch in größeren Gruppen auf den
Straßen und in der Kanalisation zahlreicher Städte des Landes leben.
Über ihre landesweite Zahl besteht Uneinheit in der Literatur, Schätzungen zufolge waren es
•
•
•
2000 – 3200 Kinder[1]
2003 – 1900 Kinder[1]
2004 – 1300 Kinder[2]
[3]
Andere Quellen gehen von rund 5000 Kindern im Jahr 2005 , 20.000 Kindern im Jahr 2001,
[5]
Kindern (ohne Jahreszahl),
oder gar 100.000 in den Jahren 1997
[6]
und 2008
[7]
selten Dokumente oder einen Ausweis, was eine genaue Erhebung erschwert.
34
[4]
oder 30.000
aus. Straßenkinder besitzen
Ihre Existenz war bereits vor der Rumänischen Revolution im Jahr 1989 bekannt, jedoch wurde das Problem in
seinen ganzen Ausmaßen von den damaligen staatlichen Organen der Öffentlichkeit vorenthalten. Das
Phänomen kam in den 1990er und den frühen 2000er Jahren zu seinem Höhepunkt; seither geht die Anzahl der
Straßenkinder gemäß einiger Quellen zurück, andere sprechen davon, dass „die Obdachlosigkeit und damit auch
die Zahl der Straßenkinder und -jugendlichen weiter dramatisch zunimmt“.
[8]
Ursachen [Bearbeiten]
Obdachlosigkeit ist in Rumänien erst seit kurzem Gegenstand der Forschung. Studien weisen landesweit eine
Zahl von 15.000 Obdachlosen aus, wobei die Organisation Ärzte ohne Grenzen allein in den Straßen von
[2]
Bukarest bei circa zwei Millionen Einwohnern um die 5000 Betroffene vermutet.
Die Altersstruktur Rumäniens weist die geburtenstärksten
Bevölkerungszahlen in den Jahrgängen 1975–1979 auf.
Die Straßenkinder in Rumänien sind sowohl das Resultat der relativen Armut der Bevölkerung Rumäniens als
auch seiner kommunistischen Vergangenheit. Nicolae Ceaușescu hatte die Vision, das rumänische Volk bis zur
Jahrtausendwende auf 30 Millionen anwachsen zu lassen.
[9]
Bereits im Oktober 1966 wurde dass Dekret 770
erlassen, mit dem die Empfängnisverhütung verboten und Abtreibungen mit Freiheitsstrafen streng bestraft
wurden. Frauen fanden zwar Wege zur illegalen Abtreibung, allerdings nur unter schwersten Bedingungen (siehe
auch: 4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage). Unter dieser Bevölkerungspolitik verdoppelte sich bereits ein Jahr später
die Geburtenziffer.
[10]
Obwohl das Programm anfänglich von massiver finanzieller Förderung für Kindergärten und
Schulen begleitet wurde, erwiesen sich diese sozialpolitischen Maßnahmen jedoch im Laufe der Jahre als
unzureichend, und die daraus resultierenden sozialen Probleme in Rumänien sind heute noch groß.
Viele werdende Mütter versuchten, mit Drähten oder Medikamenten einen Abort einzuleiten. In der Folge kam es
häufig zu Geburten behinderter Kinder. Diese wurden daraufhin in Sozialwaisenhäuser wie zum Beispiel das
Kinderheim Cighid nahe der Stadt Oradea abgeschoben, wo neben behinderten Kindern unter anderem auch
ungewollte Kinder eingeliefert wurden. Hier wurden die Irecuperabili (rumänisch die Unwiederbringlichen) unter
unwürdigsten Bedingungen wie Vieh gehalten.
[11]
40 Prozent der Menschen lebten unterhalb der Armutsgrenze,
und insbesondere kinderreiche Familien waren vielfach der Zerrüttung ausgesetzt. In der Folge konnten
zahlreiche Eltern nicht mehr für ihre Kinder aufkommen und gaben sie an Waisenhäuser ab, oder „warfen sie
raus“. Die überfüllten Waisenhäuser konnten den Strom der verwaisten Kinder nicht aufnehmen. Es gab einige
Fälle, in denen verzweifelte Eltern ihre Kinder töteten.
Geheimpolizei Securitate für ihren Nachwuchs.
[12]
In den Waisenhäusern bediente sich auch die
[13]
35
Nach der Revolution 1989 stieg die Zahl der nun legalen Schwangerschaftsabbrüche kurzfristig massiv an und
erreichte 1990 gar eine Quote von 300 Abbrüchen auf 100 Geburten.
[14]
Noch heute lassen Mütter bei
ungewollten Schwangerschaften oftmals ihre Babys gleich nach der Geburt im Krankenhaus zurück. In manchen
Kliniken werden Gebärende zur Erleichterung von potentiellen späteren Ermittlungen inzwischen fotografiert, für
den Fall „dass sie ohne ihr Baby klammheimlich das Weite suchen“.
staatlichen Heimen.
[15]
1997 lebten eine Million Kinder in
[6]
Schätzungsweise 60.000 Kinder
[9]
flüchteten aus einem Familienalltag, in dem oft Alkohol, Gewalt und sexueller
Missbrauch an der Tagesordnung waren.
[3]
ihrer Ehe- oder Lebenspartner ausgesetzt.
2001 waren 30 Prozent der rumänischen Frauen Gewalthandlungen
[16]
Noch 2006 zeigte eine Studie der UNICEF Romania, dass 73% der
rumänischen Eltern ihre Kinder körperlich misshandelten. Mehr als eine Million rumänischer Kinder lebte in
Armut, 350.000 davon in extremer Armut. Armut unter Roma-Kindern war drei Mal höher als unter den Kindern
der Mehrheitsbevölkerung, und 27.000 rumänische Kinder lebten in diesem Jahr nicht in elterlicher Obhut,
sondern in Institutionen oder anderen vom Staat anerkannten Einrichtungen.
[1]
Durch andere Faktoren wie das Arbeiten von Eltern im Ausland entstand noch ein anders geartetes Problem
alleinstehender rumänischer Kinder. Zwischen 16 und 18 Prozent der rumänischen Kinder zwischen 10 und 14
Jahren entbehren aus diesem Grund einen Elternteil:
•
•
•
80.000 den Vater
55.000 die Mutter
35.000 beide Eltern
Ein Teil dieser Kinder wird durch Verwandte oder Nachbarn im Rahmen der Möglichkeiten und mit
unterschiedlichem Einsatz sozial begleitet. Materiell geht es den hinterlassenen Kindern oft besser als ihren
Altersgenossen, da die meisten Eltern regelmäßig Geld überweisen. Trotzdem neigen die Kinder zu
Depressionen und Alkoholmissbrauch, und geraten nicht selten mit dem Gesetz in Konflikt. 2008 stieg auch die
Rate der diesbezüglichen Selbstmorde von Jugendlichen an. Nach offiziellen Schätzungen arbeiten 14 Prozent
der Gesamtbevölkerung im Ausland, nicht selten illegal. Die meisten davon sind junge Erwachsene, viele davon
Eltern.
[17]
Situation [Bearbeiten]
Viele der Straßenkinder leben in der Kanalisation in der Nähe von Fernheizungsrohren, in U-Bahn Stationen, an
Bahnhöfen oder auf Baustellen. Ihre Kleidung wird nicht selten durch Stricke zusammen gehalten; die Kinder sind
oft sehr dreckig, und es besteht ein Mangel an Schuhwerk.
aus Limonadenflaschen zur Verfügung.
[4]
[18]
Für die Körperhygiene steht oft nur etwas Wasser
Viele haben Tuberkulose und werden in Folge mangelnder Hygiene von
Läusen und Flöhen geplagt, und viele leiden an Fußpilz. Vor allem die Älteren klagen über
Geschlechtskrankheiten wie Syphilis und laufen ständig Gefahr, sich mit Aids oder Hepatitis zu infizieren.
[5]
Das Schnüffeln der billigen Straßendroge „Aurolac“ aus Plastiktüten ist unter den Kindern weit verbreitet. Aurolac
ist der Name einer rumänischen Marke eines synthetischen silber- oder goldfarbenen Verdünnungsmittels, das
nach dem Inhalieren eine leichte halluzinogene Wirkung hat und die Kinder so ihre Ängste, Sorgen und den
Hunger für einige Momente vergessen lässt. Diese Methode verursacht bei anhaltendem Gebrauch Herz- und
Hirnerkrankungen und schädigt die Atemwege.
[3][12][18]
Unter dem Einfluss der Dämpfe legen die Kinder auch
gelegentlich selbstverletzendes Verhalten an den Tag, in dem sie sich zum Beispiel mit Scherben Schnittwunden
an den Armen zufügen.
[19]
36
Es ist schwer zu den Straßenkindern Kontakt aufzunehmen. Sie bilden eine eigene, wenn auch raue Familie, die
zusammenhält. Die Größeren „achten“ meist auf die Kleineren, jedoch herrscht auch oftmals das Gesetz des
Stärkeren, und es bestehen starke Hierarchien,
Jüngeren organisieren.
[21]
[20]
in denen die älteren Kinder das Betteln und Stehlen der
Betteln und Kleinkriminalität sind an der Tagesordnung. An vielen innerstädtischen
Verkehrsampeln stürzen Straßenkinder auf die wartenden Autos zu und putzen die Scheiben in der Hoffnung auf
etwas Geld, wobei sie sich häufig bekreuzigen.
[22]
Hilfe und Unterstützung werden oft nicht angenommen, da in Institutionen immer Regeln und Verpflichtungen
herrschen, die befolgt werden müssen. Die Straßenkinder hegen wohl den Wunsch auf ein „besseres Leben“,
wollen aber „frei sein“ und haben Schwierigkeiten sich an ein Minimum an Regeln zu halten. Sie tauchen
vorwiegend bei Schlechtwetter und im Winter an Hilfsstellen auf, um wenigstens eine warme Mahlzeit und einen
[12]
sicheren Schlafplatz zu haben.
Die meisten von ihnen kehren danach wieder auf die Straße zurück.
Hilfsorganisationen haben keine Illusionen weder über die Bandbreite und Größe ihrer Aufgabe noch über ihre
zur Verfügung stehenden Mittel und Möglichkeiten.
[7]
Infolge der meist fehlenden Ausweispapiere ist es den
Kindern nicht erlaubt eine reguläre Schule zu besuchen.
[4]
Rumänien, und hier vornehmlich Bukarest, ist eines der europäischen Hauptreiseländer für pädophile Straftäter.
Insbesondere Straßenkinder sind ihre Opfer. Schätzungen ergeben, dass fünf Prozent der obdachlosen Kinder in
Rumänien in die sexuelle Ausbeutung gezwungen werden. Gleichzeitig sind zunehmend Verhaftungen und
mehrjährige Verurteilungen ausländischer Straftäter in Rumänien zu verzeichnen. Der Handel mit Frauen und
Kindern zwecks sexueller Ausbeutung ist nach wie vor ein ernsthaftes Problem im Land. Das bereits im Jahr
2001 verabschiedete Gesetz zur Bekämpfung des Menschenhandels führte in den ersten Jahren zu keinen
nennenswerten Verbesserungen. Nach wie vor werden Frauen und Kinder aus Rumänien zur sexuellen
Ausbeutung in West- und Osteuropa verschleppt, wobei gerade Straßenkinder schnell zu Opfern falscher
Versprechen von Menschenhändlern werden. So sind Fälle bekannt, in denen sie in Hamburg, Berlin und
Amsterdam zur Prostitution gezwungen wurden. Rumänien dient ebenfalls als Transitland zum Weitertransport für
Opfer aus zahlreichen anderen Ländern, wie zum Beispiel der Türkei oder Thailand, in andere europäische
Länder.
[23]
Der sexuelle Missbrauch von Kindern wird in Rumänien mit Haftstrafen bis zu fünfzehn Jahren
geahndet. Rumänien ratifizierte im Oktober 1990 die UN-Kinderrechtskonvention, im Januar 2002 folgte das
Zusatzprotokoll zur Ächtung von Kinderprostitution, Kinderhandel und Kinderpornografie.
2004 erklärte die rumänische Regierung, dass sich die Hilfsmaßnahmen der Regierungsstrategie im Bereich des
Schutzes der in Schwierigkeiten geratenen Kinder (2001 – 2004)
besser koordinierte Programme in Aussicht.
[21]
[24]
als unwirksam erwiesen hatten, und stellte
Neben den Kreisjugendämtern besteht ein Nationales Amt für den
Schutz der Kinderrechte, sowie private und staatlichen Kinderheime, die allerdings nach wie vor mit Gewalt und
sexuellem Missbrauch in Verbindung gebracht werden. Auch werden finanzielle Hilfen und psychosoziale
Betreuung angeboten, welche Kinder vor dem Verlassen- und Ausgesetzt werden schützen sollen. Jedoch hielt
das Land in Abstimmung mit der Europäischen Union 2005 an vielen harten Sparmaßnahmen im Sozialbereich
fest.
[3]
Zur Linderung des Problems wurden zwischen 1996 und 2001 mehr als 1500 Kindern ins Ausland zur Adoption
vermittelt, jedoch oftmals ohne Nachberichte und unter fragwürdigen Bedingungen. Die rumänische Regierung
setzte 2001 auf Druck der EU-Kommission alle Auslandsadoptionen aus. Trotz des Moratoriums wurde 2003
bekannt, dass wieder mehr als 1100 Kinder ins Ausland vermittelt worden waren, vor allem nach Italien. Seit 2004
dürfen nur noch die eigenen Großeltern ein rumänisches Kind ins Ausland adoptieren, und andere Ausländer nur,
wenn sie seit mindestens fünf Jahren in Rumänien leben.
[25]
37
Timișoara [Bearbeiten]
In Timișoara (deutsch Temeswar) lebten laut inoffiziellen Schätzungen 2005 noch mindestens 1.000
[29]
Menschen auf der Straße.
Zeitweilig hausten mehrere Gruppen von jeweils bis zu 100 Kindern im
Alter von unter sechs bis 17 Jahren zur Winterzeit in der Kanalisation Timișoaras. Das Inhalieren von
Schnüffelstoffen war hier weit verbreitet. Die Zeitung The Independent nannte sie 1994 the rat children
[30][31]
(deutsch die Rattenkinder).
1997 wurde die Zahl der Kinder mit bis zu 200 angegeben. Eine Erhebung ergab, dass über 80
Prozent der Kinder Jungen, 50 Prozent zwischen 10 und 14 Jahren alt, und über 40 Prozent nicht in
Timișoara heimisch waren. 65 Prozent der tagsüber auf der Straße lebenden Kinder kehrten nachts zu
[32]
Familien zurück.
2001 gab es in Timișoara noch immer zwischen 200 und 250 Straßenkinder; zu
dieser Zeit bestanden für ungefähr die Hälfte von ihnen Unterbringungsmöglichkeiten im Nachtasyl
[33]
oder anderen Institutionen.
Franz Brugger
[34]
beschrieb die Kinder der Straße:
„Von zu Hause weggelaufen, verstoßen, von sogenannten
Kinderheimen ausgerissen und überall zu finden, das sind die Kinder
der Straße. In den Bahnhöfen, Markthallen, Hinterhöfen von
Wohnblocks und in der Kanalisation suchen sie Wärme,
Geborgenheit und Unterschlupf. Ihren Hunger, die Kälte und die
Angst betäuben sie meist mit Lack, den sie aus Plastikbeuteln
schnüffeln. Dieses Schnüffeln bewirkt irreparable Schäden im Gehirn
und verwehrt ihnen die Aufnahme in ein besseres Leben. Keine
Schulbildung, kein Beruf, mal Gelegenheitsarbeit, mal betteln warten auf was?“
Öffentliche Wahrnehmung [Bearbeiten]
Die Bevölkerung reagiert mit Ablehnung und Diskriminierung auf die Kinder. Bezeichnend ist, dass
[5]
das Wort Straßenkinder in der Umgangssprache gleichbedeutend ist mit Ratten oder Abschaum. In
dem Bewusstsein vieler Rumänen gelten die Straßenkinder noch immer als der „soziale Sondermüll
[3]
der Ära Ceausescu“.
Straßenkinder fielen ebenfalls Misshandlungen seitens der Polizei zum Opfer. Im Januar 2003 drückte
der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes seine Besorgnis über die zahlreichen Misshandlungsund Foltervorwürfe im Hinblick auf Kinder aus. Außerdem wurde kritisiert, dass derartige Vorfälle keine
effektiven Untersuchungen durch eine unabhängige Behörde nach sich zögen. Der Ausschuss rief
Rumänien eindringlich auf, „sofortige Maßnahmen zu ergreifen, um sämtliche Gewalt gegen Kinder zu
[48]
unterbinden und gegen das vorherrschende Klima der Straflosigkeit für solche Taten vorzugehen“.
38
Am 21. März 2009 wurden am Internationalen Tag der Straßenkinder durch die Kinderschutzbehörde
in der Stadtmitte Timișoaras Ausstellungen mit Zeichnungen und Lebenserfahrungen ehemaliger
[49]
Straßenkinder organisiert. Die Aktion fand unter dem Motto „Die Straße ist kein zu Hause“ statt.
Henrike Bradiceanu-Persem nahm sich des Themas Straßenkinder in der gleichnamigen Szenette an,
[50]
die 2000 beim Theaterfestival in Timișoara von der Autorin vorgetragen wurde.
Straßenkinder in Brasov
Brasov, zweitwichtigstes Industriezentrum Rumäniens,
zwischen dem 13. Jahrhundert und 1920 der
deutschen Einwanderer wegen Kronstadt genannt,
liegt inmitten einer idyllischen Landschaft am Rande
der Südkarpaten. Aber nicht nur der Name dieses mit
Naturschönheit verwöhnten Landstrichs, Transilvania
oder auf deutsch Siebenbürgen, erinnert an die Zeiten
des mittelalterlichen Fürsten Vlad Tepes, gemeinhin
Dracula genannt, auch die sozialen Zustände im
heutigen Brasov verweisen auf vormoderne Zeiten.
Unter der diktatorischen Herrschaft Ceausescus (19741989), die sich vor allem auf die mit terroristischen
Methoden arbeitende Geheimpolizei Securitate stützte,
entwickelte sich Rumänien zu einem der rückschrittlichsten Länder Europas. Die
wirtschaftlich desolate Lage führte vor allem in den 80er Jahren zu einer extremen
Lebensmittel- und Energieknappheit.
Auch heute noch, zehn Jahre nach der Einführung marktwirtschaftlicher Prinzipien,
ist ein sehr geringer Lebensstandard in Rumänien festzustellen. Das soziale
Sicherungsnetz ist weitmaschig, die sozialstaatlichen Leistungen sind völlig
unzureichend. Alte Menschen, Behinderte und Waisenkinder bzw. Kinder, die vor der
Gewalt und dem Alkoholismus ihrer Eltern von zu Hause weglaufen, sind die
Leidtragenden.
Beispiel Pana, 17 Jahre: Er entdeckte seinen Vater auf dem Dachboden, mit einer
Schlinge um den Hals und an einem Balken hängend. Pana war damals gerade 13
Jahre alt. Einige Zeit später musste er mit ansehen, wie seine Mutter, die mit
Prostitution ihr Geld verdiente, von ihrem Freier aus dem geschlossenen Fenster
geworfen wurde. Sie überlebte ihre Verletzungen nicht. Seitdem lebt Pana auf der
Straße.
Pana ist kein Einzelfall. Es gibt viele Straßenkinder in Rumänien. Schätzungen liegen
zwischen 1.000 und 30.000, so genau weiß das niemand. Die Bevölkerung reagiert
mit Ablehnung und Diskriminierung auf die Kinder. Bezeichnend ist, dass das Wort
„Straßenkinder“ in der Umgangssprache gleichbedeutend ist mit „Ratten“ oder
„Abschaum“.
39
In Brasov leben 20 bis 30 Kinder ab einem Alter von
acht Jahren ständig am Bahnhof. Pana ist einer der
Ältesten. Die Älteren unter diesen Bahnhofskindern
leben in einer totalen Hoffnungslosigkeit und ohne
jede Perspektive. Das Gesetz in Rumänien verlangt
die Absolvierung von mindestens acht Schuljahren
vor dem Beginn einer Berufsausbildung. Ohne
Schulbildung besteht nicht einmal die Möglichkeit, als
ungelernter Hilfsarbeiter eine Anstellung zu finden.
Abgesehen davon, dass Pana zu alt ist, um
nochmals in die erste oder zweite Klasse zu gehen,
gibt es ein weiteres Problem hinsichtlich eines
Schulbesuchs: Viele der am Bahnhof lebenden
Kinder haben keine Papiere, sind nirgendwo registriert und damit für den Staat nicht
existent. Infolge dessen dürfen die Kinder größtenteils eine Schule nicht besuchen,
denn jemand, den es nicht gibt, hat kein Recht auf Bildung.
Die Älteren unter den Straßenkindern vegetieren am Bahnhof erbärmlich vor sich hin.
Sie flüchten sich in die Scheinwelt der Drogen. Dafür kaufen sie sich billige Lacke
oder Klebstoffe und schnüffeln die Ausdünstungen dieser chemischen Produkte. Die
gesundheitsschädigenden Auswirkungen dieser Art des Drogenkonsums
insbesondere auf das Gehirn sind hinlänglich bekannt. Härtere Drogen wie Kokain
und Heroin gibt es am Bahnhof (bisher noch) nicht, wodurch das Problem der
Beschaffungskriminalität weitgehend entfällt. Die Jugendlichen, die schnüffeln,
werden von der Polizei im Bahnhofsgebäude nicht geduldet und sind deshalb
gezwungen, im Freien zu übernachten. Im Sommer schlafen sie in den Büschen vor
dem Bahnhofsgebäude, im Winter auf Warmwasserrohren in der Kanalisation, wo
sich im matschigen Schlick Ratten und Ungeziefer tummeln.
Die paar Pfennige für Zigaretten und Klebstoff „verdienen“ sich die Älteren, indem sie
sich sexuell missbrauchen lassen. Einer der Jungen beispielsweise bekam eine
Schachtel Zigaretten dafür, dass er drei Männer mit dem Mund befriedigte.
Es leben auch einige Mädchen im Alter von 15 bis 20 Jahren am Bahnhof. Sie
beschaffen sich Geld, indem sie sich
prostituieren.
Anders stellt sich die Situation der Acht- bis
Vierzehnjährigen dar. Da sie keine Drogen
konsumieren, dürfen sie in der Wartehalle des
Bahnhofs übernachten.
Die Jüngeren haben jedoch einen
entscheidenden Vorteil im Überlebenskampf am
Bahnhof: Sie sehen jung und unverbraucht aus,
nicht so abgerissen wie die Älteren, weshalb sie
allgemein beliebter sind als letztere. Sie kommen
meistens dadurch zu Geld, dass sie in den internationalen Fernzügen, die in Brasov
einen kurzen Aufenthalt haben, Zeitungen verkaufen. Dadurch entfällt die Gefahr des
Verhungerns.
40
Allerdings haben sie, und das gilt für die
jüngeren ebenso wie für die älteren
Straßenkinder, andere, gravierende
Probleme: Kleidung und Schuhe fehlen,
ganz besonders im Winter, und die medizinische Versorgung
entfällt ganz. Viele haben Tuberkulose, alle Kinder werden in
Folge mangelnder Hygiene von Läusen und Flöhen geplagt
und leiden an Fußpilz. Oftmals ist der Fuß fast bis zur Verse
mit Pilz bedeckt. Vor allem die Älteren klagen über Geschlechtskrankheiten wie
Syphilis und laufen ständig Gefahr, sich mit Aids oder Hepatitis zu infizieren.
Die meisten der Straßenkinder waren nie in einem Heim: Aus zerrütteten Familien
geflohen oder von den Eltern ausgesetzt und verstoßen, landen sie direkt auf der
Straße. Niemand kümmert sich um sie, es gibt kaum staatliche Stelle, die sich
zuständig fühlt. Sie sind dazu verurteilt, auf der Straße um ihr Überleben zu kämpfen.
Diesen Kindern fehlt etwas, was allen Kindern, überall auf der Welt, zukommen
sollte: Aufmerksamkeit und Liebe und das Recht, wie Kinder aufzuwachsen.
Die Tatsache, dass im Staat Ceausescus Verhütungsmittel und Abtreibungen
strengstens verboten waren und das Gebären des Kindes die Alternative der Frau zu
Gefängnis oder Tod war, ist kaum vorstellbar. Für viele Strassenkinder trifft der Satz
„Genosse Nicolae Ceausescu ist der Vater aller Kinder und Genossin Elena
Ceausescu ist die Mutter aller Kinder“ auf makabre Weise zu. Die Diktatur
Ceausescus ist untergegangen, aber einen rumänischen Staat und die Kinder gibt es
noch immer.
Markus Döhring
41
Film- und Literaturtipps:
Filme:
„9 Leben“ Dokumentarfilm von Maria Speth, Deutschland 2010
(gibt´s auf DVD zu kaufen)
„Kleine Wölfe“ über Straßenkinder in Nepal von Justin Peach, Deutschland 2010
(immer mal wieder in der ARD oder den dritten Programmen zu sehen, Ausschnitte
auf Youtube, evtl. auch als DVD zu kaufen)
„Die Vergessenen von Bukarest“ Straßenkinder filmen sich selbst und ihr Leben –
ist immer noch in der ZDF-Mediathek abrufbar!
Bücher:
Morton Rhue, Asphalt Tribe (ab 14 J.)
Paulo Lins, Die Stadt Gottes (ab 16 J.)
Jana Frey, Sackgasse Freiheit
Sabrina Tophofen/ Veronika Vattrodt, So lange bin ich vogelfrei: Mein Leben als
Straßenkind
Carolin Philipps, Träume wohnen überall
Internet:
www.strassenkinder.de
www.tdh.de
www.kids-hh.de
www.basisundwoge.de
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Theaterpädagogik
Zur Vorbereitung auf die Vorstellung:
1. Brainstorming
Alle Schüler sollen zusammen tragen, was ihnen spontan zum Begriff
„Straßenkinder“ einfällt.
Was bedeutet der Begriff überhaupt? Gibt es unterschiedliche Interpretationen?
Welche Vorstellungen oder auch Vorurteile gibt es über Straßenkinder?
Die Ergebnisse können an der Tafel oder auch auf einem großen Plakat
zusammen getragen und geordnet werden.
2. Recherche
In einem zweiten Schritt können die Schüler – evtl. in Gruppen aufgeteilt – sich
Informationen über Straßenkinder, ihr Umfeld, ihr Leben beschaffen. Z.B. kann
eine Gruppe ausschließlich im Internet recherchieren, eine andere wertet
Zeitungen aus, eine dritte Gruppe führt eine Straßenumfrage durch.
Die Ergebnisse werden zusammen getragen und verglichen.
Anschließend kann das Ergebnis der Recherche mit dem Brainstorming (siehe 1.)
verglichen werden. Wie hat sich der Blick auf Straßenkinder, bzw. auf den Begriff,
durch die Recherche verändert?
3. Vergleichen
Die Schüler beschreiben zunächst ihren Tagesablauf – z.B., indem sie einen
„exemplarischen“ Tag lang Buch darüber führen, was sie getan haben, was sie
gegessen haben, welche Kontakte sie hatten, wie ihre Familiensituation ist etc.
Danach tragen sie zusammen, was sie über das Leben der Straßenkinder wissen
und versuchen gemeinsam, einen ähnlichen „Tagesablauf“ (nun natürlich einen
fiktiven) für ein Straßenkind zu entwerfen. Dabei können sie direkt vergleichen,
wie sich ihr Leben von dem eines Straßenkindes unterscheidet.
Dabei können Fragen als Hilfestellung helfen, z.B.:
Was bedeutet es, kein Zuhause zu haben, kein eigenes Bett, nur die Kleider, die
man am Leib hat?
Wie ist es, wenn man für alles selbst sorgen muss – Unterkunft, Essen, Trinken,
Wärme?
Wie fühlt es sich an, wenn man Angst haben muss vor der Polizei, vor
gewalttätigen Menschen auf der Straße?
43
Beschäftigung mit dem Stück:
1. Eigene Schlüsse erfinden:
Die Schüler erhalten eine Inhaltsangabe des Stücks (z.B. die auf Seite 6) und
sollen sich selbst die Fortsetzung ausdenken. Was könnte mit Kiwi und Litchi
passieren?
Wie reagiert die Familie auf die Verfolgung durch die Geheimpolizei? Halten die
Jugendlichen zusammen oder zerbricht die Gruppe?
Welchen Ausweg könnte es geben?
2. Die Sprache des Stücks kennen lernen:
Die Schüler lesen die erste Seite des Stücks – einen Auszug aus dem ersten
Monolog Kiwis (siehe Anhang). Dann entwickeln sie selbst Ideen, wie man einen
solchen Text auf dem Theater umsetzen kann. Als Einstieg kann man sie z.B.
anregen, alles einmal nachzuspielen, was in dem Text erzählt wird. Oder den
Text in einen Dialog zu verwandeln.
Was verändert sich?
Warum hat der Autor die Form des Monologs gewählt?
Ebenso kann mit einem zweiten Ausschnitt (siehe Anhang), in dem Texte von
Kiwi und Litchi vorkommen, verfahren werden.
Zur Nachbereitung
1. Wichtige Szenen erinnern/ herausarbeiten
An welche Szenen erinnern sich die Schüler? Wer kommt in der Szene vor?
Spielt die Szene nach oder zeigt das Wesentliche, an das ihr Euch erinnert, in
Standbildern. Wo ist der Höhepunkt der Szene? Welche Emotionen sind
vorherrschend?
2. Das Stück weiter spinnen
Ausgehend von der Übung 1 können die Schüler ihre eigene Version der
Geschichte entwickeln. Wie kann die Geschichte weiter gehen? Was passiert mit
Haselnuss? Wo sind Kiwi, Litchi, Haselnuss 10 oder 15 Jahre später? Wie
wahrscheinlich ist ein gutes Ende? Die Geschichten der Schüler können
wiederum aufgeschrieben oder gespielt, bzw. in prägnanten Standbildern gezeigt
werden.
44
3. Die Geschichte umschreiben
Was wäre wenn ….
- Onkel und Tante Gewissensbisse bekommen hätten? Hätten sie es sich
anders überlegt? Hätten sie Kiwi mitgenommen? Und wohin?
- Es keine olympischen Spiele in der Stadt gegeben hätte?
- Kiwi im Gefängnis geblieben wäre?
- Kiwi sich geweigert hätte, Litchi zu heiraten?
- Der Mann mit der Micky-Maus-Maske nicht am Fluss aufgetaucht wäre?
Etc.
Die Schüler sollen angeregt werden, mögliche „Wendepunkte“ des Stücks zu
entdecken. In welchen Szenen wäre eine andere Entwicklung möglich? Gehen
die Geschichten eher gut oder eher schlecht aus? Sind äußere Umstände nötig,
um die Geschichte zu ändern (z.B. dass es keine olympischen Spiele gegeben
hätte) oder kann eine Figur durch eine andere Entscheidung die Geschichte
verändern? (Z.B. könnte Litchi, anstatt den Mann zu erschlagen, auch anders
handeln?)
Die Ergebnisse können entweder aufgeschrieben oder gespielt werden.
4. In die Figuren hinein versetzen
Die Schüler stellen sich vor, einen Tag mit der „Familie“, mit Mango, Papaya,
Kartoffel, Traube, Sellerie etc., mit Kiwi und Litchi zu verbringen. Wie würde der
Tag aussehen? Wie würde es ihnen gefallen? Was wissen sie über die einzelnen
Familienmitglieder, wer hat eine bestimmte Aufgabe oder Stellung innerhalb der
Gruppe? Und was könnte ihre (also die der Schüler) Aufgabe oder Stellung in der
Gruppe sein? Wer ist ihnen sympathisch, wer vielleicht nicht?
Gibt es eine Hierarchie in der Gruppe? Warum?
Alle Ergebnisse (oder auch der Weg dorthin) können auch gespielt werden, in
Improvisationen oder auch in einfachen Standbildern dargestellt werden.
5. Straßenkind für einen Tag
Terre des Hommes veranstaltet jedes Jahr die Aktion „Straßenkind für einen Tag“
(dieses Jahr am 20. November 2012, Informationen unter www.tdh.de). Daran
angelehnt können auch die Schüler einmal durchspielen, wie es sich anfühlen
könnte, ein Straßenkind zu sein.
Womit könnte man Geld verdienen?
Woher bekommt man Essen, Kleidung?
Wie fühlt es sich an, zu betteln? Geld mit Schuhputzen oder Autoscheiben
waschen zu verdienen?
Wo geht man hin, wenn es kalt ist oder regnet und man keine Wohnung hat (und
aus den Geschäften verjagt wird)?
Das alles lässt sich ganz konkret an den Orten der jeweiligen Stadt/ Gemeinde
durchspielen.
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Weitere Angebote rund um die Vorstellungen von „Kiwi“:
Ausstellung von Terre des Hommes
Ab Mitte Oktober gibt es im T.3 Foyer eine Foto-Ausstellung von Terre des Hommes
zu sehen, in der Bilder von Straßenkindern aus aller Welt gezeigt werden.
Info-Veranstaltung mit Podiumsgespräch
Zur Vorstellung am 7. Dezember 2012 gibt es eine Veranstaltung mit Vertretern von
Terre des Hommes und Basis und Woge e.V.
Ab 19 Uhr findet ein Podiumsgespräch mit Katrin Schultheiss von Terre des Hommes
und Burkhard Czarnitzki von Basis und Woge e.V. Hamburg statt. Terre des
Hommes engagiert sich für Straßenkinder weltweit, Basis und Woge e.V. arbeitet in
Hamburg für Straßenkinder, bzw. Straßenjugendliche. Frau Schultheiss und Herr
Czarnitzki werden also über Straßenkinder und Straßenjugendliche in Hamburg und
in anderen Ländern berichten und einen Einblick in ihre Arbeit geben.
Um 20 Uhr findet dann die Vorstellung „Kiwi“ statt und im Anschluss an die
Vorstellung gibt es noch die Möglichkeit, Fragen zu stellen, bzw. zu einem Gespräch
über Realität und Theater. Hierbei werden neben Frau Schultheiss und Herrn
Czarnitzki auch die Schauspieler von „Kiwi“ anwesend sein.
Einführungen und Nachgespräche
Wenn Sie mit Ihrer Klasse eine Vorstellung von „Kiwi“ besuchen, kommen wir gern
auch zu einer Einführung, einem Workshop oder einem Nachgespräch zu Ihnen in
die Schule. Bitte kontaktieren Sie uns über [email protected] !
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