WOGE e.V. / Institut für soziale Arbeit e.V. · Handbuch der Sozialen

Transcrição

WOGE e.V. / Institut für soziale Arbeit e.V. · Handbuch der Sozialen
WOGE e.V. / Institut für soziale Arbeit e.V. · Handbuch der Sozialen Arbeit mit Kinderflüchtlingen
1
WOGE e.V.
Institut für soziale Arbeit e.V. (Hg.)
Handbuch der Sozialen Arbeit
mit Kinderflüchtlingen
3
Diese Publikation wurde gefördert durch terre des hommes, PRO ASYL,
das Diakonische Werk der EKD und den Paritätischen Wohlfahrtsverband.
2., bearbeitete und ergänzte Auflage 2000
1999 © Votum Verlag GmbH
Grevener Straße 89-91 · D-48159 Münster
www.votum-verlag.de
Umschlaggestaltung: KJM Werbeagentur, Münster
Druck: Fuldaer Verlagsagentur, Fulda
ISBN 3-933158-08-7
Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme
Handbuch der Sozialen Arbeit mit Kinderflüchtlingen / WOGE e.V./
Institut für soziale Arbeit e.V. (Hg.). – Münster : Votum, 2. Aufl. 2000
ISBN 3-933158-08-7
4
Inhalt
Vorwort der HerausgeberInnen
9
Sprache
Renate Holzapfel
107
Ethnizität
Claudia Martini
115
Ethnische und nationale
Minderheiten
Claudia Martini
117
1. Kindheit und Jugend in den
Herkunftsländern
Kolonialismus
Martha Mamozai
118
Kinder der Dritten Welt – Handlungspotentiale und Überlebenstrategien
Manfred Liebel
36
2. Flucht und Migration
Kindersoldaten
Boia Efraime Junior
Ursachen und Dimensionen
Franz Nuscheler
127
Asylpolitik in Europa
Claudia Roth, Petra Hanf
137
Schengener und Dubliner
Abkommen
Roland Appel, Katrin Sandmann
141
146
Zur Einführung:
Soziale Arbeit Zwischen Welten
Rüdiger Hänlein, Karoline Korring,
Sebastian Schwerdtfeger
14
Familie
Jaqueline Crawford
46
51
Jugend
Hans-Heiner Rudolph
58
Geschlecht
Leonie Herwartz-Emden
64
Einwanderungspolitik
Michael Bommes, Albert Scherr
Politik und Gesellschaft
Gisela Wuttke
72
Literatur
Rosemarie Peter
Asyl- und Flüchtlingspolitik in der
Bundesrepublik Deutschland
Volker Maria Hügel
155
75
Härtefallkommissionen
Volker Maria Hügel
172
87
Fluchthilfe
Forschungsgesellschaft
Flucht und Migration e.V.
182
Religionen – Der Buddhismus
Renate Holzapfel
93
3. Kinder auf der Flucht
Religionen – Der Hinduismus
Renate Holzapfel
97
Kinderflüchtlinge in der
Bundesrepublik Deutschland
Heiko Kauffmann
Religionen – Eine Einführung
Renate Holzapfel
80
Religionen – Afrika
Renate Holzapfel
Religionen – Der Islam
Renate Holzapfel
187
102
5
Aufnahmeländer
Anna Büllesbach
197
Statistik
Karin Weiss, Oggi Enderlein
205
Interessenvertretung
Herbert Leuninger
212
Bundesbehörden
Stephan Keßler
318
Kindertransporte
Rebekka Göpfert
217
Kommunale Behörden
Angelika Stein
323
Botschaften
Florentine Heiber
329
4. Recht und Gesetz
Illegalität
Thomas Hoffmann-Schiller
313
6. Behörden und Institutionen
Gesetzliche Grundlagen
Bertold Huber
223
Ausländerbehörde
Sabine Kriechhammer-Yagmur
333
Asylbewerberleistungsgesetz
Harald Löhlein
246
Jugendamt / ASD
Wolfgang Killguß
340
Kinderrechte
Beate Schmidt-Behlau
252
Datenschutz
Klaus-Wilhelm Thiel
345
Minderjährigkeit / Vorgezogene
Volljährigkeit
Silke Jordan
258
Einwanderungsgesetz
Günter Rieger
261
5. Aufnahmebedingungen
7. Psychosoziale Entwicklung
Persönlichkeitsentwicklung
Elisabeth Rohr, Beate Schnabel
351
Identität
Reinhild Zenk
359
369
Asylverfahren
Bertold Huber
269
Alter
Oggi Enderlein, Peter Rieker,
Karin Weiss
Altersfeststellung
Gerhard Schulz-Ehlbeck
275
Mädchen
Susanne Rabe-Rahmann
378
Aufenthaltstitel
Friedburg Maier
283
Sexualität
Petra Zimmermann
385
Flughafenverfahren
Bernd Mesovic
289
Ehe
Maria Ringler
389
Umverteilung
Cornelia Gunßer
295
Doppelidentität
Reinhild Zenk
394
Perspektiven
Helga Jockenhövel-Schiecke
301
Bewältigungsstrategien
Michael Langhanky
400
Abschiebung
Hubert Heinhold
305
Kriminalität / Kriminalisierung
Friedhelm Peters
405
6
8. Schule und Ausbildung
Arbeit
Stephan Keßler
Schule / Schulbesuch
Peter Rieker
Sprachkurse
Gisela Apitzsch
414
420
428
9. Betreuung und Versorgung in
Arbeitsfeldern der Jugendhilfe
Interkulturelle Pädagogik
Marianne Krüger-Potratz
507
Ethik und Moral
Micha Brumlik
516
Toleranzkompetenz
K. Peter Fritzsche
526
Psychosoziale Gruppenarbeit
Mariagrazia Bianchi Schaeffer
532
Mono- oder multiethnische
Unterbringung?
Peter Rieker, Karin Weiss
539
Jugendhilfe
Erwin Jordan, Remi Stork
435
Hilfeplanung
Silke Pies, Christian Schrapper
547
Unterbringung
Heide Kallert
442
Jugendhilfeplanung
Joachim Merchel
554
Erstversorgungseinrichtungen
Claus Goldbach
449
Teamarbeit / Kollegiale Beratung
Peter Berker
559
Erziehungsbedarf
Silke Jordan
454
Supervision
Ulrike Marwedel
566
Vormundschaft
Wolfgang Brinkmann
457
Vereinsvormundschaft
Sabine Able
462
11. Krankheit und Psychische
Störungen
Krankheitskonzepte in anderen
Kulturen
Walter Andritzky
571
473
Psychische Störungen
Peter Kurzendörfer
576
Straßensozialarbeit
Meent Adden
479
Traumatisierung
Salah Ahmad, Eva Rudolph
581
Fachkräfte
Joachim Merchel
486
Finanzierung
Fritz Finger
Sucht
Christian Haasen,
Mehmet Ali Toprak
589
491
Psychosomatik
Angela Eberding,
Renate Schepker
594
Ressourcen
Petra Wünsche
599
Psychotherapie
Mariagrazia Bianchi Schaeffer
606
Pflegefamilien
Thomas Gittrich
468
Adoption
Rolf P. Bach
10. Sozialpädagogische Konzepte
und Arbeitsansätze
Hilfekulturen und Organisationsansätze in Europa
Rudolph Bauer
498
7
Institutionelles Management
psychischer Probleme
Thomas Heise
613
Kinder- und Jugendpsychiatrie
Hubertus Adam, Jochen Walter
619
DolmetscherInnen
Joachim Sobotta,
Suncica Karmisevic
625
12. Gesellschaftliche Barrieren
Integration / Segregation
Georg Hansen
631
Diskriminierung/Dominanzkultur
Birgit Rommelspacher
633
Ethnie / Ethnozentrismus
Georg Hansen
638
Exil
Tahereh Agha
642
Rassismus
Sheila Mysorekar
648
Xenophobie
K. Peter Fritzsche
655
Anhang
Lexikon
661
Adressen
664
Die Autorinnen und Autoren
671
8
VORWORT
Vorwort
1. Kinderflüchtlinge als Thema für ein
Handbuch der Sozialen Arbeit
Das Arbeitsfeld Soziale Arbeit mit Kinderflüchtlingen stellt aufgrund der relativ
geringen Anzahl von ‘minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingen’ in der Bundesrepublik Deutschland und der teilweise extrem speziellen Anforderungen dieses Arbeitsfeldes eher eine Ausnahmesituation
dar. Seine Nischenexistenz führt dazu, daß
auch die sozialpädagogische Fachliteratur,
die sich auf Fragen der Unterstützung und
Betreuung der Kinderflüchtlinge bezieht,
nach wie vor sehr begrenzt ist.
Aufgrund der Komplexität des Arbeitsfeldes besteht jedoch in der Praxis ein hoher Bedarf an sachlicher Information,
fachlicher Orientierung und wissenschaftlicher Reflexion. Wie in vielen sozialen
Handlungsfeldern beschränken sich diese
Nachfragen nicht nur auf die eigene sozialpädagogische bzw. sozialarbeiterische
Disziplin. Ebenso ist das Erklärungswissen von Gesellschafts- und GeisteswissenschaftlerInnen, die Deutungsfähigkeit von
PsychologInnen, die Rechtskenntnis von
JuristInnen und das spezifische Know how
von Flüchtlingsorganisationen von Bedeutung. Aus diesem Grunde haben wir renommierte ExpertInnen, die in Praxis oder
Wissenschaft in den unterschiedlichen Disziplinen mit den Lebens- und Problemlagen von Kinderflüchtlingen befaßt sind,
gebeten, aus Ihrer Perspektive zu einem
umfassenden Verständnis dieses Handlungsfeldes der Sozialen Arbeit beizutragen.
Wenn in den Beiträgen dieses Handbuches entgegen dem üblichen Sprachgebrauch von Kinderflüchtlingen und nicht
von ‘unbegleiteten minderjährigen Flücht-
lingen’ (‘UMFs’) oder ‘minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingen’ (‘MUFs’) die Rede ist, so geschieht dies mit Bedacht. Wir
möchten diese Publikation nämlich nicht
zuletzt auch dafür nutzen, den eigentlich
verständlichen, prägnanten und nicht diskriminierenden Begriff des Kinderflüchtlings – der internationalen Diskussion folgend – stärker in der (deutschen) fachlichen Debatte zu verankern. Wir wollen
damit deutlich machen, daß Kinderflüchtlinge ‘sie selbst’ sind, junge Menschen, die
ihr (Über-)Leben selbständig gestaltend in
die eigenen Hände nehmen. Indem der
Begriff die Betonung auf ihren Status als
‘Kind’ legt, wird offenbar, daß Kinderflüchtlinge eben Kinder sind, eine Tatsache, die u. E. in der politischen Diskussion
aber auch in der Praxis der Sozialen Arbeit häufig zu wenig berücksichtigt wird.
2. Das Projekt ‘NETZWERK’ zur Unterstützung und Beratung der BetreuerInnen psychisch gefährdeter unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge
Hamburg ist eine der bundesdeutschen
Großstädte, die eine hohe Zuzugs- und Unterbringungzahl von Kinderflüchtlingen
aufweisen. Entsprechend groß ist auch die
Zahl derer, die, aus welchen Gründen auch
immer, psychosomatische Störungen oder
psychische Auffälligkeiten zeigen.
Aufgrund der Unsicherheit im Umgang
mit diesen Kindern und Jugendlichen und
des notwendigen Handlungsbedarfs wurde im April ‘97 das Projekt Netzwerk initiiert. Als Modellprojekt mit einer zunächst
zweijährigen Laufzeit, die inzwischen um
ein weiteres Jahr verlängert wurde, wird
es durch die ‘Stiftung Deutsche Jugend9
VORWORT
marke’, ‘terre des hommes’ und das ‘Amt
für Jugend’ der Hamburger Behörde für
Schule, Jugend und Berufsbildung finanziell gefördert.
Das Projekt bietet allen in der Arbeit
mit Kinderflüchtlingen Tätigen, insbesondere den MitarbeiterInnen in den Wohneinrichtungen, Beratungsgespräche an,
wenn die Kinder und Jugendlichen psychische oder psychosomatische Auffälligkeiten zeigen oder besondere Hilfe und Unterstützung benötigen. Es vermittelt gegebenenfalls weiterführende, fachspezifische Beratung, organisiert interdisziplinäre Fallkonferenzen und ist bei der Erstellung und Umsetzung spezieller Hilfeplanung beteiligt. Dabei ist ein zentraler
Aspekt der Arbeit, nicht mit vorgefertigten
Lösungsschablonen aufzuwarten, sondern
jeden Fall auf seine spezifische Charakteristik zu untersuchen, individuell passende Lösungsstrategien zu entwickeln
und in diese das Wissen und die Hilfe von
erwachsenen, hier lebenden MigrantInnen aus den Herkunftsländern der Kinderflüchtlinge mit einfließen zu lassen.
3. Entstehung des Handbuches
Das vorliegende Handbuch entstand im
Rahmen der wissenschaftlichen Begleitung des Netzwerks durch das Institut für
soziale Arbeit e.V. (ISA) in Münster. In der
gemeinsamen Reflexion der Arbeit des
Netzwerks wurde deutlich, daß das Arbeitsfeld der Sozialen Arbeit mit Kinderflüchtlingen einerseits überregional sehr
heterogen ist und andererseits in den meisten Regionen von der Jugendhilfe konzeptionell und materiell randständig behandelt wird. War ursprünglich noch geplant, daß Netzwerk und ISA im Rahmen
ihrer Kooperation alleine ein Handbuch
erarbeiten, in dem die vorgefundene Praxis reflektiert und Anregungen zur Qualifizierung der Sozialen Arbeit gegeben
werden sollten, so wurde recht schnell
10
deutlich, daß aufgrund der regionalen und
insbesondere der thematischen Vielfalt
dieses Arbeitsbereiches die Kompetenzen
beider Institutionen nicht ausreichen würden, um eine solche Arbeitshilfe angemessen zu erstellen.
Deswegen wurde umgedacht: Aus der
praktischen Beratungsarbeit des Netzwerks wurden die zentralen Themen formuliert, welche den haupt- und ehrenamtlichen Fachkräften in der Arbeit mit
Kinderflüchtlingen zu schaffen machen.
Anschließend wurden bundesweit kompetente AutorInnen gesucht, die zu diesen
Themen schon gearbeitet hatten oder
aber zu einer Bearbeitung prädestiniert
schienen. Die nun vorliegenden Texte sind
strukturell, stilistisch und sprachlich sehr
unterschiedlich gestaltet, da die AutorInnen je auf ganz eigenständige Art und
Weise an die Aufgabe herangegangen sind
und sie zumeist ihre Herkunft aus den unterschiedlichen Disziplinen, aus Praxis
oder Wissenschaft auch nicht verleugnen
konnten bzw. wollten. Zudem sind einige
Beiträge ursprünglich als Vorträge für eine bundesweite Fachtagung in Hamburg
(‘Über-Leben’) konzipiert und gehalten
worden.1
4. Anliegen des Handbuches
Das Handbuch unterstützt die Fachkräfte
der Sozialen Arbeit – und darüber hinaus
auch MitarbeiterInnen aus medizinischen
und psychologischen Arbeitsfeldern, von
Nichtregierungsorganisationen (NROs), Behörden, Justiz und Politik – bei der Aufgabe, die besondere Situation von Kinderflüchtlingen zu verstehen und sie angemessen zu betreuen. Es informiert über
Lebensbedingungen und Erfahrungen in
den Herkunftsländern, über Anlässe für
Flucht und Migration, über Umstände und
Erfahrungen auf der Flucht selbst, über
die unterschiedlichen Möglichkeiten der
Betreuung, Versorgung und Unterstüt-
VORWORT
zung, über gesellschaftliche Barrieren in
der Aufnahmegesellschaft und die vielfältigen Restriktionen, denen die Arbeit aufgrund der herrschenden Politik sowie von
Seiten der Justiz und der Behörden unterliegt.
Das Handbuch greift viele unterschiedliche Themenstellungen und Fragen auf.
Es kann sowohl als Nachschlagewerk zu
speziellen Fragen wie auch als Lesebuch
dienen. Es schildert die Realität dieses Arbeitsfeldes und zeigt zugleich Wege auf,
wie kleinere oder größere Verbesserungen möglich sind. Es ergreift Partei für die
Kinderflüchtlinge und versucht zu einer
reflektierten und zugleich nicht resignierenden Praxis Sozialer Arbeit zu ermutigen. Soweit möglich, werden allgemeine
Denkanstöße gegeben und zugleich spezielle, regional unterschiedliche Herangehensweisen in den einzelnen Städten und
Ländern aufgezeigt. Es will gemäß der
Zielsetzung des Netzwerks Anregung geben, von anderen Personen, Institutionen
und Projekten zu lernen und sich nicht mit
der bestehenden Praxis abzufinden.
In diesem Sinne geben die einzelnen
Beiträge nicht in jeder Hinsicht die Meinung der HerausgeberInnen wieder. Wir
verstehen diese vielmehr als Anregung
und Impuls, über die Realität der eigenen
Arbeit und Sichtweisen hinauszublicken
und dadurch ggf. verändernd auf sie einzuwirken.
5. Arbeiten mit dem Handbuch
Als LeserIn gibt es zahlreiche Möglichkeiten, mit diesem Handbuch zu arbeiten.
Man kann es natürlich einfach von vorne
nach hinten lesen. Es gibt aber auch die
Möglichkeit, nach der Lektüre des Inhaltsverzeichnisses einzelne Beiträge auszuwählen, die von besonderem Interesse
sind und sich beim Lesen durch die zahlreichen Querverweise zu inhaltlich weiterführenden Texten weiterleiten zu las-
sen. Wir haben die Beiträge inhaltlich in
mehrere Kapitel sortiert (siehe Inhaltsverzeichnis). Die einzelnen Kapitel sind so
aufgebaut, daß am Anfang der Kapitel die
eher einführenden, allgemeineren Beiträge zu finden sind und speziellere Fragestellungen in den nachfolgenden Texten
bearbeitet werden. Als weitere Hilfe haben wir im Anhang ein ‘Lexikon der Textbeiträge und Suchbegriffe’ aufgenommen,
in dem in alphabetischer Reihenfolge alle
Textbeiträge und die wichtigsten inhaltlichen Stichwörter aufgeführt werden.
6. Aufbau des Handbuches
In dem einleitenden Beitrag ‘Soziale Arbeit Zwischen Welten’ beschäftigen sich
die MitarbeiterInnen des Netzwerks mit
alltäglichen Fragen und Problemen der
pädagogischen Arbeit mit Kinderflüchtlingen. Sie beschreiben einerseits beispielhaft biographische Vorerfahrungen und
Erlebnisse in der Aufnahmegesellschaft.
Andererseits skizzieren sie das Arbeitsfeld
mit seinen Herausforderungen und Spannungsfeldern aus der Perspektive der BetreuerInnen in Jugendhilfeeinrichtungen.
Sie zeigen auf, daß die Fachkräfte in diesem speziellen Arbeitsfeld neben ihrem
sozialpolitischen Engagement dringend
Anschluß an die sozialpädagogischen
Fachdiskurse einer lebensweltorientierten
Jugendhilfe gewinnen müssen, um – angesichts der engen politischen Vorgaben –
fachlich konzeptionell Spielräume entwickeln zu können. Darüber hinaus gehen
sie der Frage nach, was von fachlicher
Seite unternommen werden kann, um Jugendlichen in Krisensituationen erfolgreich beiseite stehen zu können. Bei der
Bearbeitung dieser Frage greifen sie auf
die zahlreichen Erfahrungen zurück, die
sie im Rahmen der bisherigen Beratungstätigkeit für Fachkräfte in der Stadt Hamburg gesammelt haben.
Im Anschluß an diese Einführung wer11
VORWORT
den in dem Kapitel ‘Kindheit und Jugend
in den Herkunftsländern’ detaillierte Hintergrundinformationen über die Herkunftsgesellschaften der Kinderflüchtlinge
in der sog. Dritten Welt präsentiert, die
zum Verstehen ihrer biographischen Vorerfahrungen von Bedeutung sind. Da die
Beiträge die vielschichtigen Probleme
häufig nur anreißen und regionale Besonderheiten nur bedingt aufgreifen können,
werden in diesem Kapitel zudem zahlreiche Informationen für vertiefende Lektüre
und Information gegeben.
In dem Kapitel ‘Flucht und Migration’
werden die Ursachen und Dimensionen
von Flucht und Vertreibung geschildert
und die politischen Leitlinien der deutschen Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik sowie Alternativen dazu vorgestellt. Aufgrund der Relevanz europäischer Regelungen zur ‘Flüchtlingsabwehr’
werden diese ebenfalls skizziert und der
wachsende Stellenwert von Fluchthilfe
verdeutlicht.
In dem darauf folgenden Kapitel ‘Kinder auf der Flucht’ können sich die LeserInnen über die Entwicklung der Kinderflüchtlingszahlen in der Bundesrepublik,
über den Umgang mit ihnen in anderen
Ländern und über Ansätze ihrer Interessenvertretungen informieren. Erinnert
wird auch an die große Zahl von Kindertransporten, mit denen während des Nationalsozialismus in Deutschland jüdischen Kindern die Flucht in andere Länder gelang.
Im Kapitel ‘Recht und Gesetz’ werden
u. a. die wichtigsten gesetzlichen Grundlagen für die Arbeit mit Kinderflüchtlingen
benannt. Zudem wird über die Grenzen
eines Einwanderungsgesetzes informiert
und der politische Umgang der Bundesrepublik mit Kinderrechten diskutiert. Ein
weiterer Beitrag beschäftigt sich mit denjenigen, denen letztlich alle rechts- und
sozialstaatlichen Ansprüche entzogen
sind: den illegalisierten Kinderflüchtlin12
gen, die nach Ablauf ihrer Aufenthaltsgenehmigung heimlich in unserem Lande
leben.
In dem Kapitel ‘Aufnahmebedingungen’ werden die verschiedenen Verfahren
und einige besondere Probleme in der
Aufnahme und Verteilung von Kinderflüchtlingen erörtert. Es werden die unterschiedlichen Aufenthaltstitel erklärt, die
Perspektiven von Kinderflüchtlingen diskutiert und die Voraussetzungen und Bedingungen der Abschiebung aus kritischer
Perspektive beleuchtet.
In einem eigenständigen Kapitel werden dann die zentralen ‘Behörden’ vorgestellt, mit denen Kinderflüchtlinge in der
Bundesrepublik zu tun haben. Dabei werden zum einen ihre Aufgaben und Funktionen vorgestellt und zum anderen ihre
Spielräume aufgezeigt, die trotz zahlreicher gesetzlicher Regelungen verbleiben.
Ein weiterer Beitrag erklärt zudem die
Bedeutung und die Schwierigkeiten des
Datenschutzes.
Im Anschluß daran beschäftigen sich
die nächsten Kapitel mit weiteren Kernbereichen der Sozialen Arbeit mit Kinderflüchtlingen. Hierzu gehören die ‘Psychosoziale Entwicklung’ von Kinderflüchtlingen unter den besonderen Bedingungen
des Lebens im Exil, die – ständig abnehmenden – Möglichkeiten ihrer Entwicklung in ‘Schule und Ausbildung’, die ‘Betreuung und Versorgung in den Arbeitsfeldern der Jugendhilfe’ sowie verschiedene ‘Sozialpädagogische Konzepte und Arbeitsansätze’.
Im vorletzten Kapitel beschäftigen sich
die Beiträge mit ‘Krankheit und psychischen Störungen’, da professionelles soziales Handeln gerade in diesen extremen
Situationen gefordert ist. Einige Texte beschäftigen sich mit dem Entstehen von
Krankheiten und psychischen Störungen,
andere mit den Möglichkeiten der Heilung
bzw. therapeutischen Hilfen. Zudem werden die unterschiedlichen Herangehens-
VORWORT
weisen von spezialisierten Institutionen
wie beispielsweise psychosozialen Zentren
und jugendpsychiatrischen Einrichtungen
geschildert.
Das Handbuch wird im letzten Kapitel
mit Beiträgen abgerundet, die sich mit
den ‘Gesellschaftlichen Barrieren’ und deren Überwindung beschäftigen. Die Texte
wollen zur selbstkritischen Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Reaktionen
und individuellem Verhalten anregen, zum
besseren Verständnis der Probleme im
Exil beitragen und zu einem gelingenderen Einleben in der Aufnahmegesellschaft
verhelfen.
Zur Unterstützung der Arbeit mit dem
Handbuch befindet sich im ‘Anhang’ noch
das ‘Lexikon der Textbeiträge und Suchbegriffe’. Für die konkrete praktische Arbeit werden zudem in einem ‘Adressenverzeichnis’ Hinweise auf AnsprechpartnerInnen in wichtigen regionalen und
überregionalen Institutionen gegeben. Im
abschließenden ‘Verzeichnis der Autorinnen und Autoren’ können die LeserInnen
nachschlagen, in welchen Arbeitsfeldern
und mit welchen Schwerpunkten die AutorInnen dieses Handbuches beschäftigt
sind.
7. Schluß und Dank
Dieses Handbuch wäre nicht zustande gekommen, ohne die tatkräftige Unterstützung vieler Institutionen und Einzelpersonen. Unser Dank gilt zunächst den AutorInnen, die trotz teilweise erheblicher
anderer Belastungen (und ohne ein Honorar erwarten zu dürfen) intensiv an der
Erstellung ihrer Beiträge gearbeitet haben.
Darüber hinaus gilt unser Dank der
‘Stiftung Deutsche Jugendmarke’, dem
Kinderhilfswerk ‘terre des hommes’ sowie
dem Amt für Jugend der Stadt Hamburg,
die in den vergangenen zwei Jahren die
Arbeit des ‘Netzwerkes’ durch ihre finan-
zielle Unterstützung ermöglicht haben.
Zudem bedanken wir uns bei ‘terre des
hommes’, ‘Pro Asyl’, dem ‘Diakonischen
Werk der EKD’ und dem ‘Paritätischen
Wohlfahrtsverband’, die durch ihre finanzielle Unterstützung das Erscheinen dieses Handbuches möglich machten.
Insbesondere gilt unser Dank auch den
Mitgliedern des Projektbeirats des Projekts, die unsere Überlegungen zum Handbuch von Anfang an begleitet haben und
durch vielfache Anregungen und Mitwirkung gelingen ließen.
8. Die HerausgeberInnen
Das Handbuch wurde von den MitarbeiterInnen von Netzwerk und ISA gemeinsam konzipiert und redaktionell begleitet.
In besonderer Weise waren daran Karoline Korring und Sebastian Schwerdtfeger
als ProjektmitarbeiterInnen des Netzwerks, Rüdiger Hänlein als Mitarbeiter
von WOGE e.V. sowie Gisela Wuttke, Remi
Stork und Christian Schrapper als MitarbeiterInnen des ISA beteiligt.
Über Rückmeldungen zu diesem Handbuch würden wir uns sehr freuen. Schriftliche Kommentare, Lob, Tadel und Anregungen können an das Hamburger Netzwerk, c/o WOGE e.V., Bahrenfelder Straße
244, 22765 Hamburg adressiert werden.
Anmerkung
1 Die bundesweite Fachtagung ‘Über-Leben – Situation und Perspektiven der Arbeit mit unbegleiteten
minderjährigen Flüchtlingen’ wurde vom 30.9. bis
2.10.1998 von Netzwerk und ISA in Hamburg veranstaltet. Die Tagungsdokumentation kann beim
Netzwerk bezogen werden.
13
ZUR EINFÜHRUNG
Soziale Arbeit Zwischen Welten
1. Verschiedene Biographien von
Kinderflüchtlingen
„Wie heißt du?“
„Wie alt bist du?“
„Wie und wo kommst du her?“
– wird Bubaquar gefragt, als er an dem
Schreibtisch einer Sozialarbeiterin in der
Erstversorgungseinrichtung/Clearingstelle für Kinderflüchtlinge steht.
Er wiederholt, was er auch am Tag zuvor auf der Ausländerbehörde schon mal
jemandem geantwortet hat, der ihm die
gleichen Fragen stellte: Name, Geburtsdatum, Herkunftsland.
Er nennt nicht seinen eigentlichen Namen und auch nicht sein tatsächliches
Geburtsdatum – er ist jemand anderes geworden.
Bubaquar wollte weg von zu Hause,
denn dort, wo er herkommt, sah er keine
Chancen. Das Land in dem er lebte, ist
korrupt und hat sich immer noch nicht erholt von dem Bürgerkrieg, der zwar offiziell die Kolonialzeit beendet, aber keine
funktionierenden Strukturen gebracht hat.
Bubaquar hat zwar den Krieg selbst nicht
mehr erlebt, kämpfte aber jeden Tag auf
der Straße um einen ‘pocket-money-job’.
Er war gut in der Schule, hätte gerne einen qualifizierten Job gehabt. Statt dessen trug er an einem Tag Zementsäcke,
am nächsten Tag war er Bote für den Stoffhändler und am übernächsten Tag fand er
gar nichts. Dann war das ‘nach Hause
kommen’ besonders schlimm, da die Familie auf jeden Penny dringend angewiesen
ist. Sie bewirtschaften zwar eine kleine
Farm, aber der Ertrag reicht nicht für alle;
der Großvater ist krank, die Medikamente
sind sehr teuer und seine jüngeren Ge14
schwister sollen auch zur Schule gehen.
Aber dafür fehlt das Schulgeld.
Bubaquar hörte von der Möglichkeit,
nach Europa zu kommen. Er erfuhr, daß
man am besten als ‘blinder Passagier’
dorthin gelangt, daß es schon einige geschafft haben, es aber auch ein sehr gefährlicher Weg ist, da die Seeeleute die
blinden Passagiere verprügeln und sogar
über Bord werfen, wenn sie sie entdecken.
Natürlich kostete die Überfahrt zunächst
viel Geld, der ‘connection-man’ war nicht
billig, aber dafür sah er die Möglichkeit,
richtig Geld zu verdienen und die Familie
wirklich zu unterstützen. Von ihm bekam
er Hilfestellung, um auf ein Schiff zu gelangen und Tips für seinen weiteren Weg!
Wenn er in Deutschland ankommt, soll
er sich einen anderen Namen zulegen und
sagen, daß er 14 Jahre alt ist und aus
Sierra Leone kommt. Damit hätte er bessere Chancen, tatsächlich auch in Deutschland bleiben zu können. Er soll sagen, daß
seine Eltern tot sind und er keinen Kontakt zu seinen Geschwistern hat. Sein guter Vorsatz, seine Familie finanziell zu unterstützen reiche lange nicht aus.
So legt er sich eine zweite Identität zu
und erzählt als Prince seine Geschichte.
Sie ist seine Antwort auf die oben genannten Fragen, die alltäglich sind in der
Sozialen Arbeit und mit denen ein erster
Kontakt zum Gegenüber hergestellt wird.
Und plötzlich werden diese zu Fragen, auf
die die Antwort ein Risiko sein und ein
Dilemma auslösen kann. Bubaquar jedoch
beschäftigen ganz andere Fragen als die
SozialarbeiterInnen:
„Wer ist diese Frau, die die gleichen
Fragen stellt, wie der Mann auf der Aus-
S O Z I A L E A R B E I T Z W I S C H E N W E LT E N
länderbehörde? Kann ich ihr mehr vertrauen? Und wenn ja, wie weit?“ Und:
„Wer sind die Menschen in den verschiedenen Institutionen und wie unterscheiden sie sich?“ „Welche Funktion haben die
Wohneinrichtungen – ob das auch so eine
Art Behörde ist?“
Fast alle AusländerInnen, ganz gleich
welcher Nationalität und welchen Alters,
machen ihre ersten Erfahrungen in der
BRD mit der Ausländerbehörde. Dort begegnen ihnen hauptsächlich: Ablehnung,
Mißtrauen, Entwürdigung und Kriminalisierung. Für die Jugendhilfe bedeutet
das, im Weiteren gegen diese ersten Erfahrungen ‘anarbeiten’ zu müssen, ständig mit der Vorsicht und dem Mißtrauen
der Jugendlichen konfrontiert zu sein.
In der Erstversorgungseinrichtung teilt
Prince sein Zimmer mit John. Die beiden
unterhalten sich stets in Englisch. John ist
meist sehr schweigsam, will mit niemandem so richtig etwas zu tun haben. Man
merkt ihm an, daß seine Seele nicht richtig hier ist und nachts schläft er sehr unruhig. Prince versucht immer wieder, mit
ihm ins Gespräch zu kommen. Viel erzählt
John nicht, aber Prince erfährt, daß John
aus Boathe in Sierra Leone stammt und
den Krieg erlebt hat. Sein Dorf wurde zerstört, alle BewohnerInnen brutal mit Macheten auseinandergetrieben. Ein Bruder
wurde erschlagen, John verschleppt, von
den Rebellen gefangen genommen und
mußte für sie arbeiten. Aber ob und wo
seine Eltern und Geschwister leben, weiß
er nicht. An dieser Stelle hört er immer auf
zu sprechen und beide sitzen still da. Und
Prince nimmt sich dann immer vor, besonders schnell viel Geld für seine Familie zu
verdienen.
Für die BetreuerInnen ist es das Zimmer mit den ‘Beiden aus Sierra Leone’.
Eventuell ahnen sie, daß das bei einem
von beiden nicht stimmt, doch ist dies
wichtig? Wenn sie wüßten, daß Prince aus
einem sogenannten ‘sicheren Herkunftsland’ kommt und eigentlich Bubaquar
heißt, was wüßten sie dann über ihn und
seine Lebenssituation dort, über seine
Wünsche und Hoffnungen? Und wenn sie
von John hören, er komme aus Sierra Leone und sei bei den Rebellen gefangen gewesen, können sie ermessen, was er erlebt hat? Können sie seine Bilder erahnen,
die er in der Nacht sieht?
Shoukrija, aus Afghanistan, ist die älteste Tochter eines Getreidehändlers, der
ein gut gehendes Geschäft auf dem Bazar
von Kabul hatte. Sie besuchte eine höhere
Schule und träumte davon, Kinderärztin
zu werden. Bei einer Bombardierung Kabuls während des Bürgerkrieges wurde
das Geschäft des Vaters zerstört und die
Mutter sowie ein jüngerer Bruder getötet.
Der Rest der Familie flüchtete zum Bruder
des Vaters auf’s Land in eine Region im
Norden, die noch nicht von den Taliban beherrscht wird, während Shoukrija zu entfernten Verwandten nach Deutschland geschickt wurde.
Auf abenteuerlichen Wegen gelangt sie
in die BRD und lebt zunächst bei einer
Cousine ihrer verstorbenen Mutter. Diese
erkundigt sich bei einem Rechtsanwalt bezüglich des weiteren Vorgehens. Da Shoukrija laut ihrer afghanischen Papiere 15
Jahre alt ist, rät der Anwalt, daß ein Vormund bestellt wird, der für sie einen Asylantrag als ‘unbegleiteter minderjähriger
Flüchtling’ stellen soll. Aufgrund der restriktiven, fundamentalistischen Politik
der Taliban-Regierung räumt er ihr gute
Chancen ein, vorläufig nicht abgeschoben
zu werden, auch wenn ihr Asylantrag
möglicherweise nicht anerkannt würde.
Von ihrem Vater hat Shoukrija seit ihrer
Flucht aus Afghanistan gelegentlich Briefe
bekommen, in denen seine Hoffnung zum
Ausdruck kommt, daß sie eines Tages zurückkehren wird. Aus Erzählungen in der
Familie und den Medien erfährt sie mehr
und mehr darüber, wie ein Leben für sie
15
ZUR EINFÜHRUNG
als Frau im heutigen Afghanistan aussehen würde. Gleichzeitig erlebt sie, welche
Möglichkeiten ihr in der Bundesrepublik
Deutschland offen stehen.
Als es in der Familie ihrer Tante immer
häufiger Auseinandersetzungen und Schwierigkeiten gibt, sorgt die Vormünderin für
den Umzug in eine Clearingstelle. Dort gibt
es häufig Streit mit Shoukrija, der sich
meist an kleinen Dingen entzündet, aber
doch zeigt, daß sie hin- und hergerissen ist
zwischen ihrer Zugehörigkeit zur Familie,
den Lebensbedingungen in der Heimat und
ihrer Lebenssituation hier in der Bundesrepublik Deutschland. Die Vormünderin
setzt daraufhin die Unterbringung nach
§ 34 KJHG durch. Seit einigen Wochen
wohnt sie in einer Mädchen-Wohngruppe
für minderjährige Flüchtlinge.
Die Auseinandersetzungen mit der und
über die Familie, die zurückgelassen wurde und mit der hiesigen Lebensrealität, einer völlig anders funktionierenden Gesellschaft mit ganz anderen Rollendefinitionen und Wertmaßstäben, haben häufig
Konsequenzen, insbesondere psychische
Folgen, die unabsehbar sind und sich für
(fast) alle erst sehr viel später zeigen. In
den meisten Fällen spielen sich diese Auseinandersetzungen nur im Innern der jungen Menschen ab, da sie meist nicht offen
geführt und nur in sehr wenigen Ausnahmefällen anderen mitgeteilt werden.
Ali-Hassan kommt aus Bingöl, dem
kurdischen Teil der Türkei. In seinem Dorf,
neben dem Gehöft seines Vaters, stehen
Panzer, obwohl im Fernsehen immer gesagt wird, daß es keinen Krieg gebe. Er
lernte damit zu leben, Angst zu haben vor
unerwarteten Gefechten zwischen Soldaten und Partisanen. Er lernte, daß seine
Familie Kurden sind, daß es diese aber offiziell nicht geben darf, lernte in der Schule Türkisch zu sprechen, seine kurdische
Sprache aber nur zu Hause und mit Freunden. Er war mit 13 kein Kind mehr, hatte
16
die Schule vor einem Jahr beendet und
wollte, wie sein älterer Bruder, als heranwachsender Mann in die Berge gehen und
kämpfen oder als ein vollwertiges Mitglied
seiner Familie zu deren Einkommen beitragen. Seine Eltern schickten ihn nach
Deutschland. Inzwischen wohnt er seit 5
Monaten in einer Erstaufnahmeeinrichtung/Clearingstelle. Aber Arbeiten, was er
vorrangig wollte, ist nicht erlaubt! Die einzige Möglichkeit, die sich anbietet, ist der
Drogenverkauf im Straßenhandel.
Zur Schule gehen und Deutsch lernen
ist möglich – aber auch das nützt nicht
viel. Die BetreuerInnen erzählen zwar immer, daß es wichtig ist, zur Schule zu gehen und Deutsch zu lernen, wenn er jedoch nachfragt, wie es danach weitergeht,
bekommt er unklare Antworten. Und keine/r der anderen BewohnerInnen weiß etwas davon, daß es danach die Möglichkeit
für eine Berufsausbildung oder gar die
Möglichkeit für einen Arbeitsplatz gibt.
Mit dem Geld, das Ali-Hassan bekommt
(ca. 400 DM Sozialhilfe bzw. die Lebensmittelpakete und das Taschengeld), würde die Familie zu Hause längere Zeit zurecht kommen, aber hier reicht es nicht
einmal für das Nötigste – und um noch etwas nach Hause zu schicken, erst recht
nicht. Und das, während er all das, was er
bisher nur aus den internationalen Fernsehsendungen kannte und sich erträumt
hatte, ständig direkt vor Augen hat, es jedoch nicht kaufen kann. Ali-Hassan gerät
immer mehr in den Konflikt zwischen dem
Druck, den die Drogenszene auf ihn ausübt, dem Wissen um die Ungesetzlichkeit
seiner Tätigkeit, zwischen seinem eigenen
Pflichtbewußtsein der Familie gegenüber
und den Erwartungen seiner Eltern, mit
seinem ‘Lohn’ zum Einkommen der Familie beizutragen. In der Erstaufnahmeeinrichtung hat es mit den BetreuerInnen
und auch mit dem Vormund wegen des
Drogendeals mehrfach Auseinandersetzungen und Gespräche gegeben, aber der
S O Z I A L E A R B E I T Z W I S C H E N W E LT E N
Junge ist nicht in der Lage, ihnen seinen
inneren Konflikt zu schildern.
Plötzlich – und vermutlich unerwartet –
sind viele der Jugendlichen sehr direkt mit
den zwei Seiten unserer Wohlstandsgesellschaft konfrontiert: Während in der
Heimat nicht selten ‘die Armut’ war und
im fernen Europa ‘der Reichtum’, erleben
sie nun, daß es hier sehr wohl beides nebeneinander gibt. Und das auch noch auf
dem Hintergrund, daß daheim nun alle
davon ausgehen, daß man, da ja nun in
Europa, selbst jetzt auch zu ‘den Reichen’
gehört. Daß dem nicht so ist, will keiner
hören und schon gar nicht glauben!
2. Hoffnungsträger und Überlebende
Bubaquar und John, Shoukrija und AliHassan stehen stellvertretend für junge
Menschen, die sich mit den beschriebenen
äußeren und inneren Konflikten auseinandersetzen müssen. Ihre individuellen
Lebensgeschichten dürfen nicht als Typisierungen mißverstanden werden!
Kinderflüchtlinge, das sind jene, die
sich ‘auf den Weg’ gemacht haben, auf der
Suche nach einer besseren Lebensperspektive, die von ihren Eltern aus Liebe
oder Angst und Sorge fortgeschickt oder
die von Soldaten, Rebellen oder Regierungen davongejagt wurden, die ihren ganzen Mut aufgebracht haben, um loszugehen, dem Leben und der Zukunft entgegen, ungeachtet der vielen Unsicherheiten, Strapazen und Gefahren, die sich ihnen entgegenstellen würden, um hierher
zu kommen ( Flucht und Migration: Dimensionen und Ursachen).
Sie sind
– Abenteurer, weil sie die Courage haben,
sich auf den Weg zu machen, den Mut,
in die Fremde zu gehen und die Furchtlosigkeit, sich dem Unbekannten, dem
Fremden zu stellen.
– Hoffnungsträger, weil die ganze Hoff-
nung der Familie auf ein Überleben auf
ihnen lastet. Vielleicht hat die ganze
Familie lange gespart und das Geld zusammengesammelt, um den ‘connection-man’ zu bezahlen, der die Papiere
besorgen und die Verbindungen herstellen kann, um ihnen den Weg nach
Europa zu ermöglichen.
– Botschafter, weil sie in einer kleiner
werdenden Welt uns unbekannte oder
fremde Gesellschaften und Kulturen,
Handlungs- und Denkweisen verkörpern und näherbringen.
– Brückenköpfe, weil sie als erste losgeschickt wurden, in der Hoffnung, daß
eines Tages ein Bruder, eine Schwester
oder die Mutter nachkommen und man
irgendwo auf der Welt wieder zueinander finden kann.
– Überlebende, weil sie Gewaltsituationen, Hunger und Elend entkommen
sind. Vielleicht gibt es keine Familie
mehr, da diese auseinander gerissen
oder getötet wurde in einem der vielen
Kriege und militärischen Auseinandersetzungen. Sie sind die, die weiterleben
mit den Bildern der Ermordeten im
Kopf, ganz gleich, ob es die Eltern,
FreundInnen oder Nachbarn waren.
Oft sind es die Fähigsten und Motiviertesten ihres Jahrgangs, die bereit sind,
das größte Risiko einzugehen und die das
Leben in der Fremde, im Exil auf sich nehmen, auf der Suche nach einer besseren
Zukunft hier in Europa. Hier angekommen, werden sie schnell zu ‘Menschen ohne Perspektive’, da internationale Abkommen zum Schutz von Kinderflüchtlingen
von der Bundesregierung nur eingeGeschränkt angenommen werden (
setzliche Grundlagen, Kinderflüchtlinge,
Kinderrechte) und eine Bleibeperspektive
ihnen meist nur in Verbindung mit dem
Asylverfahrensgesetz zusteht. Eine Einreise und ein dauerhafter Aufenthalt nach
den Kriterien des Ausländergesetzes ist
nur in wenigen Ausnahmefällen möglich
17
ZUR EINFÜHRUNG
( Aufenthaltstitel). Die Konsequenz ist,
daß fast alle Kinderflüchtlinge gezwungen
sind, durch ihre gesetzlichen VertreterInnen einen Antrag auf Asyl zu stellen. Fortan bestimmen die Kriterien des Asylverfahrensgesetzes ( Asylverfahren) und
des Asylbewerberleistungsgesetzes den
Lebensalltag der Jugendlichen. Aus der
Hoffnung auf eine bessere Zukunft wird
ein für Jugendliche unverständlicher und
undurchschaubarer Verwaltungsakt mit
vielen Restriktionen und Verboten.
In Anhörungen beim Bundesamt für
Flüchtlinge werden Bubaquar, John,
Shoukrija, Ali-Hassan und all die anderen
sich und ihr Hiersein immer wieder rechtfertigen und offiziell erklären müssen. Bei
den regelmäßigen Besuchen bei der Ausländerbehörde wird ihnen immer wieder
verdeutlicht, daß es noch lange nicht sicher ist, ob sie hier bleiben können oder
ob sie doch wieder zurückgeschickt werden.
Stehen sie dann irgendwann und irgendwo vor uns, sind sie inzwischen für
die Politik zu EinwanderInnen oder AsylbewerberInnen geworden, in den Medien
zu Wirtschaftsflüchtlingen, EinschleicherInnen und DealerInnen, für die Polizei zu
jungen Menschen, die sich Doppelidentitäten zulegen (
Doppelidentität) und
‘mittelbare Falschbeurkundungen’ begehen, für MedizinerInnen und TherapeutInnen zu traumatisierten Kriegsopfern und auf dem Papier zu ‘zum
Aufenthalt Berechtigten’, zu ‘Geduldeten’
oder ‘Illegalen’ ( Illegalität), die den
vielfältigen
Bemühungen
der
Bundesrepublik gegenüber stehen, sie
spüren zu lassen, daß sie unerwünschte,
ungebetene Gäste sind, derer man durch
Gesetze,
Verfügungen
oder
Dienstanweisungen Herr zu werden sucht.
Aber sie stehen nicht nur einer ablehnenden, ihnen fremden und unverständlichen
Verwaltung gegenüber, sondern auch einem ihnen nicht vertrauten Versorgungs18
system, das den gesellschaftlichen Auftrag
hat, sich ihrer anzunehmen. Für beide
Seiten – Verwaltungs- und Versorgungsinstitutionen – sind sie:
– Unbegleitete, weil sie ohne hier Eltern
hier sind,
– Minderjährige, weil sie jünger als 18
Jahre sind,
– Flüchtlinge, weil sie ihre Heimat verlassen haben – sei es aus politischen, wirtschaftlichen, religiösen Gründen oder
warum auch immer.
3. Soziale Arbeit zwischen Anspruch
und Auftrag
Neben den Grenzschutzbehörden und der
Ausländerbehörde gehört die Jugendhilfe
zu den institutionellen Systemen, die sich
auf die Anwesenheit der Kinderflüchtlinge
eingestellt hat. Basierend auf nationalen
wie internationalen Rechtsgrundlagen ist
die Jugendhilfe ganz allgemein verpflichtet, „Kinder und Jugendliche vor Gefahren
für ihr Wohl zu schützen“ (§ 1 Kinder- und
Jugendhilfegesetz [KJHG]). Bezogen auf
die besondere Lebenslage der Kinderflüchtlinge ist dies so zu interpretieren,
– daß entweder dafür gesorgt werden
soll, daß die Betroffenen wohlbehalten
und sicher zurückkehren können (allerdings nur, wenn im Sinne des Kindeswohls eine Rückkehr in gesicherte
Verhältnisse gewährleistet und die Aufnahme und die Versorgung in der Familie sichergestellt ist) oder aber
– daß sie hier so zu behandeln sind, wie
alle anderen Kinder hierzulande auch,
da in § 6 KJHG ausländische Kinder
ausdrücklich als Anspruchsberechtigte
der Jugendhilfe mit genannt sind (
Gesetzliche Grundlagen).
Zudem sind die soziale Integration und
die Eingliederung in die Arbeitswelt für alle „jungen Menschen, die zum Ausgleich
sozialer Benachteiligungen oder zur Überwindung individueller Beeinträchtigungen
S O Z I A L E A R B E I T Z W I S C H E N W E LT E N
in erhöhtem Maße auf Unterstützung angewiesen sind“ (§ 13 KJHG) Ziele der Hilfen nach dem KJHG. Dafür gilt als Methodenorientierung nach wie vor der lebensweltorientierte Ansatz, der bereits im
„Achten Jugendbericht über Bestrebungen und Leistungen der Jugendhilfe“
(1990) diskutiert wurde. Prävention, Regionalisierung, Alltagsorientierung, Partizipation und Integration/Normalisierung
werden dort als Strukturmaximen pädagogischer Arbeit benannt und haben sich
in der Praxis, trotz kritischer Diskussion
(vgl. hierzu z. B. Kunstreich 1998 a, S. 395
ff) durchgesetzt. Doch in der Arbeit mit
Kinderflüchtlingen werden diese zentralen ‘Orientierungen’ strukturell durch entgegengesetzte politische Intentionen und
gesetzliche Regelungen unterlaufen.
Der Auftrag der Jugendhilfe gerät in
das Spannungsfeld widersprüchlicher Interessen unserer Gesellschaft, die in den
entgegengesetzten Intentionen des KJHG
und der Ausländer- und Asylgesetzgebung
zum Ausdruck kommen. Der umfassende
Anspruch der Jugendhilfe und das Recht
auf Erziehung sind nicht vereinbar mit einer Lebenslage, die über längere Zeit von
der Ausweisungsandrohung bestimmt ist.
Der gesellschaftliche Auftrag, Kindern und
Jugendlichen bei der Verarbeitung von
Erlebtem zu helfen, auf Integration hinzuarbeiten, Lebensperspektiven zu vermitteln, wird konterkariert durch die restriktive Handhabung des Aufenthaltsrechts,
durch die fehlende Gleichbehandlung der
Kinderflüchtlinge und nicht zuletzt durch
die ablehnende und rassistische Haltung
der Gesellschaft gegenüber denen, die sie
für ‘die Fremden’ hält.
Deutlich wird dies, wenn man im Zehnten Jugendbericht nachliest, was zur Arbeit mit jungen Flüchtlingen ausgesagt
wird: Die ExpertInnenkommission benennt die spezifischen Probleme der Kinderflüchtlinge und hält es für geboten,
„unter Ergänzung bzw. Abänderung be-
stehender Rechtsordnungen und Vereinbarungen (u. a. Genfer Flüchtlingskonvention, Haager Minderjährigen-Schutzabkommen) die Grundlagen eines Flüchtlingsrechts für Kinder zu schaffen“ (Zehnter Jugendbericht 1998, S. 172). Dies wies
die letzte Bundesregierung in ihrer Stellungnahme mit ausschließlich juristischen
Begründungen „als mit der geltenden
Rechtslage nicht vereinbar“ (ebd., S. XIX)
zurück, ohne sich darüber hinaus inhaltlich zu positionieren. Diese Auffassung,
daß die Rechte von Kindern und Jugendlichen, wie sie im KJHG und im internationalem Recht definiert sind, gegenüber
dem Asylverfahrensrecht nachrangig zu
bewerten seien, ist allerdings juristisch
keineswegs letztinstanzlich geklärt. Deutlich wird jedoch dadurch, daß Integration
von politischer Seite nicht gewollt und
pädagogische Orientierung am Kindeswohl zweitrangig ist. Es gilt für Kinderflüchtlinge also um so mehr, was die Kommission im Hinblick auf das multikulturelle Zusammenleben von Kindern und Jugendlichen in Deutschland insgesamt formuliert: daß die Ansätze interkultureller
Pädagogik einschneidend „durch die frühere und heutige Ausländerpolitik konterkariert“ werden (ebd., S. 106). Mit anderen Worten: In bezug auf Kinderflüchtlinge heißt die politische und gesellschaftliche Maxime Segregation statt Integration. Dabei ist es dann auch nicht mehr
verwunderlich, daß es für dieses Arbeitsfeld selbst in Großstädten, in denen mehrere Hundert oder sogar Tausend Kinderflüchtlinge leben, keine dezidierte Jugendhilfeplanung
gibt
(
Jugendhilfeplanung).
Nur:
Kann
Segregation ein Arbeitsauftrag und Ziel
sozialpädagogischer Arbeit sein?
Mit Recht wehren sich die KollegInnen
in der Praxis dagegen und bestehen darauf, ihre Jugendhilfearbeit nicht von den
für die Jugendhilfe insgesamt gültigen
Maximen und Standards abkoppeln zu
19
ZUR EINFÜHRUNG
lassen. Grundlage der Sozialen Arbeit ist
auch in diesem Arbeitsbereich das KJHG
und dessen Aufträge, die u. a. in den oben
genannten Strukturmaximen lebensweltorientierter Sozialpädagogik verdeutlicht
werden. Und diese gilt es immer wieder
aufs Neue einzufordern!
So könnte unter Prävention in diesem
Fall verstanden werden, u. a. angemessene Unterbringungsmöglichkeiten zu
schaffen und das Stadtteilumfeld von Aufnahmeeinrichtungen auf die Ankunft junger Flüchtlinge vorzubereiten und die Akzeptanz zu fördern. Regionalisierung soll
verhindern, daß Jugendliche aus ihrer gewohnten Umgebung gerissen werden. Das
sind junge Flüchtlinge zwar per se, aber
es könnte der Auftrag dafür sein, sie in
dem von ihnen gesuchten Umfeld nach
Möglichkeit zu belassen bzw. Möglichkeiten der soziokulturellen Anbindung zu
suchen. Und dies muß eine Absage an eine
prinzipielle Quotenverteilung bedeuten (
Umverteilung). Partizipation allerdings
kann als Prinzip nur greifen, wenn eine
aufenthaltsrechtliche Absicherung gegeben ist und Gleichberechtigung gesellschaftlich gewollt wird.
Integration/Normalisierung meint, daß
die Gesellschaft „Lebensmuster finden
und praktizieren (muß), die jenseits von
Anpassung und Marginalisierung den eigensinnigen, unterschiedlichen Lebenskonstellationen und Perspektiven aller, die
in ihr leben, gerecht werden“ (Achter Jugendbericht 1980, S. 92). Dabei führen die
AutorInnen den Begriff der Normalisierung ein, als Alternative zu dem früheren
Konzept der Integration, das oft auf Anpassung an die Mehrheitsgesellschaft abzielte. Sie fordern von der Jugendhilfe,
„daß die besonderen Schwierigkeiten und
Aufgaben, wie sie sich aus dem Leben
zwischen Kulturen und im Widerstreit von
Kulturen ergeben, als Lebensbewältigungsstrategien gesehen werden müssen
( Bewältigungsstrategien). Ausländi20
sche Heranwachsende brauchen Bedingungen, Lebensbezüge und Lebensräume,
um in der Bewältigung ihrer Entwicklungs- und Orientierungsaufgaben im Zusammenprall verschiedener kultureller
Orientierungen handlungsfähig zu bleiben
und eine stabile Identität zu entwickeln“
(ebd., S. 92).
Alltagsorientierung bedeutet, präsent
zu sein im Erfahrungsraum der Jugendlichen und zielt darauf ab, es den Jugendlichen in jeder Lebenslage zu ermöglichen, ohne große Hürden Hilfen abzufordern, ja überhaupt Hilfsangebote und Beratung zu finden. Dazu ist eine große Nähe zum sozialen Erfahrungsraum der Kinder und Jugendlichen notwendig und ein
ganzheitlicher Blick, der den Menschen
nicht in einzelne Problemdefinitionen segmentiert, sondern ihn in seiner Vielfältigkeit samt seinen Belastungen, Beschränkungen aber auch Möglichkeiten wahrnimmt. Die Orientierung am Alltag der
Kinderflüchtlinge bedeutet zudem für die
BetreuerInnen, sich nicht mit den vielfältigen Restriktionen im Alltagsleben der Kinderflüchtlinge abzufinden. Das gilt beispielsweise, wenn sie es für falsch und unvertretbar halten, daß Schulbesuch und
Arbeit für Kinderflüchtlinge nicht möglich
oder erlaubt sind oder wenn Jugendliche
abgeschoben werden. Diese nicht akzeptierbaren Rahmenbedingungen des Alltags fordern uns immer wieder heraus, an
die Öffentlichkeit zu gehen. Engagement
auch in politischer Hinsicht ist notwendig,
um Freiräume für die uns anvertrauten
Kinder und Jugendlichen (und auch für
unser professionelles Handlungsfeld) zu
schaffen.
Es besteht jedoch in der sozialpädagogischen Praxis – angesichts der Dominanz
der politischen Vorgaben – die Gefahr, daß
die Lösung der alltäglichen (Über-)Lebensprobleme der Kinderflüchtlinge in den
Hintergrund gerät. Wenn wir uns auch gegen die objektiv belastende, politische Si-
S O Z I A L E A R B E I T Z W I S C H E N W E LT E N
tuation wehren, müssen wir dennoch
gleichzeitig die subjektive Lebenssituation
der Betreffenden als deren tatsächliche
Lebensgrundlage akzeptieren. Das bedeutet, daß Soziale Arbeit auch in scheinbar
ausweglosen Situationen Handlungsmöglichkeiten entwickeln muß und nicht unter
dem Druck der Verhältnisse handlungsunfähig werden darf. Zudem kann die einseitige Fixierung auf die ausweglose Alltagssituation die eigene Perspektivlosigkeit
verstärken und das erforderliche Engagement auf beiden Ebenen, der politischen
und der lebensweltlichen, lähmen. Eine
Verselbständigung und Abspaltung einzelner Anteile der Betreuungsarbeit sollten
wir jedoch vermeiden.
Halten wir also trotz der restriktiven
Bedingungen an der Notwendigkeit und
der Möglichkeit von lebensweltorientierter Pädagogik fest, ist, methodisch betrachtet, der Aufbau pädagogischer Beziehungen, die auf Vertrauen, Achtung und
Respektieren des Gegenüber ausgerichtet
sind, in diesem Arbeitsbereich so zentral
wie in allen anderen Arbeitsfeldern Sozialer Arbeit. Denn der Erfolg des beruflichen Handelns von SozialarbeiterInnen
hängt wesentlich davon ab – so der Achte
Jugendbericht (1990, S. 168) – „ob sie fähig sind, pädagogische und helfende Beziehungen im Alltag von Kindern, Jugendlichen (...) zu strukturieren und zu gestalten“. Auch vor dem Hintergrund zunehmender
Professionalisierungsdebatten
wird an der Bedeutung des pädagogischen
Bezugs nach wie vor festgehalten. Beziehungsbildung findet in der Arbeit mit Kinderflüchtlingen in ungünstiger Umgebung
zwischen heterogenen Partnern statt. Pädagogische Beziehungen sind jedoch nach
Giesecke (vgl. 1997, S. 112 ff) immer partikular, indem sie auf einzelne Ziele ausgerichtet, immer nur Beziehungen unter anderen und insbesondere zeitlich begrenzt
sind. Dennoch begegnen sich die PartnerInnen als ganze Menschen, so daß sich
Vertrauen in der pädagogischen Beziehung unter Aufrechterhaltung der notwendigen Distanz entwickeln kann, wenn
die Erfahrungen der pädagogischen PartnerInnen als „subjektiv sinnvoller Text der
bisherigen Lebensgeschichte“ (ebd., S.
118) und damit als gleichrangig angesehen werden. Diese Gleichrangigkeit bezeichnet Giesecke als „Kernstück der pädagogischen Beziehung“, aus der „zunächst der Respekt vor dem anderen bisher gelebten Leben“ resultieren sollte
(ebd., S. 119). Eine solche Haltung muß
sich auf der anderen Seite der tatsächlichen Unterschiede in der Hierarchie gesellschaftlicher Machtpositionen bewußt
sein und diese nicht nivellieren wollen.
Unsere Erfahrung ist, daß gerade im
Hinblick auf Dauer und Perspektive die
pädagogischen Beziehungen in unserem
Arbeitsfeld besonders offen und kaum
planbar sind. Gerade die Phase der Beziehungsaufnahme erfordert daher von den
BetreuerInnen ein hohes Maß an Offenheit, ein intensives Bemühen, unbekannte
Lebenswege zu verstehen und das Akzeptieren von Unklarheiten. Mit einer Haltung des Respekts können wir versuchen,
ein Klima des Vertrauens herzustellen,
und ein positives Ankommen in diesem
Land anzubieten, so weit das in unseren
Kräften steht.
Während z. B. in Erstversorgungseinrichtungen behördlicherseits oft keine
pädagogische Betreuung geplant oder
vorgesehen ist, weil ja die Dauerhaftigkeit
des Aufenthalts noch nicht geklärt ist,
muß der Beginn von pädagogischer Betreuung genau in dieser Phase erster
Kommunikation ansetzen, wenn eine Unterstützung und Orientierungshilfe für die
Jugendlichen geleistet werden soll. Denn
pädagogische Beziehung muß gerade am
Anfang – und das ist hier die Ankunft in
den Aufnahmeeinrichtungen – Vertrauensgrundlagen schaffen ( Erstversorgungseinrichtungen). Die Kinder und Ju21
ZUR EINFÜHRUNG
gendlichen haben einen Anspruch auf den
pädagogischen Bezug – und er ist möglich
und hilfreich im ‘Hier und Jetzt’, auch
wenn die Dauer und die Perspektive nicht
absehbar sind.
Hilfreich ist es in diesem Zusammenhang, an Erfahrungen und Überlegungen
aus der interkulturellen Pädagogik anzuknüpfen, denn wir müssen uns sehr weitgehend davon freimachen, unser Gegenüber auf eine bestimmte Kultur, Ethnie
oder Identität festzulegen ( Interkulturelle Pädagogik). Wenn wir akzeptieren,
daß diese Kategorien immer Veränderungen unterliegen und soziale Konstruktionen sind, können wir auch anerkennen,
daß sich die Kinderflüchtlinge nicht nur
auf die Herkunftskultur und die Kultur des
Zufluchtslands beziehen, sondern daß sie
sich in Zwischenwelten bewegen und daß
es nicht nur diese oder jene Identität sondern ‘flüchtige Identitäten’ gibt ( Persönlichkeitsentwicklung). So entpuppen
sich manche Probleme unseres Arbeitsbereichs als ‘besondere Scheuklappen’,
die es aufzulösen gilt, wie z. B. ein statischer Kulturbegriff, die Vorstellung von
unveränderlichen Identitäten, die Festschreibung von ethnischen Zugehörigkeiten, aber auch verallgemeinernde Einordnungen der Kinderflüchtlinge als Opfer
oder als Traumatisierte. Im Gegensatz dazu erfordert die Arbeit mit Kinderflüchtlingen in besonderem Maße eine Haltung
des Verstehens, „die der Offenheit, Unabgeschlossenheit und Sperrigkeit gegebener Lebensverhältnissen gerecht werden“
soll (Auernheimer 1996, S. 31) und des
Respekts gegenüber den Anderen und deren Lebensweisen.
4. Grundwidersprüche der Betreuung
4.1 Vom Umgang mit den
Heimlichkeiten
In der Praxis führt das komplexe und widersprüchliche Geflecht von gesellschaftli22
chen und pädagogischen Aufträgen zu
grundlegenden Diskrepanzen, mit denen
MitarbeiterInnen, die mit Kinderflüchtlingen arbeiten, regelmäßig zu kämpfen haben. Dies gilt insbesondere dann, wenn
fortschrittliche, weiterentwickelte pädagogische Konzepte eines lebensweltorientierten Ansatzes auf gesellschaftliche
und administrative Rahmenbedingungen
treffen, die den zu Betreuenden gegenüber abwehrend eingestellt sind. Hinzu
kommen die in vieler Hinsicht verschiedenen gesellschaftlich-kulturellen Sozialisations- und Orientierungserfahrungen von
BetreuerInnen und Betreuten.
Jugendhilfe hat es in diesem Bereich
immer zu tun mit Jugendlichen, die ‘unterwegs’ sind und sich erst kurz in der
BRD aufhalten und über deren bisherige
und aktuelle Lebenswelten meist nur allzu
wenig bekannt ist. Ausgehend davon, daß
für sie ein erzieherischer Bedarf vorliegt,
wird und muß Soziale Arbeit auftragsgemäß versuchen, diesen Jugendlichen ein
unmittelbares Beziehungsangebot zu machen ( Erziehungsbedarf, Hilfeplanung).
Dies ist auf einer allgemeinen Ebene
schwierig, weil verschiedene Sozialisationsbedingungen, unterschiedliche Formen verbaler und non-verbaler Kommunikation sowie verschiedene (Geschlechts-)
Rollenverständnisse aufeinander treffen
und zudem in der Regel keine gemeinsame Sprache die Vermittlung zwischen diesen Welten vereinfacht. Diese Schwierigkeiten der interkulturellen Kommunikation zu überbrücken, ist eine Herausforderung an die Offenheit und Flexibilität
der BetreuerInnen, für die dieses Handbuch Hinweise geben kann.
Das spezifische und zugleich gravierendste Problem für die in jeder Pädagogik bedeutsame Beziehungsbildung im
vorliegenden Arbeitsbereich ist die Tatsache, daß wir regelmäßig nicht wissen,
wer die Kinderflüchtlinge sind oder zumindest nicht sicher sein können, daß sie
sind, was wir glauben oder was sie uns
S O Z I A L E A R B E I T Z W I S C H E N W E LT E N
glauben machen. Die Kinder und Jugendlichen wissen zumeist bereits bevor sie
mit deutschen Behörden zu tun haben,
daß bestimmte Lebensgeschichten die
Aufenthaltschancen erhöhen, daß es Herkunftsländer gibt, für die Duldungen ausgesprochen werden und andere, für die
bei Vorliegen politischer Verfolgung Chancen auf Anerkennung als Asylberechtigte
bestehen. Ebenso spricht sich herum, daß
das Lebensalter entscheidenden Einfluß
auf die Lebensbedingungen hat, da es darüber entscheidet, ob eine betreute Jugendwohnung oder ein Sammellager, ob
das Leben in der Stadt, in der sie angekommen sind oder der Region, in die sie
umverteilt werden, die mittelfristige Lebensperspektive bestimmen. Da die Jugendlichen zunächst ihren Aufenthalt in
der BRD absichern wollen, müssen sie ihre Lebensgeschichte in Einklang mit den
Anforderungen des Asylverfahrens bringen.
Bubaquar, zum Beispiel, lebt als der
‘14jährige Prince aus Sierra Leone’ in der
Clearingstelle. Sein Heimatland gilt als
‘Sicheres Herkunftsland’ ( Asylpolitik
BRD/Europa) und sein Asylantrag wäre
gleich als ‘offensichtlich unbegründet’ abgelehnt worden. Die Hinweise, die er auf
dem Weg in die Bundesrepublik erhalten
hat, gaben ihm die Orientierung, hier mit
einer zweiten Identität größere Chancen
auf einen sichereren Aufenthalt zu haben.
Das ist sein Ziel. Er versucht, durch seine
Flexibilität seiner Familie eine existenziell
notwendige finanzielle Unterstützung zukommen zu lassen und will natürlich auch
selber daran teilhaben.
Für die Betreuungsverhältnisse bedeutet das: Wir haben es mit einem ‘offiziellen
Lebenslauf’ zu tun, der gleich zu Beginn
des Asylverfahrens ohne innere Widersprüchlichkeiten angegeben werden muß.
Diesen gilt es überall, insbesondere gegenüber allen offiziellen und halboffiziel-
len Personen, durchzuhalten. Daher kann
es sein, daß es die BetreuerInnen zu Beginn ihres Beziehungs- und Hilfeangebots
mit ‘verschiedenen Heimlichkeiten’ ihres
Gegenübers und einer ‘konstruierten Realität’ zu tun bekommen. Die klassischen
Fragen pädagogischer Beziehungsaufnahme, die wir eingangs aufgeführt haben,
können somit lediglich als Mittel zur Kontaktaufnahme dienen, die Antworten darauf als Informationen darüber, mit welchen der möglichen ‘Identitäten’ in dem
jeweiligen Zusammenhang und der jeweiligen Situation kommuniziert werden
kann.
Damit ist ein grundlegender Interessenkonflikt zwischen dem Beziehungsinteresse Sozialer Arbeit und einem strategischen Interesse der Jugendlichen nach
Absicherung des Aufenthalts umrissen,
der Folgeprobleme nach sich zieht, je näher die BetreuerInnen in ihrer Arbeit mit
der Zeit an die Jugendlichen herankommen. Denn sie werden natürlich auf einzelne Details der Lebensgeschichte, auf
Merkmale tatsächlicher oder vermeintlicher Persönlichkeit ihres Gegenübers eingehen, und ein Vertrauensverhältnis anbieten und fördern. Je mehr sie darauf insistieren, zu verstehen suchen und sich
bemühen ‘Stimmigkeit’, Kohärenz oder
Identität zu erkennen, desto schwieriger
kann es für die Jugendlichen werden, ihre
verschiedenen Rollen aufrechtzuerhalten.
Während Soziale Arbeit sich ‘ein Bild machen’ will, weil sie meint, wissen zu müssen, mit wem sie es zu tun hat und signalisiert, ‘ihr könnt euch öffnen’, muß ihr Gegenüber – wenn gewisse Einblicke weiter
verweigert werden sollen – ihrerseits etwas anbieten, mit anderen Worten es entsteht ein Druck, Geschichten, ‘verkehrte
Identitäten’ sogar noch auszubauen, mit
der Gefahr, die Selbstkontrolle über die
verschiedenen Persönlichkeitsanteile zu
verlieren und Abspaltungsleistungen zu
produzieren ( Doppelidentität).
23
ZUR EINFÜHRUNG
Ein anschauliches Beispiel für diese
strukturell bedingten Interessenkonflikte
bietet die Problematik der Altersangabe:
Das pädagogische Interesse, das Alter der
betreuten Jugendlichen zu kennen, ist bedingt durch den Wunsch, sich in der Arbeit an ihrem Entwicklungsstand, an ihren Fähigkeiten und auch an altersbedingten Schwierigkeiten zu orientieren. Es
kollidiert mit dem wiederum primär strategischen Interesse der Jugendlichen, z. B.
etwas länger unter 16 Jahre alt bleiben zu
wollen, um in der Stadt bleiben zu können
oder einen besseren Übernachtungsplatz
zu haben. Damit wird die Kommunikation
über die eigentlich so banale Frage ‘Wie
alt bist du?’ absurd, weil auf beiden Seiten
die Frage in völlig gegensätzliche Bezugssysteme eingeordnet ist. Die Folgen allerdings können weitreichend sein, da sich
für die Betreuung die Frage stellt, wie mit
den Jugendlichen umzugehen ist: nach
Einschätzung des Entwicklungsstands im
Widerspruch zum offiziellen Alter, wodurch wiederum signalisiert wird, daß
diese Version nicht ernst genommen wird,
oder umgekehrt nach dem Papier, wodurch Situationen entstehen, in denen die
Jugendlichen in ihrer Persönlichkeit nicht
ernst genommen werden ( Alter). Darüber hinaus ist die Frage nach dem Alter
im interkulturellen Kontext nicht immer
leicht zu beantworten. Manchmal wissen
Menschen ihr Geburtsdatum tatsächlich
nicht, da in einigen Gegenden der Geburtstag eines Kindes kein bemerkenswertes Datum ist. Andere sehen den Zusammenhang von Alter, Entwicklung und
Status anders oder benutzen andere kalendarische Zeitrechnungen (wie z. B. in
Äthiopien). Ähnliche Dilemmata ergeben
sich hinsichtlich der Herkunft (Nationalität, Sprache) aber auch hinsichtlich der
Frage, ob es verwandtschaftliche Beziehungen in Deutschland gibt.
Soziale Arbeit mit Kinderflüchtlingen
muß die Tatsache akzeptieren, daß sie
24
sich beim Aufbau des pädagogischen Bezugs auf schwankendem Boden bewegt,
auch wenn nicht vergessen werden darf,
daß es ein ernsthaftes Beziehungsinteresse auch von seiten der Jugendlichen
gibt. Ein Bedürfnis nach sozialer Nähe
und Anbindung wird allerdings oft erst
deutlich, wenn sie einige Zeit in den Einrichtungen sind und nach der ersten Klärung des Aufenthaltsstatus ein wenig Ruhe eingekehrt ist. Dann gilt es, geeignete
Voraussetzungen für eine Vertrauensbildung zu schaffen. Es sollte versucht werden, die Kinder und Jugendlichen anzunehmen, ohne auf einer Öffnung zu beharren, Akzeptanz auch dessen zu signalisieren, was nicht ausgesprochen wird und
durch Zuwendung emotionale Sicherheit
anzubieten, ohne eine eindeutige Position
zu erzwingen. Mit anderen Worten: es
müssen Möglichkeiten entwickelt werden,
„distanzierende Hilfen“ (Achter Jugendbericht 1990, S. 87) zu leisten, die auch
‘heimliche Lebenswelten’ bewußt erhalten. Natürlich kann Sozialarbeit nicht auf
die Frage nach der Identität verzichten,
denn sie muß Anknüpfungspunkte finden
und sie soll und will gerade bei Jugendlichen in emanzipatorischem Sinne zur
Identitätsentwicklung beitragen. Dennoch
muß dabei das Recht auf eine konstruierte
Identität und deren Darstellung nach
Außen gewahrt bleiben. Der aus diesen
Konfliktlinien resultierende Spagat setzt
eine professionelle Haltung mit selbstkritischer Reflexion auf hohem Niveau voraus,
die z. B. auf konstruierte Wahrheiten nicht
moralisch wertend oder mit Entzugsdrohungen reagiert ( Ethik und Moral in
der Sozialen Arbeit).
4.2 Die eigenen Uneindeutigkeiten
Soziale Arbeit mit Kinderflüchtlingen bewegt sich also auf einem schmalen Grat
und läuft zugleich ihrerseits Gefahr, Doppelbotschaften auszusenden. So versucht
S O Z I A L E A R B E I T Z W I S C H E N W E LT E N
sie, die Jugendlichen dazu zu motivieren,
zur Schule zu gehen, einen Ausbildungsabschluß zu machen, etwas zu lernen und
begründet dies mit den besseren Chancen,
die auf diesem Wege entstehen. Aber die
BetreuerInnen wissen, daß viele Jugendliche schon abgeschoben werden, bevor
Schul- oder Ausbildungsabschlüsse erreicht werden und auch die Jugendlichen
bekommen dies sehr bald mit, so daß ein
Erklärungsnotstand entsteht. Mit der Entwicklung von Perspektiven soll die Motivation zur konstruktiven Persönlichkeitsentwicklung geschaffen werden, ohne daß
– wie in anderen Bereichen der Sozialen
Arbeit – ‘Chancen gegen Leistung’ angeboten werden können. Ähnlich unklare
Haltungen vermitteln wir leicht, wenn wir
versprechen, uns für das Hier-Bleiben der
Jugendlichen einzusetzen, und damit den
Eindruck erwecken, die Betroffenen hätten hier legale Perspektiven. Dies kann
dann von heute auf morgen in die gegenteilige Botschaft umschlagen, daß es
plötzlich keine Chance auf einen legalen
Aufenthalt mehr gibt. Doppelbotschaften
entstehen auch, wenn zum Beispiel signalisiert wird, daß wir die Lebensgeschichten der Kinderflüchtlinge glauben, wir
aber durchblicken lassen, daß wir Zweifel
haben, weil wir schon so viele Geschichten
gehört haben.
Die Uneindeutigkeit solcher Signale
wirkt verunsichernd und arbeitet dem
Vertrauen in der pädagogischen Beziehung entgegen. Zumeist steckt von pädagogischer Seite dahinter, daß wir mit der
eigenen Ohnmacht und dem extrem eingegrenzten Handlungsspielraum nicht angemessen umgehen. Es ist schwierig und
muß doch immer wieder versucht werden, die eigene Haltung zu reflektieren
und sich der eigenen Möglichkeiten und
Grenzen, aber auch der eigenen Erwartungen und Motivationen für die Arbeit in
diesem Bereich bewußt zu werden (
Ethik und Moral in der Sozialen Arbeit).
Es geht also um den rationalen Aspekt des
pädagogischen Prozesses, nämlich darum,
die eigene Rolle so klar wie möglich zu bestimmen und das eigene Handeln auf den
verschiedenen
Handlungsebenen
im
Spannungsfeld zwischen Pädagogik und
gesellschaftlichen Zwängen transparent
und nachvollziehbar zu machen, um auch
den Jugendlichen eine realistische Einschätzung ihrer Situation vermitteln zu
können. Und dieser „rationale Aspekt (...)
sollte nicht durch emotionale Ansprüche
unterlaufen werden“ (Giesecke 1997, S.
122). Hierfür sind sicherlich immer wieder Kollegiale Beratung und Supervision
hilfreich und notwendig ( Teamarbeit/
Kollegiale Beratung, Supervision).
4.3 Wenn die Papiere ungültig werden ...
Die Frage der Aufenthaltsperspektive konfrontiert uns regelmäßig mit ähnlichen
Interessenkonflikten, wie wir sie im Zusammenhang mit der Einschätzung des
Lebensalters erörtert haben: Alle in der
Jugendhilfe mit Kinderflüchtlingen Beschäftigten wissen, daß nur die Wenigsten
der Jugendlichen einen dauerhaft sicheren
Aufenthaltsstatus in der BRD erhalten und
daß deshalb häufig versucht wird, auch
ohne Papiere hierzubleiben und zu überleben ( Illegalität). Für die Jugendlichen
in den Einrichtungen gehört diese Realität
früher oder später zum Alltag und zur
Auseinandersetzung mit ihrer Perspektive
elementar dazu. Die Ungewißheit, wie lange sie bleiben können und was danach
kommt, begleitet die Jugendlichen vom
Beginn ihres Aufenthalts an. Auch für die
BetreuerInnen taucht die Problematik
nicht erst auf, wenn klar wird, daß ein legaler Aufenthalt in der BRD nicht mehr
gewährleistet werden kann, sondern schon
dann, wenn es überhaupt um eine Orientierung für den weiteren Lebensweg geht.
Während das Interesse der Jugendlichen
darauf ausgerichtet ist, möglichst lange in
25
ZUR EINFÜHRUNG
der BRD zu bleiben, immer in der Hoffnung, irgendwann und irgendwie hier Fuß
fassen zu können, geht es den PädagogInnen darum, daß die Kinder und Jugendlichen ein eigenständiges Leben auf
einer legalen Basis führen können. Die frustrierende Standarderfahrung besteht
dann allerdings darin, daß die bereits vorher sehr offene Betreuungsperspektive abrupt und von fachfremder Seite (Ausländerbehörde etc.) und auch ohne Einbeziehung fachlicher Überlegung – also unter
Ausschluß der Orientierung am Kindeswohl – durch Verweigerung der Gewährung eines legalen Status abgebrochen
wird.
Die dadurch entstandene Situation entspricht zum Teil der allgemeinen Problematik der Beendigung von Maßnahmen
der Jugendhilfe oder von pädagogischen
Angeboten, doch muß in diesem Fall der
Widerspruch zwischen dem offiziellen
Auftrag (Einweisung in eine Sammelunterkunft für Erwachsene; Vorbereitung
auf die Abschiebung bzw. Ausreise) und
den am Kindeswohl orientierten Verpflichtungen als besonders eklatant bezeichnet werden: Die jungen Menschen
werden in ungeschützte und unbetreute
Lebensverhältnisse mit völlig offenen Perspektiven entlassen, wenn sie auf Sammelunterkünfte verteilt werden und insbesondere wenn sie von der Beendigung
des legalen Aufenthalts bedroht sind.
Ali-Hassans Asylverfahren wird letztinstanzlich abgelehnt und er wird zur
Ausreise aufgefordert. Mit Ablauf seiner
Duldung endet sein Aufenthaltsrecht in
der Jugendhilfe. In den letzten Monaten
gab es häufigere Diskussionen zwischen
ihm und dem Vormund, da er mehrfach
Strafanzeigen wegen Drogendealens erhielt. Er erzählte dabei erstmals davon,
daß seine Eltern darauf angewiesen sind,
daß er Geld nach Hause schickt. Die Aufforderung, zurück in die Türkei zu fliegen,
ist für ihn unfaßbar, weil er nicht mit lee26
ren Händen bei seinen Eltern auftauchen
mag. Deshalb will er versuchen, sich ohne
Papiere durchzuschlagen und verläßt die
Einrichtung. Mit hohem Fieber taucht er
eines Tages in ‘seiner’ Erstversorgungseinrichtung wieder auf.
Die BetreuerInnen geraten in einen
Zwiespalt: Welches Verhalten ist angemessen, wenn der Jugendliche nicht legal in
der BRD bleiben kann? Es fällt ihnen dann
oft schwer, diese Zuspitzung der Situation
nicht auch als persönliches Scheitern zu
empfinden und zu akzeptieren, daß sie die
Jugendlichen nur noch bei der Qual der
Wahl zwischen oft gleichermaßen aussichtslosen Optionen beraten können. Ist
es möglich, eine persönliche Distanz zu der
Ausweglosigkeit der Situation zu schaffen,
nachdem monatelang an der Entwicklung
einer Beziehung gearbeitet wurde? Sicher
muß die Entscheidung, wie es weitergehen
soll, in der Hand der Betroffenen liegen,
aber ebenso gewiß sollte gemeinsam versucht werden, verschiedene Perspektiven
wie Rückkehr, Migration in ein weiteres
Land, illegaler Aufenthalt, in ihrer jeweiligen Problematik zu bearbeiten.
Wenn das Betreuungsverhältnis beendet ist, kann es durchaus sein, daß die faktische Existenz der Jugendlichen ihre formal-rechtliche
Existenzberechtigung
überlebt, und weiterhin z. B. besuchsweise Kontakt in den Einrichtungen besteht.
In diesem Fall wird natürlich das Verhalten der BetreuerInnen gegenüber ihren
Ehemaligen von den anderen Betreuten
beobachtet und bewertet, wie formal oder
wie menschlich sie behandelt werden.
Daß derlei Beobachtungen wieder ihre
Rückwirkungen haben auf die aktuell aufzubauenden Beziehungen liegt auf der
Hand und macht die Verwobenheit der in
diesem Abschnitt verhandelten Interessenkonflikte und die Komplexität dessen,
was als „solidarische Professionalität“
(Kunstreich) bezeichnet wird, mehr als
deutlich. Auch in diesem Zusammenhang
S O Z I A L E A R B E I T Z W I S C H E N W E LT E N
kann zur Klärung und Rückversicherung
die Kollegiale Beratung ein hilfreiches Instrument sein, gerade weil sich Soziale
Arbeit an dieser Stelle in Grenzbereiche
des vorgegebenen rechtlichen Rahmens
begibt. Denn sofern es pädagogische Aufgabe ist, Unterstützung dabei zu bieten,
wie es weiter gehen kann, muß auch die
Option ‘illegalen Aufenthalts’ in die professionelle Beratung einbezogen werden.
4.4 Ein heikles Thema: Rückkehr
Auch die Frage einer Möglichkeit der
Rückkehr sollte nicht aus der – notwendig
offenen – Betreuungsperspektive ausgeklammert werden. Aus unserer Beratungsarbeit kennen wir Beispiele, in denen recht schnell klar ist, daß die Betreffenden eigentlich keine Chance haben, mit
einem Leben hier zurecht zu kommen,
weil ihre Bewältigungskräfte den Bedingungen des Lebens im Exil nicht gewachsen sind. Insbesondere wenn Kinder weggeschickt wurden, kann es sein, daß die
Eltern eine für das Kind falsche Entscheidung getroffen haben. Wenn dafür Anzeichen vorhanden sind, stellt sich aber die
Frage, wer das von hier aus sicher entscheiden kann, ohne sich anzumaßen,
über Lebensverhältnisse zu urteilen, deren Alltagsproblematik uns nicht in aller
Tragweite bekannt sein können. Um den
familiären und lebensgeschichtlichen Hintergrund der betreffenden Kinder zu erhellen, bedarf es eigener Recherchen mit
Hilfe zuverlässiger Kontaktpersonen im
Herkunftsland. Dies erfordert einen zeitlichen Rahmen, der in der gegenwärtigen
Rechtslage nicht gewährt wird. Es wird
auf alle Beteiligten Druck ausgeübt, sofort
Asylanträge zu stellen, sodaß gleich zu
Beginn auf zwei konträren Ebenen agiert
werden muß. Die Uneindeutigkeit und
Doppelbelastung der entstehenden Situation kann geradezu dazu führen, daß für
diejenigen Kinder, die vielleicht wirklich
bald zurückkehren könnten, die Situation
nicht geklärt werden kann und die Rückkehr verhindert wird. Der behördliche
Rückführungsdruck verhindert so eine
Rückkehr im Sinne des Kindeswohls.
Sinnvoll im Sinne der Kinderrechtskonvention wäre es dagegen, diese Fragen
gleich zu Beginn des Aufenthalts in der
BRD zu klären. Voraussetzung hierzu ist
allerdings zwingend die schnelle Gewährung einer längerfristigen Aufenthaltsgenehmigung für Kinderflüchtlinge, z. B. eine Aufenthaltsbefugnis ( Aufenthaltstitel).
Am Ende eines Asylverfahrens stellt
sich die Rückkehr-Frage neu ( Perspektiven). Rechtzeitig, bevor die letztinstanzliche Ablehnung des legalen Aufenthalts
droht, muß geklärt werden, ob und unter
welchen Bedingungen der oder die Betreffende sich im Herkunftsland wieder zurecht finden könnte – besser als hier mit
illegalem Status – und wie und in welchen
Schritten eine Rückkehroption umzusetzen wäre. Denn viele Jugendliche halten
dem enormen Druck nicht stand, der mit
dem bevorstehenden oder tatsächlichen
Leben ohne Papiere verbunden ist. Bedacht werden muß sehr sorgfältig, wohin
die Jugendlichen nach z. T. mehrjährigem
Aufenthalt in der BRD zurückgehen können. „Eine Rückkehr wird es für einen
Menschen im Exil nie geben. Die Koordinaten verändern sich, sowohl was seine
persönliche Entwicklung als auch die Entwicklung seiner Ursprungsheimat angeht“
(Schami 1998, S. 55). Auch hier gilt es, zu
versuchen, eine Kontaktaufnahme und
vorherige Klärung der Situation im Herkunftsland zu ermöglichen. Doch selbst in
Fällen eines ‘freiwilligen’ Rückkehrwunsches zeigen Erfahrungen aus der Beratungstätigkeit erhebliche Schwierigkeiten,
wenn keine bzw. unzutreffende Papiere
vorhanden sind und sich deshalb kein
Konsulat für zuständig erklärt, wegen der
zwischenzeitlich konstruierten Identität
27
ZUR EINFÜHRUNG
die ausreisende Person nicht gleich der
Eingereisten sein kann oder wenn Botschaften sich weigern, Grenzübertrittspapiere auszustellen. Für illegal Eingereiste
besteht dann die Gefahr einer Verhaftung
wegen illegaler Ausreise. Mit derlei Grauzonen muß in ‘the best interests of the
child’ umgegangen werden, sie erfordern
erheblichen Improvisationsaufwand, die
Inanspruchnahme versierter Beratungsstellen und leider manchmal das Eingeständnis, daß wir selbst auch nicht mehr
weiter wissen und keinen vertretbaren
Ausweg sehen (
Kinderflüchtlinge,
Kinderrechte).
4.5 Solidarische Professionalität statt
professioneller Ohnmacht
Wiederum erweist sich hiermit Pädagogik
als eingezwängt zwischen den politischen
und rechtlichen Bedingungen. Um nicht in
‘professioneller Ohnmacht’ zu versinken,
halten wir es für erforderlich, als Teil professioneller Praxis auch im politischen
Raum zu agieren, um die grundlegenden
Widersprüche zwischen Ausländerrecht
und Jugendhilfeauftrag in die öffentliche
Debatte einzubringen und BündnispartnerInnen in Fachwelt, Behörden und Stadtteil zu gewinnen ( Interessenvertretung).
Die Erfahrung aus anderen Bereichen
Sozialer Arbeit zeigt, daß sich neue, im Interesse der Betroffenen erweiterte Handlungsmöglichkeiten oft erst ergeben, wenn
durch Grenzüberschreitungen die Begrenztheit und Unwirksamkeit bisher
praktizierter Regelsysteme kritisiert und
diese Diskussionen in der öffentlichen
Auseinandersetzung thematisiert werden.
So haben beispielsweise im Drogenbereich Angebots-Modelle, deren juristische
Grundlagen noch nicht geklärt waren, die
Auseinandersetzung um akzeptierende
Drogenarbeit voran gebracht, und damit
zur Legalisierung der betreffenden Ansät28
ze beigetragen. In ähnlicher Weise sieht
sich Soziale Arbeit mit Kinderflüchtlingen
konfrontiert mit der Notwendigkeit, sich
auch öffentlich zu den gewollt ausgegrenzten Lebenswelten der illegalisierten
Kinderflüchtlinge zu äußern und für diejenigen, die die Welt legalen Aufenthalts
verlassen, um Verständnis zu werben.
Dies betrifft z. B. in besonderer Weise die
Straßensozialarbeit mit Kinderflüchtlingen, die per definitionem als aufsuchende
und akzeptierende gedacht und geplant
ist und selbstverständlich Kinder ohne
Aufenthaltspapiere in ihre Arbeit mit einbezieht ( Straßensozialarbeit).
Im Hinblick auf die Ungewißheit, die
‘Heimlichkeiten’ und die prekären Lebenswelten wird Soziale Arbeit mit Kinderflüchtlingen ‘Kritische Soziale Arbeit’
sein müssen, die „ihren gedanklichen
Ausgangspunkt bei den vielfältigen Gestaltungsformen der Sozialitäten, bei der
aktiven Aneignung von Überlebenspraktiken, bei dem gewitzten Widerstand der
Subjekte (nimmt) – genauso wie bei deren
Leid und ohnmächtigen Rückzug“ (Kunstreich 1998, S. 24).
5. Erfahrungen im Umgang mit Krisen
und Konflikten
5.1 Auffälligkeiten und das Sortieren
von Problemen
In den vorhergehenden Kapiteln beschäftigten wir uns mit Fragen der pädagogischen Arbeit und dem Spannungsfeld, in
dem sie zu leisten ist. Dabei darf nicht in
den Hintergrund geraten, daß die Jugendlichen trotz der verallgemeinerbaren Probleme mit individuellen Einzelschicksalen
angekommen sind. Sie haben belastende
und außergewöhnliche Lebenserfahrungen im Gepäck. Hier finden sie jedoch
Bedingungen vor, die nicht geeignet sind,
zur Ruhe zu kommen, die weder entwicklungsfördernd sind, noch Raum bieten,
S O Z I A L E A R B E I T Z W I S C H E N W E LT E N
Probleme zu verarbeiten und zu bewältigen; Bedingungen, die vielmehr die vorhandenen inneren Zerrissenheiten fördern. Die Erfahrung hat uns gezeigt, daß
Jugendliche, sobald sie sich ein wenig eingerichtet haben, häufig Auffälligkeiten zeigen, die von psychosomatischen Beschwerden wie unerklärlichen Bauchoder Kopfschmerzen, Schlafstörungen
oder Bettnässen über autoagressives Verhalten oder Aggressionen nach außen bis
hin zu psychotischen Ausnahmezuständen
reichen können ( Psychische Störungen,
Psychosomatik). Erst nach einiger Zeit
scheint der Zeitpunkt gekommen zu sein,
an dem die aufgestauten individuellen
Krisen ausagiert werden können.
Bubaquar/Prince wohnt seit mehreren
Monaten in der Erstversorgungseinrichtung, als er anfängt, über Kopfschmerzen
und über „Schmerzen, die durch den ganzen Körper wandern“, zu klagen. Er sucht
mehrere Ärzte auf, die jedoch keine akute
Erkrankung feststellen können. Seine
Schulbesuche werden unregelmäßiger und
er zieht sich immer mehr zurück. Gleichzeitig verhält er sich provokativ und es
kommt immer häufiger wegen Kleinigkeiten zu teilweise heftigen Auseinandersetzungen. In einem längeren Gespräch
mit einem Betreuer äußert er erstmals
sein Gefühl der Perspektivlosigkeit. Er bekäme nirgends Unterstützung, keiner
würde ihm helfen, weder die Ärzte noch
die BetreuerInnen in der Einrichtung. Als
in der Teamsupervision sein Fall besprochen wird, werden die Wechsel zwischen
seinen aggressiven und depressiven Verhaltensauffälligkeiten sehr deutlich. Seitens der Einrichtung wird ein Gespräch
mit dem Vormund und dem Amt für Soziale Dienste organisiert, als dessen Ergebnis beschlossen wird, für ihn eine Unterbringung nach § 34 KJHG zu beantragen. Bevor es zu dem Umzug kommt, begeht Bubaquar einen Suizid-Versuch, infolge dessen er in der psychiatrischen Ab-
teilung des örtlichen Krankenhauses aufgenommen wird.
Kinderflüchtlinge mit psychischen Auffälligkeiten befinden sich meist in einer
‘Lebens-Sackgasse’, aus der sie allein
nicht mehr herausfinden. Ihnen wird
deutlich, daß es hier in diesem Land für
sie kein Weiterkommen, aber auch kein
Zurück gibt. Wie gut wäre es, wenn es gelingen könnte, mit der Person hinter dem
Paravent der zweiten Identität, unabhängig davon, ob dieser Bubaquar oder
Prince ist, ins Gespräch zu kommen und
ihr zu helfen, ihre Lage zu reflektieren,
um sich neu orientieren und neue Entscheidungen treffen zu können. In der
Phase der ersten Auffälligkeiten hätte es
vielleicht geholfen, mit einem vertrauten
Gegenüber die Probleme und die Lebenssituation zu sortieren, um damit einen
neuen Entscheidungsprozeß vorzubereiten oder einzuleiten. Dabei ist es wichtig,
an Vertrautes anzuknüpfen, das sich finden kann in gegenseitiger Akzeptanz und
Sympathie, persönlicher Achtung, in einer
gemeinsamen Sprache oder der gemeinsamen Herkunft mit einem erfahrenen Erwachsenen. Leider werden solche Momente schnell verpaßt, die Situation spitzt
sich zu, bis sie für beide Seiten, Betroffene
und BetreuerInnen, nicht mehr aushaltbar ist und, obwohl sie wahrscheinlich
nicht im engeren Sinne psychisch krank
sind, geraten die Kinder und Jugendlichen
plötzlich in die Psychiatrie. Wenn sich solche Anknüpfungspunkte jedoch rechtzeitig finden und vertrauensvoll ausbauen
lassen, kann manchmal Zuspitzungen und
Eskalationen vorgebeugt werden, die
sonst später therapeutische oder psychiatrische Behandlung erforderlich machen.
Ähnlich wie in anderen Bereichen der
Jugendhilfe tut die „Geschäftigkeit moderner Jugendhilfe“ (Blandow 1997, S. 180)
der Lösung von Schwierigkeiten individueller Probleme oft nicht gut, da mittlerweile nicht selten eine Haltung anzutreffen
29
ZUR EINFÜHRUNG
ist, die Probleme standardisiert erkennt
und auf eine passende Lösung sinnt, häufig in Form einer vorhandenen Maßnahme, die das Problem auffängt und es damit aus dem Blickfeld befördert. So führt
sich das differenzierte Jugendhilfe- und
auch Therapiesystem durch die sozialtechnische Weiterreichung von vorgesehenen Problemkonstellationen leicht auch
selbst ad absurdum und es droht „moderne Jugendhilfe an ihrer eigenen Progressivität zu ersticken“ (ebd., S. 183).
Statt dessen sollte sich die soziale Arbeit mit Kinderflüchtlingen auf eine „therapeutische Dimension pädagogischer
Praxis“ einlassen (Oevermann 1997, S.
146 ff). Das bedeutet, daß sie für psychische Krankheitsbilder sensibilisiert ist
und im Hinblick auf potentielle psychische
Krisen präventiv arbeitet. Allerdings steht
eine genaue Bestimmung des Verhältnisses von Pädagogik und Therapie in der
professionellen Arbeit für unseren Bereich sicher noch aus.
5.2 Verschiedene Vorstellungen
von Heilung
Shoukrija wohnt in einer Mädchen-Wohngruppe für Kinderflüchtlinge. Sie besucht
regelmäßig die Schule und hat einen engen und guten Kontakt zu den Betreuerinnen. Trotzdem verfällt sie immer wieder in Phasen der Zurückgezogenheit und
Traurigkeit. Sie leidet an Appetitlosigkeit
und verliert immer mehr an Gewicht. Sie
entwickelt Angstzustände und traut sich
nicht mehr aus dem Haus. Eine ihr angebotene Therapie bricht sie nach dem dritten Besuch ab, mit dem Hinweis, daß sie
von der Therapeutin auf ihre Familie und
ihre Situation zu Hause angesprochen
worden sei. Sie kann oder will sich nicht
mehr erinnern. In Zusammenarbeit mit einer bei einem Frauenprojekt arbeitenden
Therapeutin organisiert die Betreuerin eine sich regelmäßig treffende sozialthera30
peutische Gruppe afghanischer Mädchen,
an der auch Shoukrija teilnimmt. Dort entsteht über gemeinsames Kochen, Gespräche und gemeinsames Feiern eine Atmosphäre, in der nach und nach Vertrauen,
Zugehörigkeitsgefühle und ein wenig Geborgenheit spürbar werden. Hier gelingt
es ihr nach einiger Zeit erstmals, ihre Gefühle von Heimweh, Fremdheit und Trauer
zu äußern, aber auch, über ihre Wünsche
und Hoffnungen zu sprechen.
Johns Verhalten wird zunehmend auffälliger. Er fängt an zu trinken, hat immer
die ein oder andere Bierdose neben seinem Bett. Häufiger wirkt er erstaunlich
aufgekratzt. Die ‘professionelle Nase’ errät, daß er Marihuana und häufiger auch
Kokain raucht. Die KollegInnen in der
Einrichtung wenden sich an eine Drogenberatungsstelle. Dort wird Hilfe angeboten, wenn John sich freiwillig bei ihnen
meldet. Er geht jedoch nicht hin. Ein zufällig angestellter Dolmetscher findet Zugang zu John.
Bei Kinderflüchtlingen wie Shoukrija
und John mit extremen Kriegserlebnissen
muß überlegt werden, mit welchen therapeutischen oder Heilungs-Settings ihnen
geholfen werden kann ( Institutionelles
Management psychischer Probleme, Kinder- und Jugendpsychiatrie). Hierbei ist
aber zu berücksichtigen, welche eigenen,
für uns oft ungewohnten Vorstellungen die
Betroffenen von Krankheit und Heilung
haben und welche Erwartungen gegenüber TherapeutInnen und ÄrztInnen vorhanden sind. Oft treffen wir beim Gang
zum Arzt oder Therapeuten auf eine Erwartung an ‘den Heiler’ als eine Autorität,
die den ganzen Menschen sieht und – unausgesprochen – die Hoffnung auf vertraute Heilungsrituale, die die Jugendlichen hier nicht finden können, es sei
denn in ‘einheimischen’ Kreisen ethnischer Gruppen. Unsere Erfahrungen zeigen, daß die hier üblichen schulmedizini-
S O Z I A L E A R B E I T Z W I S C H E N W E LT E N
schen Behandlungsmethoden die Kinderflüchtlinge mit Krankheitssymptomen
häufig nicht erreichen. Notwendig in der
Betreuung und Behandlung scheint uns
ein ausreichendes Wissen um die Krankheits- und Heilmethoden der Herkunftskulturen, nicht um sie unmittelbar anzuwenden, sondern um als Verständnisbrücke zu dienen und zur Entwicklung adäquater Heilungsmethoden beizutragen.
So gaben Dawes und Honwana von der
Universität Kapstadt in einem Vortrag auf
dem Kongreß über „Kinder, Krieg und
Verfolgung“ 1996 in Maputo die Anregung, daß es zu bedenken gilt, ob eine
Methode, die im Gespräch oder Spiel individuell Erlebtes bewußt und nacherlebbar
macht, nicht selbst eine Überforderung ist
für Menschen, die Heilung im Zusammenhang mit bestimmten Ritualen gewohnt
sind oder für die eine Strategie des Vergessens oder der Wiederaufnahme in eine
soziale Gruppe eher angemessen wäre.
Sie veranschaulichen die Bedeutung verschiedener Verständnisse von Krankheit
und Heilungsmethoden am Beispiel eines
Kindersoldaten in Mosambik, der durch
ein Ritual, in dessen Verlauf alle Kleidung
aus seiner Soldatenzeit verbrannt wurden, innerlich und äußerlich gereinigt,
durch Impfung gegen böse Mächte geschützt und dann in die Dorfgemeinschaft
reintegriert wurde ( Kindersoldaten).
Diese Rituale wurden öffentlich vollzogen,
denn das ‘Trauma’ war ein soziales Problem des ganzen Dorfes, und sie symbolisierten den Abbruch der Verbindung zur
Vergangenheit. „Während moderne psychologische Methoden die verbale Äußerung des Traumas betonen, wird hier die
Vergangenheit unter Verschluß gebracht.
(...) Über die Vergangenheit zu sprechen
oder sie ins Gedächtnis zu rufen wird
nicht unbedingt als Voraussetzung für
Gesundung“ gesehen, vielmehr glaubt
man, „dadurch für den Einfall heimtückischer Kräfte Raum zu bieten“ (Dawes/
Honwana 1997, S. 61).
5.3 Seelisches Leid oder Trauma?
Auf den Bedarf und die Möglichkeiten der
Therapie für traumatisierte Kinder und
Jugendliche wird in verschiedenen Artikeln dieses Handbuches aus unterschiedlicher Sicht eingegangen ( Psychische
Störungen, Traumatisierung) weshalb wir
das Thema an dieser Stelle nicht vertiefen
wollen. Es scheint uns jedoch eine Anmerkung angebracht:
In der Fachöffentlichkeit und der Medienwelt ist häufig von ‘Traumata’ die Rede, insbesondere von Kindern, die in Folge
von Kriegserlebnissen traumatisiert wurden. Dieser Diskurs vermittelt den Eindruck, daß bestimmte Gruppen – wie eben
die Kinderflüchtlinge – generell mit psychischen Störungen belastet, ‘traumatisiert’ hierher kommen. Wir gehen jedoch
davon aus, daß dies nicht für alle Kinderflüchtlinge zutrifft, obwohl sie sich zumeist aus belasteten Situationen auf den
Weg gemacht haben. Aber sie haben
glücklicherweise nicht alle derart extreme
Erlebnisse hinter sich, daß generell von
einem posttraumatischen Belastungssyndrom (PTSD) ausgegangen werden muß.
Diese Differenzierung halten wir für besonders wichtig im Hinblick auf diejenigen
Kinder, die tatsächlich mit einem Trauma
leben müssen. Die Unterscheidung anhand der Symptomatik, die bei den Kindern beobachtet wird, ist jedoch nicht
leicht zu treffen, und die Definitionen, die
die Traumaforschung (vgl. hierzu Fischer/
Riedesser 1998, S. 58 ff; Weltgesundheitsorganisation 1993, S. 169 f, 234 f) für
‘traumatische Situationen’ sowie ‘kumulative’ oder ‘sequentielle’ Traumatisierungen anbietet, sind in der Praxis oft nicht
sehr hilfreich und verführen leicht zu ungenauer Interpretation, denn aufgrund
mangelnden Vertrauens und fehlender
Verständigungsmöglichkeiten sind die erforderlichen Differenzierungen für die
31
ZUR EINFÜHRUNG
Diagnostik erschwert. Wir wünschen uns
in diesem Bereich einen kritischen Diskurs auf der Basis eines präzisen Verständnisses – ohne das Leid psychischer
Verletzungen weniger ernst nehmen zu
wollen.
Mit den verschiedenen Erscheinungsformen, in denen Auffälligkeiten zu Tage
treten, fühlt sich die pädagogische Praxis
oft überfordert und sieht in den Symptomen allzu schnell Zeichen von ‘Traumatisierung’. Damit verbunden ist die Hoffnung, die Bearbeitung und die Auseinandersetzung mit den Auffälligkeiten an andere ExpertInnen, sprich TherapeutInnen
abgeben zu können. Aus dem subjektiven
Gefühl, Probleme vor sich zu haben, deren
Bewältigung zu schwierig sind und deren
Lösung viel Kreativität und neue Ideen
verlangen, bietet sich die Zuordnung zu
einem anerkannten ‘diagnostischen Label’
als scheinbarer Ausweg an.
Hinzu kommt die Schwierigkeit, daß
die Konzepte der Traumaforschung nicht
unumstritten sind. So wird zum Beispiel
problematisiert, daß sich die Traumatherapie ausschließlich in westlich-medizinischer Sichtweise auf das Erleben des
Individuums bezieht, Traumatisierung
statt dessen aber vielmehr auch als soziales Ereignis aufzufassen sei ( Traumatisierung, vgl. auch die Kritik des PTSDKonzepts bei Becker 1997, S. 25 ff). Die
Strittigkeit dieser Konzepte legt es nahe,
mit der vorschnellen Zuweisung des Etiketts ‘Traumatisierte’ vorsichtig zu sein,
und die sozialen (also auch lebensgeschichtlichen und kulturellen) Kontexte
und individuellen Besonderheiten der auffälligen Kinder und Jugendlichen zu beobachten und nach angemessenen Betreuungssettings zu suchen. Damit stellt sich
auch immer die Frage, ob vorhandene
Symptome nicht als ‘normale’ Bewältigungsstrategien und angemessener emotionaler Ausdruck schmerzhafter Erfahrungen aufgefaßt werden müssen, denn:
32
„Schmerz oder Leiden sind nicht per se
eine psychische Störung“ (Summerfield
1997, S. 12) und verrückte Reaktionen
sind oft normale Antworten auf ‘ver-rückte’ Lebenssituationen.
Die Fixierung auf die Suche nach dem
traumatisierenden Schlüsselerlebnis läßt
häufig Besonderheiten der jeweiligen aktuellen Situation in den Hintergrund treten. Unsere Erfahrung hat gezeigt, daß
einzelne Jugendliche, die offensichtliche
psychosomatische Schwierigkeiten hatten
und bei denen traumatische Erfahrungen
vermutet wurden, von ihren Lebenssituationen hier im Exil schlicht überfordert
waren. Dies insbesondere deshalb, weil
sie sich gezwungen sahen, einmal erzählte Lebensgeschichten durchzuhalten und
mit diesen ‘Lügen’ dann nicht mehr leben
konnten, weil sie sie daran hinderten, ihre
eigentlichen Schwierigkeiten und Erlebnisse zu thematisieren. Werden die – wie
wir im letzten Abschnitt gezeigt haben –
strukturell bedingten Überforderungssymptome therapeutisch analysiert und
bearbeitet, ohne die aussichtslose aktuelle
Lebenssituation mit einzubeziehen oder
wenn konstruierte Geschichten Therapiegrundlage bleiben, kann es sogar noch zu
einer Verstärkung der Symptome kommen.
Wie bereits hinsichtlich der pädagogischen Beziehung dargestellt, werden auch
an die therapeutische Beziehung hohe
Ansprüche gestellt: Verschiedene Haltungen zu Heilung und Krankheit sollten einbezogen werden und es werden nur Therapieansätze weiterhelfen, die an Vermittlungspunkten zwischen den unterschiedlichen Anschauungen ansetzen bzw. neu
entwickelt werden.
In diesem Zusammenhang stellt sich
auch die Frage, wie sehr und in welcher
Form die TherapeutInnen in die Bemühungen um eine Absicherung des aufenthaltsrechtlichen Status der Betroffenen
mit einbezogen werden können und wol-
S O Z I A L E A R B E I T Z W I S C H E N W E LT E N
len. Während einige diese Außenbezüge
in den Rahmen der Behandlung ganz bewußt als vertrauensbildende Maßnahme
mit einbeziehen, wird dies von anderen
generell abgelehnt mit dem Hinweis darauf, derlei Außenbezüge störten das therapeutische Setting. Die Zuspitzung dieser
ablehnenden Position besteht darin, die
Nichtbehandelbarkeit der KlientInnen zu
erklären, wenn kein sicherer Aufenthaltsstatus gegeben ist, wodurch ein Großteil
der Kinderflüchtlinge aus dem Behandlungsangebot fällt. Die ungünstige allgemeine Situation darf jedoch nicht zu einer
Absage an sozialpädagogische und therapeutische Hilfsangebote führen, sondern
unter Einbeziehung der aktuellen Lebenslage muß gemeinsam nach neuen Wegen
gesucht werden.
6. Resümee
Soziale Arbeit hat es in dem beschriebenen
Berufsfeld mit jungen Menschen zu tun,
die vieles hinter sich haben, die oft
schreckliche Erlebnisse verarbeiten müssen und die hier unter besonders restriktiven Bedingungen leben. Sie sind nicht vorübergehend ausgerissen, sondern haben
sich zur Flucht entschieden und die Stärke
bewiesen, es bis hier zu schaffen. Aber sie
befinden sich in einem Lebensabschnitt, in
dem nach unserer Vorstellung junge Menschen sich in der gesellschaftlichen Umgebung orientieren und nach einem sinnvollen Platz in der Gesellschaft suchen. Auch
wenn in manchen Herkunftsgesellschaften
Jugendliche bereits früher zur Erwachsenenwelt gehören, ist doch die Phase der
Identitätsbildung bei den meisten Kinderflüchtlingen von biographischen Brüchen,
Fluchterfahrungen, erzwungenem Wandern zwischen verschiedenen sozialen Gefügen etc. geprägt. Die meisten – nicht nur
die Opfer von Krieg und politischer Verfolgung wie Becker beschreibt – „sahen
sich gezwungen, frühzeitig die Kontrolle
für ihre Umwelt zu übernehmen. Sie mußten sehr schnell verstehen und erwachsen
werden. (...) Sie mußten auf ihre eigenen
Bedürfnisse nach Schutz verzichten, um
sich anderer bedrohter und verletzbarer
Objekte in ihrem Umfeld anzunehmen. Sie
verwandelten sich in kleine Erwachsene,
die lernten, scheinbar kohärent und logisch zu funktionieren und mit Angst,
Chaos, Verwirrung und innerer Leere umzugehen“ (Becker 1997, S. 25). Im vermeintlichen Zufluchtsland angekommen,
läßt sich beobachten, daß fast alle unter
der Perspektivlosigkeit, der Unsicherheit
und den fehlenden Betätigungsmöglichkeiten leiden, und daß die Situation, in der
sie sich in Deutschland wiederfinden,
strukturell verunsichernd und verstörend
wirkt, die Identitätsbildung behindert und
weitere Identitätsbrüche hervorruft. Die
erforderliche Ruhe und der angemessene
Schutz zur Verarbeitung des Erlebten und
zur weiteren Persönlichkeitsentwicklung
wird ihnen verweigert und sie machen
zum zweiten Mal in ihrem Leben die Erfahrung mit einer Gesellschaft, die ihre
Probleme nicht löst, ihre Erwartungen
nicht einlöst und sie zugleich ihre Probleme auch nicht selbst lösen läßt. Die Art
und Weise, wie unsere Gesellschaft mit jugendlichen Flüchtlingen umgeht, läuft der
Zielsetzung des KJHG entgegen, widerspricht internationalen Abkommen und
muß mitverantwortlich gemacht werden
für die Entwicklung psychischer Auffälligkeiten bei den Betroffenen. Denn es
scheint unter diesen Verhältnissen geradezu eine gesunde Reaktion zu sein, krank zu
werden.
Diese Bedingungen bedeuten im Hinblick auf die beschriebenen, strukturellen
Zwiespältigkeiten besondere Herausforderungen für eine kritisch-reflektierte, lebensweltorientierte Soziale Arbeit. Dabei
können wir auf die Integrationsleistungen,
die Potentiale, das Durchhaltevermögen
und Improvisationstalent der Kinder und
33
ZUR EINFÜHRUNG
Jugendlichen vertrauen. Und wir brauchen Empathie und ein Bewußtsein der
Erklärungsbedürftigkeit unserer eigenen
Selbstverständlichkeiten und Normen, eine behutsame Art, Unterschiedlichkeiten
miteinander zu verbinden, ebenso wie eine
respektvolle Art, auch Grenzen der eigenen Toleranzfähigkeit deutlich zu machen.
Wir können uns auf das Wagnis einlassen, Mut zu machen in aussichtslosen
Situationen, Beistand und Unterstützung
zu geben, auch wenn Vertrauen sich nicht
an den gängigen Gewißheiten festhalten
kann. Denn: pädagogischer Bezug ist in
jeder Lebenslage möglich. Auf Dauer fixierte Beziehungsarbeit bleibt hingegen
allzu oft Konstrukt und Illusion. Wir müssen uns auf Menschen einstellen, die in
Bewegung sind, und sie auch dort ‘abholen’, nicht wo sie stehen, sondern wo sie
sich bewegen. Krisen sind Anzeichen, daß
etwas anders werden muß und zugleich
Chance, etwas anders machen zu können.
Über das Verstehen der Krisensymptomatik können individuelle Betreuungssettings entwickelt werden, die dem Jugendlichen helfen, sich selbst neu zu erfahren
und sich neu zu orientieren. Damit kann
oft eine Stabilisierung unterhalb der therapeutischen Ebene erreicht werden.
In diesem Sinne müssen wir für viele
Schwierigkeiten des Arbeitsfeldes wirklich
neue Lösungen finden. SozialarbeiterInnen/SozialpädagogInnen sind – nach einer
Formulierung von Rosenfeld (vgl. Achter
Jugendbericht, S. 169) „‘soziale Erfinder’
von sozialen Problemlösungen unter
schwierigen gesellschaftlichen Bedingungen“. Dies gilt in unserem Arbeitsfeld in
besonderem Maße.
Dazu bedarf es hauptsächlich zweierlei:
Zunächst eines selbstkritischen und reflektierten pädagogischen Verhaltens, das vermeidet, Illusionen zu schaffen und dennoch versucht, Freiräume zu erkämpfen,
das wirkliches Interesse an den Jugendlichen entwickelt und doch professionelle
34
Distanz aufrechterhält und das auch öffentlich für sie Stellung bezieht, ohne sich
im politischen Terrain zu verfangen. Ausserdem müssen wir nicht nur zu einer
Haltung des Respekts gegenüber Anderen
erziehen, wie es die interkulturelle Pädagogik fordert, sondern wir müssen eine
Haltung des Respekts gegenüber den Kindern und Jugendlichen zu allererst selbst
einnehmen. Dies erfordert Offenheit gegenüber Uneindeutigkeiten und Widersprüchlichkeiten, es bedeutet, Neugier zu
bewahren gegenüber dem Heterogenen
und nicht Zusammenfügbaren; es erfordert, sich immer wieder neu um Verstehen
zu bemühen und schließlich die Fähigkeit,
andere Einstellungen, Erfahrungen und
Orientierungssysteme anzuerkennen, ohne Ambivalenzen einzuebnen. Hierzu bedarf es mit Sicherheit auch der Unterstützung von hier lebenden MigrantInnen.
Kinderflüchtlinge haben individuelle
Schicksale, aber ihre Migration ist auch
Ausdruck einer Globalisierung gesellschaftlicher Problemlagen, die letztlich nur
in der Perspektive eines weltweiten Problembewußtseins gemeinsam angegangen
werden können. In diesem Sinne betont
Auernheimer (1996, S. 245): „Wichtig wären Toleranz, Neugier, Interesse füreinander, die Bereitschaft voneinander zu lernen, und die Fähigkeit, sich produktiv auseinanderzusetzen. Es ginge um die gemeinsame Kontrolle der gesellschaftlichen
Entwicklung“. Für eine solche internationale Perspektive wären Kinderflüchtlinge
mit ihrer Kenntnis verschiedener Teilwelten, mit den Stärken und Erfahrungen, die
sie mitbringen, prädestiniert. Sie haben
zwar schwer an ihren Erfahrungen zu tragen, aber sie sind auch äußerst motiviert.
Viele ihrer Probleme werden von der Aussichtslosigkeit und Ausgrenzung im Zufluchtsland verursacht, und ließen sich lösen, wenn das Zufluchtsland sich entschließen könnte, zum Gastland für Kinderflüchtlinge im Sinne des Kindeswohls
S O Z I A L E A R B E I T Z W I S C H E N W E LT E N
zu werden.
Literatur
Zitierte Literatur:
Achter Jugendbericht: Bericht über Bestrebungen
und Leistungen der Jugendhilfe. Hrsg. von dem Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit. Bonn 1990.
ronto, Seattle 1993.
Zehnter Jugendbericht: Bericht über die Lebenssituation von Kindern und die Leistungen der Kinderhilfen
in Deutschland. Hrsg. vom Bundesministerium für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Bonn 1998.
Tips zum Weiterlesen:
Auernheimer, Georg: Einführung in die interkulturelle
Pädagogik. Darmstadt 1996.
Institut für berufliche Bildung und Weiterbildung e.V.
(ibbw) (Hg.): Arbeitshilfen für die Beratung von
Flüchtlingen. Fernlehrgang. ‘Themen – Lehrbriefe’
Bezug: ibbw, Weender Landstr. 6, 37073 Göttingen.
Becker, David: Prüfstempel PTSD – Einwände gegen
das herrschende ‘Trauma’-Konzept. In: medico international (1997), S. 25-48.
Pax Christi, Asyl in der Kirche e.V., Internationale Liga
für Menschenrechte (Hg.): Ausländische Kinder allein
in Berlin. Berlin 1998. Erhältlich bei Pax Christi Berlin.
Blandow, Jürgen: Über Erziehungshilfekarrieren.
Stricke und Fallen der postmodernen Jugendhilfe. In:
Jahrbuch der Sozialen Arbeit 1997, S. 172-188. Münster 1997.
Peltzer, Karl/Aycha, Abduljawad/Bittenbinder, Elise
(Hg.): Gewalt & Trauma. Psychopathologie und Behandlung im Kontext von Flüchtlingen und Opfern organisierter Gewalt. Frankfurt/Main 1995.
Combe, Arno/Helsper, Werner: Pädagogische Professionalität. Untersuchungen zum Typus pädagogischen Handelns. Frankfurt 1997.
Pfleiderer, Beatrix/Greifeld, Katarina/Bichmann, Wolfgang: Ritual und Heilung. Eine Einführung in die
Ethnomedizin. Berlin, 2. vollst. überarbeitete und erweitere Neuauflage 1994.
Dawes, Andy/Honwana Alcinda: Kulturelle Konstruktionen von kindlichem Leid. In: Medico International
(1997), S. 57-67.
Fischer, Gottfried/Riedesser, Peter: Lehrbuch der Psychotraumatologie. München, Basel 1998.
Giesecke, Hermann: Pädagogik als Beruf. Grundformen pädagogischen Handelns. Weinheim, München 1997.
Psychosoziales Zentrum für ausländische Flüchtlinge
Düsseldorf (Hg.): Kindheit und Exil. Zur psychosozialen Situation und Therapie minderjähriger Flüchtlinge.
Düsseldorf 1992 [Broschüre]. Erhältlich beim PSZ
Düsseldorf.
Quekelberghe, Renaud van: Klinische Ethnopsychologie. Heidelberg 1991.
Kunstreich, Timm: Grundkurs Soziale Arbeit. Sieben
Blicke auf Geschichte und Gegenwart Sozialer Arbeit.
Band I. Hamburg 1998.
Stroux, Marily/Dohrn, Reimer: Blinde Passagiere: es
ist leichter, in den Himmel zu kommen als nach Europa. Frankfurt/Main 1998.
Kunstreich, Timm: Grundkurs Soziale Arbeit. Sieben
Blicke auf Geschichte und Gegenwart Sozialer Arbeit.
Band II. Hamburg 1998 a.
Wirtgen, Waltraut (Hg.): Trauma – Wahrnehmen des
Unsagbaren. Heidelberg 1997.
medico international (Hg.): Schnelle Eingreiftruppe
‘Seele’: Auf dem Weg in die therapeutische Weltgesellschaft; Texte für eine kritische ‘Trauma-Arbeit’.
Frankfurt a. M. 1997.
Oevermann, Ulrich: Theoretische Skizze einer revidierten Theorie professionalisierten Handelns. In:
Combe/Helsper (1997), S. 70-182.
Zentrale Dokumentationsstelle der Freien Wohlfahrtspflege für Flüchtlinge e.V. (ZDWF) (Hg.): Ratgeber –
soziale Beratung von Asylbewerbern. Bonn, Siegburg
1997. Erhältlich bei der ZDWF.
Rüdiger Hänlein, Karoline Korring,
Sebastian Schwerdtfeger
Schami, Rafik: Damals dort und heute hier. Freiburg/
Brg. 1998.
Summerfield, Derek: Das Hilfsbusiness mit dem ‘Trauma’. In: medico international (1997), S. 9-24.
Weltgesundheitsorganisation: Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10 Kapitel V (F)
Klinisch-diagnostische Leitlinien. Bern, Göttingen, To-
35
KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN
1.
Kindheit und Jugend in den
Herkunftsländern
Kinder der Dritten
Welt – Handlungspotentiale und Überlebensstrategien1
Der Beitrag befaßt sich kritisch mit den hier
vorherrschenden Vorstellungen von Kindheit
bzw. Kindheit in der Dritten Welt, in der die
Kinder selbst fast ausschließlich als bemitleidenswerte Geschöpfe, niemals aber als denkende und handelnde Personen in Erscheinung
treten. Mit dieser ebenso eurozentristischen
wie erwachsenenzentrierten Sicht werden die
Kinder der Dritten Welt auf ein Schema reduziert, das ihnen keinen Raum läßt zur persönlichen Entfaltung und Selbstbestimmung. Der
Autor plädiert für eine Anerkennung der Überlebensstrategien von Kindern, die auch ihre
marginalen und illegalen (ökonomischen) Tätigkeiten umfaßt. Er wirbt um Verständnis gerade auch jener Kinder, die nicht ‚hilflos’ erscheinen, und begründet, warum die Unterstützung der Kinderbewegungen in der Dritten
Welt ein verändertes partizipatorisches Verständnis von Kindern und Kindheit(en) – nicht
zuletzt auch im Hinblick auf unsere Konzeptionen von Pädagogik und Sozialer Arbeit – fördern könnte.
Im Mai 1998 hatte ich Gelegenheit, 5 Kinder – 3 Mädchen und 2 Jungen – aus Nicaragua auf einer Pressekonferenz in Berlin in einem aufschlußreichen Dialog mit
deutschen JournalistInnen zu erleben. Sie
36
waren offenkundig verblüfft, wie selbstbewußt und eloquent diese zwischen 12
und 16 Jahre alten Kinder sich präsentierten und ihre Sache vertraten.
Noch verblüffter aber waren sie, als die
Kinder nicht nur berichteten, sie müßten
arbeiten, um sich und ihre Familien am
Leben zu erhalten, sondern daß sie dies
auch gerne täten und darauf stolz seien.
Auch von der aggressiv und ungeduldig
vorgebrachten Frage einer offenbar genervten Journalistin: „Ja, und wenn deine
Mutter allein genug Geld nach Hause
brächte, da würdest Du doch wohl froh
sein, nicht mehr arbeiten zu müssen?“
ließ sich das angesprochene 12-jährige
Mädchen keineswegs beirren: „Wieso
denn?“, sagte sie, „Selbst etwas zu verdienen macht mich doch stolz. Ich lerne, mit
Geld umzugehen. Es bringt mir Unabhängigkeit.“
Auch die anderen Kinder betonten unisono, daß sie das Recht hätten zu arbeiten
wie erwachsene Menschen auch. Natürlich würden sie sich nicht alles gefallen
lassen, sie würden sich wehren, wenn sie
schlecht behandelt würden. Sie bestünden
darauf, daß man sie respektiere und nicht
ihre Würde verletze. Auch wollten sie
selbst bestimmen können, was und wie sie
arbeiten. Und spielen und zur Schule gehen wollten sie auch. Wenn es ihren Familien mal besser ginge, hätten sie hierzu
auch mehr Möglichkeiten. Sie könnten
sich auch eher bessere Arbeiten aussuchen und müßten nicht mehr jede Drecks-
H A N D L U N G S P O T E N T I A L E U N D Ü B E R L E B E N S S T R AT E G I E N
arbeit machen. Aber mit der Arbeit aufhören, nein, da wären sie ja ganz schön blöd
...
Wie viele andere Menschen hierzulande waren die JournalistInnen offenbar tief
durchdrungen von Vorstellungen von Kindheit, die konträr stehen zu dem, was die
Kinder aus Nicaragua von sich erzählten.
Nach diesen bei uns dominierenden Vorstellungen soll ein Kind spielen und, wenn
es alt genug ist, die Schule besuchen. Aber
arbeiten? Nein! Das würde einem Kind ja
die Kindheit rauben. Ein Kind brauche
Schutz, Fürsorge, Liebe, bis zu einem gewissen Grad auch einen Freiraum, wo es
sich spielend erproben und kennenlernen
könne, aber der ‚Ernst des Lebens’, der
komme noch früh genug, damit sollten
Kinder noch nichts zu tun haben. Sie sollten erst gefordert werden, wenn sie reif
seien. Und das zu entscheiden, sei Sache
der Erwachsenen; sie gelten als zuständig
für das Wohl des Kindes.
Wie am Beispiel der Pressekonferenz
deutlich wurde, versperren die hier dominierenden Vorstellungen von Kindheit den
Blick auf die Realität der weitaus meisten
Kinder der Dritten Welt. Unter Realität
verstehe ich nicht nur die Lebenslagen der
Kinder, sondern auch, wie sie selbst diese
erleben, beurteilen und in ihrem Alltag
damit umgehen.
Ich nenne das bei uns vorherrschende
Kindheitsmuster eurozentristisch, da es
unter spezifischen historischen Voraussetzungen in den letzten 300 Jahren in Europa entstanden ist, aber mit dem Anspruch auftritt, universelle Gültigkeit für
alle Regionen dieser Erde zu haben und
mit Macht durchzusetzen versucht wird.
Dies hat zur Folge, daß Kindheitsverläufe,
die nicht dem europäischen – im Kern
bürgerlichen – Muster entsprechen, negativ bewertet und als unzeitgemäß, rückschrittlich oder gar barbarisch und unzivilisiert etikettiert werden. Wenn z. B. mit
Blick auf die Dritte Welt von ‚Kindern oh-
ne Kindheit’ gesprochen wird, mag das gut
gemeint sein, es bedeutet aber, von vornherein auszuschließen, daß Kindheiten
auch anders verlaufen könnten, als uns
üblich oder wünschenswert erscheint. Aus
eurozentristischer Perspektive erscheinen
Kindheitsverläufe in der Dritten Welt, gemessen am europäischen Vorbild, als ausschließlich defizitär und bemitleidenswert.
Diese arrogante Sichtweise wird mit
Blick auf Kindheiten in der Dritten Welt
noch dadurch negativ verstärkt, daß sie
nicht nur eurozentristisch, sondern auch
erwachsenenzentristisch ist. Sie idealisiert
zwar die Kindheit als die schönste Zeit des
Lebens, läßt den Kindern aber wenig Möglichkeiten, ihr Leben in die eigene Hand zu
nehmen. Schon gar nicht ist vorgesehen,
daß Kinder eine wichtige und verantwortliche Rolle im Leben der Gesellschaft spielen ( Jugend). Es soll ihnen gut gehen,
doch was ‚gut’ ist, das behalten sich die
Erwachsenen vor zu entscheiden. Kinder
gelten in erster Linie als Investition in die
Zukunft. Ihr Leben wird programmiert
mit dem Ziel, später das ökonomische
Wachstum zu beflügeln und den Wohlstand zu sichern. Daran wird ihre Gegenwart gemessen, nicht an dem, was die
Kinder selbst aus und in ihrer Gegenwart
machen oder machen wollen. Solange sie
Kinder sind, werden sie nicht als kompetente, sondern als bedürftige Wesen betrachtet.
Wie Alexandra König (1998) auf eindrucksvolle Weise belegt hat, bestimmen
solche Vorstellungen von Kindheit das
Selbstverständnis und Handeln auch der
weitaus meisten deutschen Kinderhilfsorganisationen und des UN-Kinderhilfswerks (UNICEF). Deren Broschüren, Faltblätter und Spendenaufrufe sind voll von
Daten und Darstellungen, die die Situation
der Kinder in der Dritten Welt als eine einzige Manifestation des Elends erscheinen
lassen. Sie machen darauf aufmerksam,
37
KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN
daß unzählige Kinder in extremer Armut
leben müssen, daß sie unter meist unmenschlichen Bedingungen arbeiten, daß
sie unter Kriegen und Umweltzerstörungen leiden, daß sie die Schule nicht besuchen können, daß sie Gewalt und Mißhandlungen ausgesetzt sind, daß sie vom
Land in die Städte oder gar in andere Länder fliehen müssen, daß sie hungern – und
unter elenden Bedingungen sterben.
All dies ist wahr. Und mir geht es auch
nicht darum, diese traurigen und empörenden Realitäten negieren zu wollen. Im
Gegenteil. Ich halte es für wichtig, sie in
aller Klarheit und so anschaulich wie
möglich zu benennen und dabei auch, was
oft versäumt wird, auf die globalen Ursachen aufmerksam zu machen und damit
auch unsere Mitverantwortung anzusprechen. Was ich allerdings für fatal halte
und wogegen ich mich wende, ist die Art
und Weise, in der die Realität der Kinder
verzerrt wird. Die Kinder kommen nur als
bedauernswerte Opfer vor, die unser Mitleid verdienen, nicht aber als denkende
und handelnde Personen, die unsere PartnerInnen sein könnten. Wenn gar suggeriert wird, das Elend der Kinder kulminiere darin, daß sie keine Kindheit in dem
üblichen Sinne hätten, dann vermittelt
dies ein sehr schiefes Bild der Realität der
Kinder und wird vor allem dem, was diese
Kinder bewegt und ihnen wichtig ist, nicht
gerecht.
Ich sehe ein Problem darin, von den
Kindern der Dritten Welt zu sprechen. Ihre Situation weist von Land zu Land, von
Region zu Region, von Land zu Stadt, ob
Jungen oder Mädchen etc., immense Unterschiede auf ( Politik und Literatur, Religion, Ethnizität, Gender).
Ich will mich daher, um wenigstens ein
Minimum an Gemeinsamkeiten zu gewährleisten, auf die Kinder konzentrieren, die von UNICEF als ‚Kinder in Überlebensstrategien’ definiert werden. Darunter werden arbeitende Kinder und sog.
38
Straßenkinder subsumiert, die „marginalen Tätigkeiten der Einkommensbeschaffung“ (UNICEF) nachgehen. Diese Kinder
haben eine wesentliche Gemeinsamkeit
darin, daß sie nicht damit rechnen können, von anderen versorgt zu werden.
Ihre Familien, sofern sie überhaupt noch
für sie existieren ( Familie), leben in der
Regel in großer Armut. Die Kinder sind
meist schon von ihrem 9. oder 10. Lebensjahr an, auf dem Land mitunter noch früher, darauf angewiesen, selbst für ihren
Lebensunterhalt zu sorgen. Nicht selten
sind sie die einzige Einkommensquelle ihrer Familie, oder sie sind, vor allem im
Falle der Mädchen, allein für den Haushalt und die Betreuung der jüngeren Geschwister verantwortlich, um so ihrer Mutter zu ermöglichen, außerhalb des Hauses
einer bezahlten Arbeit nachzugehen oder
landwirtschaftlich tätig zu sein.
Die Situation dieser Kinder ist oft sehr
belastend und überfordert nicht selten ihre
Kräfte. Ich habe mich immer wieder gefragt, was gleichwohl die meisten Kinder
befähigt und dazu bringt, in dieser schwierigen Situation nicht den Mut und die Lust
zum Leben zu verlieren, und woher sie die
Kraft nehmen, täglich aufs neue ihre Situation zu bewältigen und nach Auswegen
zu suchen ( Bewältigung).
Ich bin darauf gestoßen, daß die Kinder
ihren Lebensmut, je nach Situation, vor
allem aus dem Gefühl schöpfen,
– gebraucht zu werden, etwas Nützliches
und Notwendiges zu tun, ihren Familien zu helfen und dafür Anerkennung
zu finden;
– sich mit anderen Kindern gemeinsam
die Situation erleichtern zu können, zu
entlasten, sich nicht ohnmächtig zu
fühlen, wobei oft auch eine Rolle spielt,
daß sie von Erwachsenen bzw. pädagogischen Projekten unterstützt werden,
die sie als Subjekte mit eigenem Willen
und Fähigkeiten ernst nehmen.
Im Laufe der Jahre, die ich mit Kindern
H A N D L U N G S P O T E N T I A L E U N D Ü B E R L E B E N S S T R AT E G I E N
vor allem in Lateinamerika verbracht habe, wurde mir deutlich, daß die weitaus
meisten dieser Kinder nicht ein Problem
darin sehen, für den Lebensunterhalt arbeiten zu müssen, sondern, daß sie oft gezwungen werden, unter unwürdigen und
ausbeuterischen Bedingungen zu arbeiten
und – was nicht minder wichtig ist – daß
ihre lebenserhaltenden Tätigkeiten nicht
als Arbeit anerkannt und sie, wenn sie ihrem Lebensunterhalt auf der Straße nachgehen, diskriminiert und bedroht werden.
Ich will den Versuch unternehmen, zu
begründen, warum die Anerkennung arbeitender Kinder ‚in Überlebensstrategien’
auch die sog. marginalen oder illegalen
Tätigkeiten und somit auch die Tätigkeiten
von sogenannten Straßenkindern einbeziehen muß. Den marginalen Tätigkeiten
wird die Anerkennung als Arbeit vor allem
mit der Begründung verweigert, daß sie im
Unterschied zu (ehrlicher) Arbeit der
Sphäre der Delinquenz angehören, sei es,
weil sie gegen bestehende Gesetze verstossen, sei es, weil sie ‚mangelhaft’ oder ‚sozial schädlich’ seien. Egal, ob die Begründung eher auf legalistische oder auf moralische Kategorien zurückgreift, sie wird
der spezifischen Wirklichkeit der Arbeit
von Kindern nicht gerecht ( Arbeit).
Die Unterscheidung von legalen und illegalen Tätigkeiten ist bei Kindern zumindest aus drei Gründen fragwürdig:
1. Bis zu einer bestimmten Altersstufe ist
jede Form von Kinderarbeit verboten,
also illegal.
2. Die Strafgesetze, die es rechtfertigen,
von delinquenten im Unterschied zu
nicht-delinquenten Tätigkeiten zu sprechen, gelten für Kinder nicht.
3. Da Kindern i.d.R. der legale Zugang zu
Erwerbsarbeit verwehrt ist und sie unter Bedingungen oder zu einem Verdienst arbeiten müssen, der zum Leben
nicht ausreicht, bleibt ihnen häufig
nichts anderes übrig, als auf geächtete
Tätigkeiten auszuweichen.
Wer bei den Überlebensstrategien von
Kindern Arbeit und marginale Tätigkeiten
einander gegenüberstellt, übersieht, daß
das Lebens- und Handlungsfeld der Kinder insgesamt marginalisiert ist und die
Kinder je nach Situation mal die eine, mal
die andere Tätigkeit ausüben, oft sogar
mehrere auf einmal. Durchaus üblich ist
es, daß z. B. ein Junge, der auf dem Parkplatz Autos bewacht, sein Einkommen mit
kleineren Diebstählen aufbessert. Gerade
weil die Arbeit von Kindern im vorherrschenden Bewußtsein generell geächtet
ist, bestenfalls geduldet, andererseits aber
skrupellos in Anspruch genommen wird,
kann sich bei den Kindern keine strukturierte Arbeitssphäre mit allgemein anerkannten Regeln entwickeln. „Alles unterliegt raschen Veränderungen, kann sich
täglich sowohl im positiven als auch im
negativen Sinne wandeln.“ (Schimmel
1993, S. 79)
Nehmen wir als Beispiel die städtische
informelle Ökonomie, in der nicht nur der
größte Teil der Kinder Arbeit findet, sondern auch den sogenannten marginalen
Tätigkeiten nachgeht. Wie die Kinder hier
tätig werden, um zu überleben, richtet
sich nicht nach festliegenden Regeln, Gesetzen oder Berufsbildern, sondern allein
nach den generell vorhandenen Bedingungen. Nicht wenige Tätigkeiten werden
erst durch die Kinder selbst erfunden.
„Wer am Rande der Großstadt an einem
der Müllberge lebt, wird unter Umständen
Glas- oder Metallsammler oder versucht
auf irgendeine andere Art, durch den Abfall der Stadt zu überleben. In barrios
(Stadtvierteln), die weit weg von einem öffentlichen Wasserhahn liegen, wird man
Wasserträger, und im dichten Großstadtverkehr nutzt man die Rotphasen an den
Kreuzungen, um die Windschutzscheiben
der Autos zu putzen. Wo sich überhaupt
keine Arbeitsmöglichkeit bietet, wird sie
manchmal geschaffen, z. B. indem die
Kinder Hindernisse an den Ausfallstraßen
39
KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN
aufbauen, die sie gegen ein Entgelt wieder
beseitigen.“ (ebd.)
Selbst das Betteln, das als Inbegriff von
Nicht-Arbeit oder gar Faulheit gilt, ist alles andere als eine bequeme Strategie des
Überlebens, sondern in der Mehrzahl der
Fälle letzter Ausweg. Unter den bettelnden Kindern, die ich kenne, habe ich keines getroffen, das sich aus freien Stücken
dieser Art von Tätigkeit zuwandte. Im
Normalfall wehren sich die Kinder, „so
lange es irgend geht, gegen diese Arbeit
oder versuchen sie durch im Prinzip sinnlose Tätigkeiten zu tarnen. Das flinke
Scheibenwischen an Kreuzungen z. B.,
das dem Fahrer selten klare Sicht verschafft, dem Kind aber unter Umständen
ein paar Pfennige, ist im Prinzip so eine
verdeckte Form des Bettelns. Ähnliches
gilt für das Bitten um Essensreste in Restaurants oder Imbißstuben, wofür als Gegenleistung erboten wird, die Teller, von
denen die Reste gegessen wurden, zu
spülen. Ein Angebot, auf das die Restaurantbesitzer sicherheitshalber meist verzichten, das aber den Kindern erspart,
sich schämen zu müssen. Die älteren Kinder, denen es nicht mehr gelingt, sich
durch diesen einfachen Trick zu beruhigen, greifen zu einer anderen Taktik. In
kleinen Gruppen ziehen sie zu den Restaurants, gebärden sich, als wollten sie
die Gäste stören, in der Hoffnung als
Beschwichtigung einige Essensreste zu erhalten.“ (a.a.O., S. 94 f.)
Das Betteln ist eine Überlebensstrategie, zu der die meisten Kinder nur greifen,
wenn ihnen keine Alternative bleibt oder
einfällt. Zu betteln ist ihnen unangenehm,
und sie unternehmen alles Erdenkliche,
um den Eindruck einer eigenen sichtbaren Aktivität oder Leistung zu erzeugen.
Auch das Klauen oder die Prostitution ist
fast immer der letzte Ausweg oder eine
Tätigkeit, die andere Arbeiten, die ihre
Existenz nicht sichern, ergänzt. Im Unterschied zum Betteln sind diese ‚margina40
len’ Tätigkeiten eine ‚aktive’ Überlebensstrategie. Sie sind zwar stärker noch als
das Betteln sozial diskriminiert und mit
hohen Risiken belastet, vermitteln den
Kindern aber den Eindruck, selbst aktiv
zu sein und tatsächlich etwas zu leisten.
„Wenn man zu stehlen beginnt, fühlt man
sich nicht mehr als Sklave“, sagen sie (vgl.
Kothes 1993).
Bei Diebstählen entwickeln viele Kinder
eine beachtliche Geschicklichkeit, die, mit
großem Einfallsreichtum gepaart, zu äusserst virtuos gestalteten Handlungen führen kann. „Vor allem die lanceros, die Taschendiebe, und die descuidistas, also jene, die für Verwirrung sorgen, um dann
blitzschnell zuzugreifen, sind wahre Artisten. Letztere inszenieren zum Teil kleine
Schauspiele, um eine günstige Gelegenheit zu schaffen: Sie spielen wüste Schlägereien (bei denen im Eifer des Gefechts
manchmal auch wirklich zugeschlagen
wird), sie wälzen sich in furchtbaren
Kämpfen am Boden, mimen Betrunkene,
die jeden Moment Gefahr laufen, in einen
Marktstand hinein zu fallen, suchen laut
weinend nach ihrer Mutter oder zetteln
mit einem Marktstandbesitzer Streit an,
damit ihre Kollegen an den Nachbarständen unbemerkt stehlen können“ (Schimmel 1993, S. 97).
Wenn ich dafür plädiere, auch die sogenannten marginalen Tätigkeiten von Kindern als Arbeit zu begreifen und anzuerkennen, leugne ich nicht die physischen,
psychischen und moralischen Risiken, die
mit diesen Tätigkeiten verbunden sind.
Auch bezwecke ich damit nicht, Diebstahl,
Prostitution oder Betteln als lohnenswerte
Aktivitäten zu preisen. Meine Überlegung
ist vielmehr folgende: Die ‚marginalen’
Tätigkeiten sind ebenso eine Realität wie
andere Formen von Kinderarbeit, und sie
tragen ebenso wie diese dazu bei, vielen
Kindern und ihren Familien das Überleben zu ermöglichen. Ebensowenig wie die,
inzwischen von UNICEF und der Interna-
H A N D L U N G S P O T E N T I A L E U N D Ü B E R L E B E N S S T R AT E G I E N
tionalen Arbeitsorganisation (ILO) notgedrungen anerkannten, Formen von Kinderarbeit lassen sich die ‚marginalen’
Tätigkeiten durch Verbote, Diskriminierung oder Repression eindämmen. Im Gegenteil. Die Verbote tragen nur dazu bei,
daß sich immer wieder neue Grauzonen
entwickeln, in denen die Kinder nicht nur
arbeiten, sondern ihre Arbeit auch noch
leugnen und verbergen müssen. Dadurch
wird es ihnen erheblich erschwert, den
Anspruch auf ein Mindestmaß an Schutz,
Regelung und Respekt vor ihren Bedürfnissen und Rechten einzufordern.
Mein Plädoyer zielt darauf ab, Verständnis für jene Kinder zu entwickeln,
die von ‚marginalen’ Tätigkeiten leben
(müssen), und ihnen die Gewißheit zu geben, daß ihre Tätigkeit überlebenswichtig
ist und positive Seiten hat. Dadurch soll es
ihnen erleichtert werden, sich ihrerseits
als – unter den herrschenden Umständen
– Teil aller arbeitenden Kinder zu verstehen und sich gemeinsam mit ihnen für
bessere Lebensbedingungen und Arbeitsregelungen einzusetzen, die dazu beitragen, die ‚marginalen’ Tätigkeiten ebenso
wie andere Formen der Arbeit, die die
Kinder unzumutbaren Risiken aussetzen,
langfristig überflüssig machen.
Neben dem ‚pädagogischen’ Argument
hat mein Plädoyer eine logische Basis darin, daß die Arbeit von Kindern altersspezifische Bewertungsmaßstäbe erfordert,
aus zwei Gründen: Die Arbeit von Kindern
hat, selbst wenn sie der Arbeit von Erwachsenen ähnelt, für die Kinder andere
Bedeutungen, und sie wird i.d.R. vorübergehend, d. h. nur im Kindesalter ausgeübt.
Im Grunde wissen wir, daß ein 10jähriger
Junge, der vom Klauen lebt, nicht im selben Sinne wie ein Erwachsener als Dieb
oder ‚kriminelles Subjekt’ zu bezeichnen
ist. Wer es für sinnvoll hält, die ‚normwidrigen’ Handlungen von Kindern (noch)
nicht unter Strafe zu stellen, sollte auch
bereit sein, die ‚marginalen’ Tätigkeiten
als zeitweilige Notlösungen zu akzeptieren. Sie werden nur dann zur dauerhaften
Lebensform, wenn es der Gesellschaft der
Erwachsenen an Bereitschaft mangelt,
den Kindern in ihrem weiteren Leben andere Auswege zu eröffnen und mit ihnen
gemeinsam Alternativen zu entwickeln.
Doch die Anerkennung der ‚marginalen’ Tätigkeiten als Arbeit ist nicht nur
deshalb wichtig, weil den Kindern in der
Situation der Not nichts anderes übrig
bleibt, sondern auch, weil noch in den
normwidrigsten und risikobeladensten Tätigkeiten selbst Elemente möglicher Alternativen enthalten sein können. Wer versucht, die Arbeit aus der Sicht der Kinder
wahrzunehmen, wird feststellen, daß die
Kinder in ihrer Arbeit nicht nur eine unausweichliche Notwendigkeit, eine Last
oder gar ein zu erbringendes Opfer sehen,
sondern immer auch eine Gelegenheit,
sich zu erproben und neue Wege zu finden. Bloß ausführende Tätigkeiten sind
ihnen meist zuwider, mögen sie noch so
viel einbringen. Beinahe immer verknüpfen sie diese mit eigenen Einfällen und
Initiativen. Die ‚marginalen’ Tätigkeiten
sind für Kinder nicht nur deshalb attraktiv, weil sie ‚schnelles Geld’ versprechen
(dies natürlich auch), sondern weil sie eigene Initiativen erfordern und in ihren
Abläufen nicht rigide festgelegt sind. Die
Kinder ziehen Tätigkeiten vor (so weit sie
eine Wahlmöglichkeit haben), bei denen
Arbeits- und Freizeit nicht strikt getrennt
sind, oder sie suchen während der Arbeit
nach Möglichkeiten, miteinander zu spielen und sich zu vergnügen.
Kinder der Dritten Welt sind nicht nur
sehr erfinderisch im Suchen und Finden
von Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten,
sie entwickeln auch Formen gegenseitiger
Hilfe. Dies habe ich z. B. bei 13/14jährigen
Kindern erlebt, die jahrelang vom Müllsammeln und dem Verwerten von Resten
lebten. Sie haben sich eines Tages, unterstützt von ihren Müttern, zusammengetan,
41
KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN
um eine Musikgruppe zu bilden und auf
diese Weise Geld zu verdienen. Als Instrumente griffen sie auf alle möglichen Dosen,
Fässer und Gerümpel zurück, dessen sie
habhaft werden konnten.
Kaum ein Kind, das auf der Straße seinen Lebensunterhalt verdient, findet sich
nicht mit anderen Kindern zusammen.
Diese Spontancliquen haben meist den
Zweck, sich besser vor Gefahren und
schlechter Behandlung zu schützen, sich
ein Dach über dem Kopf zu sichern und
gemeinsam Spaß zu haben. Für Kinder,
die keine Familie haben, werden die Cliquen zu einer Art Familienersatz, die ihnen das Gefühl vermitteln, nicht alleine zu
sein und soziale Anerkennung zu finden.
Nicht selten vermitteln diese Cliquen den
Kindern die nötige psychische Stabilität,
um ihr schwieriges Leben zu meistern
(vgl. Liebel 1998).
In einigen Ländern Lateinamerikas und
Afrikas sind inzwischen sogar soziale
Bewegungen von Kindern entstanden, die
nicht auf einzelne Stadtviertel oder Strassenzüge begrenzt sind, sondern sich über
das ganze Land erstrecken. Sie sind möglich geworden, weil das Leben der Kinder
eingebettet ist in eine Alltagskultur, in der
die Kinder schon früh Verantwortung für
spezifische Aufgaben übernehmen und
Anerkennung für ihre Leistungen finden.
Eine ebenso wichtige Rolle spielt, daß in
diesen Ländern Gruppen und Organisationen von Erwachsenen entstanden sind,
die die Kinder auf ihre Rechte aufmerksam machen und sie dabei ermutigen und
unterstützen, diese einzufordern ( Interessenvertretung). Oft geschieht dies im
Rahmen pädagogischer Projekte, deren
MitarbeiterInnen den Kindern mit Respekt begegnen und ihnen erleichtern, ihren eigenen Fähigkeiten und Handlungspotentialen zu vertrauen (vgl. Liebel 1994,
1997, Schibotto 1993).
Die Kinderbewegungen entwickeln sich
in Gestalt informeller Netzwerke, bei de42
nen nicht formelle Mitgliedschaft oder ein
bestimmtes Programm, sondern gemeinsame Aktivitäten das verbindende Element
sind. Die Aktivitäten umfassen ein breites
Spektrum. Sie reichen von gemeinsamen
Ausflügen und Sommerlagern (Zeltlagern),
über Treffen und Workshops bis hin zu öffentlichen Manifestationen, Kampagnen
und Protestaktionen. Charakteristisch für
die Kinderbewegungen ist, daß sie sich
nicht als ‚politische Kampfmaschinen’ entwickeln, die lediglich auf Disziplin und
Strenge setzen, sondern daß es sich um eine Art Erlebnisgemeinschaften handelt,
bei denen die ernsthafte und verbindliche
Auseinandersetzung mit verschiedenen
Aspekten ihrer Lebenssituation verbunden
ist mit spielerischen und vergnüglichen
Aktivitäten. Die soziale Atmosphäre und
die Kommunikationsformen auf den Treffen und in den Kindergruppen unterscheiden sich deutlich von Veranstaltungen und
Zusammenschlüssen, bei denen Erwachsene den Ton angeben.
Einmal ‚in Bewegung’ geraten, erweisen sich die Kinder als allergisch gegenüber autoritären Umgangsformen und hierarchischen Strukturen. Das gilt im Verhältnis zu Erwachsenen ebenso wie untereinander. In allen Ländern, in denen Bewegungen entstehen, gehört der Anspruch, respektiert zu werden und sich gegenseitig zu respektieren, zu den Grundelementen der sich organisierenden Kinder. Diskriminierende Verhaltensweisen
von Jungen gegenüber Mädchen, von älteren gegenüber jüngeren Kindern, die den
Alltag der Kinder prägen, werden in den
Bewegungen selbst immer wieder in Frage gestellt. Auch wenn für viele Kinder die
Rede von der Solidarität häufig ein Fremdwort ist, mit dem sie wenig anfangen können, ist die gegenseitige Hilfe und das Füreinander-einstehen eine Selbstverständlichkeit.
Soweit in den Kinderbewegungen eher
formelle Strukturen entstehen, werden sie
H A N D L U N G S P O T E N T I A L E U N D Ü B E R L E B E N S S T R AT E G I E N
flexibel gehandhabt und haben basisdemokratischen Charakter. Wahlen werden
sehr ernst genommen und nicht als Formalität betrachtet. Wenn die Kinder ihre
RepräsentantInnen oder ihre Leitungsgremien wählen, legen sie in aller Regel
bestimmte Kriterien zugrunde, die für die
Funktionsweise ihrer Organisation wesentlich sind und die egalitäre Beziehungen und Strukturen gewährleisten. Sie
zeigen sich an Strukturen interessiert, die
nicht nur repräsentativ, sondern auch
partizipativ sind und der persönlichen Initiative und Einflußnahme Spielraum lassen. Die gewählten VertreterInnen werden häufig und freimütig kritisiert und an
ihre Verpflichtungen erinnert. RepräsentantInnen, die die übernommenen Aufgaben nicht erfüllen, werden sehr rasch und
ohne große Umstände durch andere ersetzt.
Die sich organisierenden Kinder entwickeln sehr konkrete Vorstellungen davon, was in ihrem Leben anders und besser sein könnte. Um auf ihre Probleme aufmerksam zu machen, für ihre Rechte einzutreten und ihren Vorstellungen Nachdruck zu verleihen, erfinden sie eine Fülle
von oft recht phantasievollen Aktionen.
Die Kinder organisieren z. B. Kampagnen, machen Straßentheater, rücken
MinisterInnen, BürgermeisterInnen und
anderen ‚Autoritäten’ auf die Pelle, treffen
sich mit JournalistInnen und machen eigene Zeitungen und Radioprogramme.
Auf ihren Treffen erarbeiten sie konkrete
Vorschläge, wie ihre Situation zu verbessern sei und setzen diese zum Teil auch
selbst um. So haben sie z. B. örtliche Solidaritätsfonds geschaffen, um schwer
kranken Kindern eine medizinische Behandlung zu ermöglichen, oder sie haben
bei Schuldirektoren das Recht auf kostenlosen Schulbesuch durchgesetzt. Manchmal setzen sie auch LehrerInnen unter
Druck, mit der diskriminierenden Behandlung der Kinder, die sich eine Schul-
uniform nicht leisten können oder in geflickten Hosen oder ohne Schuhe zur
Schule kommen, Schluß zu machen. In anderen Fällen sammeln sie Geld, um es besonders bedürftigen Kindern zu ermöglichen, sich Schulsachen zu kaufen. Mitunter haben die Initiativen der Kinder
auch schon dazu beigetragen, ihre Lebenssituation und Erfahrungen als arbeitende Kinder im Unterricht ernster zu
nehmen.
Wenn Kinder sich organisieren, stellen
sie früher oder später die bei vielen Erwachsenen verbreitete Haltung in Frage,
über ‚ihre’ Kinder nach Gutdünken zu
verfügen. Sie setzen sich beispielsweise
öffentlich mit Eltern oder anderen Personen auseinander, die die Kinder nötigen,
Dinge zu tun oder unter Bedingungen zu
arbeiten, die ihre Würde verletzen oder
ihre Gesundheit gefährden. Ein häufiger
Anlaß der Kritik ist auch, wenn Eltern den
freien Willen ihrer Kinder nicht respektieren und ihre Bewegungsfreiheit willkürlich beschränken. Nicht selten verwehren
Eltern beispielsweise ihren Töchtern, sich
an Treffen und Aktivitäten der Kinderbewegung zu beteiligen. In diesen Fällen
müssen sie mit ‚Hausbesuchen’ anderer
Kinder rechnen, die die Eltern daran erinnern, daß auch ihr Kind „Rechte hat“.
Über diese Intervention sind die Eltern oft
so perplex, daß sie nachgeben oder ihre
Haltung überdenken.
Eine bemerkenswerte Form der kollektiven Selbsthilfe, die seit einigen Jahren in
Nicaragua und El Salvador praktiziert
wird, ist die sog. Weihnachtsgeld-Kampagne. Kinder, die auf der Straße Zeitungen, Kaugummi etc. verkaufen, Schuhe
putzen oder andere Dienste anbieten, erhöhen in den Wochen vor Weihnachten ihre Preise oder bitten um einen zusätzlichen Betrag. Auf Märkten mobilisieren die
Kinder Händler und Marktfrauen für Patenschaften, oder sie veranstalten in ihren
Stadtvierteln Solidaritätsfeste und Tombolas. Das ‚Weihnachtsgeld’ verstehen die
43
KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN
Kinder jedoch nicht als Almosen, sondern
als Anerkennung für eine Arbeitsleistung.
Häufig wird das Geld nach selbst gewählten und gemeinsam festgelegten Kriterien
untereinander aufgeteilt. Manche Kinder
übergeben das Geld ihren Müttern, andere kaufen davon Spielzeug oder Schulsachen oder legen sich davon einen eigenen Schuhputzkasten oder Bauchladen zu.
Die in den Kinderbewegungen organisierten Mädchen und Jungen fordern ein
Recht auf Arbeit und gleichzeitig Schutz
vor extremer Ausbeutung, Mißhandlung
und sexuellem Mißbrauch. Die Anerkennung ihrer Arbeit ist Voraussetzung für
die Selbstachtung der Kinder und auch für
die Entwicklung von Selbstbewußtsein
und Solidarität untereinander. Durch das
Zusammensein mit anderen Kindern und
Erwachsenen, die sie darin unterstützen,
erfahren sie häufig zum ersten Mal
freundschaftliche solidarische Beziehungen. Auf ihren Treffen und Begegnungen,
in Ferienlagern und Workshops können
sie die Regeln weitgehend selbst bestimmen, nach denen sie leben und agieren.
Sie lernen, den anderen zu respektieren
und machen die befreiende Erfahrung,
selbst respektiert zu werden.
In den Kinderbewegungen ist die Auseinandersetzung mit ihrer Lebenssituation eng mit spielerischen und kulturellen
Ausdrucksformen verwoben. Auf den von
den Kindern organisierten Treffen werden
Ideen, Wünsche und Forderungen freigesetzt, die unter den im Alltag der Kinder
herrschenden Bedingungen schwerlich
hätten entstehen können. Ihre Erfahrungen und Wünsche artikulieren die Kinder z. B. in Wandbildern, eigenen Liedern
oder Theaterstücken. Mitunter veranstalten sie Festivals, Ausstellungen oder Karnevalsumzüge. Auf diese Weise sind im
Laufe der Jahre Umrisse einer eigenen
Kultur der arbeitenden Kinder entstanden, auf die diese mit Recht stolz sind.
Ich habe die Realität der Kinder aus einer Perspektive dargestellt, die hierzulan44
de ungewohnt und gewiß nicht einfach
nachzuvollziehen ist. Mir ging es nicht
darum, ein neues Ideal von Kindheit zu
konstruieren und den Eindruck zu vermitteln, Kinder der Dritten Welt hätten ihre
Nöte und Gefährdungen bereits abgeschüttelt. Worauf es mir ankam war, darauf aufmerksam zu machen, daß es unter
bestimmten Voraussetzungen Kindern
selbst in extremen Notlagen gelingen
kann, das Leben in die eigene Hand zu
nehmen und Menschenwürde und Respekt für sich zu beanspruchen. Dies anzuerkennen bedeutet, den Kindern nicht
länger mit einer Haltung fürsorglicher
Wohltätigkeit zu begegnen, auf Hierarchien im Umgang mit ihnen zu verzichten
und ihre weitestgehende Partizipation in
der Gesellschaft zu akzeptieren und zu
fördern. Es bedeutet aber auch, sich der
eigenen Kindheit nochmals zu versichern
und die Verhältnisse und Behinderungen,
die diese Kindheit geprägt haben, kritisch
zu hinterfragen.
Die Art und Weise, wie Kinder der Dritten Welt sich mit ihren Lebenssituationen
auseinandersetzen, könnte für unser Verständnis von Kindheit und unsere Konzeption von Pädagogik und Sozialer Arbeit
durchaus lehrreich sein. In dem, was sich
als ‚andere Kindheit’ in der Dritten Welt
abzeichnet, scheinen mir vor allem drei
Aspekte wichtig zu sein:
1. Kindsein muß nicht heißen, beschütztes
und versorgtes Objekt des Wohlwollens
Erwachsener zu sein, sondern kann bedeuten, ein ökonomisches und soziales
Subjekt zu sein, das Kompetenzen für
gesellschaftliche Verantwortung besitzt.
2. Kindsein muß nicht heißen, getrennt
und marginalisiert von der Gesellschaft
zu existieren, sondern kann bedeuten,
in der Gesellschaft zu partizipieren und
eine aktive Rolle zu spielen.
3. Kindsein muß nicht heißen, auf eine in
den Händen älterer Generationen liegende Zukunft zu warten, sondern
H A N D L U N G S P O T E N T I A L E U N D Ü B E R L E B E N S S T R AT E G I E N
kann bedeuten, bereits als Kind eine
menschenwürdige und lebenswerte Gegenwart zu beanspruchen.
Eine so verstandene ‚andere Kindheit’
ist auch in der Dritten Welt noch lange
nicht allgemeine Realität, da auch hier
weiterhin paternalistische Strukturen dominieren und die dortigen – in Abhängigkeit und Armut gehaltenen – Gesellschaften nur mühsam existieren können. Aber
eine ‚andere Kindheit’ ließe sich als implizite Botschaft aus den realisierten Handlungspotentialen und Überlebensstrategien der Kinder selbst entschlüsseln (
Ressourcen).
Dies könnte durchaus auch Relevanz
haben für den Umgang mit Kinderflüchtlingen hier. Ich greife nur drei Aspekte
heraus:
Bevor die Kinder und Jugendlichen zu
uns flüchten, haben sie in der Regel bereits gelernt, ökonomisch und sozial wichtige Aufgaben zu erfüllen und eine gewisse Selbständigkeit zu erlangen. Ihre kulturelle Erfahrung ist die, nicht einfach versorgt zu werden, sondern im Leben früh
Verantwortung zu übernehmen. Was sie
erfahren und gelernt haben, wird bei uns
jedoch nicht gefragt und aufgegriffen, sondern negiert und entwertet.
Schule bedeutet für die zu uns geflüchteten Kinder und Jugendlichen nicht einfach, bessere Bildungsmöglichkeiten zu
haben, sondern sie sehen sich in der
Schule auch in einen Zustand versetzt, der
sie erneut unselbständig, eben zu ‘Kindern’ im bei uns dominierenden Verständnis macht. Ihre meist positive Wertschätzung (körperlicher) Arbeit sollte ernst genommen und mit eigenen Arbeits- und
Verdienstmöglichkeiten verknüpft werden.
Auch die hierzulande übliche ‚Freizeit’
mit ihrer Beliebigkeit und Konsumorientierung ist den zu uns geflüchteten Kindern und Jugendlichen fremd. Nicht nur,
weil sie in der Regel nicht über die materiellen Ressourcen verfügen, die sie bräuch-
ten, um diese Freizeit zu goutieren. Ihren
Lebenserfahrungen und wohl auch Wünschen käme entgegen, Betätigungsmöglichkeiten zu finden, die ihnen das Gefühl
vermitteln, anerkannte und nützliche Mitglieder dieser Gesellschaft zu sein.
Anmerkung
1 Dieser Beitrag wurde auf der Fachtagung von
Netzwerk und ISA im September 1998 in Hamburg
als Vortrag gehalten. Daraus resultiert auch der besondere Vortragsstil des Beitrags.
Literatur
König, Alexandra: Bedürftige oder kompetente Kinder? Zur Kritik der Kampagnen des Kinderschutzes
aus der „Ersten Welt“, in: M. Liebel/B. Overwien/A.
Recknagel (Hg.): Arbeitende Kinder stärken. Plädoyers für einen subjektorientierten Umgang mit Kinderarbeit., Frankfurt/M. 1998, S. 173 ff.
Kothes, Christoph: Ein Leben auf der Straße. Unterdrückte Kindheit. In: Christliche Initiative Romero
(Hg.): Unser Leben ist kein Spiel. Straßenkinder in
Lateinamerika. Münster 1993, S. 4 ff.
Liebel, Manfred: Wir sind die Gegenwart. Kinderarbeit
und Kinderbewegungen in Lateinamerika. Frankfurt/
Main 1994
Ders.: Kinderrechte und Kinderbewegungen in Lateinamerika, in: Neue Praxis, 27. Jg., H. 2/1997, S. 117
ff.
Ders.: „Straßenkinder“ – soziale Subjekte mit gemeinsamen Interessen? In: Institut für soziale Arbeit (Hg.):
5 Jahre „Straßenkinder“ im Blick von Forschung und
Praxis – eine Zusammenschau, Münster 1998, S. 73 ff.
Schibotto, Giangi: Unsichtbare Kindheit. Kinder in der
informellen Ökonomie, Frankfurt/M. 1993
Schimmel, Kerstin: Straßenkinder in Bolivien. Darstellung und Problematisierung vorhandener Betreuungsangebote unter besonderer Berücksichtigung
der Lebensbedingungen der Straßenkinder in Cochabamba. Diss. an der Pädagogischen Hochschule
Flensburg, Flensburg 1993
Manfred Liebel
45
KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN
Kindersoldaten
Im folgenden Artikel sollen die Auswirkungen
von Kriegsereignissen, aber auch einige (zum
Teil gescheiterte) Versuche zur psycho-sozialen
Reintegration am Beispiel eines ehemaligen
Kindersoldaten aufgezeigt werden, die im Falle
des jugendlichen Carlos schließlich zur
Emigration führten.
des Gungunhane setzten Kinder als Krieger ein. Schon bei Shakespeare erzürnt
sich Llewellyn in „Heinrich V.“ nach der
Schlacht von Agincourt darüber, daß die
Franzosen Jungen getötet hätten, die der
englischen Armee als Waffenträger dienten.
2. Carlos – Ein Kindersoldat
„Ein alter Mann und ein Junge gehen die
Straße entlang. Sie folgen ihr gleichförmig trottend als wäre dies von Geburt an ihre einzige
Aufgabe gewesen, vom nirgendwo zum irgendwo, stetig in Erwartung des kommenden, niemals ankommend, on the road.“
(Mia Couto:“Terra sonámbula“, S.9)
1. Einleitung
Die genaue Zahl der Kindersoldaten auf
der Welt ist unbekannt. Einige Statistiken
sprechen allein für das Jahr 1988 von
200.000. Seit dem Ende des Zweiten
Weltkrieges gab es weltweit 150 größere
und 400 kleinere Kriege, fast alle auf den
Territorien der Entwicklungsländer. In
den achtziger Jahren wurde die Zahl der
Zivilopfer bei kriegerischen Auseinandersetzungen auf 85 % geschätzt (Werning
1998). Auf das auslaufende 20. Jahrhundert zurückblickend wurde konstatiert,
daß dies anfänglich von FortschrittsoptimistInnen als „Jahrhundert der Kinder“
proklamierte, für Millionen Kinder unwiderruflich zu einem Jahrhundert des Leidens und Elends wurde (Fischer/Riedesser
1998).
In der Geschichte der Menschheit gibt
es verschiedene Hinweise auf den Einsatz
von Kindern als Krieger, Soldaten, Waffenträger, Spione. Verschiedenste Autoren
wie Aries (1962), Hietamen (1983), Garbarino und Kostelyn (1993) – vgl. auch
Straker 1998 – beschreiben diese Praktiken sowohl für Afrika als auch Europa.
Die Heere der Zulus unter Shaka, auch die
46
Der Darstellung des folgenden Fallbeispiels liegen Aufzeichnungen zugrunde,
die als Ergebnis einiger psychotherapeutischen Sitzungen mit einem ehemaligen
Kindersoldaten zustande kamen. Sie ist eine Zusammenstellung einiger sehr kurzer
Teile der Sitzungen sowie seiner eigenen
Darstellungen. Zum besseren Verständnis
werden des weiteren einige rückblickende
Überlegungen angestellt.
Carlos Leben ist zunächst geprägt von
einer glücklichen, frühen Kindheit. Er
wird in einem Dorf 300 km nördlich Maputos, der Hauptstadt Mosambiks, geboren. Sein Vater hat drei Frauen und elf
Kinder. Carlos ist Erstgeborener der ersten Frau des Vaters. Bei seiner Geburt
erhält er seinen traditionellen Namen, den
seines Großvaters Kochana. Dieser Name
wird ihm bei einer Zeremonie, nach Deutung des Orakels ‘Tilholo’ durch den Heiler des Dorfes verliehen, gemäß dem darin vom verstorbenen Großvater geäußerten Wunsch. Im Süden Mosambiks ist die
Weitergabe eines Namens an ein Kind traditionell von äußerster Wichtigkeit, da so
symbolisch eine Verbindung zwischen den
Lebenden und den Toten hergestellt wird.
Das Kind, das den Namen eines Ahnen erhält, wird nun durch ihn beschützt und in
gewisser Weiser lebt auch der Verstorbene im neuen Leben fort. Auch Carlos fühlt
sich auf diese Weise beschützt.
Als Carlos 9 Jahre alt ist, wird sein Dorf
Ziel eines Massakers, bei dem unzählige
Menschen ums Leben kommen. Carlos
sieht seinen Vater vor seinen Augen ster-
K I N D E R S O L DAT E N
ben. Er und seine drei Geschwister werden von den matsangas entführt. Gemeinsam mit einem Bruder kommt er in ein
Militärlager. Die Schwester wird von den
Soldaten ständig sexuell mißbraucht. Carlos weiß bis heute nicht, ob sie den Krieg
überlebt hat. Von den anderen als Frau eines Soldaten anerkannt, könnte sie vielleicht am Leben geblieben sein. Carlos
wird einer militärischen Ausbildung unterworfen, wird Soldat. Er kämpft 4 Jahre
lang und weiß heute nicht mehr, wieviele
Leben er auslöschte. Vor den Kämpfen
trinken sie in Wasser aufgelöstes Schießpulver, um Mut zu bekommen. Stets behält er eine Kugel in seiner Hosentasche.
Diese Kugel ist für ihn selbst bestimmt.
Bei einem Angriff auf einen Autokonvoi
wird er verwundet und von den Regierungstruppen gefangen genommen. Während der Verhöre wird er gefoltert und gezwungen, die Regierungssoldaten zu den
Stützpunkten der Rebellen zu führen. Dabei gelingt es ihm eines Tages zu flüchten.
Carlos ist nur nachts unterwegs, am Tage
versteckt er sich. Von den Feldern stiehlt
er sich etwas zu Essen. Es gelingt ihm so,
nach dreitägiger Flucht die Grenze nach
Südafrika zu überqueren. Er kommt dort
in ein Flüchtlingslager.
Nach dem Krieg kehrt er freiwillig, und
ohne auf den offiziell von der UNHCR (United Nations High Commission for Refugees) für die Flüchtlinge organisierten
Transport zu warten, nach Mosambik zurück. In der Hoffnung, die Fragmente seines Lebens wieder zusammenzusetzen,
gelangt er in sein Dorf: „Ich wollte meine
Geschwister wiedertreffen, wenn sie noch
lebten. Ich wollte zu den Plätzen gehen,
wo die Mitglieder meiner Familie umgekommen waren. Ich wollte die Hütten
meiner Familie wiederaufbauen und wieder Ziegen aufziehen.“ ...
Er will die Familie wieder zusammenführen und den Platz seines Vaters, seines
Großvaters einnehmen. „Ich habe es satt,
Flüchtling zu sein, zu essen ohne zu arbeiten.“...
Inmitten des Chaos, das der Krieg hinterlassen hat, sucht Carlos nach Ordnung
und Sicherheit. Doch zu dem Chaos, das
ihn umgibt, kommt noch das, das in ihm
herrscht. Während des Krieges hat er
Erfahrungen gemacht, die seine schlimmsten Phantasien übertreffen.
Als Vierzehnjähriger kehrt Carlos nun
in sein Dorf zurück, um die Wirklichkeit
auszutesten, denn er will nicht glauben,
daß all seine Referenzpunkte, seine Großmutter, seine Eltern, seine Geschwister,
die Nachbarn, die Hütten, die Plätze, an
denen er spielte, seine Ziegen, daß all dies
vernichtet sein soll. Carlos gelingt es jedoch nicht, die extremen Veränderungen
in seiner Umwelt zu bewältigen. Dies führt
zu einer Erschütterung der Wahrnehmung der äußeren Welt und – „als Begleiterscheinung – zu einer Erschütterung der
Identität seines Selbst“ (Grinberg/Grinberg 1990).
2. Psycho-soziale Betreuung und
Psychotherapie
Das saftige Grün von Carlos Dorf hält
zweierlei Bedrohungen verborgen: äußerlich Antipersonenminen, die alles zur Einöde werden lassen; innerlich ein Wiedererwachen von Carlos Verlusterleben. Er
muß sich erneut dem Verlust seiner Eltern, der Familie, seiner Tiere, seiner Hütte etc. stellen. Schuldgefühle, seine Familie nicht beschützt zu haben, brechen in
ihn hervor. Inhalte früherer entwicklungsphasenspezifischer Phantasien erleben eine Aktualisierung, besonders die seinem
Vater gegenüber. Die Realität findet Anschluß an seine phasenspezifische, libidinöse und aggressive Phantasiewelt. Dadurch entsteht eine sog. maligne Verlötung von Innen- und Außenwelt, die seiner Rückehr und Reintegration entgegenwirkt (vgl. Riedesser u. a. 1998).
47
KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN
Carlos bezieht sich im therapeutischen
Rückblick auf seine Kindheit auf das
Karingana wa Karingana, ein Ritual, bei
dem die Alten eine Nacht lang allen Anwesenden am Feuer Geschichten erzählen:
„Ich habe gern da gesessen und den Geschichten gelauscht. Ich erinnere mich gut
an alle diese Geschichten.“ Und Carlos beginnt, die Geschichte eines armen Jungen
zu erzählen, der eine Prinzessin heiraten
will. Und obwohl es der arme Junge in
Carlos Geschichte schafft, dem König seine Intelligenz und Kreativität zu beweisen, die Rivalen schlägt und die Angebetete heiratet, ist in den Augen und dem
Gesichtsausdruck von Carlos keine Befriedigung zu erkennen, sondern nur Traurigkeit und große Distanz zum Erzählten.
Seine Haltung zeigt Passivität, Desillusion,
Pessimismus und versteckte Kritik mir als
Therapeut gegenüber: „Wozu soll das hier
gut sein, Geschichten zu erzählen?“; Carlos glaubt nicht an die Zukunft.
Ein Trauma wird in der Wissenschaft
als „vitales Diskrepanzerlebnis zwischen
bedrohlichen Situationsfaktoren und den
individuellen Bewältigungsmöglichkeiten
verstanden, das mit dem Gefühl von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis
bewirkt“ (Fischer/Riedesser 1988 ). Viele
Kinder und Jugendliche, die in Kriegsgebieten leben, sind sogar einer Retraumatisierung ausgesetzt, d. h. sie leiden unter
mehrfach wiederholten Psychotraumen,
die die Widerstandsfähigkeit der Betroffenen schrittweise untergraben und somit
besonders destruktiv auf die seelische Gesundheit wirken. Der amerikanische Psychologe Winnicott definiert ein Trauma als
ein Erlebnis, welches die Kontinuität der
individuellen Reifung und Entwicklung
unterbricht. In der Therapie bieten beispielsweise Märchen die Möglichkeit, im
Spiel traumatische Erlebnisse anschneiden zu können. Die Kinder erschaffen in
48
ihnen normalerweise eine enge Verbindung zu den durchlebten traumatischen
Momenten, zu ihren Träumen, Vorstellungen und auch ihrem Selbstbild. Wir haben
in unserer eigenen psychotherapeutischen
Arbeit beobachtet, daß Kinder und Jugendliche dabei oft auf ihre früheren, positiven Erinnerungen zurückgreifen, daß
sie trotz alledem noch Vertrauen in sich
selbst haben, sich in ihren Geschichten
mit den positiven Charakteren identifizieren und den Geschichten in den meisten
Fällen ein positives Ende zuerkennen.
Dies ist für uns immer ein positives Indiz
dafür, daß sie noch über vielerlei beschützende Faktoren in sich verfügen.
Carlos verläßt notgedrungen sein Heimatdorf und geht in das Dorf Mandhakaze, wo er in der Folgezeit in einem Kinderzentrum lebt. Das erste Ziel der psychosozialen Intervention besteht darin,
ihm in einer ihm anscheinend feindlich
gesinnten Welt ein Gefühl von Sicherheit
und Routine zu verschaffen. Carlos beginnt die Schule zu besuchen, gibt aber
bald wieder auf, da er mit 15 Jahren der
Einzige inmitten Siebenjähriger ist. Obwohl er weder schreiben noch lesen kann,
entspricht sein geistiger Entwicklungsstand dem eines 15jährigen Jugendlichen,
wodurch er in der Klasse nicht gut angesehen ist. Die Schule bleibt nicht der geeignete Ort, seine individuellen Erfahrungen anbringen zu können. So läßt man ihn
in eine Ausbildung als Tischler wechseln.
Für Carlos und andere ehemalige Kindersoldaten ist es sehr wichtig, Modalitäten aufzubauen, um sich in die Zukunft
hereinversetzt sehen zu können: Hoffnung
schöpfen zu können, Erwartungen an die
Zukunft zu haben, aus der passiven und
pessimistischen Grundhaltung herauskommen zu können, um so wieder innere
Freiheit zu gewinnen. Es gestattet außerdem ein Ende der Zensur, die ihnen während der Gefangenschaft als Soldat und/
oder Flüchtling untersagte, anders zu
K I N D E R S O L DAT E N
denken, als von der Umwelt diktiert wurde. Die TherapeutInnen, die SozialarbeiterInnen und die kommunalen Persönlichkeiten spielen in diesem Prozeß ebenfalls
eine wichtige Rolle, da sie als positive Modelle fungieren, als Referenz für das geschwächte Ego der Kinder. Der durch den
Krieg hervorgerufene ideologische Druck
schuf Mechanismen zu einer Pseudoidentifizierung dieser Kinder in einer ‘Soldatenidentität’. Diese Pseudoidentifizierung
schützt den Kindersoldaten davor, sich
solche Fragen zu stellen wie: „Wer bin
ich?“ und „Was will ich“? Diese Identifizierung liefert dem Soldaten eine bequeme Antwort, eine ‘prêt à porter- Identität’,
die ihn vor unangenehmen Fragen zu seiner Zukunft und seiner Verantwortung für
sein Handeln schützt. Das Bild, das die
Therapeuten von Carlos und anderen Kindern gewinnen, trägt dazu bei, das Bild,
das er selbst von sich gewonnen hat, zu
korrigieren. In der Arbeit mit Carlos versuchen die Therapeuten, die Bruchstücke
der Identifizierung, die er zugunsten der
des Soldaten aufgegeben hat, herauszufinden (vgl. Efraime Jr. 1996).
Carlos hat sein Selbstvertrauen, das in
seine Eltern, Freunde und in die Gemeinschaft und – in Erweiterung dessen –
in all diejenigen, die eine gewisse Autorität darstellen könnten, verloren. Während des Krieges hat er Erfahrungen sowohl als Opfer als auch erzwungenermassen als Täter gemacht, wobei es eine
große Diskrepanz zwischen den bedrohenden Faktoren der erlebten Ereignisse
und der Fähigkeit, diese Situation bewältigen zu können, gibt. Infolgedessen kommt
es zu einem Gefühl großer Hilflosigkeit
und Verlassenheit, zur Erschütterung des
Selbstverständnisses und dem Verständnis der Welt.
Das Ziel der psycho-sozialen Intervention besteht darin, Carlos einen sicheren
Raum zu schaffen, ihn vor zusätzlichen
traumatisierenden Faktoren zu schützen
und ihm die Möglichkeit zur kognitiven
Orientierung zu bieten, um ihn seinen
möglichen Wahrnehmungsverzerrungen
sowie deren Ausgestaltung mit individuellen Phantasien nicht allein zu überlassen
(vgl. Fischer/Riedesser 1998). Dieses Ziel
wird jedoch nicht erreicht: Carlos kann
aufgrund seines Alters und aufgrund fehlender Bereitschaft seitens der Regierung,
Klassen zur speziellen Förderung von Kindern und Jugendlichen einzurichten, die
wegen des Krieges über Jahre hinweg die
Schule nicht besuchen konnten, nicht in
die Schule integriert werden; die Tischlerausbildung muß wegen fehlender Finanzierungsmöglichkeiten zur Weiterführung des Projekts abgebrochen werden
und das Projekt zur Arbeit mit ehemaligen
Kindersoldaten und -milizionären wird
1995 abgebrochen. Trotz allem schafft es
Carlos als einer von wenigen Jugendlichen, einen Platz in einem Ausbildungszentrum in Maputo zu erhalten. Dieser
Einschnitt bedeutet für ihn neuerlich einen Vertrauensbruch gegenüber seinem
Therapeuten und den Erwachsenen im
allgemeinen. Die Verbindung Klient/Therapeut wird zerbrochen.
Trotzdem hat Carlos versucht, ein bißchen Würde wiederzuerlangen, was einhergeht mit der Fähigkeit, für sich selbst
zu sorgen. So will er gern in Manjacaze
bleiben, verfügt jedoch allein nicht über
die dazu notwendigen Mittel. Die einzige
Hilfe, die ihm die Therapeuten zukommen
lassen können, bedeutet jedoch von neuem
eine Entwurzelung: ein Alternativplatz in
der Stadt Maputo. Carlos reagiert darauf
mit einer Depression, die mit einer extrem
arroganten und selbstherrlichen Haltung
gegenüber den anderen alterniert. In Maputo nimmt er sehr unregelmäßig an den
Therapiesitzungen teil, bleibt zwar im Projekt, allerdings mit einem anderen Therapeuten. Bei den Therapiesitzungen taucht
ein sehr wirkungsvollen Faktor auf. Es ist
die Möglichkeit für Carlos, die Verbindung
49
KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN
mit einer ihm innewohnenden Person herzustellen, die ihn beschützen kann. Diese
Person ist sein Großvater Kochana. Bei der
Deutung der im Kontakt mit seinem Großvater durchlebten traumatischen Ereignisse sucht Carlos die Hilfe des Therapeuten,
so bei Fragen wie „Liegt im Tod der Eltern
eine Bedeutung?“; „Wie eine Bedeutung
für Tod und Schmerz finden, den er erzwungener Weise verursachte?“; „Wo liegt
der Sinn darin, daß er selbst nicht auch gestorben ist?“; Warum hatte er nicht den
Mut, die Kugel, die er für sich selbst aufbewahrt hatte, auch zu nutzen und seinem
Leid ein Ende zu machen?“; „Warum hat
er es nicht geschafft, sich wieder an einem
neuen Ort anzusiedeln und dauerhafte
Freundschaften zu schließen, da immer,
wenn er begann sich sicher zu fühlen, es
einen ihm feindlich gegenüberstehenden
Einschnitt gab?“
Durch die Therapie lernt Carlos wieder,
das Leben zu lieben und wertzuschätzen.
So hat ihn sein Großvater beschützt und
ihm geholfen, weiterzuleben. Im Schutze
seines Großvaters gelingt es Carlos, sich
den Erinnerungen an seine Kindheit, dem
Schmerz über die erlebten Verluste zu
stellen. Carlos erkennt seine Unfähigkeit,
seinem Vater zu helfen, ihm vor dem Tode
zu beschützen als etwas von ihm Unbeeinflußbares an und kann so sein Schuldgefühl aufarbeiten. Zu dem Zeitpunkt, als
wir mit ihm die Greueltaten aufarbeiten,
die man ihn zwang, als Soldat zu begehen,
und als er gerade anfängt, sich in seiner
Position als Opfer zu erkennen, das zum
Töten und Zerstören gezwungen worden
war, erhält Carlos die folgenden drei Informationen:
1. Daß die Regierung die Wehrpflicht für
alle Jugendlichen zwischen 18 und 23
Jahren wiedereinführt, unabhängig davon, ob sie schon als Kindersoldat dienen mußten oder nicht. Das bedeutet,
daß Carlos wieder eingezogen werden
würde!
50
2. Daß das Ausbildungszentrum, in dem
er lebt und arbeitet durch fehlende Mittel und Fehlmanagement vor der
Schließung steht, und er so kurz davor,
wieder auf der Straße zu landen.
3. Daß sein Kunsttherapeut einen Studienplatz erhalten hat und das Land für
fünf Jahre verlassen würde.
Dies führt bei Carlos zu erhöhten
Angstgefühlen. Er erzählt mir noch einmal die Geschichte aus dem Karingana
wa Karingana, die des armen Jungen, der
die Prinzessin heiraten möchte. Nur ist die
Version jetzt eine andere: so schafft es der
Junge trotz seiner Intelligenz, Hingabe
und Kreativität nicht, die Rivalen zu besiegen. Immer wenn er glaubt, sie besiegt zu
haben, erscheinen neue. Er erzählt mir
diese Geschichte, als wäre sie einer seiner
Träume gewesen. Ich verstehe nicht
gleich ihre volle Bedeutung. Ich glaube
schon daran, daß Carlos sich in eine Gasse
ohne Ausweg gedrängt fühlt und keine
Lösung für seine Probleme sieht. So bitte
ich ihn, doch mit dem ihn beschützenden
Großvater zu sprechen. Carlos schließt die
Augen und bleibt so einige Zeit bewegungslos sitzen. Er berichtet mir jedoch
nicht, was der Inhalt des Zwiegesprächs
mit seinem Großvater ist. Am Ende der
Sitzung, als ich mit ihm den nächsten Termin verabreden möchte, sagt mir Carlos,
daß er nicht wisse, ob er wiederkäme. Er
öffnet einen Umschlag und holt eine Munitionskugel hervor – seine Kugel –, drückt
sie in meine Hand und holt auch ein blaues Dokument heraus und zeigt es mir:
„Das ist mein Paß. Ich gehe nach Südafrika oder vielleicht in ein anderes reiches
Land, wo ich gut leben kann, ohne Angst,
jeden Morgen, beim Erwachen. ...“
3. Kindersoldaten in Deutschland
Die Zahl der ehemaligen Kindersoldaten,
die in Deutschland leben, ist nicht bekannt. In Deutschland lebende Kinder-
FA M I L I E
soldaten haben zusätzlich zu den im Krieg
erlebten traumatischen Erlebnissen unter
solchen Belastungen wie Trennung, Entwurzelung und unsicherem Aufenthaltsstatus zu leiden. Sie tauchen auch nur
dann in ambulanter therapeutischer Behandlung auf, wenn sie bereits eine „lärmende Symptomatik“ aufweisen. Bei der
Anamneseerhebung ist es von großer Bedeutung, alle Belastungsfaktoren als eine
Entwicklungslinie nachzuzeichnen, d. h.
aus der Vorkriegszeit, den Erlebnissen
während des Krieges, der Migration und
des Lebens in Deutschland. Es muß erreicht werden, ihre Bedeutsamkeit für die
Entstehung der Symptomatik und für die
Therapie herauszuarbeiten. Oft wird aber
die Anamneseerhebung von den Betroffenen als bedrohlich erlebt. Dies geht einerseits auf vorherige Erfahrung im Umgang mit Behörden zurück, anderseits auf
Unverständnis der Rolle des Psychotherapeuten. Erst später, im Laufe der Therapie, bildet sich langsam der psychodynamische Hintergrund heraus und der
Leidensdruck kann zum Thema werden
(vgl. Walter 1998).
Das therapeutische Konzept muß zunächst davon ausgehen, daß es für diese
Kinder und Jugendlichen am wichtigsten
ist, einen sicheren Raum zur Verfügung zu
haben. Ohne sicheren Aufenthaltsstatus
sind belastende Ereignisse kaum zu besprechen, und so bleiben diese Kinder und
Jugendlichen ihren Wahrnehmungen und
Phantasien meist allein überlassen. Oft
sind Regressionen im Sinne von Verlieren
bereits erlernter Fertigkeiten ein Bemühen, in der Hoffnung auf einen Neuanfang
in den sicheren Hafen früherer prätraumatischer Entwicklungsphasen zurückzukehren. Regressionen können auch einen
Hilferuf an die Umwelt bedeuten.
Literatur
Efraime Jr., B. (Hsg ): Assistencia Psico-Social às Vítimas da Guerra. Afya, 1996
Fischer, G./Riedesser, P.: Lehrbuch der Psychotraumatologie. Reinhardt. München/Basel 1998
Grinberg, L./Grinberg, R.: Psychoanalyse der Migration und des Exils. Verlag Internationale Psychoanalyse 1990
Herzog, J.: Übermittlung eines Holocaust Traumas an
die zweite Generation. In: Psyche, 50 (6), 1996
Riedesser, P./Fischer, G./Schulte-Markwort, M.: Zur
Entwicklungspsychologie und -pathologie des Traumas. In: Streeck-Fischer, A. (Hg.): Adoleszenz und
Trauma. Vandenhoeck & Ruprecht 1998
Straker, G./Moosa, F.: Child Soldiers in South Africa:
Past, Present and Future Perspectives. In: Children,
War and Persecution – Rebuilding Hope 1998
Werning, R.: Children in Situations of Armed Conflict:
Reflections on a Burning Issue. In: Children, War and
Persecution – Rebuilding Hope 1988
Boia Efraime Junior
Familie
Im folgenden werden Kennzeichnungen unseres Familienbegriffs unter besonderer Berücksichtigung ethnologischer Forschungen dargestellt sowie ein kulturgeschichtlicher und sozioökonomischer Abriß über die Herausbildung
patriarchaler Familienstrukturen und ihrer
Gewaltverhältnisse vorgenommen. Sichtbar
wird dadurch der Antagonismus von Familie
und Kultur, virulent besonders in der Adoleszenz, und die Ungleichzeitigkeit von Tradition
und Anpassung unter den Bedingungen von
Migration.
1. Begriffsklärung
Von Familie zu sprechen, ist erst sinnvoll,
wenn es sich dabei nicht nur um Paare
oder Gruppen von Erwachsenen handelt,
51
KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN
sondern auch Kinder einbezogen sind. Die
kulturell unterschiedlichen Vorstellungen
von der Zeugung und Erziehung von Kindern warfen denn auch diejenigen Fragen
auf, die ein wissenschaftliches Interesse
an Familie erst hervorgebracht haben.
Daß es in allen Gesellschaftsformen familienartige Verbindungen gegeben habe,
wird von den soziologischen, ethnologischen und historischen Forschungszweigen als zentrales Forschungsergebnis herausgestellt. Die Enzyklopädia Britanica
definiert Familie daher wie folgt: eine
Gruppe von Personen gebunden durch
Heirat, Blutsbande oder Adoption in einem Haushalt lebend und untereinander
gemäß ihren sozialen Positionen als Ehemann und -frau, Mutter und Vater, Sohn
und Tochter, Bruder und Schwester interagierend. (Übersetzung J.C.) Familie ist
nicht gleichzusetzen mit Haushalt, der
beispielsweise auch Bedienstete umfassen
kann, und nicht mit Verwandtschaft, die
meist aufgeteilt in verschiedenen Haushalten lebt. Gemeinhin wird Familie nicht
ohne verheiratetes Paar aufgefaßt, aber
der Kern der Familie ist die Eltern-Kind
Beziehung, die auch ohne eheliche Bindung existiert.
In den meisten menschlichen Gesellschaften sind Kernfamilien, bestehend aus
zwei Ehegatten und deren Kindern, miteinander zu größeren und komplexeren
Aggregaten verbunden, wie die polygame
Familie, die erweiterte Familie oder die
joint family. Die polygame Familie bezeichnet eine Gruppe, die aus zwei oder
mehr als zwei Kernfamilien besteht, die
durch eine polygame Heirat miteinander
verbunden sind und daher entweder den
Vater oder die Mutter miteinander gemeinsam haben. Die erweiterte Familie
besteht aus zwei oder mehr Kernfamilien,
die durch eine Ausweitung der ElternKinder-Beziehung miteinander verbunden
sind und einen gemeinsamen Wohnsitz
haben. Derselbe Begriff wird auf die Ver52
bindung der Kernfamilie eines verheirateten Erwachsenen mit jener seiner leiblichen Eltern angewandt. Die joint family
wiederum umfaßt die Familien mehrerer
Geschwister, die auf demselben Landstück
oder in demselben Haus leben und arbeiten, aber nicht die zeitliche Fortdauer haben wie die erweiterte Familie (Panoff/
Perrin 1982).
Die Tendenz zur Pluralisierung von Lebensformen in modernen Gesellschaften
beeinflußt auch die Familienbildung. Sukzessive Familienbildung, wenn nach erfolgter Scheidung ein Elternteil durch
Wiederverheiratung und weiterer Kinder
die Familie erweitert und die ehemaligen
Partner und Großeltern mit einbezieht.
Einelternfamilien, meist Mutter und Kinder, sind keine Seltenheit. Ob die zunehmende Fragmentierung der Familienbildung zu ihrer Auflösung führt, wie angesichts der verstärkten Individualisierung
und Pluralisierung von Lebensläufen kontrovers diskutiert wird, kann nur die Zukunft beantworten. Nach dem Familienbericht der Bundesrepublik von 1994 sind
nur noch 1/3 der Haushalte in der Bundesrepublik Deutschland (Ost und West)
Familienhaushalte im Sinne der ZweiEltern-Kind-Einheit (Notz 1996).
2. Historische und sozio-ökonomische
Einflüsse auf die Entstehung der
modernen Familie
Neue Erkenntnisse der historischen Familienforschung entmystifizieren die traditionelle Vorstellung von der Evolution der
Familie vom Mehrgenerationenverband
zur Kernfamilie. F.-X. Kaufmann (1990)
weist darauf hin, daß, obgleich die Epoche
der Industrialisierung zu ihrer Verbreitung beitrug, die Wurzeln zur Entstehung
der modernen Gattenfamilie mit ihren
Grundzügen Monogamie, geringe Kinderzahl, Polarisierung der Geschlechterrollen
schon in früheren Zeiten zu finden sind.
FA M I L I E
Bereits die frühe antike Stadtkultur bildete durch die Zurückdrängung der Bedeutung von Blutsverwandtschaft eine wesentliche Voraussetzung sowohl zur Demokratie wie für die Entstehung des Christentums, das in seiner Betonung der Konsensualehe (Liebesheirat) das Filiationsprinzip (Abstammungsregeln) von Sippenverbänden untergrub.
Mit der Epoche der Aufklärung und Industrialisierung fand ein fundamentaler
Wandel statt, der die vormalige Vielgestaltigkeit familialer Formen und Rechtsnormen (Höpflinger 1987) zugunsten einer Homogenisierung zur heute bekannten modernen Familienform vorantrieb.
War zuvor der Familienverband zumeist
eine Produktions- und Konsumstätte, die
neben Blutsverwandten in ihrem Haushalt
zu ihren Mitgliedern ebenso Gesinde und
Lehrlinge zählte, fand im Prozeß der Entflechtung von ökonomischen, politischen,
religiösen und familialen Bezügen (strukturale Differenzierung) eine Einschränkung der familialen Form auf die Gattenfamilie und – im vorherrschenden Denken der Nationalökonomie – die Konsumeinheit statt. Frauen und Kinder wurden
aus dem Produktionsbereich herausgedrängt – ein Umstand, der dem Mann die
Individualisierung seines Lebenslaufes ermöglichte, für Frauen aber Einschränkungen und Unterdrückung ihrer Produktivkräfte nach sich zog (Beck-Gernsheim
1987) und für Kinder die „Erfindung“ ihres besonderen Status mit sich brachte
(Lenzen 1985).
Die vormoderne Familie kennt hingegen sowohl die individuelle Statuserfüllung in den für die Reproduktion notwendigen Rollen als auch die Alters- und Geschlechtersolidargruppen, auf die sich z. T.
die Funktionen „mütterlicher“ und „väterlicher“ Rollen verteilen. So verteilen sich
beispielsweise die Funktionen eines Vaters idealtypisch auf Mutterbruder, Vaterbruder und Pate (Schwägler 1978). Noch
im 19 Jh. wurden etwa in England die 8bis 10jährigen Söhne zum Erlernen eines
Handwerks in fremde Familien gegeben.
Und bei Töchtern war es üblich, diese
ebenfalls zum Erlernen der umfangreichen Hauswirtschaft in die Fremde zu
schicken (Meyer-Renschausen 1996).
Der Stabilitätsgrund einer modernen
Familie liegt meistens nicht mehr im Aufrechterhalten eines Betriebes oder einer
Dynastie, sondern allein in dem Willen der
Ehegatten, der durch Zuneigung, aber
auch durch ökonomische Zwänge gegeben ist. Die moderne Familie lebt auf Kinder zentriert. Ihre Aufgaben umfassen v. a.
die quantitative und qualitative Nachwuchssicherung, die Erhaltung von Humanvermögen und die Aufrechterhaltung
der Solidarität zwischen den Generationen (Kaufmann 1990). Die moderne
abendländische Familie ist einerseits eine
gesellschaftliche Institution im Sinne
staatlicher Herrschaftsansprüche, die im
Denken der Aufklärung ein vertragsrechtliches Selbstverständnis aufweist, das die
Individuen als Subjekte von Rechten und
Pflichten ansieht. Staatliche Institutionen
(Schule, Kirche, Militär, Medien) ergänzen
die Erziehung in der Primärgruppe. Andererseits bildet die moderne Familie seit
der Romantik gegen die Anforderungen
der zunehmenden Rationalisierung und
Technisierung der Gesellschaft widerständische Ideale von Intimität und Vertrautheit. Allerdings haben sich die innerfamiliären Machtverhältnisse, sowohl zwischen den Ehegatten als auch zwischen
Eltern und Kindern, die ehemals vorrangig ökonomisch bestimmt waren, auf eine
subtilere emotionale Ebene verlagert.
Drei Ambivalenzerfahrungen stellen
sich für heutiges modernes Familienleben
nach Kaufmann (1990). Dem weithin
wirksamen Konsens über den Wert der
Familie als bürgerliches Ideal wird zunehmend widersprochen. Der Geburtenrückgang wird z. T. durch Kohorteneffekte und
53
KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN
dem Wandel der Ansprüche und Leitbilder
erklärt. Die Dauerhaftigkeit und Stabilität
von Familien sinken, der Zwang zur Variabilität wächst. Inzwischen bedeuten
zwei Kinder 50 % Wohlstandseinbuße. Die
Kosten für den Nachwuchs werden individualisiert, die Kosten für die Alten kollektiviert. Dies betrifft die zweite Ambivalenzerfahrung. Einerseits ist die Auffassung von Familie als Privatsache von Bedeutung, andererseits sind die Ansprüche
an staatliche Unterstützung ein heiß umkämpftes gesellschaftliches Feld. Die dritte Ambivalenzerfahrung betrifft die Einbindung von Frauen in die Erwerbstätigkeit bei schwindenden Solidarpotentialen.
3. Sozio-kulturelle und -ökonomische
Ursachen von Gewalt in der Familie
Gunnar Heinsohn weist in seinem Handbuchartikel (1981) auf einige konstituierende Merkmale der Familie in jüdischchristlich-islamischen Kulturkreisen: In
Kontrast zu Gesellschaften, die die Fortpflanzung nach den Interessen der Frauen
konzipieren, d. h. geringe Kinderzahl, eigenmächtiges Verhüten, steht am Beginn
der Hierarchisierung und Spezialisierung
in komplexen Gesellschaften der Übergang des Kindestötungsrecht von der Mutter auf den Vater. Frauen wurden getötet,
wenn sie mit ihren tradtionellen Fortpflanzungstechniken fortfuhren. „Die körperliche Pein bei Schwangerschaft und
Geburt, sowie die sexuellen Interessen
sollen bei der Entscheidung über die Fortpflanzung nun keine Rolle mehr spielen
dürfen. In dem verbindlichen Urtext für
die drei Religionen Judentum, Christentum, Islam hat dieses patriarchalische Beenden der Rücksicht auf die weibliche Natur seine berühmteste Formulierung gefunden: „Unter Schmerzen sollst du Kinder gebären, deine Begierde soll auf deinen Mann sich richten, er aber wird über
54
dich herrschen“ (1. Buch Moses, 3,16).
Allerdings wird das jüdische Patriarchat
die erste Gesellschaft, in der Recht auf
Kindestötung nicht einfach auf den Mann
übergeht, sondern generell untersagt
wird. Für seine christliche Abspaltung
sollte das 2000 Jahre später von entscheidender Bedeutung werden“ (Heinsohn
1981, S. 320). Geschichtsträchtig ist der
Umstand, daß als Folge des Verbotes von
Kindestötung und Abtreibungspraktiken
ein enormes Bevölkerungswachstum in
Gang kam, das das Problem der Erbfolge
bzw. der Ressourcenverteilung aufwarf
und freigesetzte Söhne die Klasse der
Soldaten bildete, als Knechte oder Kolonisatoren im Kampf um Grundeigentum
oder anderer Güter.
Mit dem Verlust der Selbstbestimmung
der Frauen über die Fortpflanzung ging
zwangsläufig der Verlust ökonomischer
Teilhabe, Mobilität und weiteren medizinischen Wissens einher. Die Unterordnung
der weiblichen Domänen unter die männlichen zeitigt schwerwiegende Folgen für
die sozialen Positionen von Männern und
Frauen, der Erziehung von Mädchen und
Jungen sowohl in der Familie wie in der
Gesellschaft. Die Trennung der Lebensräume in privat und öffentlich mit ihrer je
geschlechtsspezifischen Zuweisung wirkt
heute noch fort ( Geschlecht). Daß die
durch Gewalt und Zwangsverhältnisse geregelte Reproduktion der Familie häufig
zu psychischen Störungen ihrer Mitglieder
führt, ist mit Beginn des 20. Jahrhunderts
erstmals in wissenschaftlicher Form von
Sigmund Freud publik gemacht worden.
Die Verdammung der Sexualität durch religiöse Dogmen und eine repressive Moral,
die die Unterordnung von Frau und Kindern unter das männliche Familienoberhaupt fordert, bilden die gesellschaftliche
Matrix von Freuds Erforschung seelischer
Erkrankungen vor allem von Frauen und
Kindern. Heutige Männerforscher weisen
zunehmend auf die psychischen Kosten
FA M I L I E
hin, die die gesellschaftlichen Anpassungsleistungen den Männer aufbürden
(z. B. Schnack/Gesterkamp 1996).
4. Der Antagonismus zwischen Familie
und Kultur
Die Allgemeingültigkeit des Inzestverbotes
erklärte Lévi-Strauss durch den unauflöslichen Widerspruch zwischen Familie und
Kultur. Das Inzesttabu zwingt die Familie
dazu, Angehörige freizugeben, um durch
Ehebündnisse die gesellschaftliche Entwicklung in Gang zu halten. Der Ethnologe Mario Erdheim folgt dieser Analyse in
seinen weiteren Forschungen zur Bedeutung der Adoleszenz und der Xenophobie
( Xenophobie) für den Kulturwandel.
„Der Einblick in fremde Kulturen ermöglichte also der Ethnologie, Familie und
Kultur als zwei unterschiedliche und unvereinbare Systeme zu erkennen. Die Familie ist der Ort des Aufwachsens, der
Tradition, der Intimität im Guten und im
Bösen, der Pietät und der Verfemung. Die
Kultur hingegen ist der Ort der Innovation, der Revolution, der Öffentlichkeit
und der Vernunft. Die Kultur ist auch der
Ort, wo in der Auseinandersetzung mit
dem nichtfamiliären Fremden etwas Neues entstehen kann“ (Erdheim 1998, S. 17).
Die Lebensphase im Übergang von der
Kindheit zum Erwachsenenstatus spielt
hierbei eine herausragende Rolle, in der
manifest wird, welche Antagonismen eine
Kultur prägen, d. h. mit welchen z. T. widersprüchlichen Anforderungen die Jugendlichen, die ihre Ursprungsfamilie verlassen haben, um eine neue Familie zu
gründen, konfrontiert sind. Diese Antagonismen sind je nach Kultur sehr unterschiedlich aufzufassen und äußern sich in
sehr unterschiedlichen Anforderungen an
die Heranwachsenden. Sei es in traditionellen Gesellschaften durch mehr oder
weniger drastische und schmerzhafte Rituale, die einen abrupten Wechsel zwi-
schen Kindheit und Erwachsenenstatus
markieren (Initiationsrituale) oder durch
eine zeitlich langwährende Ausbildungszeit in modernen Gesellschaften – immer
geht es im Kern darum, durch die Begegnung mit dem Fremden die Ablösung von
der Herkunftsfamilie und die Indienstnahme durch die Gesellschaft zu bewerkstelligen. „Die Tendenz der Familie, sich
gegen außen abzuschließen und – falls
dies gelingt – ‘der Ungewißheit, der Angst
und dem Haß’ zum Opfer zu fallen (LéviStrauss 1956, S. 94), ist gerade aus inzestuösen Familien bekannt“ (Erdheim
1998, S. 24).
Es bleibt nicht ohne Einfluß auf das
Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft in der Moderne, daß die Phase
der Adoleszenz sich zeitlich ausdehnte.
Familien werden immer später gegründet
und immer häufiger gar nicht. Der Statuserwerb durch die Gründung einer Familie ist gegenüber dem Statusgewinn
durch einen gutbezahlten Job erheblich
abgewertet. Es kommt zu einer ‘Familiarisierung der Kultur’. „Von den kulturellen Institutionen wird (...) erwartet, daß
sie Leistungen wie Liebe, Intimität und
Wärme erbringen, die eigentlich in den
Bereich der Familie gehörten. Der Chef
soll besorgt sein wie ein Vater und der
Kollege verfügbar wie eine Mutter. In diesem Szenario hat das Fremde nichts zu
suchen, es erscheint lediglich als bedrohlicher Störfaktor, denn man sucht nur Verwandte und Gleichgesinnte“ (Erdheim
1998, S. 18).
5. Familie und Migration
Ob Migration aus Existenzsicherungsgründen erfolgte, politisch motiviert war
oder Ergebnis von der Einschätzung besserer Lebensmöglichkeiten ( Exil), ist für
die innerfamiliäre, subjektive Sichtweise
und Erfahrung relevant. Der Migrationsstatus gilt nicht nur für die Erwachsenen,
55
KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN
Kinder und Jugendlichen, die im Herkunftsland geboren, sondern ebenso für
jene Kinder, die nach der Migration der
Eltern im Einreise-Land geboren wurden.
Objektiv gilt der Status solange unabhängig von Nationalität und Geburtsort, solange keine Einbürgerung der Familie erfolgt. Die besonders problematische Situation von unbegleiteten Kindern ist von Sadri (1991) sehr detailliert aufgearbeitet
worden.
Drei Strukturmerkmale kennzeichnen
nach Karsten (1985) die Migrationskindheit in Europa: Erstens besteht durch
staatliche Maßnahmen im Aufenthaltsund Arbeitserlaubnisverfahren eine „prinzipielle und faktische Unsicherheit der
Lebensmöglichkeiten der Eltern als immer nur zugestandene und grundsätzlich
aufkündbare, und damit auch der Kinder“
(S. 204). Zweitens besteht eine historische,
gesellschaftliche und individuelle Ungleichzeitigkeit, die objektiv gegeben und
subjektiv erfahren wird. Die „historische
Ungleichzeitigkeit“ ist eine Folge der ökonomischen Entwicklung in den Metropolen kapitalistischer Gesellschaftsformationen (im Norden, d.Hg.) im Verhältnis zu
den Peripheriestaaten (im Süden, d.Hg.).
Die daraus resultierende internationale
Arbeitsteilung fördert dabei die Arbeitsmigration und ist als „normal“ anzusehen.
Individuell wird die Unterschiedlichkeit
der ökonomischen und gesellschaftlichen
Entwicklung der Herkunfts- und Einwanderungsländer als Ungleichzeitigkeit erfahren. „Der Wechsel in eine hochindustrialisierte spätkapitalistische Gesellschaft löscht die auf ganz anderen gesellschaftlichen und individuellen Bedingungen gewonnenen Handlungs-, Denk-, Erfahrungs- und Verhaltensmuster nicht
aus, noch werden diese im individuellen
Lebenszusammenhang unmittelbar substituiert. Sie bestehen weiter und unterliegen einem mehr oder weniger starken
Veränderungsprozeß unter den Lebens56
bedingungen im Einwanderungsland“
(Karsten 1985, S. 205). Im Widerspruch
stehen dabei gesellschaftliche Bedingungen wie Arbeitszusammenhänge, Infrastruktur, Bildungssystem und innerfamiliäre Normen, wie das Geschlechterverhältnis, Erziehung und Zeitauffassung.
Als drittes Strukturmerkmal ist die „gesellschaftliche Geringschätzung“ zu nennen, „die gleichzeitig Folge von migrationsbedingtem Rechtsstatus, gesellschaftlicher Situation, Ungleichzeitigkeit im Lebenszusammenhang und Legitimation zu
deren Verfestigung ist“ (Karsten 1985, S.
206). Sowohl die politisch verordnete Unmündigkeit und prekäre Rechtsstellung
als auch die Wahrnehmung der „Dritten
Welt“ als rückständig dienen im Zirkelschluß zur Verfestigung der Situation.
„Die pädagogische Zuwendung und eine
eher abwehrend-abschätzige Haltung gegenüber der ‘Ausländerkultur’ zusammengenommen ergeben ein kaum zu rechtfertigendes Überordnungsgefühl gegenüber
den in der Hierarchie darunter stehenden
Migranten, das eine fatale Ähnlichkeit zu
‘Kolonisierungsstrategien’ aufweist“ (Karsten 1985, S. 208).
Die Familie in der Migration erfährt
weitere z. T. widersprüchliche Bestimmungen. Das Organisationsprinzip „Familie“ wird durch Ansiedlungsstrategien von
Kommunen einerseits unterstützt, für die
MigrantInnen mit dem Vorteil, die Konfrontation der Vergangenheit in der Herkunftskultur mit der Gegenwart der fremden Kultur abpuffern zu können. Andererseits werden MigrantInnen für das Negativimage der „Ghettobildung“ verantwortlich gemacht (Eickhoff 1996). Ein anderer
Widerspruch betrifft die Wendung der gesellschaftlich produzierten Erfahrungen
zum innerfamiliären Konflikt. Die in der
Vergangenheit erfolgreichen Handlungsund Denkstrategien, die durch die gelungene Migration eine Bestätigung gefunden
haben, werden nicht schnell aufgegeben.
FA M I L I E
Besonders den Migrationskindern erscheinen die Verhaltensweisen der Eltern
traditionsverhaftet und widersprüchlich
gegenüber den Anforderungen an sie als
Heranwachsende in einer fremden Kultur,
was häufig zu großen Konflikten zwischen
den Generationen führt.
Wir sollten als InländerInnen aber nicht
vorschnell auf eine Pädagogik der „Einbahnstraße“ setzen, in dem Sinne, daß nur
eine Entwicklung zur Anpassung an die
kapitalistischen Gesellschaftsstrukturen
positiv zu werten wäre. Richard Sennett
spricht in seinem Buch „Der Flexible
Mensch“ (1998) davon, daß wir alle im Zuge der fortschreitenden Rationalisierung
von Ökonomie und Lebensstilen mehr
oder weniger zu ImmigrantInnen werden.
Die Anforderungen der Arbeitswelt zwingen zunehmend zur Mobilität, Familien
verstreuen sich, Nachbarschaften wechseln, Scheidungen nehmen zu, Arbeitsverhältnisse werden zunehmend unsicherer.
Dauerhafte, vertrauensfördernde Beziehungen sind unter diesen Bedingungen
sowohl zwischen ArbeitskollegInnen als
auch zwischen Familienmitgliedern immer schwerer aufzubauen und zu halten.
Literatur
(Hg.) Handbuch psychologischer Grundbegriffe,
Reinbek bei Hamburg 1991, S. 317-333
Karsten, Maria-Eleonora: „Migrationskindheit in der
Bundesrepublik Deutschland. Kein Beitrag zur Ausländerpädagogik“. In: Hengst (Hg.) Kindheit in Europa
Zwischen Spielplatz und Computer, Frankfurt a.M.
1985, S. 201-220
Lenzen, Dieter: Mythologie der Kindheit. Die Verewigung des Kindlichen in der Erwachsenenkultur,
Reinbek bei Hamburg 1985
Meyer-Renschhausen, Elisabeth: „Migrantinnenschicksal als Dienstmädchenschicksal oder Gemeine
Landflucht mit ordinären Folgen“ (Vortrag auf einer
Tagung 1996 in Köln)
Notz, Gisela: Verlorene Gewißheiten? Individualisierung, soziale Prozesse und Familie, Frankfurt a.M.
1996
Panoff, Michel/Michel Perrin: Taschen-Wörterbuch
der Ethnologie. Begriffe und Definitionen zur Einführung, Berlin 1982
Sadri, Mir Hafizuddin: Unbegleitete minderjährige
Flüchtlinge. Probleme und Möglichkeiten der Integration zwischen Rechtspolitik und Pädagogik, München
1991
Sennett, Richard: Der flexible Mensch. Die Kultur des
neuen Kapitalismus, Berlin 1998
Schnack, Dieter/Thomas Gesterkamp: Hauptsache
Arbeit? Männer zwischen Beruf und Familie, Reinbek
bei Hamburg 1996
Schwägler, Georg: „Der Vater in soziologischer Sicht“.
In: Tellenbach, Hubertus (Hg.) Das Vaterbild im
Abendland. Bd. 1. Rom, frühes Christentum, Mittelalter, Neuzeit. Stuttgart 1978, S. 149-165
Jaqueline Crawford
Beck-Gernsheim, Elisabeth: Das halbierte Leben.
Männerwelt Beruf. Frauenwelt Familie, Frankfurt a.M.
1987
Eickhoff, Antje: „Wo die wilden Kerle wohnen? Annäherungen an das Ghetto“. In: Ortswechsel – Blickwechsel. Frauenräume in der Migration. FREIRÄUME
Bd.9, hrsg. von FOPA Berlin. Bielefeld 1996, S. 108118
Erdheim, Mario: „Adoleszentenkrise und institutionelle Systeme. Kulturtheoretische Überlegungen“. In:
Apsel, Roland et al. (Hg.): Ethnopsychoanalyse Bd. 5:
Jugend und Kulturwandel, Frankfurt a.M. 1998, S. 930
Heinsohn, Gunnar: „Familie“. In: Rexilius/Grubitsch
57
KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN
Jugend
In der Diskussion um die Entwicklungszusammenarbeit als Beitrag zur globalen Zukunftssicherung gewinnen die Problematik und Potentiale von Jugendlichen als eigener Zielgruppe weltweit an Bedeutung. Mädchen und
Jungen unter 18 Jahren als stärkste Bevölkerungsgruppe in den Entwicklungsländern sind
von wachsender Verelendung, Migration, Arbeitslosigkeit und Ausschluß aus dem Bildungsprozeß besonders betroffen. Erfahrungen
aus der deutschen staatlichen Entwicklungszusammenarbeit verbinden die Beratung jugendpolitischer Institutionen und die Fortbildung von Fachkräften und JugendpromotorInnen mit partizipatorischen und präventiven
Jugendförderungsansätzen im Bereich lebensweltbezogener Bildung, Beschäftigungsförderung und Gemeindeentwicklung.
1. Perspektivenwechsel: Jugend wird
zur eigenen Zielgruppe
‘Jugend’ war für die deutsche staatliche
Entwicklungszusammenarbeit lange Zeit
kein Thema. Vielmehr ging man davon
aus, daß die Förderung von Familien und
Frauen genügen würde, um Jugendliche
zu erreichen. Mittlerweile findet weltweit
ein Umdenken statt. Jugendliche werden
zunehmend mit ihrem Potential für gesellschaftliche Gestaltung als eigene Zielgruppe anerkannt. Auch in der Flüchtlingsarbeit und entwicklungsorientierten Nothilfe
bekommen Jugendliche ein ernstzunehmendes Gewicht. Vier Gründe erklären
das neue Problembewußtsein: In den Entwicklungsländern sind 40-50 % der Bevölkerung jünger als 16 Jahre (vgl. UN Weltbevölkerungsbericht 1998). Kinder und
Jugendliche sind von strukturellen Problemen und ihren Begleiterscheinungen
wie wachsende Verelendung, Migration,
Arbeitslosigkeit und Ausschluß aus dem
Bildungsprozeß besonders betroffen. Mädchen und Jungen sind angesichts der Auflösung traditioneller Strukturen, zuneh58
mend auch aufgrund von AIDS, häufig
nicht mehr in den Familienverband eingebettet, sondern bereits früh auf sich selbst
gestellt. Und ihre nicht immer sichtbare
ökonomische Ausbeutung nimmt zu.
Die großen internationalen Organisationen wie UNICEF, UNESCO, Weltbank,
FAO haben Jugendliche deshalb mittlerweile als wichtigste Zielgruppe definiert.
Dies schlug sich auch in einer Reihe von
UN-Weltkonferenzen und Beschlüssen der
letzten Jahre nieder. Auch die deutsche
staatliche Entwicklungszusammenarbeit
betont nunmehr die Bedeutung von Jugendlichen für die laufenden und neuen
Vorhaben. In dem Strategiepapier des
BMZ zur ‘Jugendförderung und Überwindung von Kinderarbeit’ (BMZ 1997), das
mit deutschen Nichtregierungsorganisationen (NRO) diskutiert wurde, heißt es:
„Die Interessen von Kindern und Jugendlichen sind generell in der Entwicklungszusammenarbeit zu berücksichtigen“. Ziel
der Förderung ist die nachhaltige Verbesserung der Lebenssituation und Perspektiven der Mädchen und Jungen. Dabei
wird dem besonderen Potential von Jugendlichen zur Selbsthilfe und Selbstorganisation Rechnung getragen. Als ‘soziale AkteurInnen’ sollen sie zugleich TrägerInnen der gesellschaftlichen Entwicklung
sein. Ein weiteres Ziel der verstärkten
Förderung der jungen Generation ist die
Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention ( Kinderrechte). Zielgruppe der Jugendförderung in der deutschen Entwicklungszusammenarbeit sind vor allem sozial benachteiligte Mädchen und Jungen sowohl aus städtischen als auch aus ländlichen Gebieten, wobei der Schwerpunkt
auf die Altersgruppe der 12- bis 18jährigen gelegt wurde. Gerade diese Altersgruppe hatte bislang wenig Berücksichtigung gefunden und fiel aus den Programmen der Grundbildung, Beruflichen Bildung und Beschäftigungsförderung heraus.
JUGEND
2. Lebenslagen von Jugend im
sozio-kulturellen Kontext
Die Betrachtungsweise von Jugend in Entwicklungsländern ist in hohem Maße von
unserem westlich-europäischen Jugendkonzept geprägt. Jugend gilt hier als fest
umrissene und geregelte Übergangsphase
im Sinne eines „sozialen Moratoriums“
(Erikson). Eine Übertragung dieses Jugendkonzepts auf die Länder Afrikas, Lateinamerikas und Asiens sowie Osteuropas führt daher nur zur Feststellung von
Defiziten („haben noch nicht“, „sind noch
nicht“) sowie stark fürsorgeorientierten
Projektansätzen. Dabei greift auch für
West- und Osteuropa die Vorstellung von
Jugend als einem sozialen Schonraum inzwischen zu kurz. Längst macht auch hier
die dramatische Zunahme von arbeitsund orientierungslosen Jugendlichen auf
ein gesellschaftliches Zukunftsloch aufmerksam (vgl. Jugendwerk der Deutschen
Shell-AG 1997).
In der sozialwissenschaftlichen und
pädagogischen Jugendforschung wird
heutzutage von einem Verständnis von
‘Jugend’ in soziokultureller (Lebenslage,
Alter, Geschlecht, Ethnie, Sozialraum) und
sozialhistorischer Perspektive ausgegangen. Von der Jugend kann also weder für
die Bundesrepublik Deutschland noch für
die Länder der Dritten Welt gesprochen
werden. Jugend nimmt in unterschiedlichen Gesellschaften und Kulturen verschiedene Gestalt an. Dabei ist zunächst
die altersmäßige Abgrenzung nicht einfach. Die Kinderrechtskonvention gilt für
Mädchen und Jungen bis zu einem Alter
von 18 Jahren. In manchen Ländern werden sogar junge Menschen bis zu 25 oder
mehr Jahren einbezogen. In den Partnerländern der Entwicklungszusammenarbeit wird aber zunehmend nicht mehr nur
von Kindern gesprochen, sondern zwischen Kindheit, Adoleszenz und Jugend
differenziert.
Dabei geht es nicht um vordergründige
Begriffsveränderungen und Definitionen,
sondern um eine Blickschärfung für die
dahinter stehende kulturspezifische Bedeutung und unterschiedlichen Lebenssituationen. Die soziale Einordnung eines
zehnjährigen Mädchens, das die Grundschule besuchen kann und von ihren Eltern versorgt wird, muß z. B. ganz anders
ausfallen als die eines zehnjährigen Mädchens, das infolge des Todes ihrer Eltern
aufgrund von AIDS oder Bürgerkriegen
bereits eine Familie führt und die Rolle
der „Erwachsenen“ übernommen hat. Zur
Eingrenzung der Zielgruppe Jugend ist also nicht nur das Alter der Kinder und
Jugendlichen, sondern vielmehr deren Lebenslage maßgebend. Das Konzept der
Lebenslage legt nämlich bei der Betrachtung der Lebensbewältigung von Jugendlichen dreierlei zugrunde: Den sozialstrukturellen Hintergrund (Verfügbarkeit
von ökonomischen und sozialen Ressourcen), die lebensweltlichen Bedingungen
(Familie, Peer Group, Schule und Arbeitswelt) sowie die biographisch-individualitätsorientierte Dimension. Der Begriff
‘Lebenswelt’, von Schütz in die sozialwissenschaftliche Grundlagendebatte eingeführt, bezieht sich auf die ‘alltägliche
Welt’ des Zusammenlebens von Menschen, deren Interpretationen und Handeln, mit den diese ihre historische und
kulturspezifische gesellschaftliche Wirklichkeit zu bearbeiten, sicherzustellen und
zu verändern trachten (Rudolph 1997, S.
49 ff). Folgende Problembereiche beeinflussen die spezifischen Lebenslagen Jugendlicher:
– Landjugend und Migration, unter besonderer Berücksichtigung der ethnischen Gruppen in ihren sozialen und
kulturellen Umbrüchen: Die Lebenslage
der Landjugend wird als ein Komplex
von ökonomischer und soziokultureller
Benachteiligung beschrieben. Der Zugang zu Bildungsmöglichkeiten, Arbeit,
Einkommen und frei verfügbarer Zeit
59
KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN
ist noch eingeschränkter als bei der
städtischen Jugend.
– Lernen und Überleben in städtischen
‘informellen’ Sektor: Auf der Straße leben und arbeiten weltweit ca. 200 Mio.
Kinder und Jugendliche – manche vorübergehend, andere dauernd. Auf sich
allein gestellt und ohne Rechte, entwickeln sie ganz eigene Orientierungsmuster und Organisationsstrukturen,
häufig unter den äußeren Bedingungen
von versteckter und offener Gewalt in
Familie und sozialem Umfeld (Zitat aus:
Rudolph/Conto 1993, S. 76 ff):
„Die Straße ist mein Zuhause. Ich kenne viele Kinder, die z. B. Schuhe putzen
oder Süßigkeiten verkaufen. Sie sind meine Freunde, wir spielen oft zusammen.
Manchmal, wenn ich ein gutes Geschäft
mache, teile es alles mit meinen Freunden. Die verdienen es, sie sind alle gut zu
mir...“ (Carlos, 10)
„Ich schlafe manchmal draußen mit einigen Freundinnen, oder wenn ich Glück
habe, verbringe ich die Nacht mit einem
Kunden in einer Pension. Andere Male
läuft das Geschäft nicht so gut und ich
kann kein Zimmer bezahlen. Dann schlafe
ich auf der Straße. Es ist nicht so einfach,
weil die Männer mich häufig belästigen
und nichts zahlen wollen...“ (Helena, 16)
„Seit einigen Monaten nehme ich an
der Kooperative ‘Nino-Nina’ teil. Dort bekomme ich in vieler Hinsicht Unterstützung. Ich kann weiter die Schule besuchen, ich arbeite weniger. Klar, ich verdiene etwas weniger, aber dafür habe ich jemanden, der mir hilft, weiter voranzukommen. Es ist so, in der Kooperative haben wir gelernt, daß wir Kinder auch ein
Recht auf ein gesundes Leben haben und
dieses Recht müssen wir uns erkämpfen.
Ich bin froh, in der Kooperative der arbeitenden Kinder teilnehmen zu können, ich
meine, wir sind organisiert, verbessern
unsere Arbeitstechniken, um später in der
Konkurrenz besser dazustehen, das ist
60
auch ein Prinzip unserer Kooperative.
Jetzt kann ich auch an den Mahlzeiten der
Kooperativen teilnehmen, wir haben besseres Essen als das, was wir zu Hause hätten. Andererseits können wir die arbeitenden Kinder, andere Kinder, die in ähnlichen Situationen sind, motivieren, zu uns
zu kommen, an dem Programm teilzunehmen. Wir denken, wenn wir Kinder zusammenhalten, erreichen wir, daß unsere
Rechte respektiert werden.“ (Nilson, 13)
– Ökonomische Ausbeutung von Kindern
und Jugendlichen: Arbeitende Kinder
und Jugendliche müssen häufig gesundheitsgefährdende Arbeitsbedingungen
bei sehr niedriger oder gar keiner Entlohnung in Kauf nehmen. Die vielen
Formen der ökonomischen Ausbeutung
von Mädchen und Jungen lassen sich
laut ILO und UNICEF im wesentlichen
den folgenden Typen zuordnen: Arbeit
(von Mädchen) in privaten Haushalten,
Zwangsarbeit und Schuldknechtschaft,
kommerzielle sexuelle Ausbeutung (insbesondere von Mädchen), Kinderarbeit
in Industrie und Landwirtschaft, Arbeit
auf der Straße und (überfordernde) Arbeit für die Familie. Nach der Kinderrechtskonvention sollte Arbeit von Kindern, die sich noch im schulpflichtigen
Alter befinden (unter 15), unter Verbot
gestellt werden. In der aktuellen Diskussion wird jedoch meist zwischen der
notwendigen familiären Hilfe und den
ausbeuterischen Formen der Kinderarbeit unterschieden. Auch die Bedeutung von Arbeit und Selbstorganisation
für Kinder und Jugendliche wird verstärkt diskutiert ( Kinder der Dritten
Welt).
– Kinder und Jugendliche in Krisenregionen: Allein in den achtziger Jahren
wurden 2 Mio. Kinder durch direkte
Folgen von kriegerischen Auseinandersetzungen getötet und 4 bis 5 Mio.
schwer verletzt. Weitere 12 Mio. Kinder
und Jugendliche haben ihr Zuhause
JUGEND
verloren. Die Situation in den neunziger Jahren stellt sich noch gravierender dar. Bei den heute stattfindenden
kriegerischen Auseinandersetzungen
sind rund 90 % der betroffenen Bevölkerung ZivilistInnen (Frauen, Kinder
und Jugendliche). Vor dem Hintergrund
von Armut und Gewalt, bewaffneten
Konflikten und Flüchtlingsbewegungen
werden Kinder und Jugendliche einerseits zu Opfern, andererseits aber auch
zu TäterInnen – mit der Konsequenz
von psychischer Traumatisierung. Beispiele lassen sich in Ruanda, Mosambik, im ehemaligen Jugoslawien und
anderen Ländern finden. Auch die Problematik der sog. Kindersoldaten gehört dazu ( Kindersoldaten). Es wird
deshalb in Entwicklungsländern zunehmend von einem Zusammenbruch von
traditionellen Familien und Sozialstrukturen und mithin auch Orientierungsmustern gesprochen. Armut, Krieg und
das Sterben der Elterngeneration führt
häufig zu einem neuen Generationenvertrag zwischen Kindern und Jugendlichen auf der einen Seite und ihren
Großeltern auf der anderen Seite.
– Fehlende staatliche Verantwortung und
ungleiche Verteilung der Ressourcen: In
vielen unserer Partnerländer führt die
Politik der offenen Märkte, der Privatisierung sowie der Zurücknahme sozialstaatlicher Aufgaben auch zu einer
Einschränkung der öffentlichen Mittel
für Soziales und Bildung. Dies betrifft
vor allem Kinder und Jugendliche aus
ärmeren Bevölkerungsschichten, für
die die Chancen auf hinreichend Ernährung, medizinische Versorgung, Allgemeinbildung, Qualifizierung, Arbeit
und Wohnung ohnehin sehr schmal
sind. Die Vertiefung der Kluft zwischen
Bevölkerungswachstum und verfügbaren Ressourcen trifft diese Gruppe am
schwersten.
3. Förderstrategien und – ansätze
Die Deutsche Gesellschaft für Technische
Zusammenarbeit (GTZ) GmbH ist weltweit
eines der größten Dienstleistungsunternehmen im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit. Sie befindet sich im Bundesbesitz und arbeitet gemeinnützig. Die
Arbeit der GTZ besteht im wesentlichen in
der Planung und Durchführung des deutschen Beitrags zu Projekten und Programmen in den Partnerländern des Südens
und Ostens. Hauptauftraggeber ist das
Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ).
Die Technische Zusammenarbeit hat die
Aufgabe, die Leistungsfähigkeit von Menschen und Organisationen zu erhöhen, indem sie Kenntnisse und Fähigkeiten vermittelt, mobilisiert oder die Voraussetzungen für deren Anwendung verbessert.
Oberstes Prinzip in der Zusammenarbeit
mit den Entwicklungsländern ist stets,
Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten.
Wichtige Erfahrungen im Jugendbereich wurden in Pilotvorhaben der Deutschen Technischen Zusammenarbeit (TZ)
in Uganda, Indien, Guatemala mit sektorübergreifenden Ansätzen entwickelt
bzw. werden in Vorhaben z. B. in Ruanda,
Kenia, Uganda (Bildung in städtischen Armutsgebieten), Nepal, Sri Lanka, Chile
und Venezuela erprobt. Zu den Strategien
und Instrumenten einer nachhaltigen und
partizipatorischen Jugendförderung gehören:
(1) Beratung von Ministerien und jugendpolitischen Institutionen bei der Entwicklung und Umsetzung von Politiken auf
nationaler und regionaler Ebene; (2) Vernetzung vorhandener Ansätze im Jugendbereich und Fortbildung für MitarbeiterInnen der staatlichen und nichtstaatlichen Organisationen; (3) direkte Fördermaßnahmen für Jugendliche mit Schwerpunkt auf Prävention, die an ihrem starken Selbsthilfepotential ansetzen. Zu dem
Schwerpunkt präventive Jugendarbeit ge61
KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN
hören Maßnahmen auf Stadtteil- oder
Gemeindeebene in dem Bereich StraßenSozialarbeit, (mobile) außerschulische
und schulische Grundbildung, beschäftigungswirksame Berufsbildung und Freizeitgestaltung. Die Erfahrungen aus TZVorhaben zeigen, daß die Herausforderung gerade in der sinnvollen Integration
dieser Komponenten liegt (GTZ 1997).
Jugendförderung in der deutschen
staatlichen Entwicklungszusammenarbeit
geschieht auf zwei Ebenen: (1) Sektorübergreifende Querschnittsorientierung:
Dabei geht es um eine breitenwirksame
Berücksichtigung von Problemen und Potentialen von Kindern und Jugendlichen in
unterschiedlichen Vorhaben und Sektoren. Zu diesen gehören Jugendpolitik und
Jugendrecht,
Beschäftigungsförderung
und informeller Sektor, lebensweltorientierte, insbesondere außerschulische Bildung und Ausbildung, Jugendgesundheit,
AIDS und Drogenprävention, Not- und
Flüchtlingshilfe, Demobilisierung und soziale Reintegration, Umwelt- und Ressourcenschutz, Kommunalentwicklung. (2) Jugendspezifische Vorhaben: Darunter sind
Projektansätze zu verstehen, die meist
mehrere Sektoren einbeziehen und aus
konkreten Problemlagen für Mädchen und
Jungen entwickelt werden. Diese wenden
sich an besonders gefährdete Gruppen,
z. B. jugendliche Flüchtlinge, arbeitende
Kinder und Jugendliche, Straßenkinder,
AIDS-Waisen, Kinderprostituierte.
Dem Genderprinzip entsprechend soll
das geschlechterspezifische Verhältnis
thematisiert werden, um die besondere
Benachteiligung für Mädchen zu überwinden ( Geschlecht). Bei Bedarf sollen auch
Maßnahmen mit Jungen (z. B. Strassenjungen, arbeitende Jungen, Jugendbanden) duchgeführt werden.
62
4. Beispiele aus der Praxis
Das Projekt Lebensweltbezogene Bildung
und Beschäftigungsförderung im Gemeinde- und Jugendzentrum, Argentinien
Im Rahmen eines Aktionsforschungsprojektes mit Jugendlichen aus den Sectores
Populares in Villa María/Villa Nueva, Argentinien, entstand die Idee eines Gemeindezentrums, Centro Communitario y Juvenil de Capacitación y Recreación (Cencar).
Das im wesentlichen in Eigenregie und
Selbsthilfe errichtete Zentrum hat zum
Ziel, die Situation des Gemeinwesens und
der Jugendlichen zu verbessern. Leitmotiv
ist der Gedanke, daß menschliche Bedürfnisse nicht nur Defizite, sondern vor
allem individuelle und kollektive Potentiale darstellen. Der Ansatz des Zentrums,
basierend auf den Forderungen der Weltkonferenz ‘Bildung für Alle’ (1990), geht
von drei Handlungsfeldern aus: der beruflichen Bildung und Arbeit, der außerschulischen Grundbildung, Bewußtseinsbildung und des gemeinwesenorientierten
Lernens sowie der Kreativität, Rekreation
und Kommunikation.
Das Projekt Jugendpolitik und
Prävention, Guatemala
Im Mittelpunkt des Projektkonzepts steht
die Prävention. Dabei geht es darum, Regierung und NROs bei der Einführung des
neuen Politikfeldes ‘Jugendpolitik’ zu beraten, die ProjektpartnerInnen in Öffentlichkeitsarbeit und ‘social marketing’ zu
schulen sowie in städtischen Armutsgebieten ein Netz an Jugend- und Elternorganisationen aufzubauen. Diesen Basisgruppen werden konkrete Maßnahmen
der Jugendhilfe in den Bereichen außerschulische Bildung, aufsuchende Sozialarbeit, Berufliche Ausbildung und Gesundheit angeboten. Die Aktivitäten des Projekts kreisen dementsprechend um Themen wie Straßenleben, Kinder- und Ju-
JUGEND
gendarbeit, Jugendgewalt sowie Kinderund Jugendrechte. Neben der dezentralen
Verankerung der Querschnittsaufgabe ‘Jugendpolitik’ in sektoral gegliederten staatlichen Strukturen hat sich besonders die
Fortbildung von Jugendlichen zu JugendpromotorInnen bewährt. Jugendliche als
eigentliche ExpertInnen der Veränderung
ihrer Lebenswelt, ist der Kerngedanke des
multisektoralen Vorhabens.
5. Ausblick
Ähnliche Ansätze und Erfahrungen der
Deutschen Technischen Zusammenarbeit
liegen vor in Asien, z. B. im Vorhaben Verbesserung der Situation arbeitender Kinder und Jugendlichen, Nepal und Indien
oder in Afrika, z. B. Förderung von Kindern und Jugendlichen in besonders
schwierigen Lebenslagen (Straßenkinder/
Jugendliche, AIDS-Waisen), Grundbildung
in städtischen Armutsgebieten, Uganda
sowie im Projekt Beschäftigungsförderung
für benachteiligte Jugendliche in Ruanda.
Wichtige Faktoren einer nachhaltigen Jugendförderung sind: Zugang zur Lebenswelt, Partizipation am gesamten Projektzyklus und Stärkung der aktiven Teilhabe
der Jugendlichen als soziale AkteurInnen
am sozialen politischen und kulturellen
Leben, Verbindung von (außer-)schulischer Bildung, beschäftigungswirksamer
Berufsbildung und gemeinwesenorientiertem Handeln, neue Formen der Zusammenarbeit zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Organisationen, Fortbildung
der MitarbeiterInnen bei der Umsetzung
partizipativer Konzepte und präventiver
Aspekte der Jugendarbeit, Arbeit mit
JugendpromotorInnen.
Wichtige Bereiche, an denen in Zukunft
verstärkt gearbeitet werden sollte, sind:
Verbindung von Jugendpolitik (Makroebene) und konkreter Jugendarbeit (Mikroebene), qualitative Forschung im Sinne
von Rekonstruktion gesellschaftlicher
Wirklichkeit aus der Sicht der Jugendlichen, angepaßtes und qualitatives Monitoring und Evaluationssystem zur Wirksamkeit der Jugendarbeit, Vernetzung der Organisationen und verbesserter Austausch
von Erfahrungen.
Vor dem Hintergrund von Bevölkerungswachstum, Arbeitslosigkeit, Armut
und Begrenztheit der natürlichen Ressourcen wird gerade im Hinblick auf die
Jugendarbeit ein Nachdenken über den
Beitrag von Bildung als soziale und kulturelle Integration notwendig sein. Dabei
muß an das im Bericht der UNESCO Bildungskommission von Delors (1996) formulierte Prinzip ‘Learning to live together’ erinnert werden. Die Aufgaben einer
entwicklungsorientierten Nothilfe wie Krisenprävention, Demobilisierung, soziale
Integration und letztlich auch Versöhnung
erhalten hier durch den Bezug auf die junge Generation eine besondere Brisanz.
Dies gilt auch für Kinderflüchtlinge, die in
Deutschland leben. In dem Zusammenleben mit Kindern und Jugendlichen hier
können sich neue Formen und Inhalte des
Lernens ergeben ( Interkulturelle Pädagogik). Kinderflüchtlinge bringen Erfahrungen, aber auch Fertigkeiten ein, die
für deutsche Jugendliche und ihrem gesellschaftlichen Umfeld häufig unbekannt
sind und vielleicht noch zu entwickeln wären ( Ressourcen). Der Verweis auf die
Jugendlichen und ihr spürbares Selbsthilfepotential ( Bewältigung) darf allerdings nicht von der eigenen Verantwortung gerade der Erwachsenen ablenken.
Auch dem Rückzug des Staates, besonders
in Ländern der Dritten Welt, aus dem Sozial- und Bildungsbereich muß Einhalt geboten werden. Wie der Staat mit Jugendlichen als Mehrheit der Bevölkerung umgeht, ist eines der wichtigsten Maßstäbe
von ‘Good Government’. Letztlich bedarf
es aber einer Umverteilung sozialer, ökonomischer und politischer Macht. Das Fazit liegt vor allem in der Erkenntnis, daß
63
KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN
ohne den Bezug zum Erfahrungswissen,
den Fähigkeiten und letztlich der Phantasie und Kreativität der sozialen AkteurInnen, insbesondere der Jugendlichen, kein
nachhaltiger gesellschaftlicher Veränderungsprozeß möglich sein wird, weder im
Norden noch im Süden.
Literatur
BMZ (Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit): Jugendförderung und Überwindung
der Kinderarbeit, Strategiepapier, Bonn 1997
GTZ (Deutsche Gesellschaft für technische Zusammenarbeit): Lernen aus Erfahrungen: Die Zielgruppe
Jugend in der Technischen Zusammenarbeit; Autorin
J. Kotowski-Ziss, Publikationsreihe Themenfeld Jugend, Nr. 4, Eschborn 1997
Jugendwerk der Deutschen Shell-AG (Hg.): Jugend
und Politik, Opladen 1997
Rudolph, H.-H./Conto de Knoll, D.: Förderung von
Straßenkindern in Guatemala, Projektprüfungsbericht
im Auftrag der GTZ, Eschborn 1993
Rudolph, H.-H.: „Jetzt reden wir!“ Jugend, lebensweltbezogene Bildung und Gemeindeentwicklung in
Lateinamerika, Forschungsreihe: Erziehung und Gesellschaft im internationalen Kontext; Bd. 12, Frankfurt
a. M. 1997
Tips zum Weiterlesen:
GTZ: Jugend in der Entwicklungszusammenarbeit.
Ansätze und Perspektiven im Themenfeld Jugend,
Publikationsreihe Themenfeld Jugend, Nr. 3, Eschborn
1997
GTZ: AKZENTE. Im Blickpunkt: Jugend, Heft 4/97,
Eschborn 1997
Hans-Heiner Rudolph
64
Geschlecht
Im folgenden Beitrag werde ich die jüngste
theoretische Entwicklung in der feministischen
Theorie skizzieren: Geschlecht wird als sozial
konstruierte Kategorie untersucht und nicht
als natürliche Differenz vorausgesetzt. Von dieser Denkweise ausgehend, werde ich darlegen,
welche Konfrontationen sich im Bereich der geschlechtsspezifischen Weltsichten und Verhaltensweisen bei Flüchtlingen und MigrantInnen
ergeben und was eine sinnvolle Praxis für die
Soziale Arbeit im Hinblick auf diesen spezifischen Erfahrungshintergrund zu bedenken hat.
1. Geschlecht als Strukturkategorie
und als interaktive Kategorie –
methodologische Prämissen
Seit Mitte der 80er Jahre wird in der englischsprachigen Forschung die Notwendigkeit hervorgehoben, Geschlecht als
analytische Kategorie zu entwickeln. Geschlecht wird in der englischen Terminologie als ‘gender’ bezeichnet, womit gemeint ist, daß es sich um das soziale Geschlecht handelt, wohingegen sich der Begriff ‘sex’ in der englischen Sprache auf
das biologische Geschlecht bezieht.
Der Begriff Gender wird auch in der
deutschen Wissenschaftssprache benutzt,
um deutlich hervorzuheben, daß man sich
auf das soziale Geschlecht bezieht. Mit
dieser neuen Perspektive wurde die eher
langweilige Forschung, die der Frage nach
festgeschriebenen Unterschieden zwischen den Geschlechtern nachging, abgelöst. Entgegengesetzt wurde der (blossen) Unterschiedssuche eine ‘Historisierung’ und ‘Dekonstruktion’ der Bedingungen des geschlechtlichen Unterschieds:
geforscht wird nach der ‘Herstellung’ von
Geschlecht.
Lange Zeit wurde ‘Geschlecht’ in den
Sozialwissenschaften als askriptives – zugeschriebenes – Merkmal behandelt, als
etwas der sozialen Praxis grundsätzlich
Entzogenes, als ‘natürliche’ Gegebenheit
GESCHLECHT
bestimmt. Konstatiert wurde, daß Geschlecht dem historischen Wandel unterworfen war. Was also jeweils als männlich
bzw. weiblich galt, war durch historische
Bedingungen veränderbar, doch die Zweigeschlechtlichkeit als solche wurde allem
Gesellschaftlichen vorausgesetzt (vgl. Irene Dölling und Beate Krais 1995). Erst die
feministische Theoriedebatte und die empirische Frauenforschung haben ein Bewußtsein dafür entstehen lassen, daß Geschlecht für die sozialwissenschaftliche
Analyse nicht einfach ein natürliches Datum wie die Augenfarbe darstellt, sondern
selbst gesellschaftlich produziert wird. Eine solche Sichtweise auf die Geschlechterverhältnisse unterstellt, daß Geschlecht
im alltäglichen Handeln immer wieder neu
konstruiert wird. Ganz generell wird der
Blick darauf gelenkt, daß soziale Strukturen und Institutionen in der sozialen Praxis durch das Handeln der sozialen Subjekte ‘gemacht’, konstruiert und reproduziert werden.
Die Regeln, nach denen Geschlecht
konstruiert und die Geschlechterdifferenz
als relevante Differenz verhandelt wird,
sind, so die obige Prämisse, nur im alltäglichen Erleben rekonstruierbar. Da diese
Regeln als (binäre) soziale Codierungen
dem Alltagshandeln immanent sind, sind
sie schwer faßbar. Um festzustellen, wie
diese Regeln in diversen thematischen Bereichen wirken, ist es für die Wissenschaft
daher unerläßlich, empirische Forschungen durchzuführen. Die Thematisierung
von Geschlecht ist in wissenschaftlichen
Untersuchungen, ebenso wie in der alltäglichen Interaktion zwischen Individuen, in
allen denkbaren gesellschaftlichen Bereichen quasi regelhaft determiniert und
bringt folgende thematische und kommunikative Konsequenzen mit sich:
1. Geschlecht wird meist als Differenzereignis thematisiert, d. h. Männlichkeit
und Weiblichkeit werden als essentiell
verschiedene Konzepte diskutiert.
2. Geschlecht wird in einer polarisierenden Perspektive, vornehmlich als sich
gegenseitig ausschließende Charaktereigenschaften von Männern und Frauen betrachtet.
3. Mit der Zuordnung und der Benennung
von Geschlecht ist eine Hierarchisierung in Status, Position und biographischen Möglichkeiten verbunden.
4. Mit der Thematisierung von Geschlecht
werden Stereotypen und Geschlechterbilder abgerufen und im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Glaubenssystemen (engl.: ‘gender belief systems’) definiert.
5. Geschlecht wird mit der Prämisse der
Vergeschlechtlichung von Arbeit verknüpft – denn Geschlecht wird in unterschiedlichen Formen der geschlechtlichen Arbeitsteilung geschaffen und bestätigt.
2. Geschlecht in Interaktionen und
Kontexten
Wie die o. g. Determinanten des Geschlechterdiskurses in der sozialen Praxis
reflektiert und für das Verständnis der
Flucht- und Migrationssituation produktiv
eingesetzt werden können, zeige ich im
folgenden an der Handhabung einiger
theoretischer Prämissen.
1. ‘Gender’ ist ein in Beziehungen stehendes Konstrukt – relational und weniger
essentiell. Gender ist keine statische Kategorie, sondern eine flexible und seine
Bedeutung entfaltet sich nur im Kontext. Die bedeutet für die Interaktion in
der sozialen Arbeit, an der Kontexthaftigkeit jeder Äußerung, sowie an ihrer
prozeßhaften Konstitution anzusetzen.
Gender muß im gesellschaftlichen, kulturellen und gruppenbezogenen Kontext des Klientel verstanden werden.
Somit sind auch die Konstruktionen von
Geschlecht beider Seiten in der Sozialen Arbeit zu reflektieren. Wird Gender
65
KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN
vor dem Hintergrund dieser Denkweise
als Organisationsprinzip des täglichen
Lebens angesehen, veranlaßt dies zur
Analyse der auf der Seite der SozialarbeiterInnen oder TherapeutInnen selbst
vorhandenen geschlechtsbezogenen Erfahrungen. Hierzu zählen beispielsweise die Erfahrungen mit geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung ebenso wie Familienstrukturen, biographische Möglichkeiten, Reproduktionsregeln, Bedingungen der Kindheit, Erziehung etc.
Dazu bedarf es neuer Fragen und Herangehensweisen. Es muß ein selbstreflexiver Ansatz unter Berücksichtigung
einer kritischen Analyse der etablierten
Diskurse entwickelt werden ( Supervision).
2. Eine auf Kommunikation und Interaktion, Prozesse und Kontexte ausgerichtete Reflexion ist weitreichender als
Überlegungen dazu, wie Männer und
Frauen, Jungen und Mädchen als Subjekte sind und wie sie sich ggf. unterscheiden. Das sog. Gender-Denken adäquat zu nutzen, sollte bedeuten, Überlegungen zu den Geschlechterverhältnissen, Geschlechterbeziehungen und
geschlechtsspezifischen Aufgabenbereichen sowie allen weiteren geschlechtsspezifischen Zuschreibungen, kritisch
in Frage zu stellen.
So muß bei der Sozialen Arbeit mit Kinderflüchtlingen bzw. Jugendlichen aus
anderen Gesellschaften jeweils mit einbezogen werden, welcher Glaube in
diesen Gesellschaften darüber existiert,
was die Aufgaben und Eigenschaften
der Geschlechter jeweils sind und wie
diese Glaubenssätze und Vorstellungen
den Verlauf von Interaktionen beeinflussen. Dieses sog. Glaubenssystem –
‘gender belief system’ (vgl. Kay Deaux
und Mary E. Kite 1987) – findet sich auf
allen Ebenen eines gegebenen gesellschaftlichen Systems wieder: in Glaubenssätzen des Rechtssystems ebenso
66
wie in der Familienpolitik oder in schulpolitischen Verlautbarungen; es dominiert die Medien ebenso wie die alltäglichen Strukturen und Interaktionen.
Gender manifestiert sich in den Glaubenssätzen der Menschen, die Realität
konstruieren.
3. So muß die Analyse von Gender immer
berücksichtigen, daß im Zusammenhang mit Geschlecht fundamentale Tabus in Gesellschaften vorherrschen, die
substantieller Bestandteil des ‘gender
belief systems’ sind. Tabus spielen im
Zustandekommen sexueller Tabus offensichtlich eine große Rolle, aber in
ähnlicher Weise finden sich Tabus bei
der geschlechtlichen Arbeitsteilung. Geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in
privaten und gesellschaftlichen Bereichen kann in diesem Sinne verstanden
werden als das Ergebnis von Tabus –
und weniger als die Ursache für die
Differenz zwischen Männern und Frauen (vgl. Beth B. Hess und Mary Ferree
1987). Differenz wird kreiert und belohnt, nicht die Gleichheit.
4. Die Analyse von Gender muß neben
diesen Tabus die herrschenden Differenzen in Prestige und Macht für das
Leben von Frauen- und Männern offenlegen. Gender ist assoziiert mit Macht
und Herrschaft. Geschlecht erscheint
als Strukturkategorie, als ein für MigrantInnen sowohl in der Herkunftsals auch in der Aufnahmegesellschaft
erfahrenes und determiniertes Konzept. Gender ist strukturell und weniger individuell. Frauen und Männer unterscheiden sich sehr stark im Zugang
zu Ressourcen und in ihren Chancen
für ihre persönliche Entwicklung. In jeder Gesellschaft finden sich historische
und gegenwärtige Variationen zwischen Männern und Frauen in ihren
Potentialen, aber auch in ihren Aspirationen, Einstellungen und Verhaltensweisen sowie in ihren biographischen
GESCHLECHT
Optionen und materiellen Möglichkeiten. Es ist von daher unerläßlich, die
Analyse auf die Machtaspekte des ‘gender’-Systems zu richten (vgl. Bernice
Lott 1990; Rhoda K. Unger 1991 und
Deniz D. Kandiyoti 1988).
5. Gender in Zusammenhang mit Flucht
und Migration zu reflektieren, führt zur
Konfrontation mit Grenzsituationen,
die die Erfahrungen sowie die Interaktion mit den Klientel bestimmen.
Kinderflüchtlinge befinden sich in einer
sehr schwierigen psychischen Situation. Kriegerische Konflikte, Verfolgung, Terror und Gewalt bilden ihren
Erfahrungshintergrund ( Ursachen
und Dimensionen). Im schlimmsten Fall
addieren sich dazu Folter und Vergewaltigungen – traumatische Erfahrungen, die im hiesigen Kontext mitverhandelt, thematisiert, verarbeitet und
rekonstruiert werden ( Traumatisierung). Das Konzept von Geschlecht, das
in einer solchen Situation – den sog.
‘points of change’ (vgl. Beth B. Hess
und Mary Ferree 1987, S. 10) – sichtbar
wird, ist demzufolge ein situationsspezifisch determiniertes, interaktives Konzept. Es ist ‘verwoben’ in Überlebenseinstellungen und -strategien oder in
‘symbolischen Rüstungen’ (vgl. Deniz
Kandiyoti 1988).
6. ‘Gender’ zu verstehen, verlangt darüber hinaus die Antizipation von Veränderungen über eine Zeitspanne. Veränderungen für MigrantInnen ergeben
sich auf verschiedenen Ebenen: geschlechtspezifische Erfahrungen der
Herkunftsgesellschaft verquicken sich
mit den individuellen Erfahrungen der
Flucht und Migration sowie im weiteren mit den Determinanten für Gender,
die das Aufnahmeland aufweist. Unumgänglich ist es demnach, an den alltäglichen Bedingungen vor der Flucht
anzusetzen (vgl. Rachel T. Hare Mustin
und Jeanne Marecek 1990) und hiervon
ausgehend die Mehrschichtigkeit der
Erfahrungen zu explorieren. Die Prozeßhaftigkeit der Kategorie ‘Geschlecht’ ist der Schlüssel für das Verständnis von Verhaltensweisen, die
‘gendered’ sind. Persönlichkeitsmerkmale spielen in diesen Interaktionen
nur eine sekundäre, d. h. untergeordnete Rolle (vgl. Rhoda K. Unger 1990, S.
116). Ausgangspunkt für die Interpretation von Verhalten und Interaktion
kann nur der Horizont der Handelnden
selbst sein.
3. Geschlechterbeziehungen in
Herkunfts- und Einwanderungsland –
Ausgangspunkt für die Soziale Arbeit
Um genauer zu verstehen, welche Problematik sich in bezug auf die Dimension der
geschlechtsbezogenen Selbsttypisierung
im Selbstkonzept von einwandernden Kindern und Jugendlichen im Aufnahmeland
Bundesrepublik ergibt, ist es notwendig,
nicht nur die gesellschaftlichen Geschlechterverhältnisse des jeweiligen Herkunftslandes zu kennen, sondern in der
Mikroperspektive
die
verschiedenen
(selbst) erfahrenen Ausdrucksformen von
Macht und Autorität in den Blick zu nehmen. Das heißt für die Soziale Arbeit, davon auszugehen, daß das Klientel andersartige, ausgeprägte Vorstellungen zum eigenen geschlechtsbezogenen Verhalten
hat, wie auch zu Männlichkeit und Weiblichkeit, zu Familienformen, Liebesmustern, Vorstellungen von Eltern-Kind-Beziehungen, Alltagstheorien von Erziehung, Kindheitskonzepten, aber auch zu
der Gestaltung von Generationenverhältnissen, von Freundschaften bzw. peer
group-Beziehungen ( Jugendkultur).
Den Ausgangspunkt für die Geschlechtsidentität und alle geschlechtsbezogenen Einstellungen von Individuen bildet das jeweilige Geschlechterverhältnis
in Gesellschaften. Kinderflüchtinge kom67
KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN
men i.d.R. aus gesellschaftlichen Kontexten, die einen anderen Entwicklungsstand
aufweisen als die bundesdeutsche Gesellschaft, sich meist auf dem Weg von der
Tradition in die Moderne befinden und daher noch Elemente von einfachen bzw.
nicht-industrialisierten ‘kleinen’ Gesellschaften sowie – trotz anhaltender Verstädterungsprozesse – rurale Lebensformen aufweisen. Sozial polarisierte Lebensverhältnisse und -niveaus kennzeichnen diese Gesellschaften, was für Kinder
und Jugendliche, insbesondere Mädchen,
bedeutet, daß Bildung keine universale
Option ist, sondern ein seltenes Privileg.
Das erfahrene Konzept von Geschlecht bildete sich somit auf dem Hintergrund von
Lebensformen, deren Basis der erweiterte
Haushalt ist, in dem die Lebenswelten der
Geschlechter, so Fatima Mernissis, ‘territorial’, d. h. räumlich segregiert sind (so
z. B. in der Türkei, Algerien, Marokko).
‘Segregierte’ Geschlechterverhältnisse
sind strukturell und kulturell in Welten
und Räume für Männer und für Frauen
separiert (vgl. Leonie Herwartz-Emden
1995 c). Für die weibliche Lebenswelt bedeutet eine solche separierte Geschlechterwelt, daß ein eigener ‘kultureller Raum’
(Maya Nadig 1987 und 1989 a und b) für
die Frau zur Verfügung steht., der ihr eine
durchaus machtvolle Position offeriert
und ggf. Aspekte von Geschlechtersymmetrie (vgl. zu dem Begriff Ilse Lenz 1990)
enthält. Dazu zählen weibliche Netzwerke
und Unterstützungssysteme, auch die sog.
‘multiple’ Mutterschaft (zusätzliche gewählte ‘Mütter’) sowie die gesamte Gestaltung der Mutter-Kind-Beziehung (vgl.
Leonie Herwartz-Emden 1995 a). Somit
finden sich als Ausgangspunkt für die
kindliche Entwicklung grundsätzlich andere Bedingungen ( Familie).
Die Lebensbasis und -form der westlichen Welt ist hingegen hochindustrialisiert und hochurbanisiert und weist ein
vergleichsweise hohes Wohlstands- und
68
Bildungsniveau auch für die Frau auf. In
der ‘integrierten’ Geschlechterwelt des
Westens – so kann das Geschlechterverhältnis im Gegensatz zur ‘territorialen’
Gestaltung bezeichnet werden – dominiert
im Vergleich dazu die Gestaltungsform
der Kleinfamilie auf der Basis einer ‘singulären’ Mutter-Kind-Beziehung (vgl. ebd.)
bzw. der individuell zu tragenden Alleinverantwortlichkeit der Frau für das Kind
und der daraus resultierenden Vereinbarkeitsproblematik zwischen Beruf, Bildung,
Familie.
Das vergleichsweise ‘integrierte’ Geschlechterverhältnis in westlichen, modernen Gesellschaften zeichnet sich gegenüber der ‘segregierten’ Geschlechterwelt aufgrund der hohen Bildungsbeteiligung der Frau durch erweiterte biographische Möglichkeiten für Frauen aus. Zugleich weist es aber einen fundamentalen
Widerspruch auf zwischen dem ideologischen Gleichheitsdiskurs und der andauernden faktischen Ungleichheit der Geschlechter bzw. der Benachteiligung der
Frau ( Mädchen).
Die Lebens- und Beziehungsformen
und damit die Aufwachsbedingungen der
Kinderflüchtlinge aus den jeweiligen Herkunftsgesellschaften sind insofern anders
als im Westen, als sie in der Regel so angelegt sind, daß der aufwachsenden Generation strukturell und potentiell der erweiterte Haushalt zur Verfügung steht
(wenn auch oft, je nach Herkunftsschicht,
nicht in der alltäglichen Versorgung). Die
Mutter-Kind-Beziehung ist ebenfalls strukturell in die Gruppe integriert; ihre Psychodynamik deutlich anders konturiert.
Für Kinder und Jugendliche beinhaltet ein
solch sozialisierter Kontext von Mutterschaft bzw. Elternschaft, daß sie über ein
vergleichsweise weit gefächertes Bezugssystem in der weiblichen Erwachsenenwelt verfügen. Ihnen werden große Bewegungsmöglichkeiten zugestanden. Sie sind
aber zugleich, in viel größerem Umfang
GESCHLECHT
als die meisten Kinder in der Bundesrepublik, in zentrale Aufgabenbereiche, Verantwortungen und Verpflichtungen im familiären Alltag eingebunden.
Anders als bei westlichen Kindern entwickelt sich auch ihre geschlechtsspezifische Identität. Einem türkischen Kind beispielsweise wird eine gänzlich andere Geschlechtstypisierung vermittelt als einem
in der westlichen Gesellschaft sozialisierten: Das geschlechtsspezifische Selbstkonzept ist nicht mit den polarisierten Eigenschaftspaaren in den Dimensionen Instrumentalität (= Männlichkeit) versus Expressivität (= Weiblichkeit) abzubilden, sondern umfaßt ausgeprägte Anteile von Androgynität für beide Geschlechter, eine höhere Expressivität des Mannes sowie wünschenswerte Instrumentalitätsmerkmale
für die Frau (Ergebnisse mit der BEMSkala im interkulturellen Vergleich, vgl.
Leonie Herwartz-Emden und Manuela
Westphal 1998). Die Selbstkonzepte von
Männern und Frauen sind andersartig dimensioniert und weniger dichotomisiert.
Westdeutsche Frauen entwerfen ein
durch expressive Eigenschaften der Frau
dominiertes Frauenbild, hingegen zeichnet sich das Frauenbild der Migrantin aus
der Türkei durch den Anspruch auf die
machtvolle Position der Frau in der Familie aus. Typische Geschlechtscharaktere
sind also nicht im westlichen Sinne gegensätzlich konstruiert. Geschlechtsunterschiede lassen sich innerhalb der Instrumentalitätsdimension finden und eine ganze Reihe expressiver Merkmale erscheinen für beide Geschlechter erstrebenswert (siehe für die Türkei auch Cigdem
Kagitcibasi und Diane Sunar 1997 sowie
für Migrantinnen in Deutschland Leonie
Herwartz-Emden,1995 b).
Vor dem Hintergrund der letztgenannten Überlegungen wird besonders deutlich, daß die Selbstkonzepte und geschlechtsspezifischen Orientierungen und
Einstellungen von migrierten Kindern und
Jugendlichen mit dem hiesigen hierarchischen Modernitäts- und Emanzipationsdiskurs und einer polarisierten Beurteilung – zwischen Tradition und Moderne –
nur schwerlich einzufangen sind. Aufgabe
der Sozialen Arbeit sollte vielmehr sein,
anknüpfend an ihrer je spezifischen Ausgangslage und den je spezifischen Sozialisationsmustern, eine Vermittlungsfunktion bei der Interpretation der hiesigen geschlechtsspezifischen Welt und den kindlichen oder jugendlichen Erfahrungen zu
übernehmen, die dem Entwurf von neuen
Orientierungen zuträglich ist. Im Hinblick
auf die Persönlichkeitsentwicklung von
Kinderflüchtlingen ( Persönlichkeitsentwicklung) und die dazu notwendigen pädagogischen Hilfen stellen ihre nicht-dichotomisierten, komplexen Konstruktionen
von ‘Geschlecht’ ein Potential dar, an das
in der Sozialen Arbeit unbedingt angeknüpft werden sollte. Das heißt, in diesem
Bereich sind, jenseits von Stereotypisierungen, Fähigkeiten und Qualitäten zu
entdecken, die beispielsweise für die Bildungsmotivation und -karriere der Kinder
und Jugendlichen genutzt werden könnten.
Zugleich muß eine kulturrelativistische
Beurteilungsweise je kritisch überprüft
werden, da ihnen die universalen Gerechtigkeits- und Emanzipationsideale nicht
vorbehalten werden dürfen (insbesondere
gilt dies für die Situation von Mädchen). Es
hilft beispielsweise wenig, in kulturalistischen Deutungen gefangen zu bleiben, um
Fehlverhalten oder Konflikte der Kinder
und Jugendlichen aus Arbeitsmigrantenfamilien zu erklären. So deutet Schiffauer
(1983) die brutale Mißhandlung und
Gruppenvergewaltigung eines Mädchens
durch türkische Jugendliche im Zusammenhang mit der Gültigkeit des sogenannten Ehrkonzeptes der türkischen Herkunftsgesellschaft, dem die Jugendlichen
verhaftet seien und das zu ‘Mißverständnissen’ in der Interpretation der Verhal69
KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN
tensweisen des Mädchens durch die jungen Männer verleitete. Geschlechtsspezifische Verhaltensweisen in Zusammenhang
mit Migration und Flucht zu erklären,
setzt vielmehr eine Analyse in bezug auf
das Zusammenwirken der Faktoren ‘Geschlecht’ und ‘Ethnizität’ ( Ethnizität)
voraus bzw. der Funktionsweise von Geschlecht und Geschlechterverhältnissen.
Geschlechtsspezifische
Erfahrungen
sind sehr eng mit den familiären Orientierungen und Bindungen, dem emotionalen ‘Innenleben’ von Kindern und Jugendlichen verbunden. Ihre familiären und geschlechtsbezogenen Erfahrungen und Erwartungen müssen bekannt werden, um
sie in die Soziale Arbeit einbeziehen zu
können. Hier kommt zusätzlich, eine angemessene Einschätzung erschwerend,
zum Tragen, daß in die Bundesrepublik
flüchtende Kinder häufig aus Ländern
kommen, in denen Kinder gehalten sind,
zu arbeiten und in verantwortlicher Weise
zum ökonomischen Überleben des gesamten Haushaltes beizutragen oder ihre eigene Existenz zu sichern. In der Bundesrepublik angekommen, werden sie mit einem Kindheitsmuster konfrontiert, in dem
Kinder nicht nur unselbständig sind, von
Erwachsenen lange Zeit abhängig, sondern von Erwachsenen dominiert und kontrolliert ( Kinder der Dritten Welt). Die
Flucht hebt die Verantwortung des flüchtenden Kindes für die Familie und die Bindung an die Herkunftsfamilie nicht auf,
sondern verstärkt sie – denn das Überleben im Westen soll insbesondere der hinterlassenen Familie zugute kommen (
Kinderflüchtlinge).
Konflikte, Spannungen und Widersprüche zwischen den Sozialisationsmustern
des Herkunftskontextes und den Bedingungen des Aufnahmekontextes ergeben
sich zwangsläufig. Zur Stabilisierung und
Balancefindung in der weiteren Identitätsentwicklung der Kinder und Jugendlichen
ist es demnach auch aus dieser Perspekti70
ve unumgänglich, die Komplexität ihrer
Bedingungen zu erfassen und ihre je spezifischen Erfahrungen genau auszumachen.
Darüber hinaus ist von Bedeutung , daß
Erziehung in traditionellen und/oder ruralen Kontexten meist eine wenig intentionale Erziehung ist. Sie findet vielmehr in
öffentlichen Sphären statt und ist in der
institutionalisierten Form, als schulische
Bildung, nicht selten durchdrungen von
kolonialen Ideologien und westlich dominierten Einflüssen. In bezug auf die geschlechtsspezifische Erziehung bedeutet
dies für Jugendliche und Schulkinder, daß
sie bereits alltägliche und ideologische Differenzen zwischen der Bildungseinrichtung und lokaler Kultur zu vereinbaren
hatten bzw. ihnen die Integration verschiedener Geschlechterbilder als eine vertraute Entwicklungsaufgabe erscheint ( Interkulturelle Pädagogik). Es kann aber
auch bedeuten, daß sie eine vereinheitlichende, religiös fundierte geschlechtsspezifische Erziehung durchliefen ( Religion).
Für Kinderflüchtlinge liegen genau in
diesem Bereich bedeutsame Herausforderungen für die von ihnen zu erbringende Akkulturationsleistung.
Literatur
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GESCHLECHT
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Herwartz-Emden, Leonie/Westphal, Manuela: „Konzepte mütterlicher Erziehung in Einwanderer- und
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Erziehungssoziologie (ZSE) 1997, 17. Jg./ Heft 1/ 1997,
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Lenz, Ilse: Geschlechtersymmetrie als Geflecht von
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Ohnmacht. Zehn ethnopsychoanalytische Thesen, in:
Kossek, Brigitte/Langer, Dorothea/Seiser, Gerti (Hg.):
Verkehren der Geschlechter. Reflexionen und Analysen von Ethnologinnen, Wien 1989 b, S. 264-271
Wiener
Nadig, Maya: Mutterbilder in zwei verschiedenen
Kulturen. Ethnopsychoanalytische Überlegungen, in:
Braun, Christina von/Sichtermann, Barbara/Nadig,
Maya u. a.: Bei Licht betrachtet wird es finster.
FrauenSichten, Frankfurt a. M. 1987, S. 81-104
Schiffauer, Werner: Die Gewalt der Ehre. Erklärungen
zu einem deutsch-türkischen Sexualkonflikt. Frankfurt am Main 1983
Unger, Rhonda K.: Imperfect Reflections of Reality.
Psychology Constructs Gender, in: Hare-Mustin,
Rachel T.; Marecek, Jeanne (Hg.): Making a Difference. Psychology and the Construction of Gender,
New Haven/London 1990, S. 102-149
Leonie Herwartz-Emden
Herwartz-Emden, Leonie/Westphal, Manuela: „Frauen
und Männer, Mütter und Väter: Empirische
Ergebnisse zu Veränderungen der Geschlechterverhältnisse in Einwandererfamilien“ in: Zeitschrift
für Pädagogik, Themenheft, 5/1998
Hess, Beth B./Ferree, Myra Marx (Hg.): Analyzing
Gender. A Handbook of Social Science Research,
Newbury Park/Beverly Hills/London u. a. 1987
Hess, Beth B./Ferree, Myra Marx : Introduction, in:
Dies.: Analyzing Gender. A Handbook of Social
Science Research, Newbury Park/Beverly Hills/
London u.a.: 1987, S. 9-30
71
KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN
Politik und
Gesellschaft
Wer Kinderflüchtlinge betreut, berät oder gar
über sie entscheidet, muß sich über die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse des
Heimatlandes im Klaren sein. Dazu bedarf es,
über die aufmerksame Lektüre und Wahrnehmung von Presseberichten und Nachrichtenmagazinen hinaus, Kenntnis auch über die einschlägigen Nachschlagewerke und Informationsquellen. Diese sollen im folgenden vorgestellt und kommentiert werden.
1. Lexikon Dritte Welt
Das von Dieter Nohlen herausgegebene
Lexikon Dritte Welt gilt in der fachpolitischen Diskussion als Standardwerk und
enthält in komprimierter Form vielfältige
Informationen über Länder, Organisationen, Theorien, Begriffe und Personen. Es
ist als Nachschlagewerk und Arbeitsmittel
konzipiert und vermittelt den Anspruch,
durch eine Kombination von Länderanalysen, organisationskundlichen und begrifflich-systematischen Stichwörtern umfassend über den fraglichen Gegenstand
zu informieren. Darüber hinaus finden
sich im Anhang eine Übersicht über Zeitschriften, Materialien und Periodika zum
Themenfeld
Entwicklungspolitik/Dritte
Welt sowie eine Anzahl von Tabellen, die
eine vergleichende Analyse bestimmter
Regionen, Länder und Problembereiche
erlauben.
Das Lexikon Dritte Welt erschien erstmals 1980 und wurde seither mehrfach
überarbeitet und aktualisiert. Sein Wert
liegt im Überblick, in der präzisen Information und der klar strukturierten Darstellung. Infolge der sich z. T. rasant wandelnden Entwicklungen insbesondere in
den Konfliktzonen dieser Welt befindet
man sich mit der Lektüre jedoch nicht immer auf dem aktuellsten Stand. Wer sich
ein differenziertes und zugleich wirklich72
keitsnahes Bild über die Lage in einem bestimmten Land, in einer bestimmten Region machen will – und das kann im Einzelfall lebensrettend sein –, muß sich daher um weitere Quellen bemühen. Das
Lexikon Dritte Welt kann in einigen Bundesländern über die Landeszentrale für
politische Bildung bezogen werden.
(Quelle: Dieter Nohlen (Hg.): Lexikon
Dritte Welt, Reinbek b. Hamburg 1994)
2. Ländermappen der Deutschen
Stiftung für internationale
Entwicklung
Die Deutsche Stiftung für internationale
Entwicklung (DSE) in Bonn ist „eine Institution des entwicklungspolitischen Dialogs und der Fort- und Weiterbildung für
Fach- und Führungskräfte aus Entwicklungs- und Transformationsländern. Darüber hinaus bereiten sich in der DSE deutsche Fachkäfte auf ihren Aufenthalt in einem Entwicklungsland vor“ (DSE Faltblatt).
Die DSE verfügt über die größte entwicklungspolitische Dokumentations- und
Informationsstelle in der Bundesrepublik
Deutschland. Die Zentrale Dokumentation
(ZD) steht allen Interessierten offen. Es
finden sich dort deutsch- und fremdsprachige Monographien, Graue Literatur,
Hochschulschriften, Jahresberichte, Zeitschriften, Informationsdienste, Zeitungen
und Umfrageergebnisse. Öffnungszeiten
der Bibliothek und der Pressedokumentation: Mo. und Do. 9.00 bis 16.00 Uhr sowie Fr. 8.00 bis 12.00 Uhr. Es stehen Leseplätze und Kopiergeräte zur Verfügung.
Darüber hinaus können Informationen
auf Anfrage zusammengestellt werden.
Diese beziehen sich auf:
– Bereitstellung von entwicklungspolitischem und länderkundlichem Informationsmaterial
– Auswahlbibliographien zu entwicklungspolitischen Themen
POLITIK UND GESELLSCHAFT
– Auswahlverzeichnisse aus der Institutionenkartei
– Individuelle Recherchen in den Literatur- und Forschungsdatenbanken sowie in der Pressedokumentation
– Beratung bei der Benutzung von Bibliothek und Pressedokumentation
– Versand von DSE-Veröffentlichungen
Wer also qualifizierte Informationen zu
einem bestimmten Land sucht – vielleicht
auch in Ergänzung bereits ausgewerteter
Quellen –, kann sich über die DSE z. B.
Ländermappen über bestimmte Zeiträume oder Themenbereiche zusammenstellen lassen. Diese Leistungen sind nicht gebührenfrei, aber auch nicht unerschwinglich.
(Adresse: Deutsche Stiftung für internationale Entwicklung – Zentrale Dokumentation –, Hans-Böckler-Str. 5, 53225
Bonn, Tel. 0228/4001-0)
3. Handbuch der Fluchtländer
Die wohl umfassendsten, detailliertesten
und aktuellsten Informationen über die
Herkunftsländer der Kinderflüchtlinge finden sich in dem von der Zentralen Dokumentationsstelle der Freien Wohlfahrtspflege für Flüchtlinge (ZDWF) e.V. in Siegburg herausgegebenen Handbuch der
Fluchtländer, einem 2-bändigen Loseblattwerk, das fortlaufend aktualisiert und
fortgeschrieben wird. Wer mit dem Handbuch arbeitet, hat also darauf zu achten,
daß die jeweiligen Aktualisierungen aufgenommen bzw. überfällige Informationen ausgetauscht bzw. entfernt werden.
Die BenutzerInnen sind aufgerufen, ihre
Anregungen, Ergänzungen und Aktualisierungen mitzuteilen, damit das Handbuch ständig erweitert, ergänzt und auf
aktuellem Stand gehalten werden kann.
Von Afghanistan bis Zaire werden alle
Fluchtländer dieser Welt vorgestellt, und
zwar jeweils anhand von Basis-Informationen über die Situation im Land, asylre-
levanten politischen Entwicklungen sowie
der Beschreibung der Asylsituation in der
Bundesrepublik Deutschland bzgl. wesentlicher Asyl-Entscheidungen und Quellen zu weiteren Dokumenten. Darüber
hinaus wurden detaillierte Berichte über
die Menschenrechtslage im Fluchtland –
z. B. vom Hohen Flüchtlingskommissariat
(UNHCR), dem US Department of State
und ‘amnesty international’ – aufgenommen, die einen differenzierten Blick auf
die Gesamtsituation im Herkunftsland erlauben. Soweit möglich, wird der besonderen Situation von Kindern auf der Flucht
ebenfalls Rechnung getragen.
„Dieses neue Handbuch der Fluchtländer wendet sich in erster Linie an all diejenigen, die Flüchtlinge im Asylverfahren
beraten. Dies sind die Rechtsanwältinnen
und Rechtsanwälte, die den Asylsuchenden im immer komplizierteren und engherzigeren Rechtsverfahren zur Seite stehen. Dies sind die Sozialarbeiterinnen und
Sozialarbeiter in den Beratungsstellen, die
sich trotz immer knapper werdender Mittel und härterer Restriktionen nicht entmutigen lassen. Und dies sind die ungezählten ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter in kirchlichen, sozialen,
gewerkschaftlichen, politischen und unabhängigen Gruppen und Flüchtlingsinitiativen, denen das Schicksal vor Verfolgung,
Hunger, Krieg und Unterdrükkung nach
Deutschland geflohener Menschen nicht
gleichgültig ist“ (Handbuch, Vorwort).
Als Nachschlagewerk ist das Handbuch
der Fluchtländer für eine qualifizierte
Soziale Arbeit mit Kinderflüchtlingen unverzichtbar und sollte daher allen Initiativen und Institutionen verfügbar sein.
(Quelle: Handbuch der Fluchtländer,
hrsg. von: Zentrale Dokumentationsstelle
der Freien Wohlfahrtspflege für Flüchtlinge e.V., Postfach 1110, 53701 Siegburg,
Tel. 02241/50001)
73
KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN
4. Journalisten-Handbuch
Entwicklungspolitik
Das Journalisten-Handbuch Entwicklungspolitik wird jährlich vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung (BMZ) herausgegeben
und aktualisiert. „Absicht und Ziel des
Handbuches ist es, den Benutzer in die Lage zu versetzen, schnell und exakt Basisinformationen über die Entwicklungspolitik Deutschlands sowie internationaler
Institutionen zu erhalten“ (Journalistenhandbuch 1996, S. 2).
Das Journalisten-Handbuch bereitet in
handlicher Form Informationen zu folgenden Bereichen der Entwicklungspolitik
auf:
– Grundsätze
– Organisation/Instrumente
– Entwicklungspolitik im Parlament
– Leistungen an die Partnerländer
– Bilaterale Zusammenarbeit
– Finanzielle Zusammenarbeit
– Technische Zusammenarbeit
– Personelle Zusammenarbeit
– Bereiche der Zusammenarbeit
– Nichtstaatliche Organisationen
– Bilaterale Wirtschaftsbeziehungen
– Europäische Union
– Multilaterale Institutionen
– Zentrale Probleme der Entwicklungsländer
– Weltwirtschaftsordnung
– Länder und Zusammenschlüsse sowie
– Anschriften/Informationen
Darüber hinaus enthält das Journalisten-Handbuch ein Stichwortverzeichnis
und eine Vielzahl von Tabellen, die die
entwicklungspolitischen Leistungen und
Maßnahmen des BMZ sowie die globalen
Entwickungstrends ins Verhältnis setzen.
Informationen über Länder, mit denen die
Bundesrepublik Deutschland keine Entwicklungszusammenarbeit fördert oder
nicht mehr fördert, finden sich im Journalisten-Handbuch nicht. Dabei handelt
es sich häufig um Länder, die aufgrund ei74
ner besonders krisenhaften Entwicklung
(vorübergehend) nicht mehr gefördert
werden oder aus der Zusammenarbeit
ausscheiden, darunter auch Fluchtländer.
Das Journalisten-Handbuch vermittelt
dennoch eine Fülle von Informationen
über die Entwicklungen, Verhältnisse und
Probleme in den Ländern wirtschaftlicher
Zusammenarbeit, wobei hier insbesondere die Adressen und Institutionenverweise
wertvoll sind. Das Journalisten-Handbuch
kann kostenlos beim BMZ angefragt werden.
(Adresse: Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Friedrich-Ebert-Str. 40, 53113 Bonn,
Tel. 0228/535-0 bzw. Außenstelle Berlin,
Kurstr. 40, 10117 Berlin, Tel. 030/2038-0)
5. Spuren – Hintergrund und Fakten zu
den Weltflüchtlingsbewegungen
Der Bundesverband Deutsche Jugend in
Europa in Bonn hat einen Band seiner
Spuren den Kindern und Jugendlichen in
Krisen und Kriegsgebieten gewidmet. Er
soll hier beispielhaft aufgenommen sein,
da er neben einigen thematisch relevanten Beiträgen zum Thema Kinderflüchtlinge auch Länderberichte enthält, die allerdings relativ allgemein gehalten sind.
Diese Länderberichte bestehen aus Presseberichten, die sich mit dem Phänomen
Kinder auf der Flucht befassen, darunter:
– Kinder und Jugendliche in Europa
– Kinder und Jugendliche in den USA
– Kinder und Jugendliche in Südamerika
– Kinder und Jugendliche in Afrika
– Kinder und Jugendliche im Nahen
Osten
– Kinder und Jugendliche in Asien
Ziel dieses Bandes ist es, „aufgearbeitete Materialien über Hintergründe und Fakten der gegenwärtigen Weltflüchtlingsbewegungen zur Verfügung zu stellen, und
zwar insbesondere für den Einsatz im Bereich der außerschulischen politischen
L I T E R AT U R
Bildung von Jugendlichen“ (Spuren 3, S.
V).
(Quelle: Spuren – Hintergründe und
Fakten zu den Weltflüchtlingsbewegungen, Band 3: Kinder und Jugendliche in
Krisen und Kriegsgebieten, hrsg. vom
Bundesverband Deutsche Jugend in Europa, Prinz-Albert-Str. 1 a, 53111 Bonn,
Tel. 0228/224081)
Weitere ausgewählte Literaturhinweise
zu den Herkunftsländern von Kinderflüchtlingen entnehmen Sie bitte dem Beitrag zum Stichwort Literatur ( Literatur).
Gisela Wuttke
Literatur
– Nohlen, Dieter/Nuscheler, Franz (Hg.):
Handbuch der Dritten Welt. Verlag
J.H.W. Dietz Nachfolge GmbH, Bonn
1993
– Band 4: Westafrika und Zentralafrika
– Band 5: Ostafrika und Südafrika
– Band 6: Nordafrika und Naher Osten
– Steinbach, Udo/Hofmeier, Rolf/Schönborn, Mathias (Hg.): Politisches Lexikon
Nahost/Nordafrika. Beck Verlag, München 1994
2. Bibliographie
Gesellschaft zur Förderung der Literatur
aus Afrika, Asien und Lateinamerika e.V.
(Hg.): Quellen. Bibliographie. Zeitgenössische Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika in deutscher Übersetzung.
Frankfurt a.M. 1998
Mit den folgenden Literaturangaben sollen
zwei Ziele verfolgt werden: zum einen Hintergrundinformationen zu den Hauptherkunftsländern zu vermitteln, und zum anderen soll
weiterführende Literatur aus authentischer
Feder in Form von Romanen, Autobiographien,
Erzählungen, Märchen und Gedichten den Zugang zu den jugendlichen Flüchtlingen erleichtern.
3. Herkunftsländer
1. Grundlegende Nachschlage- und
Standardwerke
zum Weiterlesen:
– Hussain, Taha: Jugendjahre in Kairo.
Autobiographischer Roman. Edition
Orient, Berlin 1986
– Mahfus, Nagib: Die Kinder unseres
Viertels. Roman. Unionsverlag, Zürich
1995
– Saadawi, Nawal El; Hamidas: Geschichte. Erzählung. dtv, München 1994
– amnesty international: Jahresberichte,
Fischer Verlag, Frankfurt a.M.
– Der Fischer Weltalmanach: Zahlen, Daten, Fakten 99, Fischer Verlag, Frankfurt a.M.
– SPIEGEL Almanach ‘99: Alle Länder
der Welt, Zahlen Daten Analysen, SPIEGEL-Buchverlag; Hamburg
– Ende, Werner und Steinbach, Udo
(Hg.), unter red. Mitarb. von Gundula
Krüger: Der Islam in der Gegenwart,
Beck Verlag, München 1996
Ägypten (Nord-Afrika)
– Büttner, Friedemann/Klostermeier, Inge: Ägypten. Beck Verlag, München
1991
– Ende/Steinbach: Der Islam in der Gegenwart
– Steinbach/Hofmeier/Schönborn: Politisches Lexikon Nahost/Nordafrika
Afghanistan (West-Asien)
– Ende/Steinbach: Der Islam in der Gegenwart
– Hübel, Helmut: Afghanistankrieg. Das
75
KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN
Ende des Kalten Krieges im Orient,
Oldenbourg Verlag, 1995
– Klieber, H.: Afghanistan. Geschichte,
Kultur, Volkskunst, Teppiche. Landsberger Verlagsanstalt, Landsberg 1989
zum Weiterlesen:
– Doubleday, Veronica: Die Kluge, Die Bedrückte, Die Unabhängige. Drei Frauen
in Afghanistan. Rowohlt Verlag, Reinbek 1989
– Lorenz, Manfred (Hg.): Afghanische
Märchen. insel Verlag, Frankfurt a. M.
1990
Albanien (Südost-Europa)
– v. Kohl, Christine: Albanien. Beck Verlag, München 1998
zum Weiterlesen:
– Kadaré, Ismail: Chronik in Stein. Kindheitsroman. München 1992
Aserbaidschan (Vorder-Asien)
– s. Rußland und GUS-Staaten
zum Weiterlesen:
– Elçin: Das weiße Kamel. Roman aus
Baku. Unionsverlag, Zürich 1994
Bosnien-Herzegowina (Südost-Europa)
– Bali, Smail: Das unbekannte Bosnien,
Europas Brücke zur islamischen Welt.
Böhlau Verlag, Köln 1992
– Fritzler, Marc: Stichwort Bosnien. Heyne Verlag, München 1994
zum Weiterlesen:
– Filipovic, Zlata: Ich bin ein Mädchen
aus Sarajevo. Gustav Lübbe Verlag,
Bergisch-Gladbach 1992
– Rathfelder, Erich: Sarajevo und danach. Beck Verlag, München 1998
Ghana (West-Afrika)
Algerien (Nord-Afrika)
– s. Nigeria
– Herzog, Werner: Algerien. Zwischen
Demokratie und Gottesstaat. Beck Verlag, München 1995
zum Weiterlesen:
– Ama Ata, Aidoo: Die Zweitfrau. Eine
Liebesgeschichte. Roman. Lamuv Verlag, Göttingen 1998
– Awoonor, Kofi: Schreckliche Heimkehr
nach Ghana. Lembeck Verlag, Frankfurt a. M. 1985
– Darko, Amma: Das Hausmädchen. Roman. Schmetterling Verlag, Stuttgart
1998
zum Weiterlesen:
– Ghalem, Ali: Die Frau für meinen Sohn.
Roman. Lenos TB, Basel 1994
– Mimouni, Rachid: Die Stammesehre.
Roman. Kinzelbach Verlag, Mainz 1996
Armenien (Vorder-Asien)
– Hofmann, Tessa: Annäherung an Armenien. Beck Verlag, München 1997
– Hofmann, Tessa: Armenier und Armenien. Heimat und Exil. Rowohlt Verlag,
Reinbek 1994
– weitere Hintergrundinformationen s.
Rußland und GUS-Staaten
zum Weiterlesen:
– Krakuni, Zareh: Von den Steinen Armeniens. Gedichte. Edition Orient, Berlin
1990
76
Georgien (Vorder-Asien)
– s. Rußland und GUS-Staaten
Iran (Vorder-Asien)
– Halm, Heinz: Der Schiitische Islam. Von
der Religion zur Revolution. Beck Verlag, München 1994
– Steinbach/Hofmeier/Schönborn: Politisches Lexikon Nahost/Nordafrika
zum Weiterlesen:
– Ahmad, Mahmud: Die Rückkehr. Ro-
L I T E R AT U R
–
–
–
–
man. Glaré Verlag, Frankfurt a. M.
1997
Doulatabadi, Mahmoud: Der leere Platz
von Ssolutsch. Familienroman. Unionsverlag, Zürich 1996
Said: Der lange Arm der Mullahs. Notizen aus meinem Exil. Gedichte und
Texte. Beck Verlag, München 1996
Siege, Nasrin: Der Tag des Regenbogens. Märchen, Mythen und Geschichten. Verlag Brandes & Apsel, Frankfurt
a. M. 1995
weitere Infomationen siehe „Quellen“
Jugoslawien (Südost-Europa)
– Fritzler, Marc: Stichwort Das ehemalige
Jugoslawien. Heyne Verlag, München
1994
– Libal, Wolfgang: Die Serben. Blüte
Wahn und Katastrophe. Europa Verlag,
Wien 1996
Kosovo -– Provinz
– v. Kohl, Christine/Libal, Wolfgang: Kosovo. Gordischer Knoten des Balkan.
Europa Verlag, Wien 1992
zum Weiterlesen:
– Özakin, Aysel: Die Zunge der Berge.
Beziehungsroman. Goldmann Verlag,
München 1997
Kasachstan (Zentral-Asien)
– s. Rußland und GUS-Staaten, sowie Ende/Steinbach: Der Islam in der Gegenwart, a.a.O.
Kirgisistan (Zentral-Asien)
– s. Rußland und GUS-Staaten, sowie Ende/Steinbach: Der Islam in der Gegenwart, a.a.O.
zum Weiterlesen:
– Aitmatow, Tschingis: Kindheit in Kirgisien. Unions Verlag, Zürich 1997
Kongo, Demokratische Republik (ZentralAfrika)
– s. Nigeria
zum Weiterlesen:
– Mayamba, Pierre Kembo: Verlorene
Gefühle. Leben zwischen zwei Heimaten. Haag und Herchen Verlag, Frankfurt a. M. 1995
Liberia (West-Afrika)
– Körner, Peter: Macht und Interessenpolitik in der ECOWAS-Region und der
Krieg in Liberia. Hamburg 1997
Nigeria (West-Afrika)
– Nohlen/Nuscheler: Handbuch der Dritten Welt Nr. 4
zum Weiterlesen:
– Becker, Friedrich (Hg.): Afrikanische
Märchen. Fischer Verlag, Frankfurt
a. M. 1989
– Emecheta, Buchi: Zwanzig Säcke Muschelgeld. Familienroman. Unionsverlag, Zürich 1991
– Nwapa, Flora: Efutu. Roman über ein
Frauenschicksal. Lamuv Verlag, Göttingen 1997
– Saro-Wiwa, Ken: Sozaboy. Antikriegsroman. dtv, München 1998
– Soyinka, Wole (1986 Nobelpreis): Ake.
Jahre der Kindheit. Autobiographie.
Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 1989
– weitere Informationen siehe „ Quellen“
Rumänien (Südost-Europa)
– Verseck, Keno: Rumänien. Beck Verlag,
München 1998
– Wagner, Richard: Sonderweg Rumänien. Bericht aus einem Entwicklungsland. Rotbuch Verlag, Berlin 1992
zum Weiterlesen
– Müller, Herta: Hunger und Seide. Essays über Rumänien u. a., Rowohlt
Verlag, Reinbek 1995
77
KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN
– Sabin, Stefana (Hg.): Rumänien erzählt.
17 Erzählungen. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 1991
Rußland und GUS-Staaten (Ost-Europa
und Asien)
– Brunner, Georg: Nationalitätenprobleme und Minderheitenkonflikte in Osteuropa. Verlag Bertelsmann Stiftung,
Gütersloh 1996
– Götz, Roland/Halbach, Uwe: Lexikon
GUS, Beck Verlag, München 1996
– Götz, Roland/Halbach, Uwe: Politisches
Lexikon Rußland, München 1994
– Kappeler, Andreas: Russische Geschichte. Beck Verlag, München 1997
– Neef, Christian: Der Kaukasus. Rußlands offene Wunde. Aufbau Taschenbuch Verlag Berlin 1997
– Trutanow, Igor: Zwischen Koran und
Coca Cola. (Bericht aus den zentralasiatischen GUS-Staaten) Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 1994
zum Weiterlesen:
– Iskander, Fasil: Tschik. Geschichten aus
dem Kaukasus. Band 9190, Fischer TB
Verlag, Frankfurt a.M.
– Krone-Schmalz, Gabriele (Hg.): Von der
russischen Seele. Anthologie. Econ Taschenbuch Verlag, Düsseldorf 1996
Sierra Leone (West-Afrika)
– s. Nigeria
zum Weiterlesen:
– Cheney-Coker, Syl: Der Nubier. Historischer Roman. Hammer Verlag Wuppertal 1994
Somalia (Ost-Afrika)
– Matthies, Volker: Äthiopien, Eritrea,
Somalia, Djibouti. Das Horn von Afrika.
Beck Verlag, München 1997
zum Weiterlesen:
– Nuruddin, Farah: Maps. Kindheitsroman. Fischer Verlag, Frankfurt 1994
Sri Lanka (Süd-Asien)
– Bötig, Klaus: Sri Lanka. Menschen, Religion, Kunst und Kultur. Goldstadt
Verlag, Pforzheim 1991
– Sri Lanka verstehen. Heft Nr. 6. Studienkreis für Tourismus und Entwicklung, Kapellenweg 3, 82541 Ammerland/Starnberger See, Tel.: 08177-1783
zum Weiterlesen:
– Gunesekera, Romesh: Riff. Roman.
Unionsverlag, Zürich 1996
Togo (West-Afrika)
– s. Nigeria
Senegal (West-Afrika)
– s. Nigeria
zum Weiterlesen:
– Bâ, Mariama: Der Scharlachrote Gesang. Bi-nationaler Beziehungsroman.
Fischer Verlag Frankfurt a.M. 16. Aufl.
1998
– Bâ, Mariama: Ein so langer Brief. (Bilanz einer Ehe). Roman. Ullstein Verlag,
Berlin 1998
– Senghor, Léopold Sédar: Sterne auf der
Nacht deiner Haut. Liebesgedichte.
Hammer Verlag, Wuppertal 1994
78
zum Weiterlesen:
– Kassindja, Fausia/Layli Miller Bashir:
Niemand sieht dich, wenn du weinst.
Blessing Verlag, München 1998
Türkei (Südost-Europa/Asien)
– Buhbe, Matthes: Türkei, Politik und
Zeitgeschichte. Leske & Buderich Verlag, Opladen 1996
– Ende/Steinbach: Der Islam in der Gegenwart, a.a.O.
– Göle, Nilüfer: Republik und Schleier.
Die muslimische Frau in der modernen
Türkei. Babel Verlag, Berlin 1995
L I T E R AT U R
– Faruk: Türkei. 4. Aufl. Beck Verlag,
München 1996
– Seufert, Günter: Café Istanbul. Alltag
Religion und Politik in der modernen
Türkei. Beck Verlag, München 1997
zum Weiterlesen:
– Carton, Martine: Fatmas Geschichte.
Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 1997
– Kemal, Yasar: Memed mein Falke. Roman eines jugendlichen Helden.
Unionsverlag, Zürich 1994
– Kemal, Yasar: Töte die Schlange. Blutracheroman. Unionsverlag Zürich 1989
– Pazarkaya, Yüksel (Hg.): Rosen im
Frost. Handbuch zur Einführung in alle
Bereiche der türkischen Kultur. Unions
Verlag Zürich
– Dewran, Hasan: Mit Wildnis im Herzen.
Gedichte. Brandes & Apsel Verlag,
Frankfurt a. M. 1998
Roma (ethnische Minderheiten in SüdostEuropa)
4. Minderheiten
– Djuric, Rajko: Auf der Suche nach der
verlorenen Seele, Sinti und Roma, Herkunft, Kultur, Zukunft. Edition Hentrice
1997
– Reemtsma, Katrin: Roma in Mazedonien. Menschenrechtsbericht der Gesellschaft für bedrohte Völker, Göttingen 1995
– Reemtsma, Katrin: Sinti und Roma, Geschichte, Kultur, Gegenwart. Beck Verlag, München 1996
– Remmel, Franz: Die Roma Rumäniens.
Volk ohne Hinterland. Picus Verlag,
Wien 1993
Aleviten (Religiöse Minderheit in der
Türkei)
5. Religionen
– Dierl, Anton Josef: Geschichte und Lehre des anatolischen Alevismus-Bektasismus. Dagyeli Verlag, Frankfurt a.M.
1985
Alevismus
– s. Minderheiten Aleviten
Islam
Kurden (ethnische Minderheit in der
Türkei, Iran, Irak und Syrien)
– Aziz, Namo: Kurdistan. Menschen Geschichte Kultur. Verlag Das Andere,
Nürnberg 1992
– Demirkol, M./Solmaz, E.: Kurdenfrage
in der Türkei, 1997
– Metzger, Albrecht: Zum Beispiel Kurden. Lamuv Verlag, Göttingen 1996
zum Weiterlesen:
– Aksoy, Ihsan: Das Lied des Kurden. Roman. Internationales Kulturwerk Hildesheim 1994
– Baksi, Mahmut: In der Nacht über die
Berge (Jugendbuch), Nagel & Kimche
Verlag, Zürich 1997
– Astare, Kemal: Volksmärchen aus Kurdistan. Ararat Verlag, Winterthur 1995
– Ende/Steinbach: Der Islam in der Gegenwart, a. a. O.
– Heine, Peter: Kulturknigge für Nichtmuslime. Ein Ratgeber für alle Bereiche des Alltags. Herder Verlag, Freiburg 1996
– Rotter, Gernot (Hg.): Die Welten des
Islam. 29 Vorschläge, das Unvertraute
zu verstehen. Fischer Geschichte Verlag, Frankfurt a.M. 1993
– Schimmel, Annemarie: Der Islam. Eine
Einführung. Reclam jun. Verlag, Stuttgart 1990
– Tibi, Bassam: Der religiöse Fundamentalismus im Übergang zum 21. Jahrhundert. (Meyers Forum; 34). B.I. Taschenbuch Verlag, Mannheim 1995
Rosemarie Peter
79
KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN
Religionen –
Eine Einführung
Dieser Aufsatz soll Denkanstöße für die Begegnung mit anderen Religionen vermitteln. Aufgegriffen wird die Frage nach dem Wesen und
Anlaß von Religion, ebenso wie die Relation
zwischen Religion und Kultur. Gibt es gemeinsame Grundzüge religiösen Denkens? Was sind
Gemeinsamkeiten der großen Weltreligionen?
Auf einzelne Religionen bzw. Glaubensrichtungen wird in den nachfolgenden, getrennten
Aufsätzen eingegangen, jeweils mit Schwerpunkt auf Herkunftsländern von Kinderflüchtlingen. Religionen und ihr Kontext füllen Bibliotheken. Hier kann nur versucht werden, zu
weiterer, vertiefender Lektüre anzuregen.
Die Natur des Menschen ist immer die gleiche;
was sie trennt, sind ihre Bräuche.
(Konfuzius, 551 – 478 v. Chr.)
1. Was ist Religion?
Religion ist ein universales Phänomen.
Alle Völker der Erde kennen ein ‘Absolutes’ oder einen persönlichen Gott. Diese
Annahme übermenschlicher Macht wird
vermutlich benötigt, um die eigene Existenz zu erklären und sich der universellen Menschheitsfrage nach dem Ursprung
der Welt zu nähern. Für die menschliche
Existenzsicherung unerläßlich erscheinen
vor allem die Pflege der Beziehungen zu
abwesenden Verwandten und Gruppenangehörigen sowie Ahnen, Geistern und
Göttern und die Abwehr von Kontakten zu
Fremden, Unheilsgeistern und feindlichen
Gottheiten. „Beides geschieht in der
Hauptsache mit Mitteln der Magie und
Religion...“ (Müller 1987, S. 237). Religion
ist ein System von Glauben und Praktiken,
die einer Gesellschaft zentrale Werte
übernatürlicher Kräfte vermitteln können,
ihren Mitgliedern Rückhalt bieten und
Identität schaffen. Religion ist integrativ
und gleichzeitig ausschließend. Sie formt
80
soziales Verhalten und wirkt sich auf den
Alltag und ‘common sense’ aus, ähnlich
wie Träume im Unterbewußtsein nachwirken. Damit verbundene Rituale, Mythen und Symbole unterliegen vielfältigen
Variationen (vgl. Geertz 1972), entsprechend der Vielfältigkeit der Kulturen, denen sie jeweils angepaßt sind, in deren
Kontext sie sich einfügen und deren
Wandel sie sich anpassen.
Wanderbewegungen, Flucht, Vertreibung und Migration bewirken Veränderungen und Abwandlungen von Einstellungen und Lebensweisen ebenso, wie globale Modernisierungserscheinungen. Insbesondere in der Erfahrung von erzwungener oder freiwilliger Neuorientierung
durch Migration, kann der Rückgriff auf
religiöse und mystische Orientierungen eine Bedeutung im Leben der Betroffenen
erlangen, die über die im Herkunftsland
gewohnte hinausgeht. Religion kann in ihrer sozialen Komponente als Zuflucht und
Rückzugsmöglichkeit an Gewicht gewinnen. Als Grenz- und Differenzbestimmung
gegenüber anderen kommt es häufig zur
Neudefinition, Konkretisierung oder Neuformulierung von Inhalten religiösen und
mystischen Denkens. Kritik oder Angriffe
von Außenstehenden verstärken solche
Tendenzen.
2. Kinder und Religion
Kulturelle und religiöse Anschauungen
von Kinderflüchtlingen sind dem Bereich
existentieller Erfahrungen zuzuordnen,
der sich dem freien Austausch mit Betreuenden i.d.R. für lange Zeit verschließt.
Oft sind es nur besondere Speisewünsche,
die Aufschluß über religiöse Orientierungen geben. Ohnehin sind die Beziehungen
zum Herkunftsland sehr unterschiedlich
und schwer durchschaubar. Im allgemeinen muß davon ausgegangen werden, daß
das Wissen dieser Kinder und Jugendlichen über eigene religiöse Hintergründe
RELIGIONEN – EINE EINFÜHRUNG
oft eher fragmentarisch ist, eher ein Gegenstand ‘impressionistischer Erinnerung’ als ein erfahrener und verinnerlichter Sozialisierungsvorgang. Sie ließen ihr
gewohntes Umfeld zurück, in dem sich
das Lernen von ‘legitimer Kultur’ (Durkheim) ihrer Herkunft hätte fortsetzen und
stabilisieren können, sei es implizit und
diffus wie gemeinhin innerhalb der Familie, oder explizit und spezifisch ausgerichtet wie im Rahmen der Schule.
Für Kinder kann religiöse Erfahrung
zwiespältig sein, sie kann identitätssichernd oder bedrohlich wirken. Sie beinhaltet die Erfahrung von Differenz: als
eine hilfreiche oder strafende ‘Übermacht’, die letztlich eher bedrohlichen
Charakter haben kann, da sich ihr selbst
Erwachsene beugen. Dazu kommt, daß
viele Flüchtlinge – auch ältere Kinder und
Jugendliche – Religion als Anlaß für Ausgrenzung und Verfolgung von Minderheiten in ihrer Heimat erlebten.
In der Begegnung und Arbeit mit Kindern und Jugendlichen aus anderen Kulturen darf nicht vergessen werden, daß
Kindheit und Jugend unterschiedlich definiert wird. Die Dauer der Kindheit, wie
auch der Eintritt ins Jugend- bzw. Erwachsenenalter, sind von religiösen, sozialen und individuellen Voraussetzungen
und Lebensbedingungen abhängig. Man
denke dabei nur an Situationen, in denen
Kinder zum Familieneinkommen beitragen müssen. Dem Übergang ins Erwachsenenalter widmen fast alle Religionen
Rituale, die gleichzeitig die Aufnahme und
Akzeptanz als Mitglied der Gemeinschaft
signalisieren. Dazu gehören auch Beschneidungsrituale, auf die weiter unten
eingegangen wird.
3. Religion und Kultur
Religiöses Denken und religiöse Praxis
sind eng mit dem jeweiligen Umfeld verbunden und in allen Religionen und Glau-
bensrichtungen anzutreffen. Das gilt für
den christlichen Glauben ebenso, wie für
den Hinduismus, den Islam und andere
Religionen. Kulturelle Verhaltensweisen,
aus der Herkunft tradiert und alltäglich
beeinflußt, spiegeln sich darin ebenso, wie
geschichtliche Erfahrungen1. Sie schlagen
sich im sozialen Verhalten nieder. Ein gutes Beispiel, da ihre Wirksamkeit mitunter
öffentlich ist, sind geschlechtsspezifische
Verhaltensregeln. Darunter fällt mitunter
die Beurteilung dessen, was männliche
oder weibliche Reize, was Reinheit oder
Unreinheit ausmacht und deshalb (scheinbar) moralischer Regeln innerhalb einer
Gesellschaft oder religiöser Handlungsanweisungen bedarf. Kulturell definiert und
religiös beeinflußt ist so die Einschätzung
und der Umgang mit menschlicher Haarpracht, sei sie unter dem Arm, auf der
Brust oder auf dem Kopf! In vielen Beschneidungsritualen (s. u.) nimmt der Umgang mit dem Körper- und Kopfhaar eine
herausragende Rolle ein. Seine Entfernung symbolisiert hier den Übergang und
die Reinigung aus einem Stadium von
Unreinheit und Tod (vgl. Swantz 1986,
S. 282).
Kinder wachsen in dergleichen gesellschaftliche Konzepte hinein. Sie gehen jedoch mit dem gesellschaftlichen Reservoir
an Werten, Handlungen und Glaubensvorstellungen auf eine Weise um, die nur
zu ihnen gehört und die Teil ihrer oft unterschätzten Autonomie ist (vgl. Hardmann 1993, S. 60 ff). Schließlich sind sie –
ausserhalb von Extremsituationen wie
Krieg und Gewalt – weder passive Objekte, noch hilflose ZuschauerInnen in einer
sie bedrängenden Umwelt. Die verbreitete
Unterschätzung kindlichen Potentials
dürfte nicht zuletzt auch auf religiöse Lehren und Traditionen zurückzuführen sein,
denen weitgehend gemeinsam ist, daß sie
Kinder häufig erst mit dem Eintritt in die
Pubertät als volles Mitglied der jeweiligen
Gemeinschaft betrachten.
81
KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN
3.1 Beschneidung
Zur Verbreitung von Beschneidungspraktiken gibt es keine genauen und überprüfbaren Daten. Frauenrechtsorganisationen
oder Aktionsgruppen gegen weibliche –
inzwischen auch gegen männliche – Beschneidung müssen sich weitgehend auf
Schätzungen berufen. Beschneidungen
sind nicht grundsätzlich religiös begründet. Historisch gesehen ist diese Praxis bereits in Malereien aus dem pharaonischen
Ägypten dokumentiert. Als Gründe für die
heute praktizierte männliche Beschneidung kurz nach der Geburt werden religiöse und/oder hygienische Gründe angeführt. So werden im Judentum männliche
Kinder am 8. Lebenstag beschnitten, als
religiöses Symbol des Bundes Gottes mit
Abraham. Darüber hinaus ist in vielen
Gesellschaften, wie z. B. in den USA, die
Beschneidung männlicher Kinder üblich.
Hygienische, soziale und moralische
Gründe werden dafür herangezogen. In
Gesellschaften, in denen die Beschneidung religiös und/oder mythisch begründet wird, bleibt das Individuum vor der
Pubertät und insbesondere vor der Beschneidung ohne soziale oder magische
Konsequenz. Hier verlieren die Heranwachsenden mit dem Abschluß der damit
verbundenen Rituale viele der Freiheiten,
die sie bis dahin genießen konnten (vgl.
Rachewitz 1968, S. 15 ff). Ihre Kindheit ist
praktisch beendet.
Die Beschneidung von Kindern oder
Heranwachsenden beiderlei Geschlechts
ist besonders in islamischen Gemeinschaften weit verbreitet. Im Koran ist jedoch
keine spezifische Handlungsanweisung
dafür nachweisbar. Insbesondere weibliche Beschneidung2 ist eindeutig auf Unterdrückung oder Zerstörung weiblicher
Lust und Lebensfreude ausgerichtet. Sie
wird in unterschiedlichen Formen praktiziert, die bis zu massiver Verstümmelung
mit Todesfolge reichen. Dabei werden die
kleinen Schamlippen und/oder die Klitoris
82
(Sunna-Beschneidung) beschnitten oder
entfernt. Bei der ‘Pharaonischen Beschneidung’, der Infibulation3, werden zusätzlich zur Klitoris auch die kleinen und
die großen Schamlippen der meist dreibis achtjährigen Mädchen abgetrennt und
dann die gesamte Vaginaöffnung so zugenäht, daß nur eine kleine Öffnung verbleibt: „Die Narben der Infibulation sind
das Siegel der Familienehre und der Ehre
der Patrilineage“ (Boehringer-Abdalla
1987, S. 71). Im Nordsudan beispielsweise
wird diese Beschneidung von einer traditionellen Geburtshelferin ausgeführt,
nicht von einer ausgebildeten Hebamme,
und ohne Betäubung. Om Naeema, eine
ägyptische Muslima, erinnert sich an ihre
Beschneidung als den Tag, an dem sie
dachte „der Himmel würde über ihr einstürzen“ so stark war der Schock der
Schmerzen.4 Besondere Zuwendung der
Erwachsenen, Kleider, Schmuck, Süßigkeiten und magische Glückssymbole sollen die Mädchen von den Schmerzen der
rituellen Operation ablenken. Die Beschneidung ist Anlaß für ein großes Fest,
für Verwandte, Nachbarn und FreundInnen.
In afrikanischen Gesellschaften, wo Beschneidungen auch bei Angehörigen
christlicher und anderer Glaubensrichtungen praktiziert werden, wird diese
Praxis mit althergebrachten afrikanischen
Denkweisen begründet. Diese Vorstellungen gehen davon aus, daß der Mensch von
Geburt an ein doppeltes Geschlecht habe.
Erst die Beschneidung macht den Menschen eindeutig männlich oder weiblich
und damit auch fruchtbar. Seine Rolle und
Zugehörigkeit innerhalb seiner Gesellschaft wird erst durch diesen Eingriff klar
definiert.
In vielen Gesellschaften sind Beschneidungspraktiken nach wie vor tief verankert. Ohne Beschneidung droht den Betroffenen immer noch Ächtung, Ehelosigkeit und Verlust zukunftssichernder Ein-
RELIGIONEN – EINE EINFÜHRUNG
bindung in verwandtschaftliche, gesellschaftliche und religiöse Netzwerke. Verbunden damit und daraus resultierend befürchtet die Generation der Erwachsenen,
der beschneidenden Akteure, den Verlust
von Ansehen, die Gefährdung der Alterssicherung durch die Kinder und deren
Enkel. Dies alles trägt dazu bei, daß selbst
in der Migration die Beschneidungspraxis
nicht oder nur sehr zögernd aufgegeben
wird, wie eine Befragung von Somalis in
der Schweiz ergab (vgl. Beck-Karrer 1996,
S. 119 ff). Gesetze zum Verbot von Beschneidungen, wie im Fall des Sudan oder
neuester Bestrebungen in Westafrika5, haben angesichts unzureichender Aufklärung bisher wenig Wirkung gezeigt. In Anbetracht der befürchteten Folgen eines
Verzichts auf Beschneidung und damit eines von den Normen abweichenden Verhaltens, beugen sich Betroffene – mitunter
gegen besseres Wissen – nach wie vor dem
gesellschaftlichen Druck. Öffentliche Kampagnen und Aufklärung werden nur sehr
langfristig dieser Praxis entgegenwirken6.
Mit dem Eintritt der Menstruation unterliegen Mädchen besonderen Verhaltensvorschriften, die oft religiös begründet
oder sanktioniert werden. Sehr verbreitet
ist die Zuschreibung magischer, vorrangig
negativer Außenwirkung von weiblicher
Menstruation. Entsprechende Verhaltensregeln enthält zum Beispiel der Koran. Sie
sind jedoch auch anderen Religionen nicht
fremd. Die Bindung körperlicher Verfassung an die Möglichkeiten der Religionsausübung scheint sich auch in der christlichen Kirche lange Zeit „zäh behauptet“ zu
haben (Douglas 1988, S. 82). So wurde eine Frau mit einer dreiwöchigen Fastenbuße belegt, wenn sie während der Menstruation eine Kirche betrat oder an der
Kommunion teilnahm. Die Bedeutung ritueller Verunreinigung durch Blut fand auch
im Bußbuch des Erzbischofs Theodore von
Canterbury (668 – 690) seinen Niederschlag.
4. Ethik
Die religiöse Unterweisung von Kindern
und Jugendlichen und damit verbundene
ethische Fragen, rücken auch in Deutschland immer stärker ins Zentrum des öffentlichen Interesses. Zahlreiche Religionen sind heute nicht mehr auf ihre Ursprungsgebiete beschränkt. Selbst in Westeuropa ist eine zunehmende Vielfalt von
Glaubensrichtungen zu verzeichnen. Diese Verschiedenartigkeit spiegelt sich in gesellschaftspolitischen Debatten wider. Wie
ist zu verhindern, daß Kinder wegen ihres
Glaubens benachteiligt werden? Welche
Möglichkeiten gibt es und welche Formen
und Inhalte kommen möglichst vielen
Betroffenen entgegen? Gibt es gemeinsame Grundlagen, auf deren Ebene eine
Verständigung möglich wäre? Ist allgemeine Religionskunde oder Ethikunterricht heute angemessener, als der herkömmliche Religionsunterricht? Wer darf
die Kinder und Jugendlichen darin unterweisen? Erleichtern könnte die Debatten,
wenn man sich auf gemeinsame Ebenen
besinnt, auf denen ein Treffen möglich
wäre: schließlich sind ethische Anweisungen in allen großen Weltreligionen formuliert. Ungeachtet der Unterschiede in
den religiösen Deutungssystemen sind die
konkreten ethischen Forderungen bei allen mehr oder weniger die gleichen (vgl.
Antes 1988, S. 155 ff). Aus christlicher
Sicht lassen sie sich im Grundtenor durch
die Zehn Gebote zusammenfassen.
Zentral in dieser Diskussion ist weiterhin die Frage nach dem Einfluß religiöser
Unterweisung auf die Identitätsbildung
von Kindern. Wie ist ‘Beheimatung’ von
Kindern in einer Religion gegenüber der
informierenden Begegnung mit anderen
Religionen zu gewichten? (Vgl. Schweitzer
1997, S. 266 ff). In der Sozialisationsforschung sind hier noch viele Fragen offen.
Eindeutig scheint jedoch, daß der Religion
eine wesentliche Funktion in der Identitätsbildung zukommt. Ob diese durch frü83
KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN
he Begegnung mit anderen Religionen positiv beeinflußt wird, oder ob vor dieser
Begegnung Wissen und Sicherheit im ‘Eigenen’ anzustreben ist, darüber herrscht
wohl auf längere Sicht Uneinigkeit. Die
aktuelle Debatte christlicher und islamischer ReligionsvertreterInnen in Deutschland läßt dies vermuten.
5 z. B. von Frauenrechtsgruppen der Elfenbeinküste/
Westafrika (FR 2./3.10.1998); Verabschiedung eines
gesetzlichen Verbots in Togo (FR 5.12.1998).
5. Ein Schlußwort
Tips zum Weiterlesen
Herkunftsorientierte Netzwerke bieten
ZuwanderInnen und Flüchtlingen Rückhalt und Versicherung der eigenen Identität. Glaubensgemeinschaften sind vielfach Teil dieser Netzwerke. „Religion bedarf der religiösen Gemeinschaft und das
Leben in einer religiösen Welt bedarf des
Anschlusses und Kontakts mit dieser Gemeinschaft“ (Berger/Luckmann 1966). Die
Einbindung in eine Religion vermittelt Zugehörigkeit und kann den Streß scheinbarer Verlassenheit und Ausweglosigkeit reduzieren. Zudem kann sich die meditative
Wirkung religiöser Praxis günstig auf das
psychische Wohlbefinden auswirken, eine
Erkenntnis aus Langzeitstudien (vgl. Wess
1998), deren Konsequenz für Flüchtlinge
in ihrer belasteten Situation von besonderer Bedeutung ist.
6 z. B. AG „Genitalverstümmelung“ der Terre des
Femmes e. V., Konrad-Adenauer-Str. 40, 72072
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Anmerkungen
1 Am Beispiel des Islam in Marokko und Indonesien
sehr anschaulich darstellt von C. Geertz (1968,
1991).
2 Beispiele der Verbreitung weiblichen Beschneidung (aus Beck-Karrer 1996): Dschibuti und
Somalia je 100 %; Äthiopien, Sierra Leone, Mali je
90 %, Burkina Faso je 70 %, Elfenbeinküste, Kenia je
60 %, (...) Zaire, Uganda je 5 %.
3 Sie gilt z. B. im Sudan bereits seit 1946 als illegal, ist
jedoch nach wie vor weit verbreitet.
4 Om Naeema, deren männlicher Beschneider zwar
eine Betäubung verwendete, die jedoch schnell
nachließ. In: Atiya 1991.
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Frankfurter Rundschau Dokumentation 1.11.1996:
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Frankfurter Rundschau, 29.6.1998: Die im Dunkeln
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Tageszeitung Berlin, TAZ, Reportage 28.1.1997:
Bullion, Constanze v.: „Brothers“ auf Zeit
Renate Holzapfel
RELIGIONEN – AFRIKA
Religionen – Afrika
Der folgende Beitrag geht exemplarisch auf religiöse Bewegungen in Afrika ein. Im Mittelpunkt stehen Christentum und Islam (siehe
auch „Religionen – Der Islam“). Dabei kommt
zum Ausdruck, welch große Vielfalt der riesige
afrikanische Kontinent zu bieten hat. Die allgemein übliche und auch hier vorgenommene
Aufteilung in Afrika südlich bzw. nördlich der
Sahara erscheint besonders im Zusammenhang von Glaubensfragen angemessen, da sich
das nördliche Afrika sehr viel stärker am arabischen Raum orientiert, als dies im Süden der
Fall ist, auf den hier Bezug genommen wird.
Eine besondere Rolle spielt zudem der Nordosten (z. B. Äthiopien), auf den besonders eingegangen wird. Die Thematik der Beschneidung wird im Aufsatz Religionen – eine
Einführung aufgegriffen. Hinweise auf lokale
Einflüsse und kulturelle Varianten sollen Hilfestellung leisten, das Verständnis religiöser
Phänomene in Afrika zu erleichtern und vertiefende Informationen gezielt aufzugreifen.
1. Religiöse Bewegungen südlich der
Sahara
1.1 Geschichtlicher Hintergrund und
Strukturen
Bereits einige Jahrhunderte ehe das Christentum Mitte des 15. Jahrhundert Westafrika erreichte, hatte der Islam in einigen
begrenzten Gebieten Fuß gefaßt. Bis dahin waren Naturreligionen, vielfach auch
als traditionelle Religionen bezeichnet,
verbreitet. Die Bezeichnung ‘Naturreligionen’ bezieht sich auf Glaubenspraktiken
von meist isoliert lebenden Gemeinschaften, denen Naturvorgänge unbeherrschbar und vielfach bedrohlich erscheinen
und deren gesamte Existenz – sozusagen
omnipräsent – von Religion durchdrungen
ist. Auflösung erfuhr diese Spannung erst
in dem Maß, in dem Menschen lernten,
Naturvorgänge zu beherrschen. Erst dann
waren sie in der Lage, Religiöses und Profanes zu trennen (vgl. Thiel 1988). In den
Naturreligionen wird die Religion in allen
Bereichen des Lebens benötigt, die außerordentlich stark von Ritualen beherrscht
werden. Damit wird eine Gruppenbindung
und -bestätigung erreicht, die entlastende
und existenzsichernde Wirkung hat, der
insbesondere gegenüber der scheinbaren
Übermacht der umgebenden Lebenswelt,
dem umgebenden Kosmos und gegenüber
der Außenwelt große Bedeutung zukommt. In frühen Forschungen als ortsgebunden und statisch angesehen, haben
‘traditionelle’ Religionen bei genauer Betrachtung eine hohe Flexibilität bewiesen.
Sie ermöglichten Kontakte mit anderen
Kulturen und überdauerten auch Flucht
und Migration (vgl. Clarke 1986, S. 11). In
vielen Teilen Afrikas beeinflußte Religion
bzw. mystisches Denken alle Lebensbereiche, einschließlich der Kunst. Darstellungen von Göttern, heiligen Königen sowie
Kultgegenständen aus Bronze, Terrakotta,
Holz usw., heute im Original und in Nachbildungen vielfach Objekte touristischer
Vermarktung, wurden als Teil religiöser
Praxis gefertigt.
Im Blick auf ihre Geschichte wird die
enge Verbindung zwischen Religion und
Politik, Ökonomie und sozialer Organisation afrikanischer Gesellschaft nach wie
vor gerne übersehen. Die Verknüpfung
unterschiedlichster Interessen zeigt sich
auch im Engagement mancher christlicher Missionare nicht nur in der Politik,
sondern auch in Handel und Kommerz
(vgl. Clarke 1986, S. 11). Der Zugang zu
den Mächtigen konnte die Missionierung
erleichtern. Entschied sich eine Führungsperson zum Glaubensübertritt, zog diese
meist zahlreiche weitere Übertritte nach
sich. Konvertierungen zu Islam oder Christentum waren für viele afrikanische Führer keine private, individuelle Entscheidung. Das Wohlergehen und die zukünftige gesellschaftliche Entwicklung der Mitglieder des jeweiligen Stammes oder Volkes stand mit diesem Schritt und der Vor87
KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN
bildfunktion der Person im Zusammenhang. Trotz der Konvertierung wurden jedoch oft traditionelle Religionen oder zumindest damit verbundene Praktiken weiterhin beibehalten. Eine starke Motivation
dafür liegt – unter anderem – in der Bedeutung der Ahnen, deren Zustimmung zu
diesem Schritt nur schwer sicherzustellen,
jedoch aus gesamtgesellschaftlicher Sicht
notwendig geworden wäre. Die zusätzliche
Aufrechterhaltung traditioneller Glaubenselemente und -praktiken erschien so
als sinnvolle und konsensfähigste Lösung,
ganz abgesehen von der Schwierigkeit,
unter den lokalen Gegebenheiten so
grundlegende Veränderungen größeren,
oft schwer erreichbaren Bevölkerungsgruppen zugänglich und verständlich zu
machen. Inzwischen entstand eine lebhafte Diskussion darüber, ob und inwieweit
es traditionellen afrikanischen Glaubensrichtungen gelang, Weltreligionen, wie
zum Beispiel das Christentum zu ‘domestizieren’, oder ob diese die alten Glaubenssysteme erheblich verändert oder
möglicherweise ersetzt haben (vgl. ebd., S.
226).
Insgesamt war der Islam erfolgreicher
darin, Konvertierungen herbeizuführen,
da er weniger rigoros in vorhandene Gewohnheiten eingriff, als dies durch das
Christentum der Fall war. Wesentlich war,
daß die neu gewonnenen Gläubigen die
fünf Grundpfeiler islamischen Glaubens
( Religionen – Der Islam) beachteten. Für
die zum Christentum Konvertierten griff
der neue Glaube viel gravierender in den
Alltag ein und die Missionare zeigten über
lange Zeit wenig Toleranz gegenüber Traditionen, die nach ihrer Meinung nicht mit
dem Christentum zu vereinbaren waren.
Geisterbesessenheit (siehe unten) wurde lange als eine moralisch abwertende
Randerscheinung bei muslimischen afrikanischen Gesellschaften betrachtet, die
lediglich von marginalisierten Gesellschaftsmitgliedern – und oft nur von Frau88
en – praktiziert wird. In der Praxis1 zeigt
sich jedoch, daß Geisterbesessenheit und
ihre Praktiken verbreitet sind. Ihre AnhängerInnen vertreten die Auffassung,
daß kein Widerspruch darin besteht, ein
guter Muslim oder eine gute Muslima zu
sein und gleichzeitig Geister zu akzeptieren und zu feiern.
1.2 Neuere Religiöse Entwicklungen in
Afrika
Mit der Ankunft der neuen Religionen
Christentum und Islam im Afrika südlich
der Sahara, entstand dort eine Interaktion
mit einheimischen (traditionellen) religiösen Bewegungen. So tendiert afrikanisierter Islam noch heute stark zu eigenen
Formen. Die schwarzafrikanische Version
einiger großer islamischer Sekten brachte
zum Beispiel Formen der Anthropolatry
hervor, in denen der Vorsitzende einer
Bruderschaft Zentrum der Anbetung ist
(z. B. bei den Muriden im Senegal). Es entstanden neue Bruderschaften, wie die der
Hamalisten im Sudan, die soziale und politische Reformen anstrebten (vgl. Alexandre 1974, S. 193 ff).
Neuere Einflüsse und Veränderungen
bereits vorhandener religiöser Bewegungen sind deutlich erkennbar. Im Hinblick
auf Inhalte und Ziele kann von fünf Hauptgruppen gesprochen werden (vgl. Turner
1988, S. 945 ff), wobei jedoch durch geringe Institutionalisierung noch starke
Wandlungen eintreten können:
– Eng an einheimische Traditionen angelehnt, mit Elementen anderer Glaubensrichtungen, wie Monotheismus
(Gott oder Allah); islamisch beeinflußte
neue Besessenheitskulte oder in Ostnigeria der ‘Godianismus’, der das Christentum ablehnt und sich um einen
neuen, einen ‘Gott von Afrika’ ägyptischen Ursprungs zentriert.
– Bewußt angestrebte Synthese aller Traditionen um eine neue afrikanische Re-
RELIGIONEN – AFRIKA
ligion zu bilden; christliche Komponenten überwiegen islamische Anteile.
– Versuch einheimische Traditionen zu
verlassen, ohne jedoch islamische oder
christliche Inhalte in offiziell anerkannter Form zu vertreten; z. B. Vernachlässigung des Koran, des Fastens und
Betens in einem Kult der Elfenbeinküste, in Nigeria die God’s Kingdom Society, die Weihnachten durch ein Tabernakelfest ersetzt.
– Afrikanisierte Bewegungen wollen entweder islamisch oder christlich sein,
haben ihr Hauptgewicht jedoch auf
praktische Relevanz statt auf orthodoxe
Konformität gelegt; z. B. die von Hamallah 1925 gegründete islamische
Bruderschaft, deren heilige Stadt Nioro
und nicht Mekka ist; christliche Beispiele dieser Form sind in Nigeria ‘Aladura’-Kirchen2, sog. ‘spirituelle’ Kirchen in Westafrika, Botswana und anderen Gebieten und ‘Zionisten’ in Südund Zentralafrika.
– Orthodoxe Bewegungen wollen dem Islam oder dem Christentum folgen und
in diesem Sinn ihre Gemeinschaften erneuern, jedoch unabhängig von äusserer Beeinflussung und unter afrikanischer Führung. Im Islam sind dies
mahdistische (Verkünder von Welterneuerung) Bewegungen. Im Christentum sind die Beispiele seit ca. 1880
zahlreicher. Am bekanntesten ist die
Kimbanguist Church in Zaire, die 1970
in den Ökumenischen Weltrat der Kirchen aufgenommen wurde.
Neuere islamische Bewegungen scheinen sich auf Westafrika, insbesondere Senegal zu konzentrieren. Neue Bewegungen christlicher Orientierung sind vor allem in Ghana, Nigeria, Südafrika und
Zaire anzutreffen, wo das Christentum am
längsten etabliert war. Die Zahl dieser Bewegungen wird auf bis zu 20.000 geschätzt! Allein in Ghana waren in den
70er Jahren etwa 500 bekannt. Eini-
gungsbestrebungen z. B. der Aladura-Kirchen waren in der Vergangenheit wenig
erfolgreich. Befürchtungen, daß in einer
stark zentralisierten Organisation das
persönliche Engagement sowohl gegenüber dem Glauben und seinen Praktiken,
als auch der Mitglieder untereinander leiden würde, zählten zu den Hindernissen,
die diesen Bestrebungen immer wieder im
Wege standen. Viele dieser afrikanischen
Bewegungen haben inzwischen auch in
Deutschland – insbesondere in Großstädten – Orte der Glaubensausübung gefunden, wo sich ein mitunter sehr lebhaftes
Gemeindeleben abspielt.
2. Nordostafrika
2.1 Die Äthiopisch-Orthodoxe Kirche
„Die äthiopische Kultur ist eine kirchliche
Kultur...“ (Falkenstörfer 1986, S. 73). Diese Feststellung eines Kenners des Landes
erscheint vermessen, angesichts der
Vielfalt von 70 bis 80 Völkern oder Stämmen unter den ca. 54 Mio. EinwohnerInnen des Landes. Religionsgemeinschaften
wie der Islam, der Protestantismus und
traditionelle Volksreligionen konnten nie
die Bedeutung der äthiopisch-orthodoxen
Kirche erreichen, sie trugen eher dazu
bei, daß selbst eine so bedeutende Volksgemeinschaft wie die ca. 25 Mio. Oromos
(Galla) Nordostafrikas untereinander gespalten war. Die orthodoxe Kirche blieb
über Jahrhunderte staatlich subventionierte Religion und ein wichtiger, oft entscheidender Faktor für das äthiopische
Nationalbewußtsein (vgl. Schneider 1970,
S. 36). Ihr Wirken schlug sich in bedeutenden künstlerischen Werken nieder, im
Handwerk, in der Malerei und in der Musik. Säkulare Kunst entwickelte sich erst
im 19. Jahrhundert.
Staatsreligion wurde das Christentum
schon im 4. Jahrhundert n. Chr. im Königreich Aksum.3 Zusammen mit der amhari89
KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN
schen Sprache, der „Sprache des Königs“
(Eshete 1982, S. 11), verbreitete es sich
insbesondere ab dem 13. Jahrhundert
nach Süden. Abgesehen von einer eher
lockeren Verbindung mit dem Koptischen
Patriarchat von Alexandrien (aus Ägypten
kam stets der Erzbischof), entwickelte sich
die Äthiopische Orthodoxe Kirche relativ
isoliert und eigenständig, insbesondere
zwischen 650 und 1268 n. Chr. während
der Ausbreitung des Islam. Basierend auf
den zentralen christlichen Lehren, sind jedoch vorchristliche Elemente semitischen
und kuschitischen Ursprungs deutlich
(vgl. Hammerschmidt 1970, S. 42 ff). Alle
drei Hauptreligionen Äthiopiens, Christentum, Islam und Judentum, beeinflußten sich gegenseitig sehr stark.
Das Klosterleben spielte schon früh eine große Rolle. Eine große Besonderheit
der äthiopischen Kirchenlandschaft sind
die zahlreichen, äußerst beeindruckenden
Felsenkirchen, von denen einige schon im
12. Jahrhundert und früher aus dem gewachsenen Felsen gehauen wurden. Die
oft riesigen Gebäude und ihre Zugänge
sind ohne Ortskundige mitunter schwer zu
entdecken. Sie sind Anziehungspunkt für
TouristInnen, haben jedoch ihre Bedeutung als Stätten aktiver Religionsausübung behalten. Insbesondere an bedeutenden religiösen Festtagen sind sie Treffpunkte hoher kirchlicher Würdenträger
und Schauplätze elaborierter Zeremonien, die in den Kirchen selbst und auf
großen Plätzen in der Nähe stattfinden.
Hier verdeutlicht sich dann augenfällig die
ganz besondere Ausprägung äthiopischen
christlichen Glaubens.4 Eindrucksvoll sind
die religiösen Gesänge, die beherrschten,
in relativ langsamem Rhythmus zelebrierten Reihentänze der Würdenträger mit
ihren Tanzstöcken und einer Art Schellen,
von Trommeln begleitet. Diese Feste sind
gleichzeitig Anziehungspunkte für die
wandernden Musiker, deren viersaitiges
Hauptinstrument die religiösen Gesänge
90
begleitet, jedoch ebenso zur Unterhaltung
der vielen FestbesucherInnen außerhalb
der Zeremonien genutzt wird. Berühmt
sind diese Musiker für ihre spontanen und
sehr beliebten Spottlieder.
Das koptisch-äthiopische Jahr beginnt
am 29. August des Julianischen Kalenders
und ist in zwölf Monate mit je dreißig
Tagen aufgeteilt sowie einem dreizehnten
Monat mit fünf Tagen – in Schaltjahren
sechs Tagen. Eines der bedeutendsten religiösen Feste – Timkat (Temqat/Taufe Jesu) – wird am 6. Januar gefeiert, nach
dem Gregorianischen Kalender am 19. Januar.
2.2 Äthiopien nach der Revolution 1974
Seit dem 19. Jahrhundert hatten sich neue
Missionskirchen gebildet, die jedoch nicht
die Bedeutung der äthiopisch-orthodoxen
Kirche mit ca. 20 Mio. Gläubigen erlangten. Nach der Revolution wurden viele
dieser Kirchen geschlossen, ihre Mitglieder diskriminiert und einige in Haft genommen.5 Der Landbesitz der Kirchen
wurde als Folge der Landreform enteignet. Die Orthodoxe Kirche ging mit dem
Verlust des Status einer Staatskirche dazu
über, eine bewußte Mitgliedschaft mit Mitgliedsausweis und Jahresbeitrag einzuführen.
Muslime, mehr als ein Drittel der Bevölkerung, blieben ohne Bedeutung und
ihre drei wichtigsten Festtage (Opferfest,
Fastenbrechen, Geburtstag Mohammeds)
wurden erst nach der Revolution am 22.
März 1975 gesetzliche Feiertage. Die lange Tradition rechtlicher und gesellschaftlicher Herabsetzung spiegelt das Sprichwort: „Der Himmel hat keine Säulen, und
der Moslem hat kein Land“ (vgl. Falkenstörfer 1986, S. 70 f). Es stammt aus Tigre,
der Heimat des heutigen Staatspräsidenten.
Nachdem sich die Euphorie der ersten
Revolutionsjahre etwas gelegt hatte, er-
RELIGIONEN – AFRIKA
fuhren orthodoxe Kirchen sowie Moscheen einen starken Zuspruch, insbesondere von Jugendlichen. Mit der Einrichtung von Sonntagsschulprogrammen sollte dieser Zustrom auf Dauer gebunden
werden. Angesichts des hohen Nachholbedarfs im Bereich schulischer Bildung
ein durchaus attraktives Angebot: zum
Zeitpunkt der Revolution wurde die Analphabetenrate auf 93 % geschätzt; 71,2 %
der schulfähigen Kinder hatten keinen
Zugang zu einer Schule (vgl. Eshete 1982,
S. 43). Das Alphabetisierungsprogramm
war seither sehr erfolgreich und die schulische Versorgung ist erheblich verbessert.
2.3 Eritrea
Immer schon war der Kampf um den
Zugang zum Roten Meer für Eritrea und
Äthiopien Anlaß für Konflikte und Kriege.
Ende des 19. Jahrhunderts von der italienischen Kolonialmacht gegründet und
‘Eritrea’, ‘Land am Roten Meer’ genannt,
blieb das Gebiet fünfzig Jahre lang bis
1941 italienische Kolonie. Die Geschichte
des Landes ist über mehr als 2.000 Jahre
eng mit der äthiopischen Geschichte verbunden, teilweise identisch mit ihr. Auch
die kultur- und stammesgeschichtliche
Vielfalt ist ähnlich der Äthiopiens. Seine
Hauptsprache, Tigrinya, stammt vom
Geez, der Sprache des Reiches von Axum,
ab, das sich zeitweise weit in den heutigen
Sudan ausdehnte. Nachdem Italien in der
Folge des letzten Weltkrieges alle Kolonien aufgeben mußte, bildete Eritrea auf
Beschluß der UNO eine Förderation mit
Äthiopien. Die ohnehin kaum vorhandenen Möglichkeiten zur schulischen Bildung eritreischer Kinder reduzierten sich
weiter durch äthiopische Machtausübung:
Sie bewirkte 1960 das Verbot eritreischer
Sprachen, die Einführung von Amharisch
als Unterrichtssprache und reduzierte die
Schulbildung auf eine kleine Schicht Privilegierter. Sichtbarer Widerstand gegen
äthiopische Herrschaftsansprüche kam
1962 von der zunächst stark islamisch geprägten Eritrean Liberation Front, ELF.
Damit begann ein langer Krieg, während
dem Tausende als Flüchtlinge das Land
verließen.
Heute zählt Eritrea ca. 3,5 Mio. Einwohner. Etwa jeweils die Hälfte der Bevölkerung sind Muslime bzw. Christen. Von
den Christen werden wiederum ca. 95 %
der koptisch-orthodoxen Kirche zugerechnet, etwa 5 % sind katholischen bzw. protestantischen Glaubens. AnhängerInnen
‘afrikanischer’ Religionen werden nach offiziellen Angaben mit 1 % angegeben6, eine
Zahl, die jedoch mit großen Vorbehalten
zu betrachten ist. Seit Mai 1993 ist Eritrea
ein selbständiger Staat und versucht den
Wiederaufbau möglichst ohne fremde Hilfe
und neue Abhängigkeiten. Angesichts der
Zerstörungen, der erforderlichen Reintegration von ca. 70.000 demobilisierten
EPLF-KämpferInnen (Etritrean People Liberation Front) und der Repatriierung zurückgekehrter Flüchtlinge aus dem Sudan
eine schwere Aufgabe.
Über die Grenzen verschiedener Religionszugehörigkeiten hinaus, gab es in
Eritrea lange eine ausgeprägte Beschneidungspraxis für Jungen und Mädchen, sowohl bei Muslimen als auch bei Christen7.
Wieweit die EPLF ihr erklärtes Ziel erreichte, weibliche Beschneidung abzuschaffen, kann nicht eindeutig festgestellt
werden. In Eritrea könnte eine entsprechende Kampagne durchaus erfolgreicher
verlaufen, als dies in anderen Ländern der
Fall ist, da dafür u. U. auf gut vernetzte
Organisationsstrukturen aus dem Bürgerkrieg zurückgegriffen werden könnte.
Bisher erwiesen sich entsprechende Gesetze – wie zum Beispiel im Sudan – jedoch gegenüber den damit verbundenen
sozialen Konsequenzen als weitgehend
wirkungslos ( Religionen – Eine Einführung).
91
KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN
3. Besessenheit und Geisterglaube –
‘Zar’
Die Abgrenzung zwischen Besessenheitskulten, dem Auftreten von Trancezuständen und religiösen Glaubensinhalten ist
undeutlich. Im folgenden soll kurz auf einen Besessenheitsglauben aus dem Nordosten Afrikas eingegangen werden, der
starke Verbreitung hat. BetreuerInnen
von Kindern und Jugendlichen aus dieser
Region berichten von Zwischenfällen, die
eine Information zum Thema angebracht
erscheinen lassen.
Insbesondere aus dem Sudan und aus
Äthiopien liegen zahlreiche Berichte vor,
die darauf hinweisen, daß der ‘Zar-Kult’
bzw. ‘Zar-Glaube’ nach wie vor große
Bedeutung hat. Es wird sogar davon ausgegangen, daß dieses Phänomen in den
letzten Jahren starke Ausbreitung fand.
‘Zar’ bezeichnet den Glauben und die
Praktiken, die mit einer besonderen Art
von Geister-/Besessenheitsglauben verbunden sind.
Susan Kenyon berichtet von einer vom
Krankenhaus fast aufgegebenen Patientin
im Sudan, deren Heilung sie kurz vor der
bereits terminierten Operation beiwohnte.
Die Leiterin einer örtlichen Zar-Gruppe,
die ‘umiya’, vollzog die Behandlung und
Heilung mit Räucherduft und einem kleinen Metallkreuz als äußere Requisiten.
Diagnostiziert hatte die umiya die Krankheit von Fatima als ‘Krankheit des Zar’,
und genauer ‘des Zar des Kreuzes’. Fatima war nach dem Befund der umiya von
dem christlichen, äthiopischen Geist Bashir besessen, der die lebensbedrohenden
Symptome verursacht hatte. Während der
‘Behandlung’ sprach Bashir durch Fatima. So teilte er mit, er wolle keine Operation. Einige Tage später war Fatima geheilt entlassen worden (vgl. Kenyon 1995).
Fälle von Besessenheit scheinen in Zeiten von sozialem Streß häufiger aufzutreten. Auffallend ist, so Kenyon, daß die
92
Mehrheit der Geister männlich ist, während sich unter den Besessenen viele
Frauen befinden. Ebenfalls sind die AkteurInnen für die Durchführung der
Rituale meist Frauen. Gründe dafür, daß
sich unter der AnhängerInnenschaft der
Besessenheitskulte so „außergewöhnlich
viele Frauen“ (Douglas 1974, S. 129 f) finden, könnten durchaus in einer schwachen gesellschaftlichen Position zu suchen
sein, die oft nur über die ihrer Männer
bzw. Väter definiert ist. In Gesellschaften,
in denen Frauen durch eine rigide gesellschaftliche Arbeitsteilung in der Regel von
zentralen Institutionen der Gesellschaft
ferngehalten werden, stehen sie unter
starkem Klassifikationsdruck. Das macht
sie empfänglich für religiöse Bewegungen,
so die Sozialanthropologin Mary Douglas,
in denen sie ihre Erfahrungen als Angehörige einer ‘Randgruppe’ gewissermassen ausgleichen, durch eine demonstrative spirituelle Unabhängigkeit. Zu deren
äußerer Manifestation gehört ein von den
Konventionen abweichendes Erscheinungsbild ebenso wie die bereitwillige
Suspendierung der Körperkontrollen.
Viele Kulturen haben ihre eigenständigen metaphysischen Konzepte entwickelt.
Sie setzen sich aus unterschiedlichen Elementen zusammen, können aus dem einem religiösen Kontext entnommen sein
und in ein anderes, total unterschiedliches
religiöses System integriert sein. Diese
Umstände erschweren Außenstehenden
das Eindringen und Verständnis der daraus neu gebildeten Zusammenhänge. So
ist es vielfach nicht möglich, Besessenheit
und Geisterglauben unter einem soziologischen Gesichtspunkt als ‘gute’ und ‘böse’
Geister zu betrachten. Die Vermischung
unterschiedlichster Konzepte und Schwierigkeiten ihrer Übersetzung, insbesondere
gegenüber Außenstehenden, komplizieren
diese Phänomene (vgl. Swantz 1986).
RELIGIONEN – DER BUDDHISMUS
Anmerkungen
1 Z. B. Larsen, 1998, S. 61-75 auf Zanzibar zwischen
1984 und 1997
2 Die wiederum aufgespalten sind, darunter in drei
Hauptkirchen: ‘Cherubim’, ‘Seraphim’ und ‘Church
of the Lord’ (Clarke 1986, 211 f) – Aladura kommt
aus der Yoruba-Sprache und wird mit ‘Gebetsgemeinschaft’ übersetzt.
3 Den heutigen Nordprovinzen Äthiopiens, Tigre und
teilweise Eritrea.
4 eigene Beobachtungen, insbesondere in Lalibela
5 Z. B. Gudina Tumsa, Oromo, Generalsekretär der
Äthiopischen Evangelischen Kirche Mekane Jesus,
1979 verschleppt und hingerichtet. (Falkenstörfer
1986) Sein Schwiegersohn, der Bauunternehmer
Alemayehu Ketema, ist seit August 1997 ohne offizielle Anklage inhaftiert, „obgleich die Zentral- als
auch die Regionalregierung schriftlich bestätigt haben, daß gegen ihn nichts vorliege.“ (Frankfurter
Rundschau 29.6.1998).
6 Alle Angaben aus Munzinger-Archiv ‘Internationales Handbuch’ 1998.
7 Bei den Mädchen im überwiegend christlichen
Hochland wurden die Schamlippen beschnitten,
während bei der moslemischen Bevölkerung im
Tiefland auch die Vagina zugenäht wurde (Eritrea
Hilfswerk in Deutschland e.V. 1982).
Literatur
Siehe „Religionen – Eine Einführung“
Renate Holzapfel
Religionen –
Der Buddhismus
Die Wurzeln des Buddhismus liegen im Hinduismus ( Religionen – Der Hinduismus).
Auch hier haben sich unterschiedliche Richtungen entwickelt. Deren Vielfalt macht es erforderlich, einen Schwerpunkt in der untenstehenden Darstellung bei den Herkunftsländern
von Kinderflüchtlingen zu setzen. Anregungen
für weiterführende Lektüre finden sich im Literaturverzeichnis. Angesichts der zunehmenden
Verbreitung buddhistischer Philosophie und
Lebensweise in Europa gibt es in Deutschland
inzwischen ein umfassendes Angebot zum
Thema, zu beziehen unter anderem von der
Deutschen Buddhistischen Union mit Sitz in
München.
1. Hintergrund und Struktur
Entstehungsgeschichtlich ist der Buddhismus eine aus dem Hinduismus kommende
Reformbewegung, deren Stifter den Ehrennamen Buddha, der Erleuchtete, erhielt. Er ging davon aus, daß er nicht der
einzige ‘buddha’ der Religionsgeschichte
sei, sondern daß in jedem Zeitalter ein
Buddha erscheine um die unwandelbare
Lehre (dharma) zu verkünden. Zunächst
nur eine Reaktion auf „mangelnde Anpassungsfähigkeit des Hinduismus auf die
wirklichen Lebensbedingungen“ (Köster
1986, S. 10), verbreitete sich der Buddhismus von Indien aus in alle angrenzenden Länder und darüber hinaus. Im Unterschied zum Hinduismus, dem der Mensch
durch Geburt angehört, kann der Buddhismus als missionierend bezeichnet
werden.
Buddha wurde mit dem bürgerlichen
Namen Siddharta Gautama in Nordindien1
geboren (ca. zwischen 624 bis 448 v. Chr.).
Mit Buddhas Geburt, Leben und Sterben
sind zahlreiche Überlieferungen und Legenden verbunden. Siddharta führte zunächst ein sorgloses Leben. Im Alter von
93
KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN
sechzehn Jahren heiratete er zwei Prinzessinnen. Als er neunundzwanzig war,
wurde sein Sohn geboren. Nach dessen
Geburt legte er erstmals die gelben Asketengewänder altindischer Tradition an.
Dreimal verließ er den Palast für längere
Zeiträume, um Erleuchtung zu finden und
begegnete Alter, Leiden und Tod. Beim
vierten Mal meinte er, mit einem bettelnden Asketen das Heilmittel gegen die drei
unausweichlichen menschlichen Übel gefunden zu haben. Er nennt sich nun Gautama und unterzieht sich mit fünf seiner
Schüler einer extremen Selbstkasteiung.
Als dieser Weg sich in seinen Augen als
Trugschluß erweist, bricht er ein rigoroses
Fasten. Seine Schüler verlassen ihn zunächst. Erleuchtung fand er schließlich,
als er mit etwa fünfunddreißig Jahren einen ‘mittleren Weg’ zwischen Überfluß
und Askese wählte, der Extreme vermeidet. Buddha starb im Alter von etwa achtzig Jahren. Seine Nachfolge ging an Mahakasyapa und nicht an Ananda, seinen
getreuen Schüler aus fünfundzwanzig Jahren. Letzterer hatte als Diener – wohl aus
Zeitmangel – nie die Techniken der Meditation erlernt. Er konnte somit kein Heiliger werden und nicht in das Nirvana, das
Verlöschen und Ausscheiden aus dem
Kreislauf der Wiedergeburten, eingehen.
Dieses erlösende Verlöschen, das Nirvana
zu erreichen, ist höchstes Ziel im Buddhismus. Eine Annäherung ist nur durch
Meditation möglich.
Aus dem Glauben an die Nichtexistenz
eines unvergänglichen Selbst folgt die Forderung, selbst-los zu handeln und sich allen Wesen in Güte zuzuwenden. So ist der
Buddhismus kein System von Glaubenswahrheiten, sondern vor allem ein zu betretender Pfad. Die „vier edlen Wahrheiten“ des Buddhismus zeigen Wege zum
Pfad der Erleuchtung und den ‘Weg der
Mitte’, der zum Auslöschen des Leidens
führt:
– Alles ist Leiden…
94
– der Anfang des Leidens ist das Begehren, die Gier…
– die Vernichtung des Begehrens bringt
das Verlöschen des Leidens…
– die vierte Wahrheit zeigt den achtgliedrigen Pfad oder den Weg der Mitte
auf, der zum Auslöschen des Leidens
führt…
Bereits Buddha gründete Orden von
Mönchen und Nonnen, die „Sangha“, die
den Kern der Gemeinschaft bilden. Bereits
im Kindesalter kann das Noviziat beginnen, wobei der günstigste Zeitpunkt für
die Aufnahme in den Orden über die
Astrologie bestimmt wird. Die Ordinierung
kann im Alter von zwanzig Jahren erfolgen. Für Ordinierte gelten die sog. vier
großen Verbote: Geschlechtsverkehr, Diebstahl, Mord und Anmaßung von Vollkommenheit.
Die spätere Spaltung der Mönchsgemeinde, war der Anfang eines Systems
buddhistischer Sekten. Die Vielfalt buddhistischer Schulrichtungen hat in der Gestalt des „Erwachten“, Buddhas, ihr gemeinsames Zentrum. Zu unterscheiden ist
zwischen dem Buddhismus der Mönche
und der Laien sowie zwischen dem Hinayana- und Mahayana-Buddhismus, ähnlich wie zwischen dem Hinduismus der
oberen und dem der niederen Kasten zu
unterscheiden ist (vgl. Köster 1986, S. 10).
Weitere zentrale Begriffe im Buddhismus
sind die sogenannten ‘Fahrzeuge’, mit denen die verschiedenen Schulrichtungen
benannt werden. Die Anhänger des Mahayana, des ‘Großen Fahrzeugs’ – auch
‘nördlicher Buddhismus’ genannt –, prägen den Buddhismus vor allem in China
und Japan, dessen Ideal nicht nur für die
eigene Erlösung arbeitet, sondern Mitleid
für die Befreiung aller Wesen zeigt, für deren Weg zum Nirvana der Beistand göttlicher Wesen erhofft werden darf.
Von Anhängern des Mahayana eher abfällig als Hinayana, ‘Kleines Fahrzeug’,
benannt, bezeichnen dessen Anhänger ih-
RELIGIONEN – DER BUDDHISMUS
re Richtung lieber als ‘Theravada’, den
‘Weg der Alten’. Zentral ist hier das Streben des Menschen nach der Verwirklichung des Ideals des Heiligen aus eigener Kraft und die Erlangung des Nirvana
für sich selbst. Da dies nur wenigen gelingt, muß sich die Mehrheit mit der
Verbesserung der eigenen Ausgangsposition für die Wiedergeburt begnügen. Der
Theravada-Buddhismus versucht den ursprünglichen Lehren und Praktiken Buddhas zu folgen. Er bewahrt die ursprünglichen Schriften, den ‘Pali-Kanon’. Dieser
gilt im Theravada-Buddhismus als Heilige
Schrift. Die Texte des Mahayana werden
abgelehnt oder ignoriert. Umgekehrt sind
jedoch Theravada-Texte Teil religiöser Unterweisung in Verbreitungsgebieten des
Mahayana, wie Tibet, Mongolei, China,
usw.
Um den Buddhismus – und den Hinduismus – zu verstehen, muß man sich vor
Augen halten, daß nicht vom christlichabendländischen Personbegriff individueller Ethik ausgegangen werden darf. Religiöse Erziehung im Buddhismus, wie auch
im Hinduismus, ist als Austausch zu sehen, so der Religionswissenschaftler Köster, als zwischenmenschlicher Prozeß
während eines ‘Hineinwachsens’ in religiös-soziale Bindungen und Gegebenheiten (ebd., S. 146 f).
Das Verhältnis zwischen Eltern und
Kindern ist in Buddhas Lehren nicht uneingeschränkt elterlicher Autorität überlassen und liegt nicht automatisch beim
Familienoberhaupt. Zwar gilt die Vernachlässigung alter und gebrechlicher Eltern
als verwerflich und die Achtung vor ihnen
wird als wichtigste aller mitmenschlichen
Tugenden bezeichnet. Weichen Eltern jedoch von den Lehren ab, so sollen die
Kinder sie zu den Geboten zurückführen.
Elterliche Autorität begründet sich somit
weniger sozial als spirituell (vgl. Gerlitz
1980, S. 309 ff).
2. Der Buddhismus in Südostasien
In Sri Lanka, Burma und Thailand, bis vor
kurzem auch in Laos und Kambodscha
dominiert der Buddhismus das religiöse,
politische und gesellschaftliche Leben (vgl.
Johnson 1988, S. 726 ff). Insbesondere in
Burma, Thailand, Laos, Kambodscha und
Vietnam wurde Buddha nicht als der Prediger der Weltentsagung angesehen, sondern als der Herrscher schlechthin; „von
daher erklärt sich die Symbiose zwischen
Buddhismus und politischer Macht“ (Eliade 1990 a, S. 277 f). Durch diese Verbindung vermittelte der Buddhismus, insbesondere den Völkern Indochinas, über
Jahrhunderte ein festes Bewußtsein eigener Identität. Es überdauerte, wenn auch
geschwächt, Kolonialzeit und Modernisierung. Durch die Kolonialherrschaft Frankreichs und Englands, aber auch von Portugal und Holland, drangen völlig fremde
Wertvorstellungen in diese Gesellschaften
ein und brachten den Buddhismus in eine
fundamentale Krise. Die Vertreter christlicher Missionierung sprachen der buddhistischen Lehre jede Legitimität ab. Sie begründeten dies unter anderem mit dem
ihnen unverständlichen Inhalt der buddhistischen Lehre, nach der eine menschliche
Seele nicht existiert (vgl. Köster 1986,
S. 91).
Die mit der Kolonialisierung eingeführte Trennung von Religion und Staat verschärfte diese Entwicklung. Westliche Bildungskonzepte und Alphabetisierung haben das Monopol religiöser Autorität der
Sangha, der buddhistischen Gemeinde,
geschwächt. Kritik an der Abkehr und
Selbstentfremdung von der eigenen buddhistischen Kultur führte jedoch auch, wie
im Falle von Ceylon, dem heutigen Sri
Lanka, zu nationalistischen Bestrebungen
und Erneuerungsbewegungen. Ein herausragender Vertreter dieser Modernisierung war Anagarika Dharmapala (1864
– 1933). Er versuchte seinen Einsatz für
den Buddhismus mit singhalesischem Na95
KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN
tionalismus zu verbinden. Die von ihm gegründete Maha Bodhi-Gesellschaft strebte
eine weltweite buddhistische Missionierung an (ebd., S. 114).
2.1 Sri Lanka
Die Bevölkerung Sri Lankas, früher Ceylon, wuchs seit 1871 von ca. 2,4 Mio. auf
heute etwa 18,6 Mio. (Munzinger Archiv
1998). Gegenüber den anderen Religionen
dominiert der Einfluß des Buddhismus,
dem rund 70 % der Bevölkerung angehören. Es sind überwiegend Singhalesen, die
sich zur buddhistischen Lehre bekennen.
15,5 % der Bevölkerung sind Hindus, meist
Tamilen (siehe unten), 7,6 % Muslime und
6,9 % Christen.
Dem Theravada-Buddhismus von Sri
Lanka wird nachgesagt, die einzige legitime, orthodoxe Form des Buddhismus zu
sein2. Etwa im 2. oder 3. Jh. v. Chr. von
Missionaren im Auftrag König Ashokas
auf die Insel gebracht, erhielt er sich dort
in seiner ursprünglichen Form nahezu unverändert. Von Ceylon aus verbreitete sich
der Buddhismus nach Indochina, Indonesien, nach Kaschmir, in den östlichen Iran,
nach Zentralasien, China, Korea, und Japan und im 8. Jahrhundert nach Tibet
(vgl. Eliade 1990 a, S. 264 ff), wo er in veränderten Formen heute noch anzutreffen
ist.
Eine Besonderheit des Theravada-Buddhismus ist die Möglichkeit der ‘Verdienstübertragung’. Sie wurde schon früh
in der Geschichte dieses Buddhismus anerkannte Praxis. Im allgemeinen werden
fast alle öffentlichen buddhistischen Zeremonien als Gelegenheit angesehen, gegenseitige Verdienste zu erlangen, z. B.
wenn die Laien den Mönchen Speisen
bringen und die Mönche im Gegenzug
predigen bzw. aus den Schriften rezitieren. Ausgenommen sind die Zeremonien
bei einem Todesfall, die dazu dienen sollen, dem Verstorbenen Verdienste sozusa96
gen zu übertragen und mit auf den Weg zu
geben. Der Bau von Stupas3, ebenso wie
Wallfahrten und Reliquienverehrung, wurde auf Ceylon schon früh praktiziert. Ursprünglich Grab- und Gedenkhügel für
Buddha-Reliquien, werden sie inzwischen
auch für Mönche errichtet. Verehrt werden im allgemeinen jedoch lediglich die
mit Buddha verbundenen Stupas.
Der Buddhismus bzw. die Ordensgemeinschaften (Sangha) in Ceylon/Sri Lanka konnten sich stets der Unterstützung
durch die Regierenden gewiß sein. Die
Unterstützung durch die Staatsmacht
führte dazu, daß die Klöster wohlhabende
Grundbesitzer wurden. Mönche wurden in
der Politik tätig und einflußreich. Überwiegend wirkten sie jedoch als Gelehrte
und Prediger in den Dörfern.
Auch auf Sri Lanka passen sich die Religionen modernen Erfordernissen an. Inzwischen betreiben Buddhisten, Hindus
und Muslime Einrichtungen „ähnlich den
Sonntagsschulen der christlichen Missionare kolonialer Zeit, um alles erdenklich
mögliche zu tun, ein Kind unter den Einfluß der ‘Kirche, des Pansala, des Tempels
oder der Moschee’ zu bringen.“4
2.2 Tamilen
Vor mehr als 2.000 Jahren ist die Ankunft
der ersten Tamilen auf Ceylon belegt. Seit
der Eroberung durch südindische Tamilen
200 v. Chr. und dem Sieg der Singhalesen
161 v. Chr. ist die Entwicklung der Insel
durch den Dualismus zwischen Singhalesen und Tamilen gekennzeichnet. Die
Mehrheit der tamilischen Bevölkerung besiedelte die nördlichen und östlichen Provinzen. Die Zahl dieser ‘Ceylon-Jaffna-Tamilen’ wird heute mit etwa 12,6 % der Gesamtbevölkerung angegeben.
Von der britischen Kolonialmacht wurden die sog. ‘Indien-Kandy-Tamilen’ nach
Ceylon geholt, wo sie vor allem als Plantagenarbeiter im Hochland von Kandy ein-
RELIGIONEN – DER HINDUISMUS
gesetzt wurden. Sie entstammten meist einer unteren hinduistischen Kaste – den
Paria (Tamil: „Trommler“) – aus Tamilnadu, an der südöstlichen Küste Südindiens. Dieser Hintergrund trägt zu der
Kluft zu den besser gebildeten JaffnaTamilen bei, die vielfach höheren Kasten
angehören. Heute stellen die ‘Indien-Tamilen’ etwa 5,5 % der Bevölkerung. Ihre
rechtliche Position ist nicht gesichert, was
sich in groß angelegten ‘Rückführungen’
und lange schwebend gehaltenen Staatsangehörigkeitsfragen äußert.
Die Niederschlagung und Bekämpfung
der Wünsche der Jaffna-Tamilen nach
Eigenständigkeit bzw. Anerkennung von
Minderheitsrechten sind historischer und
aktueller Teil der Politk und Ursache bewaffneter Auseinandersetzungen. In seinen Lebenserinnerungen beschreibt Crossette-Thambiah, langjähriger Mitarbeiter
der Weltgesundheitsorganisation, aus seiner ganz persönlichen Sicht die Machtverhältnisse nach der Unabhängigkeit, die
bis heute nachwirken: „Etwa 80 % der
Bevölkerung sind Singhalesen, meist Buddhisten, und jeder ehrgeizige singhalesische Politiker wurde ein eifriger Vertreter
singhalesischen Buddhismus. Es wurde
eine Hypothek, ein Tamile zu sein (...)“.
Crossette-Tambiah bezeichnet sich selbst
als „Sohn eines zum Christentum konvertierten ‘Hindu Jaffna Tamilen’“5. Um die
Jahrhundertwende geboren, besuchte er
die Missionsschule St. John’s in Jaffna.
Dort wurde Englisch gesprochen und der
Gebrauch seiner tamilischen Muttersprache bestraft. Heute noch ist eine scharfe
Abgrenzung zwischen einzelnen Sprachgruppen – insbesondere Singhalesen und
Tamilen – deutlich erkennbar.
Anmerkungen
1 Um 1200 n.Chr. verschwand der Buddhismus aus
Indien (vgl. Hardy 1988, S. 627 ff).
2 Basierend auf der frühen Verschriftlichung der
Regeln im sogen. Pali-Kanon, in der indischen PaliSprache zwischen 29 und 17 v. Chr. verfaßt (vgl.
Hardy 1988, S. 569 ff).
3 ‘Stupa’ aus dem Sanskrit (‘Verehrungshügel’); kuppelartige Bauten.
4 Crosette-Thambiah ca. 1975 zu Ceylon (Sri Lanka);
vgl. ebenfalls Falkenstörfer 1986 zu Äthiopien.
5 Auf Jaffna, im Norden Sri Lankas, dominiert der
Hinduismus. Die relativ wenigen Buddhisten sind
stark vom Hinduismus und dem Kastendenken beeinflußt, so Crosette-Thambiah (1975, S. 31).
Literatur
Siehe „Religionen – Eine Einführung“
Renate Holzapfel
Religionen –
Der Hinduismus
Im folgenden werden die Grundlagen des Hinduismus erläutert, eingebunden in historische
Hintergründe und neuere zeitgeschichtliche
Einflüsse. Eine kurze Darstellung des Sikhismus wie des Neohinduismus befindet sich am
Ende dieses Aufsatzes. Auf den Buddhismus
wird in einem gesonderten Aufsatz ( Religionen – Der Buddhismus) eingegangen.
1. Religion oder Kultur?
Der Hinduismus ist weniger eine Religion,
sondern eher ein Kosmos religiöser Inhalte von unüberschaubarer Fülle und Vielfalt, entwickelt aus jahrtausendealten Anschauungen und religiösen Praktiken. Er
97
KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN
ist eine ‘gewachsene’ Religion, die andere
Glaubensrichtungen wesentlich beeinflußte. Seine stärkste Verbreitung erreichte
der Hinduismus im Mittelalter, als er auch
das gesamte Indochina und Indonesien
beeinflußte. Das Vordringen des Islam
löschte diesen Einfluß, wie auch den des
Buddhismus in Indien, im Iran, Zentralasien und Indonesien.
Die indische Religionsgeschichte beginnt in der Überlieferung mit der Ankunft
von indoeuropäischen Hirtennomaden um
1500 v. Chr., die sich Arier – die Edlen –
nannten. Mit den arischen Eroberungen
verbreitete sich in enger Interaktion mit
lokalen Traditionen allmählich auch deren Kultur und Religion. Ihr Kern, die Veden (das heilige Wissen), werden übereinstimmend als Grundlage aller nachfolgenden Entwicklungen des Hinduismus
gesehen.
‘Hindu’ wird häufig synonym mit Inder
bzw. Indien verwendet, wie der Hinduismus immer wieder als ‘ethnische Religion’
des indischen Subkontinents diskutiert
wird (vgl. Holzapfel 1995, S. 54 ff). Übersehen wird, daß es sich dabei um eine undifferenzierte und verfälschende Vermischung von Nationalität, Glaubenszuordnung und pauschalisierender Kulturvorstellung handelt. Zwar ist die Mehrheit
der Bevölkerung der Republik Indien dem
Hinduismus zuzurechnen, Hindus sind jedoch in vielen anderen Staaten und anderer Nationalität anzutreffen. Größere
Gruppen leben in Großbritannien und in
der Karibik, in afrikanischen Ländern und
in Nordamerika. Der Hinduismus variiert
vom homogenisierten Hinduismus in der
Karibik zu eher fragmentierten Kongregationen in Südafrika und Fiji.
1.1 Grundzüge/Struktur
Angesichts der Komplexität und der sehr
verschiedenen Strömungen der unter dem
Sammelbegriff ‘Hinduismus’ zusammen98
gefaßten Glaubensinhalte, können hier
nur wenige zentrale Elemente beispielhaft
herausgegriffen werden. Die Zahl der Gottesvorstellung ist unüberschaubar, auch
wenn sich einige Hauptströme herausgebildet haben. Nach hinduistischer Auffassung gibt es viele Wege zu Gott. Dem Individuum steht es daher frei, die Form seiner Glaubensausübung selbst zu wählen,
je nach persönlichem Geschmack, Zeit
und dem jeweiligen Anlaß (vgl. Michaelson 1987, S. 32 f). Konzeptionen der westlichen Welt, sehen Religion in Verbindung
mit institutionalisierten Aktivitäten, in geweihten Gebäuden mit offiziellen bzw.
ordinierten Religionsvertretern. Für den
Hindu ist das eigene Zuhause ein wichtiger Ort Gottes in dem zahlreiche Zeremonien stattfinden. Die Tendenzen zu einem
organisierten Hinduismus als Tempelreligion1, sind in der Diaspora, fern dem Herkunftsland des Hinduismus, erheblich.
Längerfristig ist dadurch eine gewisse
‘Standardisierung’ und eine Reduzierung
hinduistischer Vielfalt zu beobachten. Die
Orientierung am Glaubensschwerpunkt
des erreichbaren Tempels bzw. seiner
Verwaltung führt zu Modifizierungen und/
oder Angleichungen unterschiedlicher
Glaubenspraktiken. In der hinduistischen
Diaspora wird der Tempel zum gesellschaftlichen Mittelpunkt. Er wird zum
Treffpunkt, auch für die jüngeren, nachwachsenden Generationen und läßt somit
insbesondere die Älteren auf Kontinuität
in der Glaubensgemeinschaft hoffen.
Glaubensinhalte beziehen sich auf ein
grundlegendes Streben, sich aus dem
Kreislauf der Wiederverkörperungen zu
befreien und die Einheit mit dem Göttlichen zu realisieren. Metaphysische Leitideen sind ‘Dharma’, eine Kausalitätslehre des Ablaufs des Weltprozesses ohne
Anfang und ohne Ende. Dharma ist das
sittliche Gesetz, eine kosmische Ordnung,
die die Normen für menschliches Verhalten und Handeln setzt, mit einer unerbitt-
RELIGIONEN – DER HINDUISMUS
lichen Vergeltungskausalität aller guten
und bösen Taten. Es gibt jedoch keine ausformulierten Definitionen von Dharma im
Sinn universal akzeptierter Normen.
Dharma kann als normatives Denken, als
Idealisierung, nicht als gesellschaftliche
Realität erklärt werden. Dharma ist die
praktische Umsetzung von Moksha (Erlösung aus der Wiedergeburt), das alle
Lebensregungen ordnet und somit das
Schicksal eines jeden bestimmt, als die
notwendige Konsequenz der Taten eines
früheren Daseins (vgl. Kakar 1981).
Viele noch heute praktizierte Rituale
und Traditionen sind auf vedische Überlieferungen – Rig-, Sama-, Yajur- und
Atharva-Veda – zurückzuführen, die bereits zwischen 1400 und 400 v. Chr. verschriftlicht wurden. Zentral für die religiöse Praxis der Arier war das Opfer in Ritualen, die um und durch das Feuer (Agni)
durchgeführt wurden. Der nomadische
Ursprung
dieser
Religionsausübung
kommt hier deutlich zum Ausdruck, insbesondere in Verbindung mit Feuer, mit
der Gastfreundschaft am Feuer und mit
dem Opfer in der Form von Speisen (vgl.
Hardy 1988, S. 575). Das Opfermal wurde
mit einer Gruppe und den sog. ‘Devas’ geteilt, unsichtbaren Wesen, stärker als
Menschen. Es gibt etwa 1.000 überwiegend männliche Devas die angerufen werden können und mit Naturphänomenen,
wie Feuer, Wasser, Gewitter, etc. verbunden werden. Das rituelle Feuer, Agni, ist
ein Deva und dient der Kommunikation
mit anderen Devas. Insbesondere in zentralen Ritualen, wie Hochzeit oder Tod,
spielt das Feuer nach wie vor eine herausragende Rolle.
Für die Hindus besteht der gesamte
Kosmos aus derselben Ursubstanz, verkörpert in den drei ‘Gunas’, in unterschiedlicher Mischung. Ein kompliziertes
System von kastenorientierten Essensvorschriften und Reinheitsgeboten leitet sich
aus dieser Vorstellung ab. Das damit zusammenhängende Verbot, von Fremden
Essen anzunehmen, ist stark verinnerlicht, wenn es auch durch Mobilität und
damit veränderte Verhaltensweisen gelokkert ist (vgl. Ebel 1988, S. 91 ff). Der Körper und die Physiologie sind in den Dienst
des religiösen Strebens gestellt und Yoga
mit seinen vielfältigen Formen ist Teil religiöser Praxis, in der rechtes Handeln (Orthopraxie) wichtiger ist als rechter Glaube
(Orthodoxie). Teil religiöser Praxis sind
ebenfalls Pilgerreisen zu den heiligen
Stätten.
Im Hinduismus gibt es einen reichen
Schatz an zum Teil religiös erhöhten Mythen und Legenden, die auch die moderne
indische Filmindustrie sehr erfolgreich zu
nutzen weiß. Von großer Bedeutung sind
die Heldengedichte ‘Ramayana’ – die Taten des Rama (4.-3. Jh. v. Chr.), und die
‘Mahabharata’ – der Große (Kampf) der
Bharatas (5. Jh. v. Chr. bis 4. Jh. n. Chr.) in
der Krishna und Vishnu zentrale Akteure
sind.
1.2 Gesellschaftsordnung
Ein Hauptmerkmal des Hinduismus ist
nach wie vor das Kastensystem. Es teilt
die Gesellschaft in vier Ebenen (Varnas):
die Priester (Brahmanen), die Krieger
(Kshatriyas), die Kaufleute (Vaishyas) und
die Dienenden/ Leibeigenen (Shudras). Im
vorkolonialen Indien wurde die soziale
Identität einer Person in erster Linie
durch die Kaste und das Heimatdorf bestimmt, nicht durch die Religion. Erst
durch die Kategorisierung durch die Kolonialverwaltung, deren Ziel die Schaffung
getrennter Wählergruppen für religiöse
Minderheiten war, rückte die Religion und
die Frage „Wer ist Hindu?“ in den Vordergrund. Seit der Volkszählung 1901 wird in
zehnjährigem Abstand eine Registrierung
nach Kasten durchgeführt, die eine Politisierung religiöser Identifikation mit sich
brachte. Eine herausragende neuere Bewegung ist die ‘Hindutva’ (Hindutum)-Be99
KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN
wegung, mit starken nationalistischen
Tendenzen und Zielen wie „Militarisierung des Hinduismus“2. Ihren AnhängerInnen gelten muslimische Landsleute als
Nachfahren und AnhängerInnen einer Invasorenreligion.
Hindu wird man durch Geburt in eine
der Kasten. Deshalb ist der Hinduismus
nicht missionierend. Wie die gesellschaftlichen, sind auch die familienbezogenen
Konzepte außerordentlich stark hierarchisch. Selbst ein geringer Altersunterschied reicht für eine formale Autorität.
Dem ältesten Bruder als künftigem Familienoberhaupt kommt eine besonders
starke Position zu3. Traditionell entscheidet das älteste männliche Familienmitglied in wichtigen Familienangelegenheiten. Weibliche Autorität hängt meist von
der hierarchischen Position ihres Ehemannes ab. Wo die Mutter oder Großmutter eine starke Persönlichkeit hat, ist es jedoch durchaus nicht selten, daß sie letzte
Entscheidungen fällt. Strenge Hierarchien
und die strikte Einhaltung von Traditionen
sind heute in Familien der oberen Gesellschaftsschichten weniger ausgeprägt,
ebenso wie im urbanen Kontext, angesichts des engeren Zusammenlebens und
der Erfordernisse der modernen Arbeitswelt4.
Unterschiedliche Kulturen stehen den
Entwicklungsphasen ihrer Mitglieder unterschiedlich gegenüber. In den gehobenen Kasten des hinduistischen Indiens ist
die frühe Kindheit das ‘golden age’ der individuellen Lebensgeschichte, anders als
in Deutschland oder Frankreich, so der
Psychoanalytiker Sudhir Kakar. Die Vorstellung vollständiger Unschuld und des
Kindes als Geschenk der Götter sieht Kakar tief im hinduistischen Weltbild verwurzelt, ebenso wie das Konzept der
‘Zweiten Geburt’, wonach ein Kind sich
vom (lediglichen) Individuum erst dann
zum Teil seiner Gesellschaft entwickelt,
wenn es zwischen fünf und zehn Jahren
alt ist5.
100
1.3 Rituale und Feste
Es gibt eine Fülle lebensbegleitender Zeremonien bereits während der ersten Lebensjahre eines Kindes, wie z. B. anläßlich
des ersten Haarschnittes im Alter zwischen zwei bis vier Jahren. Besondere Riten sind die samskaras, die ‘Weihen’ anläßlich der Geburt, der Heirat und des Todes, weshalb dabei fachkundige Priester
benötigt werden. Der häusliche Schrein ist
jedoch Zentrum religiöser Alltagspraxis,
vorrangig durch den Familienvorstand.
Der populäre Hinduismus kennt zahlreiche Feste, die Jahreszeiten oder Ereignisse des Lebens zelebrieren und deren
Zeitpunkte vom Mondkalender und astrologischen Kriterien bestimmt werden.
Auch in den Festen und ihrem Verlauf gibt
es erhebliche regionale und soziale Unterschiede. Rituale des Lebenslaufs können sich sogar zwischen Familien gleicher
Kaste und Ortsansässigkeit gravierend
unterscheiden. Ausgedehnte Feste sind
Holi, im Februar/März vor Beginn des hinduistischen neuen Jahres und Diwali, das
Lichterfest im Dezember. Die Feste und
Rituale haben einen stark gruppen- und
familienfestigenden Charakter.
Im Vordergrund steht dabei vielfach
der Vollzug und nicht die konzentrierte
Aufmerksamkeit, was manche Feier in
den Augen von TeilnehmerInnen – z. B.
aus christlicher religiöser Tradition – mitunter etwas chaotisch erscheinen läßt. So
kann es durchaus vorkommen, daß der
Brahmane – der Pandit – bei der Durchführung einer Hochzeitszeremonie nicht
einmal von dem neben ihm sitzenden
Brautpaar und deren Zeugen verstanden
wird, weil die Hochzeitsgäste und deren
Kinder einen so hohen Geräuschpegel von
Gesprächen und Gelächter entfalten, daß
der Eindruck entsteht, daß die Zeremonie
an sich von den meisten überhaupt nicht
wahrgenommen wird6.
RELIGIONEN – DER HINDUISMUS
2. Sikhismus
Der Sikhismus ist ein relativ moderner
Zweig des Hinduismus mit einem Hintergrund islamischer Einflüsse (vgl. Hardy
1988, S. 533 ff). Er war immer schon eng
mit politischen Entwicklungen im Punjab
verbunden. Obwohl dort zur Zeit seiner
Gründung eine außerordentliche religiöse
Vielfalt bestand, nahm der Islam im Punjab des 15. Jahrhunderts – von den Sultanen in Delhi aus gesteuert – eine dominante Stellung ein. Begründet wurde der
Sikhismus von Baba Nanak (1469 – 1538),
der nach einem mystischen Erlebnis im
Alter von etwa dreißig Jahren den Sikhismus begründete. Nanak schlug einen
kompromißlosen Monotheismus vor, erklärte eine Inkarnation Gottes für unmöglich (islamische Züge). Eine ekstatische
Vereinigung mit Gott ist möglich und die
Gurus der Sikhs haben sie erlangt. An
Guru-Unterweisungen können Männer
und Frauen gleichberechtigt teilnehmen.
Vor Gott sind alle gleich, wodurch Kasten
unnötig sind.
Die Auflösung des ‘British Empire’
1947 war mit der Teilung des Punjabs
zwischen Indien und Pakistan und einer
massiven Bevölkerungsbewegung zwischen den beiden Hälften der Provinz verbunden. Die gesamt Sikh-Bevölkerung des
westlichen Distrikts sah sich zur Migration
nach Indien gezwungen. Die Partei Akali
Dal erreichte dann 1966 die Errichtung
des Staates Punjab in Indien, ohne jedoch
bis heute das angestrebte unabhängige
‘Khalistan’ zu erreichen.
Zentral im modernen Sikhismus ist das
Gurdwara
Management
Committee
(SGPC), das die wichtigsten Tempel im
Punjab verwaltet. Die Mitglieder werden
unter Laien gewählt. Die Offiziellen des
Tempels sind angestellte Bedienstete. Ein
ähnliches System wird auch in der Diaspora praktiziert. Etwa 10 Mio. Sikh leben
größtenteils im Punjab und angrenzenden
Gebieten, ca. 1 Mio. vor allem in Nord-
amerika und Großbritannien (vgl. Shackle
1988, S. 714 ff).
3. Neohinduismus
Der Neohinduismus wird als indische Nationalbewegung bezeichnet, die sich bemühte, westliche Werte zu integrieren
und indische Weisheit dem Westen zu öffnen7. Damit verbundene Namen sind der
bengalische Reformator Rammohan Roy
(1774 – 1833), der als „Vater des modernen Indiens“ bezeichnet wird (Richards
1988, S. 705 ff). Er gründete 1828 die
Brahmo Samaj-Gesellschaft, die eine Neuinterpretation hinduistischer Tradition ermöglichte. Ihm folgten Mystiker und Reformer, wie Rabindranath Tagore (1841 –
1941) und Vivekanda8, ein Schüler Ramakrishnas (1836 – 86), und Mohandas Karamchand Gandhi (1869 – 1948). Vivekanda sah den Hinduismus als Religion des
Geistes und der Vollkommenheit im Gegensatz zu den westlichen Religionen der
Wörter, des Buchwissens. Diese Entwicklung brachte eine starke Sensibilität für
soziale Fragen und Reformen, technische
Aufgeschlossenheit und pädagogischen
Erneuerungswillen mit sich.
Der Neohinduismus führte zu einem
„Bruch zwischen Religion und Kultur“
(Antes 1973, S. 101), der für Indien als unvermeidbar eingeschätzt wird, da im
Wandel der Gesellschaft Gewohnheiten,
die bisher stets mit dem eigentlichen Leben eines Hindu identifiziert wurden, in
Frage gestellt wurden. Die daraus resultierende Verunsicherung führte zu neuen
Formen der Glaubensausübung, andererseits aber auch zu einer Rückbesinnung
und Restauration des Alten. Die Spaltung
verhinderte, daß der Neohinduismus zu
einer Massenbewegung werden konnte,
auch wenn er eine allgemeine Modernisierung des Hinduismus begünstigte.
101
KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN
Anmerkungen
Religionen – Der Islam
1 Vgl. Knott 1987 zur Neuinterpretation von religiösen
Traditionen in der Diaspora; ebenfalls Vertovec
1992, S. 108 ff.
Im folgenden Abschnitt soll auf Grundzüge des
Islam eingegangen werden. Ein Blick auf geschichtliche Hintergründe und lokale Besonderheiten wird einen Eindruck islamischer
Vielfalt vermitteln. Die mitunter stark divergierenden Auslegungen islamischer Glaubensgrundsätze können hier nicht dargestellt, lediglich angedeutet werden. Dabei ist es nicht
möglich, allen Richtungen gerecht zu werden.
Schwerpunkte wurden bei den Herkunftsländern der Kinderflüchtlinge gesetzt, wobei in
dem Abschnitt „Religionen – Afrika“ gesondert
auf den Islam afrikanischer Prägung eingegangen wird, ebenso wie auf Geisterglaube und
Besessenheitskulte. Zum übergreifenden Thema der Beschneidung, enthält das Kapitel
„Religionen – Eine Einführung“ einen Abschnitt
und Literaturhinweise. Der folgende Beitrag
soll zu weiterer, vertiefender Lektüre anregen.
2 Randeria in der Frankfurter Rundschau, 1.11.1996
ebenfalls in ‘Religion-Macht-Gewalt’, Ffm 1996.
3 Auch als Spielgefährte kommt er für den jüngeren
Bruder normalerweise nicht infrage (vgl. Holzapfel
1995, S. 60 ff).
4 Diese Entwicklung war schon in den 60er Jahren
weit fortgeschritten (vgl. Goode 1970).
5 1981, S. 5 ff: die kulturelle Vorstellung von der Natur
des Kindes als wesentlicher Teil primärer Sozialisation.
6 Vgl. Vertovec 1992, S. 179; Holzapfel 1995: Die
Hochzeit der Töchter.
7 Vgl. Köster 1986.
8 Vivekandas Verhältnis zum Westen wird widersprüchlich beurteilt: Köster (1986, S. 26) bezeichnet
seinen Neohinduismus als antiwestlich und antichristlich, während Eliade (1991) von „Verdiensten“ spricht, den Hinduisdmus dem Westen geöffnet zu haben.
Literatur
Siehe „Religionen – Eine Einführung“
Tips zum Weiterlesen
Naipaul, V.S.: A House for Mr. Biswas. London 1969
(eine Erzählung, die Einblicke in hinduistische Rituale,
Mythen und Traditionen vermittelt)
Kakar, Sudhir: The Inner World – A Psycho-analytic
Study of Childhood and Society in India. Oxford 1981
Renate Holzapfel
102
1. Eine kurze Einführung
Der Islam – d. h. „Hingabe, Gott ergeben“
– ist eine monotheistische Religion. Sie
wird von den Muslimen als eine „Weiterentwicklung“ jüdischer und christlicher
Glaubenslehre gesehen. Er versteht sich
als Wiederherstellung des reinen und unverfälschten Monotheismus, wie er in der
Religion des Abraham bereits hervortrat
und wie er zuletzt durch den Propheten
Mohammed als reines Gotteswort verkündet wurde. Nach muslimischem Verständnis setzt Mohammed (ca. 570 – 632 n. Chr.)
die lange Reihe der biblischen Propheten
fort und beendet sie. Jesus – wie auch Moses – gelten im Islam als Propheten und
Vorläufer des großen Propheten Mohammed. Er ist als ‘Siegel der Propheten’ der
letzte, der für jetzt und alle Zeit die Fülle
der göttlichen Offenbarung durch den
Erzengel Gabriel erhalten hat.
Die Zeitspanne von 622 – 661 n. Chr. gilt
für die Mehrheit der Muslime als Maßstab
für eine ausschließlich vom Islam geprägte Lebens- und Staatsgemeinschaft. Es
RELIGIONEN – DER ISLAM
war die Zeit der vier ‘rechtgeleiteten Kalifen’, Abu Bekr, Omar, Othman und Ali,
dem Vetter und Schwiegersohn des Propheten. Unter Othman wurde der Koran
(„Wort Gottes“) mit seinen 114 Suren
schriftlich fixiert. Bereits unter Ali kam es
zur Spaltung in Sunniten und Schiiten, die
auch heute noch unter den mehr als 80
verschiedenen islamischen Sekten und
Fraktionen mit 80 bzw. 15 % der Gläubigen die größten Gruppen sind. Ihre Differenzen beschreiben sie normalerweise
als politisch, nicht religiös, soweit es sich
um islamische Doktrin und Rituale handelt (vgl. Corrigan u. a. 1998, S. 207).
Schiiten erkennen nur die Staatsführung des Ali (656 – 661) und seine Leitung der ‘umma’, der politisch-religiösen
Gemeinde, als verbindlich an. Sie vertreten die Lehrmeinung, daß der Nachfolger
im Amt der Gemeindeleitung nicht allein
politische Führerschaft, sondern auch
göttliche Leitungsgabe besitzen soll, wie
sie der Familie Mohammeds vorbehalten
sei. Im Iran und im Irak stellen Schiiten
die Mehrheit der Bevölkerung. Innerhalb
der Schiiten gibt es wiederum verschiedene Lehrgebäude und unterschiedliche, untereinander gespaltene Gruppierungen.
Sunniten erkennen die Entscheidungen
aller vier Hauptschulen des Islam an. Sie
wollen dem vorgebahnten Weg Mohammeds, der ‘Sunna’, insbesondere dahingehend folgen, als Mohammed keinen Nachfolger für die Gemeindeleitung einsetzte
und der zu wählende Nachfolger lediglich
politische Führerschaft, nicht aber göttliche Leitungsgabe beanspruchen könne.
Im mystischen, weltabgewandten Islam –
wie im Sufismus – steht die jeweilige
Bruderschaft im Zentrum. Insbesondere
in den klassischen Bruderschaften ist das
Gleichheitsprinzip des Islam aufgehoben
(vgl. u. a. Gellner 1985).
Eine der Abspaltungen vom Islam sind
die Aleviten, benannt nach dem Schwiegersohn Mohammeds, Ali. Dieser Glau-
bensrichtung gehören ca. 20 Mio. Menschen in der Türkei1 an, das ist etwa ein
Drittel der Bevölkerung. Ihr Glaube ist
weltoffen, gegen Gewalt und Nationalismus eingestellt. Es wird wenig Wert auf
äußere Formen des Islam gelegt, denn
„Gottes Licht ist im Menschen“2. Dies ist
auch eine der Ursachen dafür, daß sich
viele muslimische Glaubensrichtungen von
den Aleviten distanzieren und Ihnen absprechen, Muslime zu sein. Aleviten haben keine Moscheen, sondern Gemeindehäuser, die im Gegensatz zu den Gotteshäusern der Sunniten auch Frauen offenstehen. Schlachter, Jäger und Politiker
sind dort nicht willkommen, letztere um
die strikte Trennung zwischen Politik und
Religion zu unterstreichen. Aleviten pilgern nicht nach Mekka, halten sich nicht
an den Ramadan und an das Schweinefleischverbot.
2. Grundprinzipien (Säulen) und
Schriften des Islam
Der Koran3 ist für Muslime das Wort Gottes, vom Erzengel Gabriel dem Propheten
Mohammed überbracht. Er gilt in traditioneller Sichtweise nur in arabischer Sprache als ‘Buch Gottes’. Im Koran sind alle
Lebensbereiche thematisiert, was seine
starke sozialisierende und persönlichkeitsbildende Wirkung als Hilfe zur praktischen Lebensbewältigung verstärkt. Wo
Klärung erforderlich erscheint, wird auf
die authentische Tradition, die ‘Hadith’,
zurückgegriffen, die schriftliche Sammlung der Aussagen und Handlungen des
Propheten Mohammed. Das Verhalten des
Propheten, ‘Sunna’, wird als beispielhaft
betrachtet. Wie der Koran sind auch die
Hadith unveränderlich, ihre Interpretation und Anwendung jedoch nicht (vgl.
Corrigan 1998, S. 466).
‘Sunna’ und der Koran bilden die
‘Scharia’, das islamische Rechtssystem,
das das gesamte Leben der Gläubigen re103
KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN
gelt. Für die Interpretation der Scharia sehen Schiiten im Gegensatz zu Sunniten lediglich Führer aus dem Haus des Ali legitimiert. Muslimische Glaubenspraxis besteht aus den sogenannten ‘fünf Säulen
des Islam’ (vgl. u. a. ebd.):
– Das Glaubensbekenntnis (schahãda):
„Ich bezeuge, es gibt keine Gottheit
außer Allah; ich bezeuge, Mohammed
ist der Gesandte Allahs.“
– Das fünfmalige tägliche Gebet (salãt),
vorgeschrieben morgens, mittags, nachmittags, abends und vor dem Schlafengehen. Unerläßliche Regeln sind dabei
die persönliche Reinigung und die Ausrichtung nach Mekka.
– Die Almosensteuer (zakãt), ist die jährliche Sozialabgabe, gleichbedeutend mit
dem Gebet (Koran Sure 2, Vers 110),
die mindestens 2,5 % des Besitzes betragen soll.
– Das Fasten (möglichst) im Monat Ramadan, der sich wie alle muslimischen
Feste nach dem Mondjahr (354 Tage)
richtet, wodurch er gegenüber dem Kalenderjahr jährlich 11 Tage früher beginnt. Einen Monat lang muß von Sonnenauf- bis -untergang auf Essen und
Trinken, Rauchen und sonstige leibliche Genüsse verzichtet werden.
– Die Pilgerfahrt (Haj) nach Mekka im 12.
Monat des islamischen (Mond-)Jahres.
Sie sollte einmal im Leben durchgeführt werden und unterliegt strengen
Richtlinien im Hinblick auf Kleidung,
Handlungsvorschriften und Ablauf. Ist
dies nicht möglich, kann auch ein Vertreter beauftragt werden.
3. Kultur und Geschichte des Islam
Vor dem Auftreten Mohammeds waren die
Araber der arabischen Halbinsel in stark
fragmentierte und streitlustige Gruppen
aufgeteilt, die sich gegenseitig überfielen.
Insbesondere gegen den Polytheismus der
vorislamischen Araber stellte sich der Ko104
ran vehement, der gleichzeitig die christliche Dreieinigkeit als polytheistisch verurteilte. Erst die starke monotheistische Doktrin mit dem ‘Befehl’ den Islam zu verbreiten, ermöglichte eine politische Einheit
und ein gemeinsames Anliegen, die die gemeinsame Hochsprache, das klassische
Arabisch, nicht erreicht hatte (vgl. Corrigan u. a. 1988, S. 140). Mekka und Medina,
die heute bedeutendsten Städte islamischer Religionsausübung und Ziele der
berühmten alljährlichen Pilgerreisen, waren bereits zur Zeit Mohammeds bedeutende Zentren. Die Geburtsstadt Mohammeds, Mekka mit seinem Heiligtum der
Kaaba, rund um den berühmten schwarzen Meteoriten erbaut, war schon im 6. Jh.
n. Chr. das religiöse Zentrum Zentralasiens
und eine der wichtigsten Handelsstädte
(vgl. Eliade 1991, S. 241).
Der Islam fand rasche Ausbreitung unter anderem auch deshalb, da vorhandene
Strukturen und Praktiken leichter als bei
einer Konvertierung zum Christentum beibehalten werden konnten. Die relative
Gleichgültigkeit der islamischen Gesetze
gegenüber alltäglichen Variablen und Verhaltensweisen, sofern sie nicht in unmittelbarem Widerspruch zu den Grundvorschriften stehen, führte dazu, daß im Islam
starke lokale Unterschiede vorhanden
sind. So konnten afrikanische Stammesrituale, hinduistische Traditionen auf Java
oder politisch-religiöse Strukturen Marokkos mit der Übernahme des Islam vereinbart werden. Kultur-, landes- und häufig
sogar familien- bzw. klanspezifische Unterschiede existieren ebenso, wie neuere
Entwicklungen mit regionalen und kulturellen Besonderheiten. Marokko und Indonesien sind gute Beispiele unterschiedlicher Geschichte und Entwicklung des Islam. Beide verneigen sich gen Mekka, doch
in entgegengesetzten Richtungen. Sie sind
Antipoden der muslimischen Welt, nicht
nur geographisch, sondern auch in mancher Beziehung in ihren nachweisbaren
RELIGIONEN – DER ISLAM
Spuren vorislamischer Kultur (vgl. Geertz
1991). Die Grundpfeiler des Islam, insbesondere das vorgeschriebene Gebet
(‘Salãt’), werden jedoch selbst in kulturell
sehr differenzierten Ländern weltweit in
erstaunlicher „Uniformität“ (Corrigan u. a.
1998, S. 476) praktiziert. Reibungen islamischer Glaubensausübung mit örtlichen
Traditionen gibt es vor allem mit fundamentalistisch orientierten Muslimen.
3.1 Der Islam und die Familie
Alle monotheistischen Glaubensrichtungen, die sich auf Abraham berufen (Juden,
Christen, Muslime), sehen sich kritischer
Beurteilung ihrer Einstellung zu Frauen,
ebenso wie gegenüber sexuell gleichgeschlechtlich orientierten Menschen, ausgesetzt. In den männer-dominierten Religionen scheint die Auseinandersetzung
mit diesen Themen derzeit eher zur Spaltung, als zu einem generellen Umdenken
zu führen. Im Hinblick auf muslimisch regierte Länder, wird nach allgemeiner Einschätzung die Rolle der Frauen auf lange
Sicht eher im Sinne traditioneller Koranauslegung gesehen werden, wonach Männern eine gottgewollte Superiorität zukommt (Koran 4:34, 2:222).
In traditionell orientierten Familien beginnt die geschlechtsspezifische Erziehung früh. Ihre Ideale gleichen weitgehend der anderer traditioneller Gesellschaften, wo Mädchen hausfixiert und die
Jungen für die Rolle des Ernährers und
Beschützers der Familie erzogen werden.
Die muslimische Idealvorstellung betrachtet die Familie als die Grundlage muslimischen, privaten und kommunalen Lebens,
ohne die die muslimische Gemeinschaft
nicht überleben kann (vgl. Corrigan u. a.
1998, S. 476). Zentral ist die Familienehre. Fehltritte werden als Schande für die
ganze Familie gesehen, weshalb die Sorge
um einen einwandfreien Lebenswandel
Familienangelegenheit ist. Konflikte ent-
stehen besonders dort, wo Modernisierung und Industrialisierung bewahrende
Abgrenzungsstrategien erschweren oder
zunichte machen. Hier sehen sich die Abweichler von traditionsorientierten Familienwünschen den größten Belastungen
ausgesetzt: entscheiden sie sich gegen die
Tradition, verlieren sie den bedingungslosen Rückhalt der Familie samt ihrem
Sicherheit versprechenden Netzwerk. Eingetauscht wird dafür eine selbstbestimmte
Unabhängigkeit mit ungesicherter Zukunft in einem oft feindlich und ausgrenzend eingestellten Umfeld.
Religiös verantwortlich sieht der Islam
das Individuum erst mit dem Erreichen
der Geschlechtsreife. Ab sieben Jahren
sollen Kinder nach Mohammeds Empfehlung allmählich in den Islam eingeführt
werden. Inwieweit es sich hier um eine
Verpflichtung oder eine Möglichkeit handelt, wird unterschiedlich ausgelegt. Jedenfalls entstanden Koranschulen für Kinder erst ca. 300 Jahre nach Mohammed
(vgl. Köster 1986, S. 176). Dort wurden die
Anfangsgründe des Lesens, Schreibens
und der Grammatik vermittelt, Texte des
Koran gemeinschaftlich rezitiert und auswendig gelernt, Geschichten und Sprichwörter aus der Überlieferung erläutert
und memoriert. Muzaffer Andaç, islamischer
Erziehungswissenschaftler
hat
zwiespältige Erinnerungen an die Koranschule, wo er „die richtigen Gebete“ lernte, jedoch die Strenge des Lehrers ihn abschreckte. Religiöses Erleben ist in seinem
Gedächtnis eng mit seinen Eltern verbunden: dem Besuch der Moschee mit dem
Vater während des Ramadan und des Opferfestes, die mütterlichen Erinnerungen
ans Beten beim Schlafengehen. Wo religiöse Handlungen wie die Gebetsverrichtung im Islam nicht unauffällig, sondern
überall und öffentlich erfolgen, erfährt
und sozialisiert sich ein Kind in und mit
alltäglicher Frömmigkeit stärker, als dies
im allgemeinen durch stille devotionale
105
KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN
Handlungen – z. B. das Beten im christlichen Glauben – der Fall ist (vgl. Andac
1995, S. 272).
Beschneidung (Khitãn) ist generelle
Praxis in muslimischen Familien. Im Koran wird sie nicht erwähnt und der Ursprung dieser Praxis ist in manchen Gebieten auf vorislamische Praktiken zurückzuführen (vgl. Rachewitz 1969, S. 170
f). Vollzogen wird sie i.d.R. bis zum 7.
Lebensjahr, spätestens jedoch vor der Menarche. Damit verbundene Rituale können
regional große Unterschiede aufweisen.
Trotz starker Widerstände auf internationaler Ebene, ist die Beschneidung von
Mädchen in stark traditionell ausgerichteten Gesellschaften – z. B. Sudan, Somalia,
Ägypten – noch verbreitet ( Religionen –
Eine Einführung).
3.2 Der Islam und die politische Ordnung
Etwa 1/6 der Weltbevölkerung sind Muslime. Lediglich in Ländern bzw. Kontinenten wie Australien und Südamerika konnte
der Islam bisher nicht einschneidend Fuß
fassen. In Ländern mit überwiegend muslimischer Bevölkerung hängt es vom Grad
der Säkularisierung des Staates ab, ob und
inwieweit die Scharia angewandt wird.
Unterschiedliche Auslegungen darüber, ob
und inwieweit der Prophet Mohammed
zwischen weltlichem und religiösem Gesetz und dessen Repräsentanten unterschied, ziehen sich wie ein roter Faden
durch die Geschichte des Islam. Wie in den
meisten Religionen gibt es eine Auseinandersetzung zwischen Traditionalisten und
Modernisten. Wo eine verstärkte Rückbesinnung auf islamische Prinzipien und
Lebensweise zu beobachten ist, kann diese
mitunter in engem Zusammenhang mit kolonialen Herrschaftsstrukturen und einem
Bemühen um kulturelle Identität und Eigenständigkeit gesehen werden. Religion
war und ist eine gemeinsame Ebene des
‘Identitätsmanagements’
(vgl.
Robins
106
1973, S. 1199-1222), die Sammelbecken
und Basis für Kräfte sein kann – über die
Grenzen stammes- bzw. herkunftsgeschichtlicher Differenzen hinaus.
In Beispielen wie Algerien, Afghanistan
und dem Sudan zeigt sich die Instrumentalisierung von Religion in greller Deutlichkeit. Immer geht dies zu Lasten schwächerer Gruppen, wie Frauen, Kinder und
Minderheiten, wie den Berbern in Algerien4. Im Sudan befindet sich der arabisierte und muslimische Norden in einem lange
bestehenden Gegensatz zum schwarzafrikanischen Süden, der durch westliche Kolonialmächte teilweise christianisiert worden war, in dem sich jedoch auch traditionelle Glaubensrichtungen naturverbundener, animistischer Religionen deutlich behaupten konnten. Oft wird von einem Religionskrieg gegen den Süden gesprochen.
Die Hintergründe sind jedoch vielfältiger.
In Südostasien ist eine zunehmende
Betonung islamistischer Ideale zu beobachten, eine Bewegung, die jedoch bisher
durch das Bestreben gebremst wurde, für
westliche Investoren aus vorrangig christlichen Ländern attraktiv zu bleiben. In
Indonesien, Malaysia, Süd-Thailand und
den Philippinen leben etwa 20 % der muslimischen Weltbevölkerung (vgl. Corrigan
1998, S. 465).
Anmerkungen
1 In Deutschland ca. 700.000 (Sinan Erbektas, Förd.
der Alevitengem., Worms, in Ffm 26.11.1998, 11.
Interkulturelle Konferenz), insgesamt leben derzeit
ca. 2,7 Mio. Muslime in Deutschland, ca. 2,1 Mio.
davon mit türkischer Staatsangehörigkeit (Dr. N.
Elyas, Zentralrat der Muslime, Eschweiler, ebd.).
2 Sinan Erbektas, zum esotherischen Schwerpunkt
alevitischen Glaubens (Ffm 26. 11. 1998).
3 Das Wort Qur’an kommt von qara’a, d. h. „lesen, rezitieren“ (Eliade 1991:243).
4 Arabisierung am 5. Juli 1998.
SPRACHE
Literatur
Siehe „Religionen – Eine Einführung“
Tip zum Weiterlesen:
Geertz, Clifford: Religiöse Enwicklungen im Islam: beobachtet in Marokko und Indonesien. Frankfurt a. M.
1991
Renate Holzapfel
Sprache
Sprache ist Vielfalt. Ob gesprochene Sprache,
Körpersprache, Gebärdensprache, Bildersprache, die Möglichkeiten sich anderen mitzuteilen
sind fast unerschöpflich. Ob es jedoch gelingt,
sich seinen Mitmenschen verständlich zu machen, hängt von zahlreichen Faktoren ab. Zwar
wird davon ausgegangen, daß es Universalien
gibt, die scheinbar allen Sprachen gemeinsam
sind. Mit ihnen wird „grammatische Kompetenz“ (Noam Chomsky) in Verbindung gebracht,
eine angeborene Fähigkeit, die bereits Kindern
ermöglicht, komplizierte Sprachstrukturen zu
erlernen. Die Fähigkeit zur Kommunikation
geht jedoch über biologische Voraussetzungen
hinaus. Es sind die sozialen Bedingungen der
menschlichen Existenz, kulturelle Hintergründe
und individuelles Verhalten, die Sprache ganz
wesentlich beeinflussen. Auf einige dieser
Aspekte, auf Sprache als Spiegel und gestaltendes Medium von Kultur, auf Sprache als individuelle „Hülle für die Bilder im Kopf“ (Frankfurter Rundschau 1998), soll im folgenden aufmerksam gemacht werden. Thematisiert wird
außerdem die Mehrsprachigkeit, insbesondere
im Blick auf die Herkunftsländer von Kinderflüchtlingen in Deutschland.
1. Identität und Sprache
Sprache hat einen entscheidenden Einfluß
auf die Entwicklung eines Menschen von
frühester Kindheit an, auf die Entwick-
lung von Identitätsgefühl und auf kommunikative Fähigkeiten. Sprache bindet an
Ursprünge und baut Brücken, sie isoliert
und mobilisiert. Eine fremde Sprache zu
hören, in einem fremdsprachigen Umfeld
in neue Sprachmelodien einzutauchen,
kann beflügeln (Urlaubseuphorie) oder
bedrücken. Bedrückend ist die Situation
dann, wenn Orientierung fehlt, sei es in einem Fachjargon, dem sich man/frau nicht
gewachsen fühlt oder in einer fremden
Sprache, die ein angestrebtes Ziel entrückt. Sprache verweist auf soziale Zugehörigkeit und Differenz. Zuwendung,
Ab- und Ausgrenzung läßt sich über Sprache vermitteln oder verdecken. Identifizierende und/oder distanzierende sprachliche Strategien existieren in allen Sprachen und in allen gesellschaftlichen Bereichen. Am ‘richtigen’ Sprachgebrauch
entscheiden sich Lebensläufe. Selbst die
Fähigkeit des Scherzens ist eine sprachliche Fertigkeit. Erfolgreich zu scherzen
setzt Kenntnis von Zusammenhängen, von
Regeln und von Grenzen einer Gesellschaft voraus. Dies gilt auch für die Chance, einen Scherz zu verstehen oder ihn sogar lustig zu finden. Anhand der Sprache
werden Freund und Feind unterschieden:
„Man denke nur daran, wie wenig sich auf
dem Balkan die dortigen Sprachen unterscheiden und doch um soviel, daß man damit Freund und Feind erkennen – und niedermachen kann“ (Löffler 1998, S. 11 f).
1.1 Kulturschock: sichtbar unverstanden
Selbst wenn sie noch sehr jung sind, beherrschen zahlreiche Kinderflüchtlinge bei
Ihrer Ankunft in Deutschland mehr als eine Sprache. Deutsch zählt selten dazu. In
ihren Herkunftsländern wird die deutsche
Sprache kaum den notwendigen Weltsprachen zugerechnet, deren Beherrschung
ökonomischen und gesellschaftlichen Aufstieg verspricht. Ohne ausreichende
sprachliche Mittel werden unbegleitete
107
KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN
Minderjährige mit Erfahrungen konfrontiert, die selbst bei einer Begleitung durch
die Eltern bzw. Erwachsene problematisch
sind. Gegenüber den fremden Institutionen, deren VertreterInnen und den Besonderheiten amtlicher Sprach- und Umgangsformen, erfahren sich auch Erwachsene als hilflos und ausgeliefert.
Einen ‘Kulturschock’ erleben Kinder
und Jugendliche bei ihrer Ankunft häufig
nicht nur in bezug auf ihre Möglichkeiten
zu verstehen und verstanden zu werden:
plötzlich gehören sie einer ‘sichtbaren
Minderheit’1 an. Sie stellen fest, daß sie
wegen ihrer biologischen Charakteristiken auffallen, daß sich Vorurteile und Distanzierung auf ihr Äußeres zurückführen
lassen. Als ‘RepräsentantInnen’ einer biologisch oder national definierten Gruppe
wahrgenommen zu werden, nicht einfach
als Kinder oder Jugendliche, erleben sie
dann oft zum ersten Mal (vgl. Holzapfel
1998). Wie sie dies verarbeiten, hängt von
verschiedenen Faktoren, wie Alter2, Herkunft, individuellem Hintergrund und erfahrenem Beistand, ab.
2. Mehrsprachigkeit in den
Herkunftsländern
Viele Kinderflüchtlinge kommen aus Ländern großer Sprachenvielfalt. So wird zum
Beispiel allein für Afrika eine Zahl von ca.
2.000 Sprachen, für Neuguinea und die
umgebenden Inseln ca. 700 Sprachen, genannt3. Es gibt Regionen, wie etwa im
Nordosten Nigerias, in denen in jedem
Dorf eine andere Sprache gesprochen
wird, wohlgemerkt Sprache, nicht Dialekt!
Mehrsprachigkeit ist dort der Normalfall,
wie in vielen wenig oder nichtindustrialisierten Ländern, wo selbst die Ärmsten
ohne ausgedehnte Schulbildung i.d.R.
mehr als eine Sprache sprechen und/oder
verstehen.
Die viersprachig aufwachsenden Kinder in Bombo, Uganda 4:
108
In Bombo mit seinen rund 10.700 Einwohnern, sind drei afrikanische Sprachen
anzutreffen. Es handelt sich um Nubi, ein
arabisch-basiertes Kreol sowie um Ganda
und Swahili, zwei Bantusprachen. Alle
Nubi sprechen Swahili und Ganda, größtenteils auch Englisch. Die Ganda sprechen Nubi, meist auch Englisch, das bereits im Kindergarten vermittelt wird und
in der ersten Grundschulklasse bereits
Unterrichtssprache ist. Die viersprachig
aufwachsenden Kinder setzen alle Sprachen ein, wobei Englisch beim Zählen Vorrang hat, Ganda, Nubi und teilweise Swahili beim Spiel eingesetzt wird. Die Kinder
setzen die Sprachen gezielt ein, d. h. sie
passen sich Sprachpräferenzen der anderen Kinder an. Eine nicht-bevorzugte
Sprache wird dann gebraucht, wenn dem
Gegenüber Dominanz oder Zurechtweisung vermittelt werden soll.
In den meisten Herkunftsländern der
Kinderflüchtlinge dominiert nach wie vor
die Sprache einer ehemaligen Kolonialmacht, allen voran Englisch, aber auch
Französisch oder Portugiesisch. Angesichts der Vielfalt einheimischer Sprachen
liegt es auf der Hand, daß die Dominanz
der Kolonialsprachen nicht nur in der –
scheinbaren und tatsächlichen – Brückenfunktion zu Aufstieg und ‘Fortschritt’ begründet ist. Zwar vollzog sich vor allem in
den 70er Jahren in einigen dieser Länder
eine Rückbesinnung auf die eigene Kultur
und auf den Wert der eigenen Sprachen.
Es gelang jedoch nur wenigen, eine eigenständige Sprachentwicklung anzustoßen
und diese auch durchzuhalten. Nach wie
vor erweist sich überall die Beherrschung
der Weltsprachen Englisch bzw. Französisch als wichtiger Türöffner selbst im banalsten Alltag, jenseits der Welt höherer
Schulbildung, internationaler Geschäfte
und Wissenschaft. Wo sich Landsleute aufgrund unterschiedlicher Sprachen oder
Dialekte nicht verstehen (im doppelten
Wortsinn), dient die ehemalige Kolonial-
SPRACHE
sprache als lingua franca, schon deshalb,
weil sie angesichts von Vorbehalten gegenüber der Vorherrschaft eines lokalen
Stammes und seiner Sprache mitunter als
das ‘geringere Übel’ erscheint. Sprache
diente auch lokalen Stämmen und Volksgruppen immer schon als Politik- und
Machtinstrument. Negative Auswirkungen
sprachlicher Repressionen sind weltweit
zu beobachten. Die Folgen spiegeln sich
auch in der Herkunft und den Zahlen von
Flüchtlingen aus sprachlichen Minderheiten.
3. Schwein gehabt? Sprache in der
Kultur – Sprachkultur
Das Verständnis einer Sprache vermittelt
unzweifelhaft auch Einsicht und besseres
Verständnis einer bis dahin fremden Kultur. Wer sich jemals die Mühe machte, eine Sprache über die Grundbegriffe hinaus
zu erlernen, kennt die Erfahrung der veränderten Perspektive und Einsicht. Sie
macht bisher eher exotisch und fremdartig erscheinende Metaphern und Redensarten zugänglich und logisch. Intensive
Beschäftigung mit einer fremden Sprache
läßt Worte und Begriffe verstehen, die
nicht eindeutig übertragbar sind. Symbole
und sprachliche Kategorien des Welterfassens lassen sich kaum verlustlos übersetzen. Offenkundig wird dies bei abstrakten Begriffen, wie z. B. beim buddhistischen ‘Nirvana’. Ähnliches gilt für Redewendungen. Jemandem zu unterstellen
‘Schwein gehabt zu haben’, wird zwar im
Deutschen durchaus positiv gesehen, einem Muslim bzw. einer Muslima wird diese Unterstellung weniger Freude bereiten!
Die Regierung der USA hat sich die Erkenntnis des Zusammenwirkens von
Sprache und Kultur zunutze gemacht und
regierungsgestützte Programme für das
Sprachtraining von ImmigrantInnen eingeführt um deren Amerikanisierung zu
beschleunigen. Die Aneignung von Sprach-
fertigkeiten wird inzwischen mit der Aneignung amerikanischer Werte assoziiert
und einem gleichzeitigen Rückgang herkunftsbedingter Werte (vgl. Strand 1985).
Ähnliche Beobachtungen, jedoch aus anderer Perspektive, registrierte Professor
Babalola in Nigeria bereits in den 70er
Jahren (vgl. Babalola 1983). Als Folge der
offiziellen, auf Englisch fixierten Sprachund Bildungspolitik Nigerias, beklagte er
die zunehmende Gleichgültigkeit gebildeter Nigerianer, die mit ihrer Muttersprache zusehends auch die Kenntnis ihrer
Traditionen verlören. Selbst bei den wichtigsten Lebensstationen, wie Namengebung von Kindern, Hochzeit oder Beerdigungszeremonien, gäben sie ein ‘armseliges’ Bild ab, so Babalola.
In Sprache finden Hierarchien, Rituale
und Umgangsformen Ausdruck und Tradierung. Unterschiedliche Wertschätzung
in unterschiedlichen Gesellschaften kann
beispielsweise schon allein in der Gewichtung von Gesprächigkeit gegenüber
dem Schweigen zum Ausdruck kommen.
Begrüßungs- und Höflichkeitsformen zeigen starke Varianten. So ist es in vielen
Sprachen – anders als hierzulande – unüblich oder gar beleidigend, sofort zur Sache zu kommen, noch ehe man sich z. B.
im einzelnen des Wohlergehens des Gesprächspartners bzw. der Gesprächspartnerin und des jeweiligen Umfeldes versichert hat. Damit verbunden sind elaborierte Sprachrituale.
Es gibt Regionen, in denen für Einzelobjekte mit zentraler Bedeutung (z. B.
Wasser) mehrere, am jeweiligen Zusammenhang orientierte Bezeichnungen existieren, wo es im Deutschen nur ein einziges Wort gibt. Eine Volksgruppe auf den
Philippinen, für die der Fischfang lebensnotwendig ist, kennt einunddreißig verschiedene Wörter für die Tätigkeit ‘fischen’. Jedes dieser Worte bezeichnet eine besondere Art und Weise des Fischens.
Dagegen fehlt dort eine pauschale Be109
KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN
zeichnung für ‘fischen’ (vgl. Harris 1991,
S. 75 f). Auch der sprachliche Umgang mit
Zeit und Raum variiert. In agrarischen
oder nomadisierenden Gesellschaften ist
die exakte Kenntnis der Zeit überflüssig.
Wichtig ist die Natur sowie tages- und jahreszeitliche Abläufe. So orientieren sich
die Bantusprachen an der Gleichmäßigkeit äquatorialer Tage und Nächte: Mit
nur geringen Schwankungen wird es etwa
um 6 Uhr morgens hell und abends um 6
Uhr dunkel. Dementsprechend wird die
Uhrzeit mit jeweils 12 Tages- und 12
Nachtstunden angegeben. In Swahili ist
somit das europäische 6 Uhr morgens
bzw. abends jeweils saa kumi na mbili =
12 Uhr, unser 7 Uhr morgens oder 7 Uhr
abends ist jeweils saa moja = 1 Uhr, usw.
Ein besonders Kapitel und Quelle von
Mißverständnissen sind Körpersprache
und sprachbegleitende Gestik. So wird die
Vermeidung von Augenkontakt hierzulande in der Regel negativ interpretiert. In
sehr vielen Gesellschaften gilt jedoch der
anhaltende direkte Blick – insbesondere
gegenüber älteren oder höherstehenden
Personen – als Beleidigung und Anmassung. Nicht ‘Verschlagenheit’ motiviert
hier das Verhalten, sondern Einhaltung
der Konventionen des eigenen kulturellen
Hintergrundes. Ähnliches gilt für die Gestik beim Übergeben eines Gegenstandes,
wobei stets beide Hände mindestens andeutungsweise genutzt bzw. für den Empfangenden sichtbar werden. Es sind mitunter hierzulande als subtil und unbedeutend erachtete Details, die in einer anderen Kultur als bedeutend und aussagefähig beurteilt werden.
4. Sprachwechsel und Entfremdung
Migration und Flucht ist häufig mit einem
Wechsel der Sprache verbunden. Dieser
Wechsel wird erleichtert und schneller
vollzogen, wenn er sich vor einem Hintergrund abspielt, in dem der Muttersprache
110
geringer Status beigemessen wurde, die
neue Sprache jedoch sehr hohes Ansehen
genießt (vgl. Hymes 1979, S. 56 f). Davon
abgesehen ist das Interesse an der Pflege
und dem Erhalt der eigenen Herkunftsbzw. Muttersprache im allgemeinen bei
Erwachsenen stärker, als bei ihren Kindern. So liegt in der Sprache ein erhebliches innerfamiliäres Konfliktpotential, mit
dem die meisten MigrantInnen konfrontiert sind. Dabei spielt es keine erhebliche
Rolle, ob es sich um Flüchtlinge, ArbeitsmigrantInnen, legale oder illegale ZuwanderInnen handelt, um ZuwanderInnen
nach Deutschland oder ausgewanderte
Deutsche5. Unterschiedliche Wünsche
zum Erhalt von Rückkehrchancen und
Angst vor Entfremdung sind dabei wesentliche Motive. Mit der Herkunftssprache wird zudem – oft eher unreflektiert –
versucht, eine ‘Weltauffassung’ weiterzugeben, die in Sprache als Spiegel und Trägerin von Kultur beinhaltet ist.
Die Angst vor Entfremdung, nicht nur
von der Herkunftskultur sondern auch
von der Familie und den eigenen Landsleuten ist nicht unbegründet. Kinder sind
meist besser als Erwachsene in der Lage,
Möglichkeiten des Spracherwerbs zu nutzen und damit schneller mit der neuen
Sprache und dem neuen Umfeld vertraut
zu werden. Ein Vorsprung, der dazu führen kann, daß Kinder von ZuwanderInnen
und Flüchtlingen zu DolmetscherInnen
selbst in solchen Situationen werden, die
sie weit über ihr Alter hinaus belasten
(vgl. Holzapfel 1995). Selbst wenn keine
räumliche Trennung erfolgte, trägt das
sprachliche Auseinanderleben zu einem
vorgezogenen Verlust bis dahin wichtigster Bezugspersonen bei, insbesondere im
Hinblick auf deren Autorität und Status
als Fixpunkte zuverlässiger Orientierung.
Entfremdung bewirken weiterhin unterschiedliche Spracherfahrungen von
Kindern bzw. Jugendlichen und ihren Eltern bzw. engen Bezugspersonen. Sie
SPRACHE
kann selbst dann eintreten, wenn der
Ortswechsel gemeinsam erfolgte. Es liegt
auf der Hand, daß mit unterschiedlichen
Erfahrungen unterschiedliche Veränderungen von Einstellungen, einhergehen.
Dies wird deutlicher, wenn man sich vor
Augen hält, daß Sprache das Bild erzeugt,
das wir uns von der Realität machen und
daß Sprache wiederum dieses Bild konstruiert. In der Folge dieser auseinanderdriftenden Sicht von Wirklichkeit stehen
diese Erwachsenen und ihre Kinder oft im
gegenseitigen Widerspruch6. Mit den ‘Bildern im Kopf’ verändern sich Vokabular
und Horizonte.
Spracherhalt ist ein Bindeglied zur
Herkunft. Die Pflege der Herkunftssprache verspricht Wahlfreiheit und läßt eine
Rückkehr möglich erscheinen. Eine Illusion, wie sich selbst bei freiwilliger Auswanderung zeigen kann, denn Entfremdung schlägt sich auch in der Sprache nieder. Eine Rückkehr und Wiederherstellung des verlassenen Zustandes ist utopisch. Migration verändert den individuellen Radius und Kontext, erzeugt Distanz,
nicht nur des Denkens (vgl. Holzapfel
1996 b). Rückkehr als Möglichkeit ist jedoch eine psychische Entlastung, die nicht
zu unterschätzen ist. Ihre geringe Wahrscheinlichkeit insbesondere für geflüchtete Menschen, stellt eine erhebliche, zusätzliche Belastung dar (vgl. Grinberg
1990).
5. Institutionalisierter muttersprachlicher Unterricht
Im europäischen wie im internationalen
Vergleich des institutionellen Umgangs
mit Herkunfts- bzw. Muttersprachen wird
ein zwiespältiger Umgang mit dem Thema
deutlich. Nach wie vor bleibt es weitgehend den Eltern und/oder den InteressenvertreterInnen nationaler oder religiöser
Herkunftsgemeinschaften
überlassen,
Muttersprache zu erhalten und zu pfle-
gen. Auch in anderen europäischen Einwanderungsländern ist diese Frage nicht
eindeutig geregelt. Den prototypischen
Fall in England stellen Kurse dar, die von
den großen – hinduistischen oder islamischen – Religionsgemeinschaften örtlich
organisiert werden und vom ersten Grundschuljahr bis zum Abschluß der Sekundarstufe II reichen. Die Angebote des
Staates erscheinen eher subsidiär, die Finanzierung ist nicht langfristig gesichert.
Frankreichs bildungspolitische Grundsatzposition sieht die Verantwortung für
Herkunftssprachenunterricht grundsätzlich bei den Regierungen der Herkunftsstaaten, mit denen entsprechende Verträge geschlossen wurden. Auf diese Weise
bestimmt z. B. die algerische Regierung
entsprechende Lehrinhalte in Frankreich.
Schweden geht dagegen unzweideutig von
einer Verantwortung des staatlichen
schwedischen Bildungssystems für den
Herkunftssprachenunterricht von Einwandererkindern aus. Dieser sog. ‘Familiensprachuntericht’ erreicht einen hohen
Versorgungsgrad (vgl. Reich 1994).
6. Sprachstile und Sprachspiele
Wer in einem mehrsprachigen Umfeld
lebt, kann über eine erweiterte Auswahl
von Ausdrucksmöglichkeiten verfügen.
Der Umgang damit ist ebenso individuell
verschieden, wie situationsabhängig. Jedoch können selbst Puristen und Anhänger von Sprachdisziplin kaum vermeiden,
spontan auf ein unmittelbar in den Sinn
kommendes, anderssprachiges Wort zurückzugreifen. Manche pflegen diese Möglichkeit, manche verdammen sie. Jedenfalls ist das Individuum bereits von Kindesbeinen an in der Lage, Sprache flexibel
einzusetzen. Man denke an den Wechsel
zwischen Hochdeutsch und Dialekt, um
Bildung zu beweisen oder sich anzubiedern! Derartige Situationen, in denen
Sprachwechsel unreflektiert aber auch
111
KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN
manipulativ eingesetzt wird, kennen alle.
Oft vollzieht sich der Sprachwechsel – das
‘Codeswitching’ – spontan, kann sich auf
einzelne Worte oder Sätze beziehen. In einer angeregten Unterhaltung von zwei
jungen Mädchen aus Eritrea hörte sich
das so an, daß im angeregten TigrinyaRedefluß immer wieder deutsche Begriffe
auftauchten wie: „Ich weiß schon“, „20
Mark“, „Samstag“! Dieser Sprachwechsel
vollzog sich so spielerisch, daß keinerlei
Abweichung oder Dissonanz von der
Sprachmelodie und Intonation des Tigrinya entstand. Die beiden Mädchen waren
nach Deutschland gekommen, als ihre
muttersprachlichen Kenntnisse gefestigt
waren. Jetzt, Jahre später, wird ihr Alltag
mehr und mehr mit deutschen Begriffen
besetzt, für die ihnen in ihrer Muttersprache kein Äquivalent verfügbar ist.
Nach Jahren im fremdsprachlichen Umfeld mehren sich die Situationen und Zusammenhänge, für deren Bezeichnung sie
ihre unmittelbare muttersprachliche Kompetenz verlieren, wo deren Vokabeln und
Ausdrucksweisen nicht mehr spontan verfügbar sind oder nie angeeignet wurden.
Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge
verlieren ihre muttersprachliche Kompetenz schneller als diejenigen, die mit ihren
Eltern nach Deutschland gekommen sind.
Verbreitetes Analphabetentum, mangelhafte Schreibfertigkeit wegen eines kurzen oder abgebrochenen Schulbesuchs
kommen erschwerend dazu. Je nach Unterbringungsort und -art bestehen nur
sehr begrenzte oder keine Möglichkeiten,
Grundfertigkeiten in einer Herkunftssprache weiterzuentwickeln, der von ‘AußenseiterInnen’ möglicherweise ohnehin wenig Ansehen zugestanden wird.
Häufig stoßen die Kinder und Jugendlichen auf Kritik, sobald sie sich im anderssprachigen Umfeld in ihrer Herkunftssprache unterhalten. MitbewohnerInnen und BetreuerInnen, fühlen sich
durch die fremde Sprache ausgeschlossen
112
oder gar angegriffen. Wenn sich ‘Mindersprachige’ durch ‘Mehrsprachige’ bedroht
fühlen ist die Gefahr groß, eine Stärke –
Sprachfertigkeit – abzuwerten, statt sie
positiv und letztlich für alle gewinnbringend einzusetzen. Sicherlich kann der
Rückzug in eine Sprache durchaus als
‘Waffe’ dienen. Als eigener Sprachcode für
ihre Binnenkommunikation7 eingesetzt,
wird Sprache hier gegenüber den Erwachsenen zum Schutzwall, eine Bastion,
die von Anderssprachigen nicht ohne weiteres durchdringbar ist. Und was Gefühle
betrifft, sie gehen nicht alle an und lassen
sich zudem am besten in der Muttersprache ausdrücken, zumindest über einen langen Zeitraum sprachlicher Umorientierung hinaus.
Kreative Sprachspiele von Kindern und
Jugendlichen untereinander sind wichtiger Bestandteil der Persönlichkeitsentwicklung Heranwachsender. Ihr mitunter
aggressiver Charakter ist Teil des Experimentierfelds Sprache, in dem mitunter
‘Schlüsselworte’ und ihr Verständnis über
die Zugehörigkeit zu einer Gruppe entscheiden. Oft nur fragmentarisch und deshalb von Gruppenfremden besonders
schwierig zu entschlüsseln, sind diese
‘Codes’ stark vom hohen Stellenwert der
Massenkommunikationsmittel beeinflußt
(vgl. Schoblinski u. a. 1993). Die Abweichungen von der ‘Normalsprache’ Erwachsener und die kulturelle Bezogenheit
der Sprachstile Heranwachsender erschweren insbesondere den jungen
Flüchtlingen auf lange Zeit den Zugang zu
Gleichaltrigen.
7. Schlußbemerkungen
Für die Stabilisierung persönlicher und
kultureller Identität, insbesondere unbegleiteter Minderjähriger, scheint die Chance zur Pflege der Muttersprache einen positiven Beitrag zu leisten. Eine Gelegenheit dafür bietet sich für die geflüchteten
SPRACHE
Kinder und Jugendlichen in herkunftsorientierten Vereinigungen und Netzwerken.
Nicht immer ein einfaches Unterfangen.
Abgesehen von behördlichen Einschränkungen, setzen sich Differenzen aus dem
Herkunftsland auch in der Diaspora fort8
und gar manche Gruppierung von Landsleuten – regional, religiös und/oder ideologisch definiert – erweist sich bei genauerem Hinsehen als wenig geeignete Anlaufstelle.
Nach allen Erfahrungen erscheint eine
Wohnsituation ideal, die Sprachgemeinschaften ermöglicht, die aber auch gleichzeitig das Erlernen und die Sprachpraxis
der deutschen (und anderer) Sprachen erleichtert ( Sprachkurse). Deutsch wird
dann das unumgängliche Medium der
Verständigung und Kommunikation über
die eigene Gruppe hinaus. In einer Unterbringung, in der Deutsch als gemeinsame
Sprache noch nicht ausreichend entwikkelt ist, besteht allerdings eine erhebliche
Gefahr der Vereinzelung in der Gruppe
(vgl. Nimsch 1997). Das gemeinsame
Schicksal allein hat keine ausreichende
Bindungskraft, wie sich immer wieder
zeigt.
Ein großes Problem stellen die aufenthalts- und ausländerrechtlichen Beschränkungen für die Motivation der Heranwachsenden dar, selbst dort, wo die
Möglichkeit zum deutschen Sprachunterricht und fortgesetzter sprachlicher Förderung gegeben ist, diese auszuschöpfen.
Angesichts der Schwierigkeiten beim
Schulbesuch, der praktisch unzugänglichen Ausbildungsmöglichkeiten und der
geringen Aussicht auf regelmäßige, legale
Berufsausübung ist wenig Anreiz gegeben, sich oft ungewohnten Lernprozessen
unterzuordnen. Auch die Aussicht auf –
freiwillige oder erzwungene – Rückkehr
oder Weiterwanderung ermutigt nicht unbedingt, die deutsche Sprache gründlich
zu erlernen, deren Sprachgebiet doch
sehr begrenzt ist.
Eine gezielte Erweiterung und Förderung der kommunikativen Kompetenz der
Flüchtlinge in der deutschen Sprache ist
unerläßlich. Dies muß für alle ZuwanderInnen hohe Priorität erreichen. Auch ein
scheinbar ‘vorübergehender Aufenthalt’
rechtfertigt diese Investition in Kinder und
Jugendliche. Sie kollidiert keinesfalls mit
der Aufrechterhaltung der Rückkehrvoraussetzungen, die im sozialpädagogischen
Diskurs breiten Raum einnimmt. Sprachförderung bietet in einem interkulturellen
Ansatz des Austausches und der Förderung kultureller Stärken intellektuelle
Entfaltungsmöglichkeiten.
Gegenseitige
Neugier und Offenheit für das Gegenüber
zu erzeugen, sollte vorrangiges Anliegen
aller sein. Für einen Sprachunterricht bedeutet dies einen Verzicht auf die Überbetonung einer vom Leben losgelösten
Grammatik zugunsten der Entwicklung
kommunikativer Fähigkeiten. Davon profitieren können auch die ‘immer schon
Hiergewesenen’.
Jungen Flüchtlingen in Deutschland
wird in einigen Bundesländern nicht einmal Schulpflicht zugestanden und die
deutsche Asyl- und Ausländerpolitik ist
weit vom Grundsatz entfernt, daß Kinder
und Jugendliche grundsätzlich zu fördern
sind ( Schule). Es bleibt zu hoffen, daß
die Einsicht um sich greift, daß ‘Entwicklungshilfe’ auch im Inland stattfinden
kann. Sie kann auch darin bestehen, die
Fähigkeit – und Chance – von (verstehender) Kommunikation in Deutschland zu
fördern, und zwar derjenigen, die immer
schon hier waren und derjenigen, die
möglicherweise wieder weggehen. In einer immer stärker vernetzten Welt gilt es
PartnerInnen zu finden. Sprache gehört
dazu!
113
KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN
Anmerkungen
1 Die Situation der ‘visible minority’ wird insbesondere im Kontext karibischer und asiatischer Einwanderer in Kanada diskutiert.
2 In unterschiedlichen Kulturen (und gesellschaftlichen Schichten) wird Kindheit/Jugend unterschiedlich definiert.
3 Unentdeckte, aussterbende Sprachen und der mitunter fließende Übergang Sprache/Dialekt ergeben derzeit, weltweit geschätzt, etwa 5.000 Sprachen.
4 Vgl. C. Khamis (1994), die mit ihrer Studie Neuland
beschritt, insbes. im Hinblick auf Mehrsprachigkeit
afrikanischer Kinder.
5 Holzapfel 1996 a, S. 86 f, S. 125 f, S. 194 f: selbst
scharfe Disziplinarmaßnahmen werden herangezogen, um die Verwendung der Muttersprache im
eigenen Haus zu erzwingen.
6 Vgl. Grinberg 1990, S. 113 ff aus der Sicht des Psychoanalytikers.
7 Ähnlich den bei Zwillingen oder etwa gleichaltrigen
Kindern gemachten Beobachtungen; vgl. Hymes
1979, S 82 f.
8 Zum Beispiel Glaubensdifferenzen, z. B. gleiche nationale Herkunft jedoch unterschiedliche Sprachund Stammesgruppen.
Literatur
Babalola, Solomon Adebaye Q.: The Role of Nigerian
Languages and Literatures in Fostering National
Cultural Identity. In: Grundlagen zur Literatur in englischer Sprache. West- und Ostafrika. Arens, W. u. a.
(Hg.). München 1983, S. 148-151
Daniels, Karlheinz/Pommerin, Gabriele: Die Rolle
sprachlicher Schematismen im Deutschunterricht für
ausländische Kinder. In: Die Neueren Sprachen. Jg.
78, 6 (1979). Frankfurt (M). S. 572-585
Frankfurter Rundschau: Sprache ist nur die Hülle für
die Bilder im Kopf. Der tuwinische Schriftsteller und
Stammesfürst Galsan Tschinag ... 7.11.1998
Harris, Marvin: Menschen. Wie wir wurden, was wir
sind. Stuttgart 1991
Holzapfel, Renate: Leben im Asyl. Netzwerke und
Strategien einer afghanischen Flüchtlingsfamilie in
Deutschland. Institut für Kulturanthropologie und
Europäische Ethnologie (Hg.): Notizen 51. Frankfurt
(M) 1995
114
Holzapfel, Renate: „Ich bin halt ein Frankfurter Child.“
Kanada-Auswanderer erzählen. Amt für Multikulturelle Angelegenheiten der Stadt Frankfurt am Main
(Hg.). Frankfurt 1996 a
Holzapfel, Renate: Bleiben oder nicht? Zur Rückwanderungsmotivation deutscher Auswanderer in
Kanada. (1996 b) In: Niederschrift über die 45. Jahrestagung des Bundesverwaltungsamtes für die Leiterinnen und Leiter der Auskunfts- und Beratungsstellen für Auslandtätige und Auswanderer. Bundesverwaltungsamt Köln, Hg. Köln 1996, S. 80-90
Holzapfel, Renate: Kinder aus asylsuchenden und
Flüchtlingsfamilien: Lebenssituation und Sozialisation.
Unter Berücksichtigung der Lage unbegleiteter minderjähriger Kinderflüchtlinge. Expertise zum 10. Kinder- und Jugendbericht des Bundesministerium für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Bonn 1998.
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Hymes, Dell: Soziolinguistik. Zur Ethnographie der
Kommunikation. Frankfurt (M) 1979
Illich, Ivan: Vom Recht auf Gemeinheit. Hamburg 1982
Khamis, Cornelia: Mehrsprachigkeit bei den Nubi.
Das Sprachverhalten viersprachig aufwachsender
Vorschul- und Schulkinder in Bombo/Uganda. Hamburger Beiträge zur Afrikanistik. Band 4. E. Wolff (Hg.).
Hamburg 1994
van de Loo, Marie-José/ Reinhart, Margarete (Hg.):
Kinder: ethnologische Forschungen in fünf Kontinenten. München 1993
Löffler, Heinrich: Sprache als Mittel der Identifikation
und Distanzierung in der viersprachigen Schweiz. In:
Sprache als Mittel von Identifikation und Distanzierung. R. Reiher, U. Kramer (Hg.), Frankfurt (M) 1998,
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Nimsch, Margarethe, Hessische Ministerin für Umwelt, Energie, Jugend, Familie und Gesundheit:
Schriftlicher Bericht zum Berichtsantrag betreffend
minderjährige unbegleitete Flüchtlinge. Ausschußvorlage JGA/14/34. Drucksache 14/1643. Wiesbaden,
18.2.1997
Reich, Hans H.: Unterricht der Herkunftssprachen von
Migranten in anderen europäischen Einwanderungsländern. In: Muttersprachlicher Unterricht – ein Baustein für die Erziehung zur Mehrsprachigkeit. Im Gespräch 9. HG. Hessisches Kultusministerium, Wiesbaden. September 1994, S. 31-50
Schoblinski, Peter/Kohl, Gaby/Ludewigt, Irmgard: Jugendsprache. Fiktion und Wirklichkeit. Opladen 1993
Strand, Paul J.: Indochinese refugees in America.
Duke Univ. Press, 1985
Renate Holzapfel
E T H N I Z I TÄT
Ethnizität
Ausgangspunkt ist die Begriffsklärung von
Ethnizität, ethnischer und kultureller Identität
aus ethnologischer Sicht. Es folgt eine Betrachtung der Bedeutung von Ethnizität und ihrer
Veränderung bei Flüchtlingen im allgemeinen
und Kinderflüchtlingen im besonderen. Hierbei
werden die Gewichtung primordialer und situationaler Aspekte von Ethnizität sowie die
Einflußfaktoren aus Aufnahme- und Herkunftsgesellschaft ausgeführt.
1. Ethnizität als Teil kultureller
Identität
Ethnizität und ethnische Identität sind
häufig synonym verwendete Begriffe. Zu
unterscheiden ist zwischen Ethnizität, mit
der die Charakteristika einer Gruppe von
außen beschrieben werden, und ethnischer Identität als aus der Psychologie
übernommenes Konzept, das die ethnische Komponente individueller und von
Gruppenidentität beschreibt.
Ethnische Identität wird im Interaktions- und Kommunikationszusammenhang ethnischer Gruppen herausgebildet.
Als solche werden Gruppen angenommener gemeinsamer Abstammung, Sprache,
Religion, Kultur bezeichnet, die sich entlang eines oder mehrerer dieser Merkmale in Abgrenzung zu anderen Gruppen definieren und von anderen als solche definiert werden ( Ethnie). Ihre Angehörigen teilen grundlegende kulturelle Werte,
die im Gemeinschaftsleben erlernt, geformt und verändert werden (Barth 1969).
Sie stellen Einheiten unterhalb der nationalstaatlichen Ebene dar und überschreiten in vielen Regionen administrative
Grenzen (z. B. Dänen im deutsch-dänischen Grenzgebiet, Basken in Frankreich
und Spanien, Hausa in Westafrika).
Im Zuge von Nationalisierung, Migration und weltweiter medialer Verbreitung
von Information und Ideen hat sich die re-
lative Geschlossenheit ethnischer Gruppen zunehmend gelöst. Andere Identitätsangebote oder -zwänge beeinflussen Ethnizität. Um diese Zusammenhänge zu erfassen, wird das umfassendere Konzept
der kulturellen Identität verwendet, das
ethnische Identität als wichtige Form beinhalten kann, daneben auch andere Zugehörigkeiten wie diejenigen zu Regionen,
Nationalstaaten, sozialen Gruppen oder
Lebensstilgruppen.
2. Ethnizität bei Flüchtlingen
Die besondere Situation von Flüchtlingen
hinsichtlich von Ethnizität liegt in ihrer
Gruppenzugehörigkeit als mögliche Ursache für ihre Flucht. In den Hauptherkunftsländern von Flüchtlingen spielen
ethnische und religiöse Zugehörigkeit eine
weitaus größere Rolle für die Bestimmung
der Position in einer Gesellschaft. Ethnisch definierte Konflikte, die Verfolgung
und Vertreibung von Angehörigen ethnischer Minderheiten, die Zerstörung ihrer
Lebensgrundlagen, sind heute Hauptursachen für Fluchtmigration ( Dimensionen und Ursachen). Flüchtlinge haben ihre Zugehörigkeit bereits als problematisch
und unter Umständen lebensgefährlich
erfahren. Die Fremdzuschreibung als Angehörige einer ethnischen Gruppe kann
aus diesen Gründen abgelehnt werden.
Flüchtlinge suchen dann nach überethnischen und -nationalen Identitätsangeboten (Brieden 1996). Neben der Sorge um
die zurückgebliebenen Angehörigen kann
auf der anderen Seite eine stärkere Politisierung der ethnischen Zugehörigkeit
erfolgen.
Als Folge von Fluchtgründen und der
notwendigen Eingliederung in die fremde
Aufnahmegesellschaft wird Ethnizität in
Frage gestellt. Kulturelle Wertvorstellungen, Geschlechterrollen ( Geschlecht)
und soziale Beziehungen müssen den neuen Lebensumständen entsprechend ver115
KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN
ändert werden. Bei Flüchtlingen müssen
diese Veränderungen häufig schnell und
angesichts einer wenig planbaren und
vorhersehbaren Zukunft geleistet werden.
Dies erfolgt nicht in Form einer identischen Übernahme von kulturellen Modellen der Aufnahmegesellschaft. Ihr Einfluß
auf Ethnizität von Flüchtlingen liegt in
ihren Fremdzuschreibungen. Einen stärkeren Einfluß üben die anderen Angehörigen der ethnischen Gruppe aus. Veränderungen erfolgen im Interaktionszusammenhang mit diesen Angehörigen im neuen Umfeld und in Hinblick auf die Kompatibilität veränderter Identitätsmodelle
mit denjenigen der zurückgelassenen Angehörigen (Camino, Krulfeld 1994).
3. Ethnizität bei Kinderflüchtlingen
Jeder Mensch wächst in einen Zusammenhang gemeinsamer Sprache, Kultur,
Religion, Wertvorstellungen, Verwandtschaft oder weiter zurück reichender Abstammung hinein ( Familie). Sie verleihen ethnischer Identität einen ‘primordialen’ Charakter (Geertz 1995), der sich in
der hohen Affektivität der Zugehörigkeit
und einer psychologisch grundlegenden
Bedeutung der sprachlichen, kulturellen
und religiösen Vorstellungen ausdrückt,
die wiederum ihren Ausdruck in kulturellen Formen – Lebenspraktiken, Ritualen,
Verhaltensweisen etc. – finden.
Ethnische wie kulturelle Gruppen zeichnet gleichzeitig ihr situativer Charakter
aus, das heißt, ihre Angehörigen reagieren in ihren (Gruppen-)Selbstdefinitionen
und Verhaltensweisen auf die Umgebung
und ihre Veränderungen. So kann Ethnizität zur Durchsetzung von Interessen inner- und außerhalb der Gruppe, zur Abgrenzung gegenüber anderen Gruppen,
zur Legitimation von territorialen oder
Machtansprüchen strategisch eingesetzt
werden, wofür bestimmte Elemente hervorgehoben, andere zeitweise unterdrückt
116
werden. Ethnizität ist also wandelbar und
wird bei strategischem Handeln eingesetzt.
Bei Kindern ist davon auszugehen, daß
der primordiale Charakter ihrer kulturellen und ethnischen Zugehörigkeit dominanter ist als der situative. Sie begreifen
sich in aller Regel als Teil einer Familie
und Gruppe, deren kulturelle und religiöse Wertvorstellungen sowie kulturellen
Praktiken ihr einziges bisher erfahrenes
Orientierungssystem darstellt. Ethnische
und kulturelle Identität können bei ihnen
einen höheren Grad an Selbstverständlichkeit und Allgemeingültigkeit haben als
bei Erwachsenen. Gleichzeitig zeichnen
sich Kinder und Jugendliche durch eine
größere Offenheit für die Integration nichtethnischer Zugehörigkeiten, wie z. B. Lebensstilgruppen, aus ( Jugendkultur).
Im Umgang mit Ethnizität auch bei
Kinderflüchtlingen ist zu berücksichtigen,
daß Gesellschaften unterschiedliche Vorstellungen über Identität, Kindheit und
Heranwachsen haben. Die westeuropäische Vorstellung geht von einem Individuum aus, das im Lebensablauf verschiedene wählbare Rollen einnehmen kann (
Persönlichkeitsentwicklung). Die Fähigkeiten werden in einer vergleichsweise
langen Kindheits- und Jugendphase erlernt; ethnische Zugehörigkeit spielt kaum
eine Rolle. Andere Kulturen kennen häufig ein Modell, das ausgeht von der Familie oder Gruppe, die Teil eines ethnisch
definierten Gesellschaftsmosaik ist. Das
Individuum nimmt darin eine festgelegte,
lebenslange Position ein, z. B. die des ältesten Sohnes, dessen Leben von der Verantwortung für die jüngeren Geschwister
bestimmt wird, oder die der jüngsten
Tochter, die alle Entscheidungen unter die
Prämisse der Versorgung der Eltern stellt.
Eigenkulturelle Identitätsmodelle können
deshalb nicht fraglos auf Angehörige anderer Gesellschaften und Gruppen übertragen werden (Rouse 1995). Insbesonde-
E T H N I S C H E U N D N AT I O N A L E M I N D E R H E I T E N
re Kinderflüchtlinge werden mit einem
Auftrag geschickt, der aus ihrer Herkunftsfamilie und -gruppe stammt und
nur aus dieser heraus verstanden werden
kann ( Kinderflüchtlinge).
Literatur
Barth, Fredrik (Hg.): Ethnic Groups and Boundaries,
Boston 1969
Brieden, Thomas: Konfliktimport durch Immigration,
Hamburg 1996
Camino, Linda A.; Ruth M. Krulfeld (Hg.): Reconstructing Lives, Recapturing Meaning. Refugee Identity, Gender, and Culture Change, Basel 1994
Geertz, Clifford: Linien der Ethnizität, in: Dichte Beschreibungen
Rouse, Roger: Questions of Identity: Personhood and
Collectivity in Transnational Migration to the United
States, in: Critique of Anthropology 15 (4) 1995
Claudia Martini
Ethnische und
nationale
Minderheiten
Zwei Arten von Minderheitenbegriffen lassen
sich unterscheiden: Der umfassende sozialwissenschaftliche Minderheitenbegriff beschreibt
(a) eine zahlenmäßig kleinere Gruppe, (b) eine
zahlen- und machtmäßig unterlegene Gruppe
oder (c) eine machtunterlegene, aber zahlenmäßig stärkere Gruppe in einem Sozialgebilde,
wobei sich die Gruppe durch konstitutive Merkmale von der Mehrheit unterschiedet. Hierunter können fast alle gesellschaftlichen Gruppen
fallen – von ethnisch, kulturell, religiösen Minderheiten bis hin zu sozialen oder politischen
Minderheiten. Im folgenden Beitrag werden die
Begriffe der ‘ethnischen’ und ‘nationalen’ Minderheit erläutert.
1. Ethnische Minderheit
Der Begriff der ethnischen Minderheit beruht auf dem wissenschaftlichen Konzept
der Ethnie oder ethnischen Gruppen. Dieses entstammt der Kulturanthropologie,
die damit – als Weiterentwicklung des
‘Stammes’-Begriffs – Gruppen angenommener gemeinsamer Herkunft, Sprache
und Kultur in nicht-europäischen Gesellschaften beschreibt, die dort Grundlage
der Gesellschaftsorganisation sein können. Mit dem Aufkommen von ethnischkulturell definierten Konflikten in Nationalstaaten und in Folge von Zuwanderung
werden ethnische Minderheiten auch in
Europa ausgemacht (Klemens 1995; Hansen, Schmalz-Jacobsen 1995 und 1997).
Ethnische Minderheiten unterscheiden
sich von der Mehrheitsbevölkerung einer
Gesellschaft durch tatsächliche und oder
vermeintliche Merkmale wie Herkunft,
Sprache, Religion, Kultur. Allein die Existenz von Unterschieden genügt nicht für
eine gesellschaftspolitisch relevante Rolle
einer Minderheit. Entscheidend für die
Herausbildung eines (Gruppen-)Bewußtseins sind die Fremddefinition, die Selbsteinschätzung der Angehörigen und der
Erhalt oder die aktive Konstruktion eines
Gruppenbewußtseins in der Interaktion
der Gruppenmitglieder ( Ethnie). Dazu
dienen insbesondere die Hervorhebung
und Pflege der gemeinsamen Kultur, Sprache und Religion, dort wo sie sich von anderen Minderheiten oder der Mehrheit
unterscheiden.
2. Nationale Minderheit
Der juristische Begriff der nationalen Minderheit ist enger gefaßt und bezeichnet
alteingesessene nationale, sprachliche,
kulturelle oder religiöse Gruppen. International werden rechtliche Minderheiten(schutz-)fragen vorrangig bezüglich nationaler Minderheiten diskutiert und ver117
KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN
traglich verankert. Dies sind ethnische/
kulturelle/sprachliche Gruppen, die bereits bei Staatsgründung das Territorium
besiedelten, folglich mit der Staatsgründung Staatsangehörige wurden und ein
weitgehend geschlossenes Siedlungsgebiet bewohnen. Meist ist die Existenz nationaler Minderheiten auf Grenzverschiebungen (z. B. Dänen in Deutschland) und
den Zerfall multi-ethnischer Reiche in
Nationalstaaten zurückzuführen. Die heute international wichtigen Abkommen
sind das Rahmenübereinkommen des Europarats zum Schutz nationaler Minderheiten, die UN-Minderheitenschutzdeklaration und die Europäische Charta der
Regional- und Minderheitensprachen.
Frühere internationale Konventionen verbrieften insbesondere die Freiheit von
staatlicher Unterdrückung. Mit den o. g.
Konventionen wird unter Minderheitenschutz auch das Recht auf Förderung insbesondere im sprachlich-kulturellen Bereich verstanden. In der Bundesrepublik
Deutschland ist mit der Verfassungsdiskussion im Jahre 1994 auch der Minderheitenstatus für zugewanderte Gruppen
nicht-deutscher Herkunft sowie mehrheitlich nicht-deutscher Staatsangehörigkeit
in die Diskussion eingebracht und abschlägig beschieden worden.
Das bedeutet, daß weiterhin nur die
nationalen Minderheiten der Dänen, Friesen und Sorben einen rechtlichen Minderheitenschutz genießen, der in den Landesverfassungen verbrieft ist. Die Minderheit
der deutschen Sinti und Roma fällt wie die
o. g. Gruppen unter das Rahmenübereinkommen des Europarats und erfährt wie
die religiöse Minderheit der deutschen
Juden besondere Unterstützung, ohne jedoch regionale Minderheitenrechte innezuhaben.
Literatur
Frowein, J.; R. Hofmann; S. Oeter (Hg.): Das Minderheitenrecht europäischer Staaten. Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht u. Völkerrecht, Band
108, Teil 1, 1993
Hofmann, R.: Minderheitenschutz in Europa. Überblick über die völker- und staatsrechtliche Lage, in:
Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und
Völkerrecht 52 (1992), S. 1-69
Klemens, Ludwig: Ethnische Minderheiten in Europa.
Ein Lexikon, München 1995
Schmalz-Jacobsen, Cornelia; Hansen, Georg (Hg.):
Lexikon ethnischer Minderheiten in der Bundesrepublik Deutschland, München 1995
Schmalz-Jacobsen, Cornelia; Hansen, Georg (Hg.):
Kleines Lexikon der ethnischen Minderheiten in
Deutschland, München 1997
Claudia Martini
Kolonialismus
Dieses Handbuch richtet sich an Menschen, die
sich der Arbeit mit Kinderflüchtlingen widmen. Herkunft und Schicksal dieser Kinder
aber sind eng verknüpft mit dem Kolonialismus, der eingewoben ist bis zum heutigen Tage
in das komplexe Ursachengeflecht der Hintergründe jener Kriege, Revolten, Katastrophen
und anderen unmenschlichen Bedingungen,
denen diese Kinder entflohen sind. Es braucht
sehr viel mehr als Nahrung, Kleidung und ‘guten Willen’, um die Traumata der Flüchtlinge
beheben zu helfen. Die Kenntnis dessen, was
sich in der entfernt erscheinenden Epoche des
Kolonialismus zugetragen hat, gehört unabdingbar dazu – in deren Interesse, aber auch in
unserem eigenen. – Urteilen Sie selbst...
1. ‘Afrika den Afrikanern’?
Warum sich überhaupt alter Zeiten erinnern, längst versunkener Epochen? Warum sich mit Geschichte befassen, noch da-
118
KO LO N I A LI S M U S
zu eines Kapitels, das ohne Relevanz
scheint, heute – für uns? Keinerlei Glanz
und Gloria, denen nachzutrauern lohnte,
keinerlei Erblasten, die es aufzuarbeiten
gälte, die Bundsrepublik Deutschland, ein
unbeschriebenes Blatt in Sachen Kolonialismus, wie viele irrtümlich meinen. Andere wiederum profitieren von unserem
notorischen Kurzzeitgedächtnis und kreieren verhängnisvolle Trends: daß es ‘politisch korrekt’ scheint, entweder die Verantwortung unserer Länder für den Zustand der Erde zurückzuweisen und koloniale Gewalt und Eroberung, Sklavenhandel, kontemporäre politische Einmischung, Bevormundung, technologische
Besserwisserei, Geschäftemacherei, ökologische Verursacherrolle etc. herunterzuspielen, zu verharmlosen, zu negieren,
oder gar – diesmal unter dem Mäntelchen
der Menschenrechte – einen ‘neuen Kolonialismus’ zu fordern, ungeniert, den ‘humanitären’ diesmal. So geschehen, z. B.
im SPIEGEL Nr. 91/1992. Der Zeitpunkt
war gut gewählt. Nach dem ost-westlichen
Paradigmenwechsel konnten jetzt ungestraft die Eliten der ‘Entwicklungsländer’
gebrandmarkt und als ‘Buhmänner’ verurteilt werden, darunter auch jene früheren Komplizen und Statthalter ausländischer Mächte und Interessen, die jahrzehntelang von den ‘westlichen Industrienationen’ gefördert, finanziert und für ihre Bündnistreue belohnt wurden, in klingender Münze, wohlklingenden ‘Entwicklungsprojekten’ aber auch mit dem Aufbau und der Ausrüstung ihrer Macht-,
Herrschafts- und Unterdrückungsapparate. Mit dem Fortfall des Ost-West-Konfliktes sind die alten Kumpane überflüssig, ja
lästig geworden, die ‘Unfähigkeit der Führung’ kann sorglos denunziert werden,
ohne der eigenen verhängnisvollen Rolle
zu gedenken.
Noch einen Schritt weiter gehen andere, zum Beispiel, im Magazin der renommierten „Süddeutschen Zeitung“ vom
20.11.1992, in dem skrupellos gefordert
wird: ‘Überlaßt Afrika nicht den Afrikanern!’ Dieser markige Spruch erinnert fatal an den deutschen Expeditionsleiter Eugen Zintgraff, der zu Beginn dieses Jahrhunderts das berühmte ‘Afrika den Afrikanern, aber uns die Afrikaner!’ geprägt
hatte. Damals wie heute bemühen die
Kolonialapologeten hehre Gründe für ihre
Ungeheuerlichkeiten. Waren es damals
‘die Kultur’ oder der ‘richtige Glaube’, so
haben wir ZeitgenossInnen demzufolge
heute ‘das Recht’ auf unserer Seite, den
afrikanischen Kontinent ‘in die Gehschule
der Demokratie zu zwingen’.
Lassen wir uns nicht von wohlklingenden, aber vordergründigen Ausreden blenden, schlagen wir nach im traurigen
Kapitel des Kolonialismus, frischen wir
Gedächtnis auf – und befinden dann, wer
welches Recht auf seiner/ihrer Seite hat.
2. Gorée, eine Insel gegen das
Vergessen
In nur 20 Minuten bringt ein Schiff heute
die BesucherInnen vom Festland Dakars,
der Hauptstadt der Republik Senegal in
Westafrika, auf die Insel ‘Gorée’. Sie ist
nur etwa 1000 m lang und 300 m breit,
trotzdem reißt der Besucherstrom kaum
ab. Wenige Franc CFA nur kostet die
Überfahrt für TouristInnen, noch billiger
ist sie für Einheimische. Es sind vornehmlich AfrikanerInnen, ganze Schulklassen,
die hier einem der dunkelsten Kapitel ihrer Geschichte nachspüren, dem europäischen Handel mit ‘Schwarzhäuten’. Jahrhundertelang befand sich die Insel im Besitz wechselnder europäischer Mächte:
Portugal, Holland, England, Frankreich,
jahrhundertelang wurden von hier Sklavinnen und Sklaven in die ‘Neue Welt’ verschifft.
SklavInnen gibt es, seit es Kriege gibt
und Menschen Gewalt gegen Menschen
anwenden. Ohne die durch ‘Sklavenar119
KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN
beit’ geschaffenen materiellen Werte hätte
es vielleicht nie die Blüte der griechischen
Geisteswelt, der Wissenschaften, Philosophie und Künste gegeben, und auch die
Macht des römischen Imperiums stand
und fiel mit seiner auf Sklavenarbeit gegründeten Produktionsweise. In vielen
Teilen Europas bildete die Sklaverei eine
Epoche lang die Grundlage der Produktionsweise, woraus sich im Feudalismus
die Leibeigenschaft entwickelte. Auch in
nordafrikanischen Ländern gab es Sklaverei lange vor der Ankunft der ersten europäischen Sklavenhändler, bei mohammedanischen Völkern ebenso wie in den
fernen Kulturen Chinas, Burmas, Indiens
oder Amerikas. Doch niemals zuvor in der
Geschichte war der Sklavenhandel in einer derartigen Größenordnung, mit einer
derartigen Brutalität, aus derart gewissenloser Gewinnsucht betrieben worden,
wie von den Europäern vom 15. bis in das
19. Jahrhundert.
Ein ganzer Kontinent wurde ausgeblutet, sein wichtigster Besitz geraubt: Männer und Frauen im besten Alter, sein Potential, die Kinder, getötet oder versklavt
oder nie geboren. In den derart heimgesuchten Gebieten Afrikas begannen die
Handwerke zu stagnieren, denn die Wirtschaft drehte sich nur noch um den Raub
und den Handel mit der von den Europäern begehrten ‘Ware Mensch’. Es gab nur
Sklavenhändlervölker oder versklavte.
Völker, die den Europäern nicht in die
Hände arbeiten wollten, wurden selber
zum Objekt der Menschenjäger: Ohne Gewehre waren sie den neuen ‘Feuerwaffen’
der Europäer und deren afrikanischen
Komplizen hoffnungslos unterlegen. Sie
brauchten also Feuerwaffen, um sich gegen die Übergriffe von Sklavenjägern erfolgreich wehren zu können. Gewehre
aber gab es nur von den Europäern und
diese tauschten Feuerwaffen nur gegen
SklavInnen. Ein teuflischer, ein tödlicher
Kreislauf.
120
Der große Totentanz hatte begonnen
mit der ‘Entdeckung’ Amerikas durch
Christoph Kolumbus und dem Gold Haitis,
das die Spanier ‘Hispaniola’ nannten.
Nachdem die ansässige indianische Bevölkerung entweder im Kampf getötet, durch
eingeschleppte Krankheiten und Zwangsarbeit geschwächt oder dezimiert worden
war, beauftragten die Spanier infolgedessen die Portugiesen mit ihren einschlägigen Erfahrungen, ihnen afrikanische ArbeitssklavInnen zu besorgen. Mit der Ausweitung portugiesischer und spanischer
Eroberungen in Amerika stieg der Bedarf
an Arbeitskräften entsprechend an. Der
Sklavenhandel nahm eine neue Dimension
an, als auch Briten, Holländer und Franzosen Kolonien in Nordamerika und in der
Karibik in Besitz nahmen und den Anbau
von Zuckerrohr, Indigo und Baumwolle im
großen Stil einführten. Außerdem stieg in
Europa die Nachfrage nach Zucker gewaltig an, so daß die Zukkerrohrplantagen
ständig vergrößert wurden, wofür aber
immer mehr ArbeitssklavInnen benötigt
wurden. Und so funktionierte das lukrative ‘Dreiecksgeschäft’: Menschen aus Afrika gegen Manufakturprodukte aus England für die Plantagen von Amerika, bezahlt mit Zucker oder Wechseln, fällig in
England.
Englands Schiffsbau, Eisen-, Textil- und
Rüstungsindustrien boomten, Handel,
Banken, Transportunternehmen und Versicherungen erlebten einen nie gekannten
Aufschwung. Ein neuer Markt entstand
durch die Frage: wie ernährt man seine
Sklavenarbeiterschaft am billigsten? Die
britisch-neufundländische Fischindustrie
begann, Fisch haltbar zu machen und als
Sklavennahrung in die Karibik zu verschiffen. Die enormen Gewinne der neuen
Bourgeoisie aber wurden investiert und
bildeten einen wichtigen Teil jenes Kapitals, das nötig war, um die große industrielle Entwicklung Englands zu starten.
Insgesamt, so schätzen HistorikerInnen
KO LO N I A LI S M U S
vorsichtig, sind in den vier Jahrhunderten
des Sklavenhandels mehr als 10 Millionen
Menschen geraubt, verschleppt und versklavt worden, andere sprechen von 60
Millionen. Ihre genaue Zahl ist nicht mehr
zu ermitteln. Viele von ihnen haben Amerika niemals erreicht. Sie fanden den Tod
bei der Gefangennahme, auf den Märschen zu den Sammellagern für die SklavInnen, in den Lagern oder auf der Überfahrt. Wurden zum Beispiel Wasser oder
Nahrung knapp, wurden die Schwächsten
aussortiert und über Bord geworfen. Auch
Widerstand kostete ungezählten AfrikanerInnen das Leben: durch Selbsttötung, Revolten und Meutereien suchten Tausende,
der Sklaverei zu entgehen. In den entvölkerten Landstrichen aber brach die Versorgung der Zurückgebliebenen zusammen, war das Wissen ganzer Generation
ausgelöscht.
Es sind diese Bilder, die die BesucherInnen von Gorée vor Augen haben, wenn
sie heute die fensterlosen Zellen des ehemaligen Sklavenhauses besichtigen, und
sich in dem kleinen Inselmuseum Details,
Zusammenhänge und Hintergründe erklären lassen. Die BewohnerInnen der Insel, heute ein Naturschutzgebiet, unternehmen alles, die Erinnerung an dieses
dunkle Kapitel in der Geschichte ihres
Kontinents wachzuhalten.
3. Kolonialer Landraub und neue
Grenzen
Nach dem vier Jahrhunderte währenden
Sklavenhandel war Afrika geschwächt
und zerrissen. Im Europa des 19. Jahrhunderts entfachten die Berichte waghalsiger europäischer Forscher und Abenteurer aus dem Innern Afrikas neue Begehrlichkeiten. Der Engländer Livingston z. B.
berichtete vom Abbau von Mangan und
Kupfer in Katanga, der Franzose René
Caillié von Karawanen beladen mit Gold,
Elfenbein und Straußenfedern, im südli-
chen Afrika wurden Gold und Diamanten
gefunden. Gleichzeitig erlebte Europa eine
gewaltige strukturelle Veränderung: die
‘industrielle Revolution’ und damit einhergehend neue Bedürfnisse. Die neuen mechanisierten Industrien verlangten nach
Rohstoffen aus tropischen Regionen. So
nimmt es nicht wunder, daß die wichtigsten Industrienationen Europas des 19.
Jahrhunderts identisch waren mit den
wichtigsten Kolonialmächten: Großbritannien, Frankreich, Belgien und später das
Deutsche Reich unter Bismarck. „Im Jahre 1880“, so Professor Ki-Zerbo (1981),
Historiker und alternativer Nobelpreisträger aus Burkina Faso, „hatten die Europäer kaum ein Zehntel des afrikanischen
Kontinents in Besitz genommen – zwanzig
Jahre später war der gesamte Rest vereinnahmt. Man nahm, weil man glaubte, daß
es notwendig wäre, um frühere Eroberungen zu schützen; später nahm man, weil
alles zum Greifen nah lag; noch später
nahm man, um den Nachbarn zuvorzukommen; zum Schluß nahm man, um zu
nehmen... Die Methoden waren nahezu
überall gleich: Bluff und erpreßte ‘Verträge’ wechselten mit der gewaltsamen
Beseitigung jeglichen Widerstandes, oft in
schrecklichen Massakern...“
Vor allem in der Anfangsphase änderten sich die Grenzen in den Kolonien ständig. Umkämpfte Gebiete kamen hinzu
oder gingen verloren. Miteinander konkurrierende Kolonialmächte führten Kriege gegeneinander oder schlossen Verträge. Als das politische Klima günstig war,
teilten die Kolonialmächte in einem ‘Gentlemen’s Agreement’ den Kontinent Afrika
mit dem Lineal unter sich auf, ohne auf
gewachsene Entwicklungen, ethnische
Strukturen und kulturelle Zusammenhänge auch nur die geringste Rücksicht zu
nehmen. Dadurch wurden Völker auseinandergerissen, die bis heute getrennt blieben. Fast immer wurden aus den künstlich gezogenen Kolonialgrenzen – nach
121
KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN
deren staatlicher Unabhängigkeit – die
Grenzen der modernen Nationalstaaten
und bilden eine der Ursachen für kriegerische Auseinandersetzungen bis in unsere
Tage.
4. Entstehung der kolonialen
Wirtschaftsweise
Mit der Erschließung des inneren Afrikas
und seiner widerrechtlichen Inbesitznahme durch die europäischen Mächte im 19.
Jahrhundert wurde fruchtbarstes afrikanisches Land geraubt, das tropische Klima
genutzt, um Kulturen im großen Stil anzupflanzen, die für die Industrien Europas
wichtige Rohstoffe lieferten: Sisal, Baumwolle, Kautschuk und ‘Genußmittel’ wie
Kaffee, Kakao und Tee. In den waldreichen Gegenden Afrikas ließen die Kolonialisten Bäume roden und trieben lukrativen
Handel mit kostbaren Rot- und Ebenhölzern. In Kamerun z. B. hatten wenige Jahre deutscher Ausbeutung genügt, den Bestand an Gummibäumen in der Küstenregion zu erschöpfen. Der forcierte Raubbau tropischer Wälder gefährdete bereits
zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch den
restlichen Baumbestand im Innern des
Landes. Der deutsche staatliche Kommissar Rohrbach, zuständig für das Ansiedlungswesen in ‘Deutsch-Südwest’, brachte
die einseitige Ausrichtung der Ökonomien
in den Kolonialgebieten auf die Bedürfnisse der europäischen Industrieländer
auf den Punkt: „... daß die afrikanischen
Kolonien nicht um ihrer selbst, nicht um
der Eingeborenen willen da sind, sondern
ganz und gar um der weißen Völker willen, die sie in Besitz genommen haben.“
Neben der rigorosen Ausbeutung von
natürlichen Ressourcen gehörten die Einführung von Lohnarbeit und Geldwirtschaft zu den wichtigsten ökonomischen
Maßnahmen. Dieser Prozeß ging von den
europäischen Stützpunkten aus und leitete über das Gefälle zwischen ‘Mutterland’
122
und Kolonie hinaus eine ungleiche regionale Entwicklung auch innerhalb der Kolonialgebiete ein. Ausgangs- und Endpunkte von Straßen und Eisenbahntrassen waren die Fundorte der Rohstoffe, die
Siedlungs- und Geschäftszentren der
Weißen, nicht die der einheimischen Bevölkerung. Neue Städte wurden gegründet, alte Siedlungsgebiete versanken in
Bedeutungslosigkeit.
Die Kolonialisten waren darüber hinaus interessiert, nicht nur eigene Plantagen zu betreiben, sondern zur Deckung
ihres Bedarfs an landwirtschaftlichen Rohstoffen auch die einheimische Landwirtschaft zur Produktion heranzuziehen. Das
geschah zumeist durch eine Mischung aus
Anbauzwang und Zwangsarbeit. Außerdem wirkte sich die Einführung von Steuern für die Kolonialverwaltung für die
Kolonialländer günstig aus. Steuern mußten in der Regel in Geld entrichtet werden,
in den Besitz von Geld aber gelangte nur,
wer den Europäern entweder Produkte
oder die eigene Arbeitskraft verkaufte.
Geld wurde auch erstrebenswert, um an
den ‘Errungenschaften der Zivilisation’
teilhaben zu können: billigste Massenware, in die Kolonien importiert, auch
Schnaps und Feuerwaffen, lockten.
5. Zur Rolle traditioneller
Stammesführer
Der Landraub durch die Kolonialisten gab
sich oft einen pseudo-legalen Anstrich. Die
Deutschen beispielsweise schlossen bisweilen nachträglich sogenannte ‘Schutzverträge’ mit früheren Besitzern ab, oft
aber auch mit Stammesführern, die selbst
gar keine Besitz-, sondern lediglich Verfügungsrechte über das Land besaßen: zumeist befand sich der Boden im gemeinsamen Besitz eines Dorfes oder Familienverbandes. Auch für die Eintreibung von
Steuern, die Durchsetzung des Anbauzwangs und die Gestellung von Zwangs-
KO LO N I A LI S M U S
arbeiterInnen, wurden in der Regel die
Stammesführer verantwortlich gemacht.
Sie verloren dadurch das Vertrauen der
Menschen in ihren Einflußgebieten, und
wenn diese sich wehrten, Aufstände anzettelten oder kriegerische Revolten,
suchten die traditionellen Führer zu deren
Niederschlagung nur allzu oft Hilfe und
Unterstützung bei der Kolonialverwaltung, um an der Macht zu bleiben. Diese
Form der politischen Herrschaft wurde als
‘indirect rule’ (indirekte Herrschaft) besonders in britischen Kolonien erfolgreich
praktiziert.
6. Von der Selbstversorgung zur
Unterernährung
Zum Anbau von Nahrungsmitteln für die
Bevölkerung blieb jetzt oft nur noch der
geringste Teil des Bodens von schlechtester Qualität. Hatte es vor der Kolonialzeit
außer in Zeiten von Kriegen oder Naturkatastrophen für jedes Mitglied eines afrikanischen Gemeinwesens ausreichende
Versorgung mit dem Nötigsten gegeben,
so hatte sich dies mit dem Landraub der
Kolonialisten schnell geändert. Auf dem
verbliebenen Land sollten zudem auch
nicht konsumierbare Produkte für den
Verkauf an die Kolonialisten angebaut
werden, sog. ‘Cash Crops’. Auch das traditionelle ausgeklügelte System der Arbeitskräfte geriet aus dem Gleichgewicht.
Durch Kolonialkriege und Zwangsarbeit
wurden die Männer rekrutiert, auch zur
Lohnarbeit in den Städten oder auf entfernte Plantagen. In der Folge mußten die
Frauen auch noch die Arbeiten der Männer übernehmen. Gleichzeitig wurden
Frauen aber auch zu Zwangsarbeiten herangezogen, so daß auf diese Weise die
ausreichende Versorgung mit Nahrungsmitteln nicht mehr gewährleistet war. Die
Ernährungslage der einheimischen Bevölkerungen verschlechterte sich rapide.
7. Die ökonomische Ausgrenzung der
Frauen
Ein riesiges Angebot an billigsten in Europa produzierten Massenwaren überschwemmte die Kolonien. Viele Fertigkeiten, vom Töpfern über die Produktion
von Jagdwerkzeugen, von der Weberei bis
zur Rindenstoffherstellung, stagnierten,
gerieten in Vergessenheit, starben schließlich aus. Das bedruckte Baumwolltuch aus
Deutschland oder England ersetzte Handgewebtes, europäische Kochtöpfe verdrängten die einheimischen Tontöpfe,
Pappkoffer traten an die Stelle von handgeflochtenen Körben, Gewehre lösten die
traditionellen Jagd- und Kriegswaffen ab,
Seife, Regenschirme, Kerosinlampen, Nähmaschinen und europäische Betten hielten
Einzug, wurden ‘modern’. Da viele der traditionellen Handwerke von Frauen ausgeübt wurden, traf sie die Herabsetzung,
Minderschätzung und Verdrängung aus
den Handwerken ganz besonders. Den
Frauen wurden in der Folgezeit auch keine neuen Arbeitsgebiete zugänglich gemacht, die den Prestigeverlust wieder
ausgeglichen hätten. Lohnarbeit wurde in
erster Linie für Männer angeboten, wo
Frauen bezahlte Arbeit fanden, erhielten
sie ein im Vergleich zu Männern niedrigeres Entgelt.
Den Frauen jedoch, deren Männer sich
in entfernten Orten für Lohnarbeit verdingten, fielen jetzt auch noch andere Aufgaben zu: neben der Nahrungsmittelproduktion und der Sorge für die Kinder, Alten und Kranken der Gemeinschaft, auch
schwere Arbeiten wie Rodungen, die traditionell von Männern ausgeführt wurden.
Dort, wo der Anbau von Handelsgewächsen und Verkaufsprodukten eingeführt
wurde, waren es ausschließlich Männer,
die von den Kolonialisten in neuen Pflanzungsmethoden unterwiesen wurden. Unbeachtet der Struktur der traditionellen
Arbeitsteilung mit den Frauen als landwirtschaftlichen Produzentinnen, wurden
123
KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN
von nun an die Männer zu den Adressaten
des ‘Modernen’. Frauen, die traditionell
auf den Feldern des Mannes mitgearbeitet
hatten und bestimmte Rechte auf die
Ernte dieser Felder hatten, verloren diese,
wenn der Mann die Ernte verkaufte. Der
Gelderlös ging an ihn. Auch die neuen Berufe standen nur für Männer offen. Die
Frauen landeten mit der Bürde für die
Haus- und Subsistenzwirtschaft, die zwar
das Überleben der Gemeinschaften garantierte, aber nicht entlohnt wurde, im unbezahlten Sektor der Kolonialwirtschaften, und viele von ihnen sind bis heute
darin verblieben. Diese Bereiche haben
bis heute kaum an Wichtigkeit, dafür aber
weiter an Ansehen und Anerkennung verloren: Wo Geld zählt, ist unbezahlte Arbeit
nichts ‘wert’.
Der Abzug vor allem junger Männer
aus den Dörfern hatte noch andere weitreichende Konsequenzen für die soziale
Stellung der Frauen: Heiratsfähige junge
Frauen fanden kaum noch Männer, gerieten in Konkurrenz um sie, waren schnell
‘zu alt’ geworden, wurden verspottet, fielen den Familien zur Last und begannen
deshalb, mit den Männern in die Städte
und in einen neuen Beruf zu ziehen, den
es vorher nicht gab: die Prostitution. Eine
neue Krankheit begann sich auszubreiten:
die Syphilis. In Kamerun wurde sie ‘memfawu’ genannt, ‘wer gab es dir?’ Auch für
die verheirateten Frauen verschlechterte
sich vieles. Die lange Trennung von Eheleuten durch Wanderarbeit, Zwangsarbeit
oder Militärdienst brachte ihnen nicht nur
mehr Arbeit, sie zeigte auch andere Wirkung: es folgten Verdächtigungen wegen
Ehebruch und Untreue. Ehescheidungen
wurden häufiger, Männer ‘infizierten’ sich
im Kontakt mit EuropäerInnen häufig mit
dem ‘Kulturbazillus’ und begannen, die
‘altmodische’ Mutter, Ehefrau oder Freundin im Dorf geringschätzig zu belächeln.
Alkoholismus, Streitigkeiten und Schläge
für die Ehefrauen – auch das Errungen124
schaften der ‘weißen Zivilisation’. Die traditionelle Morgengabe gab es jetzt in Geld.
Um an Geld für die neuen begehrten Waren zu gelangen, verfiel mancher Mann
auf die Idee, seine Tochter oder jüngere
Schwester zu ‘verheiraten’, wodurch das
Heiratsalter in vielen Gegenden sank.
Frauen, die ihren Männern in die Städte folgten oder sich christlichen Missionierungen beugten, bot jedoch die neue monogame Ehe kaum Vorteile: Die Frau lebte
nun allein mit ihrem Mann. Mitfrauen sowie deren Hilfe und Gesellschaft bei der
Arbeit fielen weg. Ohne Mitfrauen entfiel
auch die mehrjährige sexuelle Pause nach
der Geburt eines Kindes. Frauen wurden
schneller und öfter schwanger, die Abstände zwischen Geburten kürzer. Auch finanziell wurde die Frau abhängig von
ihrem Mann. Die Folge dieser neuen Familienstruktur für die Frau: Mehrarbeit,
Isolation und Abhängigkeit vom Mann.
8. Die kulturelle Dimension des
Kolonialismus
„Als der Weiße hierher kam, hatten wir
das Land und der Weiße die Bibel. Jetzt
haben wir die Bibel und der Weiße das
Land“ (Sprichwort im südlichen Afrika)
Christliche Missionierung, die Einführung europäischer Schulsysteme und ‘moderner’ Medizin werden gemeinhin als
Beispiele für die ‘Segnungen’ des Kolonialismus angeführt. Dabei dienten Mission
und Schulen in erster Linie der Kolonialmacht: Zunächst ebneten die Missionen
Handel, Militär und Kolonialverwaltung
den Weg, später, als es galt, die zerstörte
nationale Identität der unterjochten Völker durch eine neue zu ersetzen, halfen
Militärdienst, christliche Ideale und europäische Lerninhalte, daß sich die ‘Untertanen’ mit ihrer neuen Herren identifizierten und ihnen nacheiferten. Die säkularen Schulprogramme hatten darüber
hinaus die Aufgabe, brauchbare Kolonial-
KO LO N I A LI S M U S
kader zu erziehen. Unterrichtssprache
war die Sprache der Kolonialmacht, einheimische Sprachen waren nicht zugelassen. Die Schulsysteme folgten jenen der
jeweiligen Kolonialmacht. Unterrichtet
wurde ‘Nützliches’, zusammengestrichene
Kopien europäischer Bildungsprogramme, zu deren Gunsten die Geschichte, Kultur und das traditionelle Wissen Afrikas
geopfert wurde. Und so lernten die kleinen Mossi Obervoltas von den Eroberungen der Gallier, ‘ihrer Vorfahren’, bis in
die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts. Mit
der ‘modernen’ Medizin bekamen ‘Gesundheit’ wie ‘Krankheit’ eine neue, aus
dem kulturellen Zusammenhang gerissene Bedeutung, wurden traditionelles Wissen um Heilmethoden und Medikamente
ausgegrenzt und verschüttet.
Auf der anderen Seite der Erdkugel
aber fanden die Geschichten aus den Kolonien reißenden Absatz, vor allem in
Form von Abenteuergeschichten und Erlebnisberichten, später auch Filmen, und
mit ihnen wurde eine wahre Flut von rassistischen Vorurteilen verbreitet, wurden
Mythen geschaffen und Hirne konditioniert ( Rassismus).
sten Stunde (Leopold Senghor, Sekou
Touré oder Julius Nyerere) versuchten, eine eigenständige Entwicklung in Gang zu
bringen. Der ‘dritte Weg’ aber scheiterte.
Die neuen Führer der ehemaligen Kolonien traten ein schweres Erbe unter ungünstigsten Voraussetzungen an. Die ungleiche ökonomische Entwicklung einzelner Regionen auch innerhalb der neuen
Staatengebilde, die im Zeitalter des Kolonialismus eingeleitet wurde, verschärfte
sich unter Bedingungen der Mangelökonomien und deren kompromißloser Eingliederung in die globalen Wirtschaftsstrukturen noch. Als Folge davon schritt
die interne Kolonisierung voran, brachen
alte und neue ethnische Rivalitäten auf.
Fortgeführte äußere politische Einflußnahme und die Übernahme nicht angepaßter Politikmodelle, globale Wirtschaftsinteressen ohne Rücksicht auf lokale soziale oder ökologische Konsequenzen, die
Marginalisierung ganzer Regionen und
Bevölkerungsgruppen, ethnische Rivalitäten und zunehmend korrumpierbare Eliten haben in einer unheiligen Allianz mit
den im Kolonialismus begonnenen strukturellen Eingriffen zum Niedergang der
nachkolonialen afrikanischen Staatswesen entscheidend beigetragen.
9. Das Ende der Ära des historischen
Kolonialismus
Das Ende der kolonialen Ära kam nicht
unvorbereitet. Oft ging die nationale Unabhängigkeit mit einem Wechsel der Eliten – in Afrika oft synonym für die Eliten
einer anderen ethnischen Gruppe – einher, in einigen Ländern von langer Hand
vorbereitet von den ehemaligen Herren,
die sich ihre ehemaligen Kolonien auch
nach der formellen Unabhängigkeit als
politische und wirtschaftliche Einflußzonen zu bewahren wußten. Im Klima des
‘Kalten Krieges’ hatten die neuen Staaten
nur die Wahl, sich dem einen oder anderen Block anzuschließen, oder aber, wie
einige der charismatischen Führer der er-
Literatur
Tips zum Weiterlesen:
Frantz Fanon: Die Verdammten dieser Erde, Frankfurt/Main 1967 sowie Frantz Fanon: Schwarze Haut –
weiße Maske, Frankfurt/Main 1985 (in beiden Büchern befaßt sich der Arzt und Autor aus Martinique
vor allem mit den psychologischen Aspekten von Versklavung und Kolonisation)
Joseph Ki-Zerbo: Die Geschichte Schwarz-Afrikas,
Frankfurt am Main, 1981 (ein umfassendes Standardwerk aus der Sicht eines afrikanischen Historikers, M.M.)
Martha Mamozai: Schwarze Frau, weiße Herrin, 2.
Auflage, Reinbek bei Hamburg 1989 (über die Rolle
125
KINDHEIT UND JUGEND IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN
der deutschen Frauen im Kolonialismus, Auswirkungen auf die kolonialisierten Frauen und die Verwandtschaft von deutschem Kolonialismus und Faschismus)
Walter Rodney: Afrika. Die Geschichte einer Unterentwicklung, Berlin 1975 (eine politische Aufarbeitung des kolonialen Eingriffs und seiner Folgen bis
heute, verfaßt von einem Politiker aus Tansania, M.M.)
Klaus Schichte: Krieg und Vergesellschaftung in Afrika, Münster 1996 (ein neuerer Beitrag zur Konfliktforschung der Ursachen für die Kriege in Afrika)
Martha Mamozai
126
URSACHEN UND DIMENSIONEN
2.
Flucht und Migration
Ursachen und
Dimensionen1
Die meisten Ursachen für Flucht und Migration
von Kindern und Jugendlichen sind nicht kinderspezifisch. Deshalb behandelt der Beitrag
allgemeine Ursachen von Flucht und Migration, geht aber auch auf spezifische Folgen für
Kinder und Jugendliche ein. Er stellt auch Fragen nach erkennbaren Tendenzen und Prognosen zum internationalen Migrationsgeschehen
sowie nach Lösungsmöglichkeiten für ein weltweites Problem, das aus Sicht der potentiellen
Zielländer schon in den Katalog „neuer Bedrohungen“ aufgenommen wurde (vgl. Weiner
1993). Wie der Bundestagswahlkampf von
1998 zeigte, ist kaum ein anderes Problem innenpolitisch so brisant und umstritten wie die
Ausländer- und Asylpolitik, obwohl inzwischen
mehr AusländerInnen aus- denn einwandern.
Offensichtlich ist das Wissen über Dimensionen
und Ursachen der internationalen Migration
erschreckend gering.
1. Bilder und Zerrbilder vom
Fluchtgeschehen
Wir sehen im TV die Bilder aus dem Kosovo: Aus zerschossenen Dörfern fliehen zu
Fuß und auf allerlei Transportmitteln
Frauen mit vielen Kindern und einigen alten Leuten. Die Männer führen Krieg und
schlagen auf „Feindseite“ Menschen in die
Flucht. Die Flüchtlinge fliehen über Grenzen oder in Wälder, wo sie auch internationale Hilfsorganisationen nur schwer
ausfindig machen können. Für die Kinder
ist für absehbare Zeit zu Ende, was bisher
ihr Leben geprägt hatte. Die psychischen
Langzeitschäden einer solchen Entwurzelung im Kindesalter sind sicherlich größer
als physische Mangelerscheinungen, vor
allem dann, wenn die Kinder Zeugen oder
sogar Opfer von Gewalt geworden sind.
Wir sehen noch schrecklichere Bilder
aus Afrika, jüngst aus dem Süden des Sudan: Wieder ausgemergelte Frauen mit
vielen Kindern, von denen viele von Hunger und Krankheiten gezeichnet sind und
kaum eine Überlebenschance haben. Junge Männer sehen wir auch hier selten. Sie
führen Krieg und sind meistens gut genährt, weil sie Hilfsorganisationen erpressen oder überfallen, bevor diese zu den
Flüchtlingslagern durchkommen – falls sie
überhaupt durchkommen.
Hier wie dort sind Frauen und Kinder
nicht allein hilflose Opfer von Bürgerkriegen, sondern auch Instrumente zynischer
Vertreibungs- und Aushungerungsstrategien. Die humanitäre Nothilfe von außen
ist auch immer wieder mit der Kritik konfrontiert, die Kriege zu verlängern und
den Kriegsparteien den Willen zum Frieden zu nehmen, weil sie nicht nur die Notleidenden, sondern auch sie durchfüttert.
Weil die UN-Organisationen mit beiden
Seiten verhandeln müssen, um überhaupt
tätig werden zu können, werden sie mal
von dieser, mal von jener Seite der Parteilichkeit und Komplizenschaft bezichtigt.
Wir sehen diese Bilder aus Kriegsge127
F L U C H T U N D M I G R AT I O N
bieten nur – wenn wir sie überhaupt noch
sehen und ertragen wollen –, wenn zufällig ein Fernsehteam eingeflogen kam.
Aber auch dann sehen wir nur Ausschnitte der Wirklichkeit. Was da zufällig vor die
Kamera geriet und von Redaktionen auf
Sendemaß geschnitten wurde, ist eben eine gefilterte und zurechtgeschnittene Information. Meistens vollzieht sich das
Fluchtgeschehen unbemerkt von der Weltöffentlichkeit, versteckt im Busch, in Wäldern oder städtischen Slums, dazu meistens im Zwielicht der Illegalität, die ständige Unsicherheit schafft und den Zugang
zu staatlichen Dienstleistungen verwehrt.
Illegalität verweigert das Recht, Rechte zu
haben.
Wenn Teams des UNHCR oder anderer
Hilfsorganisationen am Ort des Geschehens auftauchen, können auch sie das
Ausmaß der Fluchttragödie nur schätzen.
Sie kommen auch nur dorthin, wo es Flugpisten oder Straßen für Geländewagen
gibt. Es war ja lange nicht bekannt, ob
sich 200.000, doppelt soviele oder gar eine Million Flüchtlinge aus Ruanda vor verschiedenen marodierenden Soldatesken
irgendwo in den Regenwäldern Ost-Zaires
zu verstecken versuchten. Der UNHCR und
die Hilfsorganisationen melden möglichst
hohe Zahlen an ihre Zentralen, um möglichst hohe staatliche Zuschüsse oder
Spenden zu mobilisieren. Hilfsorganisationen brauchen Katastrophen, um ihre Existenz zu rechtfertigen und Spenden zu bekommen. Menschliche Katastrophen haben viele Facetten, Täter und Opfer, Gewinner und Verlierer und innerhalb der
Opfer und Verlierer wiederum ganz unterschiedliche Grade der Betroffenheit und
des Leidensdruckes.
2. Kinder und Jugendliche tauchen in
den Statistiken nicht auf
Nach Berichten des UNHCR nahm in den
letzten Jahren zwar die Zahl der grenzü128
berschreitenden Flüchtlinge ab, weil viele
nach dem Ende von Bürgerkriegen zurückkehren konnten bzw. mußten, aber
gleichzeitig stellte er im letzten Zweijahresbericht 1997/98 fest:
„Es sind viel mehr Menschen als jemals
zuvor betroffen. Das Amt des Hohen
Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) hat heute die Aufgabe,
sich um 22 Mio. Menschen auf der ganzen
Welt zu kümmern, etwa die Hälfte davon
sind Flüchtlinge im traditionellem Sinne,
d. h. Menschen, die ihr Herkunftsland auf
der Flucht vor Verfolgung, bewaffneten
Konflikten oder Gewalt verlassen haben.
Hinzu kommt eine sehr große Zahl von
Menschen, die von der internationalen
Gemeinschaft keinen Schutz und keine
Unterstützung in irgendeiner Form erhalten und zumeist innerhalb der Grenzen ihres Herkunftslandes bleiben. Insgesamt
kann man mit einiger Berechtigung von
etwa 50 Mio. Menschen ausgehen, die
weltweit Opfer von Flucht und Vertreibung sind. Viele von ihnen leben in Regionen, die während des Kalten Krieges
nicht im Vordergrund der Flüchtlingsproblematik standen: auf dem Balkan, im
Kaukasus, in Zentralasien und anderen
Teilen der früheren Sowjetunion.“
Der letzte Satz dieses Berichts deutet
nicht nur eine regionale Verlagerung, sondern auch eine Rückkehr des Flüchtlingsproblems nach Europa an. Es ist nicht vorwiegend ein Nord-Süd-Problem, sondern
zunehmend auch ein Ost-West-Problem,
wobei die Vorwärtsverteidigung der EU
mittels Drittstaatenregelung und Rücknahmeabkommen nach dem St. FlorianPrinzip dafür sorgte, daß das mit schweren Wirtschafts- und Sozialkrisen belastete Osteuropa zu einem Stauraum für MigrantInnen aus ganz Asien wurde. Das
Migrationsproblem war und blieb aber –
entgegen allen Horrorszenarien von „neuen Völkerwanderungen“ aus dem Süden
gen Norden – vorwiegend ein Süd-Süd-
URSACHEN UND DIMENSIONEN
Problem, sofern man den Balkan und die
GUS-Region nicht als neuen Süden an der
Peripherie von Kerneuropa begreift.
Noch etwas fällt bei genauerer Lektüre
des UNHCR-Berichts auf: Kinder und Jugendliche verschwinden hinter den Zahlenwerken. Nach Erkenntnissen des UNHCR sind rund drei Viertel aller Flüchtlinge
Frauen und Kinder. Wenn er also die Zahl
der grenzüberschreitenden Flüchtlinge
und der Binnenflüchtlinge, die sich in einer ähnlichen existentiellen Notlage befinden, ob sie nun Staatsgrenzen überschritten haben oder nicht, auf etwa 50 Mio.
schätzt, dann müssen wir von rund 25
Mio. Kindern und Jugendlichen auf der
Flucht ausgehen.
Die Berichte des UNHCR weisen aber
weder Zahlen über Kinderflüchtlinge aus
noch behandeln sie die spezifischen Probleme von Kindern und Jugendlichen auf
der Flucht. Sie bilden also nur Teilmengen
in statistischen Gesamtmengen. Sie tauchen als besondere Problemgruppe allenfalls in UNICEF-Berichten oder in Berichten von speziellen Kinderhilfsorganisationen (wie terre des hommes) auf. In Flüchtlingslagern, die vom UNHCR verwaltet
werden, bemüht sich in der Regel UNICEF
um Sonderprogramme für Kinder, ist aber
nur bei einer Verfestigung der Flucht- und
Notsituation in der Lage, eine Grundbildung zu organisieren. Flüchtlingskinder
verlieren mit dem Grundrecht auf Bildung
auch langfristige Lebensperspektiven.
Es wird zwar ein großer juristischer
und definitorischer Aufwand getrieben,
um den unterschiedlichen Status von
Flüchtlingsgruppen zu bestimmen, aus
dem sich unterschiedliche Ansprüche auf
Hilfeleistungen ableiten, aber Kinder bilden immer nur den Anhang von Erwachsenen. Teilweise wird bei der Zählung nur
eine durchschnittliche Familiengröße zugrunde gelegt. Dann sind Kinder nur noch
eine statistische Rechengröße.
3. Kindersoldaten: Phänomen einer
„neuen Barbarei“?
Im Notzustand der Flucht werden viele
Menschen- und Kinderrechte verletzt, die
in den Menschenrechtspakten und in der
Kinderrechtskonvention kodifiziert sind.
Ein früherer UN-Hochkommissar für
Flüchtlinge (Aga Khan) hat die Fluchtsituation zutreffend als eine Negation aller
grundlegenden Menschenrechte bezeichnet. Die Berichte des UNHCR greifen den
von UNDP geprägten Begriff der ‘menschlichen Sicherheit’ bzw. Unsicherheit auf,
um zu verdeutlichen, welche existentiellen
Unsicherheiten Flucht und der Status der
Illegalität, in dem sich auch viele jugendliche MigrantInnen auf der Suche nach Perspektiven befinden, schaffen. Wenn man
einen Blick in die Kinderrechtskonvention
wirft, die Kindern geradezu eine heile Welt
verheißt, wird deutlich, was Kindern auf
der Flucht genommen oder vorenthalten
wird. Auch die Millionen von Straßenkindern müssen sich unter härtesten Bedingungen durch das Leben schlagen, aber
sie haben eher als Flüchtlingskinder die
Chance, ihre Situation zu verändern, sich
selbst zu versorgen, eine Schule zu besuchen und bei einer Hilfsorganisation Unterschlupf zu finden.
Einen groben und besonders perversen
Verstoß gegen Kinderrechte stellt der Mißbrauch von Kindern als Soldaten her (
Kindersoldaten). Nach Schätzungen von
UNICEF gibt es derzeit rund 300.000 Kindersoldaten im Alter unter 18 Jahren. Viele sind jünger als 15 Jahre, also unterhalb
der Altersgrenze, bei der die Kinderkonvention ein Rekrutierungsverbot verfügt.
Die meisten von ihnen sind in afrikanischen und asiatischen Kriegsgebieten im
Einsatz, teilweise als Boten, Spione oder
Minendetektoren, teilweise auch als Kanonenfutter in vorderster Front, Mädchen
als Sexsklavinnen für die Soldateska. Kindersoldaten sind zugleich Täter und Opfer,
die – anderer Lebenschancen beraubt –
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F L U C H T U N D M I G R AT I O N
nichts anderes gelernt haben als zu
schießen und zu töten.
Die Manipulierbarkeit und die noch wenig entwickelte Hemmschwelle gegenüber
dem Töten verstärken die Versuchung von
Armeen und Rebellenorganisationen, Kinder für den Kriegseinsatz zu rekrutieren,
teilweise mit Gewalt aus den Dörfern zu
verschleppen. Im Norden Ugandas soll die
‘Lord´s Resistance Army’ 8.000 Kinder aus
den Dörfern entführt und zu Kindersoldaten gemacht haben. Sie werden teilweise
als Vorhut in Gefechte geschickt, in der
Erwartung, daß die Regierungstruppen
nicht auf Kinder schießen. Für viele Kindersoldaten ist es aber auch eine schiere
Überlebensfrage, sich Kampfverbänden
anzuschließen, von denen sie sich in zerstörten Kriegs- und Hungergebieten
Schutz und Nahrung erhoffen. Gewalt und
Armut sind also Hauptursachen für diese
Verrohung von Kindern.
Viele der nur in Schnellkursen ausgebildeten Kindersoldaten werden getötet oder
zu Krüppeln gemacht. Bei vielen bleiben
nicht nur Verwundungen und Geschlechtskrankheiten, vor allem HIV-Infektionen, sondern auch Angstzustände,
Depressionen und moralische Verkrüppelungen zurück. Wir wissen aus der Begleitforschung zur Demobilisierung von Bürgerkriegsarmeen, daß es besonders
schwierig ist, Kindersoldaten umzuerziehen, weil ihnen die Knarre Selbstbewußtsein und ein Auskommen durch Mord,
Raub und Plündern verschafft hatte. Sie
haben häufig keine Schule besucht und
keinen Beruf erlernt. Wenn ihnen die Gemeinschaft keine Sicherheit und keine Lebensperspektiven bietet, organisieren sie
sich wieder in Banden und schlagen sich
mit Gewalt durchs Leben. Aber für die Mobilisierung von Soldaten ist erfahrungsgemäß eher Geld vorhanden als für ihre
Demobilisierung. Das ist seit eh und je und
überall die Logik des Kriegsgeschäftes.
Wenn gelegentlich schon von einer
130
„neuen Barbarei“ (Jean-Christophe Rufin), einem Pandämonium (Daniel Moynihan), also einem Ort, wo Dämonen ihr Unwesen treiben, oder von einer Wiederkehr
des hobbesianischen „Kampfes aller gegen alle“ (Peter J. Opitz) die Rede ist, dann
haben wir auch Bilder von Kindersoldaten
vor Augen. Aber dieses Pandämonium ist
noch nicht über die ganze Dritte Welt hereingebrochen, wie Ulrich Menzel (1998)
jüngst in einem furchterregenden Katastrophenszenario suggerierte.
Wer dem zivilisatorischen Ärgernis des
Soldatentums von Kindern nicht nur achselzuckend zuschauen will, sollte sich an
der von der „Koalition für die Beendigung
des Einsatzes von Kindersoldaten“ organisierten Kampagne beteiligen. Sie wird von
sehr ehrenwerten NGOs wie Amnesty International, Human Rights Watch, Terre
des Hommes, Rädda Barnen und dem Jesuit Refugee Service unter der Stimmherrschaft von UNICEF gesteuert. Der Erfolg der internationalen Kampagne gegen
Antipersonenminen, die 161 Staaten (allerdings nicht die ‘Weltführungsmächte’
USA, Rußland und China) dazu bewegte,
sich auf eine völkerrechtlich bindende
Konvention zu verständigen, macht Mut.
4. Verwirrende Begriffe und Zahlen
Statistiken über das weltweite Flucht- und
Migrationsgeschehen verstecken millionenfache Einzelschicksale hinter fürchterlich banalen Zahlenreihen. Aber wir brauchen solche Zahlen ebenso wie klärende
Definitionen, weil es aufgrund ungenauer
Begriffe eine Verwirrung von Problemwahrnehmungen gibt. Mitte der 90er Jahre wiesen die internationalen Statistiken
rund 125 Mio. als grenzüberschreitende
MigrantInnen aus. Von ihnen waren nur
25 Mio. Flüchtlinge nach UNHCR-Kriterien. Die Mehrzahl muß der Gruppe der
„irregulären Wanderer“ (nach UN-Sprachregelung) zugerechnet werden, die weder
URSACHEN UND DIMENSIONEN
über den Flüchtlingsstatus noch über Aufenthalts- und Arbeitserlaubnisse verfügen
und deshalb kollektiv als ‘Illegale’ stigmatisiert werden.
Bei dieser Großgruppe vermengen sich
die Definitionskriterien, weil auch die
Elends- oder Umweltflucht aus Zwang erfolgen kann, aber nicht den juristischen
Tatbestand der Verfolgung erfüllt. Unter
den „illegalen“ bzw. „irregulären“ MigrantInnen befinden sich auch viele Jugendliche. SchulabgängerInnen ohne
Chance auf einen existenzsichernden Job
bilden eine Gruppe mit besonders hoher
Migrationsbereitschaft, die in unseren
Breitengraden als Merkmal von Mobilität
und Modernität gilt. Dies gilt auch für südliche Breitengrade. Untersuchungen in
Dörfern des Sahel-Raumes förderten zutage, daß Jugendliche durch die Migration
in die westafrikanischen Küstenregionen
den Nachweis für ihre Tüchtigkeit und
Männlichkeit erbringen.
Die gelegentlich hysterische Panikmache über die „neuen Völkerwanderungen“
oder den „globalen Marsch“ (nach einem
Buchtitel von Peter Opitz) übersieht, daß
die große Mehrheit dieser „Illegalen“ innerhalb von Regionen unterwegs ist, die
gemeinhin zur Dritten Welt gezählt werden. Die Süd-Süd-Migration ist weit grösser als die Süd-Nord-Migration. Auch die
allermeisten Flüchtlinge verbleiben in ihren Herkunftsregionen und werden dort
vom UNHCR und von anderen Hilfsorganisationen mehr oder weniger notdürftig
versorgt.
Die Staatengemeinschaft hat das Weltflüchtlingsproblem im engeren Sinne, wie
es in den Berichten und Statistiken des
UNHCR auftaucht, bereits ziemlich erfolgreich domestiziert und regionalisiert,
nämlich durch den Aufbau und die Versorgung von Flüchtlingslagern in den
Grenzregionen. Viele Grenzregionen Afrikas und des Mittleren Ostens sind übersät
von solchen notdürftigen Lagern. Nur et-
wa ein Zehntel der Flüchtlinge hat es geschafft, sich auf verschiedenen Wegen bis
in den Norden durchzuschlagen – hat dort
aber immer weniger Chancen, Asyl zu finden. Das schrittweise erweiterte ‘Schengen-Europa’ hat die Mauern um die ‘Festung Europa’ erhöht, befestigt und verdichtet. Die italienische und spanische
Marine kreuzt im Mittelmeer, um Bootsflüchtlinge aus dem Maghreb abzufangen.
Die fiktive Dramaturgie des Filmes „Der
Marsch“ ist bereits tägliche Realität.
Der von manchen Politikern und Medien – besonders in Wahlkampfzeiten –
horrifizierte „Sturm auf Europa“ aus den
Armuts- und Konfliktregionen der Welt
blieb aus, weil entweder die Wanderungswege gen Norden oder via Osten gen Westen versperrt sind oder die MigrantInnen
zur interkontinentalen Wanderung gar
nicht fähig sind. Erfahrungsgemäß gehen
nicht die Armutsgruppen, sondern Angehörige der Mittelschichten, die teure Passagen und Schlepperdienste bezahlen
können, auf die transkontinentale Wanderschaft. Auch hier kommen nicht die
Elendsgestalten an, die wir von Bildern
aus Flüchtlingslagern kennen. Die meisten
jugendlichen MigrantInnen kommen im
Rahmen der Familienzusammenführung.
Ein kleinerer Teil nutzt die verschlungenen Wege der Kettenmigration, die Verwandtschaftsgruppen flechten. Einige Tausend kommen auf eigene Faust (was viel
Mut beweist) oder werden von den Eltern
allein losgeschickt, sei es aus purer Not
oder in Erwartung, am erhofften Glück
teilhaben zu können.
5. Schubfaktoren für Migration
Die MigrationsforscherInnen verdichten
das komplexe Bündel von Ursachen und je
persönlichen Motiven von Migration in der
grobschlächtigen Dichotomie von Sogund Schubfaktoren. Sie machen die Sogfaktoren an materiellen und immatriellen
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F L U C H T U N D M I G R AT I O N
Anreizen fest, die von den Zielländern
ausgehen: also besseren Lebensbedingungen und/oder Schutz vor politischer Verfolgung. Wir müssen uns aber vor allem
mit den Schubfaktoren beschäftigen, weil
Menschen in der Regel nicht ohne Not ihre
Heimat verlassen.
Schubfaktoren für internationale Migration sind die Lebensbedingungen in
den Herkunftsländern, die als bedrohlich
empfunden werden: Sie reichen von materieller Not (Arbeitslosigkeit, Armut, Hoffnungslosigkeit) über soziale Diskriminierung und Umweltzerstörungen bis hin zu
direkten Lebensbedrohungen durch Kriege und/oder politische Verfolgung. In den
letzten drei Jahrzehnten haben bewaffnete Konflikte zwischen und innerhalb von
Staaten, vor allem aber Bürgerkriege, sowie schwere Menschenrechtsverletzungen
durch repressive Regime die größten
Fluchtbewegungen (im Sinne des engeren
Fluchtbegriffes) ausgelöst.
Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts,
der Beilegung mehrerer Regionalkonflikte
und ‘Stellvertreterkriege’ sowie dem Zusammenbruch vieler Diktaturen, die nun
den von außen unterstützten Demokratiebewegungen nachgeben mußten, verband
sich zunächst die Hoffnung auf eine
Minderung der durch Krieg, Gewalt und
Repression verursachten Fluchtbewegungen. Diese Hoffnung hat sich zwar in Zentralamerika, im Südlichen Afrika und in
Äthiopien erfüllt. Gleichzeitig brachen
neue Konflikte auf, nun auch wieder mitten in Europa, so daß sich die Zahl der
vom UNHCR registrierten Flüchtlinge von
1991 bis 1995 verdoppelt hat. Zwar hat
die Zahl der „politischen Flüchtlinge“ mit
Asylanspruch abgenommen, aber die Zahl
der Bürgerkriegsflüchtlinge deutlich zugenommen.
Die Hoffnung wäre trügerisch, daß die
innerstaatlichen Konflikte eingedämmt
werden können, weil sich die ihnen zugrunde liegenden Ursachen eher ver132
schärfen werden und bisher alle Vorschläge zur Gewaltprävention versagt haben. Sie werden häufig als ‘ethnische Konflikte’ gedeutet, sind aber im Kern ethnisierte Macht- und Verteilungskonflikte um
verknappende Ressourcen. Viele Flüchtlingskrisen entwickeln sich zu immer komplexeren Konfliktlagen, bei denen sich die
politische Chaotisierung mit ethnischen
Spannungen, wirtschaftlichen Krisen,
ökologischer Degradation, gesellschaftlicher Desintegration und individuellen
Frustrationen verbindet.
Die Staatengemeinschaft hat zwar das
Flüchtlingsproblem im engeren Sinne
ziemlich erfolgreich durch humanitäre
Hilfe domestiziert, d. h. von den eigenen
Grenzen ferngehalten. Aber sie starrt
ziemlich ratlos auf Prognosen zum Ausmaß der zu erwartenden Armuts- und
Umweltflucht. Der ‘Human Development
Report 1993’ malte den reichen Ländern
das folgende Bedrohungsszenario an die
Wand: daß „die globale Armut auf Reisen
gehen wird, und zwar ohne Paß und auf
zahlreichen unangenehmen Wegen: als
Drogen, Krankheiten und Terrorismus“.
UNDP wollte die Führungsgruppen des
Nordens mit der Angstkeule weichklopfen,
indem es Entwicklungshilfe zur „Investition in die Sicherheit reicher Nationen“
aufzuwerten versuchte – allerdings ohne
Erfolg.
6. Strukturelle Ursachen für Migration
Die MigrationsforscherInnen leiten aus
mehreren, sich wechselseitig bedingenden
und verstärkenden strukturellen Ursachen einen wachsenden Migrationsdruck
aus dem Süden in den Norden, aus Armuts- in Wohlstandsregionen des Südens
und aus dem Osten in den Westen ab:
Erstens bildet das regional ungleich
verteilte Wachstum der Weltbevölkerung,
das zu 95 % im Süden stattfindet, eine
wichtige Schubkraft, weil bzw. wenn es
URSACHEN UND DIMENSIONEN
nicht von einer hinreichend schnellen
wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung
aufgefangen wird. Hohe Geburtenraten
führen in Verbindung mit Bodenverknappung und Mechanisierungsprozessen zu
einer verstärkten Landflucht in die städtischen Zentren, die mangels einer hinreichenden Absorptionsfähigkeit vielfach nur
Zwischenstationen im intra- und interkontinentalen Wanderungsgeschehen bilden.
Der Weltbevölkerungsbericht von 1993
betonte, daß künftig weniger die Erwartung höherer Einkommen, sondern vielmehr die Suche nach Arbeit die wichtigste
Schubkraft für Migration bilde. Bereits
heute liegt die offene und versteckte
Arbeitslosigkeit in vielen Entwicklungsländern bei 40 – 50 %; sie ist am höchsten
unter SchulabgängerInnen: Hier haben
wir die Hauptursache für die Bereitschaft
von Jugendlichen, Familien und Heimat
zu verlassen. Der Hinweis, daß es auch in
der EU hohe Arbeitslosigkeit und Jugendarbeitslosigkeit gibt, ist richtig, übersieht
aber, daß es in den allermeisten Entwicklungsländern keinerlei soziale Absicherung durch den Staat gibt und die familiären Solidarverbände häufig überfordert
sind, die Bedürfnisse von Jugendlichen zu
befriedigen.
Zweitens bilden globale und regionale
Entwicklungsgefälle eine strukturelle Ursache für Migration. Der ‘Human Development Report’ von 1996 errechnete, daß
heute 1,6 Mio. Menschen schlechter leben
als vor 15 Jahren und in 70 Ländern das
Pro-Kopf-Einkommen niedriger ist als vor
20 Jahren. Die Schere zwischen der Minderheit von reichen Ländern und der
Mehrheit von armen Ländern hat sich
weiter geöffnet – allerdings auch die Schere zwischen reichen Minderheiten und
verarmenden Mehrheiten in den armen
Ländern. Der auf den Wohlstandsinseln
verbreiteten Angst, daß sich die 1,3 Mrd.
‘absolut Armen’ auf die Elendsflucht begeben könnten, wirkt die Erfahrung entge-
gen, daß die ärmsten Gruppen zur intraregionalen oder gar interkontinentalen
Migration gar nicht fähig sind.
Hier taucht auch das Problem des
‘brain drain’ auf, das für an ‘Humankapital’ arme Länder einen schwerwiegenden Substanzverlust bedeutet. Die Mehrheit der AsylbewerberInnen ist jung und
gut ausgebildet. Die durch den ‘brain
drain’ entstehenden Kosten werden jährlich auf mehrere Milliarden US-$ geschätzt. Solche Kosten- und Nutzenschätzungen können aber seine sozialen und
humanen Kosten nur ungenügend erfassen. Wenn ein substantieller Teil der jungen Generation, aus welchen Gründen
auch immer, das Land verläßt, verliert es
Humankapital und ein Stück Zukunftsfähigkeit. Dem ‘Exit’, der Abwanderung aus
sozialen, kulturellen und politischen Lebenszusammenhängen, gehen nach der
Migrationstheorie von Albert Otto Hirschmann der Widerspruch und der Loyalitätsverlust voraus.
Migration bildet aber vielfach auch ein
soziales Ventil und verschafft vielen Auswanderungsländern durch Überweisungen mehr Deviseneinkünfte als ihre Güterexporte. Zwar leidet die Entwicklung,
wenn in ländlichen Regionen nur noch
Frauen, Kinder und Alte zurückbleiben,
andererseits ermöglichen die Überweisungen und Ersparnisse der MigrantInnen
die Überlebenssicherung und Investitionen, die ohne Arbeit im Ausland nicht
möglich wären. Im Großraum Manila sollen 60 % der Familien teilweise oder ganz
von Überweisungen durch Familienmitglieder, die irgendwo auf der Welt Arbeit
gefunden haben, abhängig sein. Es muß
immer wieder betont werden, daß Migration viele Erscheinungsformen mit verschiedenartigen Wirkungen für die MigrantInnen, ihre Herkunfts- und Zielländer hat.
Drittens häufen sich akute Umweltkatastrophen und dauerhafte Umweltzerstörungen, die Menschen aus ihren ange133
F L U C H T U N D M I G R AT I O N
stammten Siedlungsgebieten vertreiben.
Weltweit sollen nach Schätzungen des UNUmweltprogramms (UNEP) die Siedlungsgebiete von etwa 135 Mio. Menschen, vor
allem durch die rasch voranschreitende
Desertifikation, bedroht sein. Manche Prognosen sagen einen dramatischen Anstieg
der Umweltflüchtlinge infolge des Treibhauseffektes voraus.
Migration ist viertens ein Effekt der
Globalisierung von Produktionsstrukturen
und Marktbeziehungen, die gerade die Armutsregionen weiter marginalisieren und
ein Millionenheer von ‘neuen Heloten’ der
internationalen Arbeitsteilung hervorbringen: Rechtlose und ausgebeutete ‘irreguläre’ ArbeitsmigrantInnen und die Opfer des international organisierten Frauenhandels. Die Verschleppung von jungen
Mädchen vom Land in die Bordelle der
Städte ist ein brutaler Teilaspekt der innerstaatlichen und intraregionalen Migration, besonders in Süd- und Südostasien.
Der von internationalen Verbrecherkartellen organisierte Frauenhandel ist allerdings auch zu einem Kernproblem der
Ost-West-Beziehungen geworden. Auch
hier bildet die ‘Tiersmondisierung’ des
Ostens, d. h. der Rückfall in Dritte WeltLebensverhältnisse, den Bodensatz, auf
dem der Frauenhandel gedeihen kann.
Bekanntlich sind auf diesem Markt junge
Mädchen besonders nachgefragt.
Fünftens hat die globale Vernetzung
durch Kommunikationsmedien die soziale
Ungleichheit weltweit sichtbar gemacht.
Das von westlichen Medienkonzernen dominierte Fernsehen transportiert tagtäglich und rund um die Uhr mit seinen
Unterhaltungs- und Werbesendungen die
Bilder vom besseren Leben auf den Wohlstandsinseln in alle Winkel und Hütten der
Welt und schafft damit nicht nur gewollte
Konsum-, sondern auch ungewollte Migrationsanreize. Die Revolutionierung des
Verkehrswesens hat auch die Mobilität
der Menschen über große Entfernungen
134
hinweg erleichtert. Wir rühmen den weltweit mobilen Menschen als Idealtyp des
Weltbürgers, der dorthin geht, wo er sich
am besten entfalten kann, aber der Realtyp des MigrantIn erfährt selten diese Anerkennung.
Diese strukturellen Faktoren weisen
auf Bedingungen hin, die ein Anwachsen
des Migrationsdruckes erwarten lassen.
Bevölkerungswachstum, Verelendung und
wachsende Entwicklungsunterschiede begründen aber noch keine quasi-automatischen Migrationsprozesse. Die ärmsten
Länder, die zugleich die höchsten Geburtenraten haben, zählen nicht zu den
Hauptherkunftsländern von MigrantInnen. Wenn es überhaupt eine Regel gibt,
dann liegt sie in der Kettenmigration:
Wanderungen, die ihr Ziel erreichen, tendieren dazu, weitere Wanderungen von
Familienangehörigen auszulösen.
7. Was tun – was kann und sollte getan
werden?
Die Migrationsforscher Stephen Castles &
Mark J. Miller (1993) sagten für die nächste Zukunft vier Haupttendenzen im weltweiten Migrationsgeschehen voraus:
– eine weitere Globalisierung der Migration;
– eine weitere Zunahme der Migration
aufgrund der Verschärfung der oben
genannten Schubfaktoren;
– eine weitere Differenzierung der Migration in Gestalt neuer Migrationsformen wie der Kettenmigration;
– eine zunehmende Feminisierung der
Migration, die schon immer die meisten
Fluchtbewegungen kennzeichnete. Feminisierung heißt erfahrungsgemäß
auch, daß immer mehr Kinder in Flucht
und Migration einbezogen werden.
Flüchtlinge wurden als Treibgut der
Weltgeschichte bezeichnet. Diese Parabel
erfaßt im besonderen die Lebenssituation
von Flüchtlingskindern. Peter J. Opitz
URSACHEN UND DIMENSIONEN
(1997) hält diese Prognosen in seinem
neuesten Buch über den „globalen
Marsch“ nicht nur für zutreffend, sondern
spitzt sie sogar noch zu – freilich mit fragwürdigen Argumenten. Richtig ist sicherlich, daß das hohe Bevölkerungswachstum den Migrationsdruck verstärken
wird, weil es die Fähigkeit armer Gesellschaften überfordert, den hohen Anteil
von jungen Menschen produktiv zu absorbieren. Es gibt aber keinen kommunizierenden Röhren ähnlichen Automatismus
zwischen Bevölkerungswachstum und Migration.
Richtig ist auch, daß die junge Altersstruktur eine demographische Eigendynamik erzeugt und gerade die arbeitslosen
SchulabgängerInnen das größte Migrationspotential bilden. Widerspruch verdient aber nicht nur die durch weltweit
sinkende Geburten- und Fertilitätsraten
widerlegte Annahme, daß das Bevölkerungswachstum ‘anhaltend’ so hoch bleibe, wie Opitz behauptet, sondern auch die
von ihm aus dieser ‘Bevölkerungsexplosion’ abgeleitete Annahme einer unvermeidbaren Verelendung und massenhaften Elendsflucht, die das längst widerlegte, aber zählebige, weil vordergründig so
plausible Verelendungsgesetz von Malthus
auffrischt.
Die MigrationsforscherInnen sind sich
darin einig, daß die Probleme der Migration nicht im Norden gelöst werden können, weil die westlichen Gesellschaften
und ihre Regierungen mehr Zuwanderung
mit aller Macht verhindern werden, sondern dort gelöst oder zumindest entschärft werden müssen, wo sie entstehen,
vor allem durch eine präventive Friedensund Entwicklungspolitik. Derzeit mag die
Hoffnung, durch Entwicklungspolitik die
Migrationsursachen bekämpfen zu können, aus mehreren Gründen als trügerisch erscheinen:
Erstens ist die Entwicklungspolitik nach
dem Ende des Ost-West-Konflikts in die
politische Irrelevanzfalle geraten. Zusätz-
lich haben die Haushaltsprobleme in fast
allen OECD-Staaten dazu geführt, daß die
Entwicklungsetats abgeschmolzen wurden. Entwicklungspolitiker versuchen, ihren Politikbereich vor allem mit dem Hinweis auf das angstmachende Migrationsproblem als ‘präventive Sicherheitspolitik’
aufzuwerten, aber offensichtlich verfehlt
auch diese Angstkeule ihre beabsichtigte
Wirkung.
Zweitens hat sich die Einsicht durchgesetzt, daß mit punktueller Projekthilfe die
strukturellen Migrationsursachen nicht
wirksam bekämpft werden können. Auch
der Wissenschaftliche Beirat beim BMZ
stellte in einem Memorandum vom Januar
1994 fest: Angesichts der Vielschichtigkeit
der Migrationsursachen komme der Entwicklungshilfe „bestenfalls eine sekundäre
Rolle“ zu. Der Beirat forderte deshalb eine
internationale Strategie, die humanitäre
Maßnahmen zur Folgenbekämpfung mit
friedens- und entwicklungspolitischen
Strategien zur Vorbeugung verbindet. Er
sah am Ende doch die Chance, die „Konflikte, zu denen Zuwanderung führen
kann, durch präventive Maßnahmen zu
vermeiden oder wenigstens zu entschärfen“.
Es geht darum, diese Chancen zu nutzen. Opitz (1997, S. 51) gibt sich einem gefährlichen Defätismus hin, wenn er resignativ feststellt: „Je lauter der Ruf nach
‘global governance’ wird, umso weniger
geschieht; und je eindringlicher ‘globale
Verantwortung’ angemahnt wird, um so
erbitterter wird der globale Kampf aller
gegen alle.“ Sollen wir uns achselzuckend
mit einer solchen Bankrotterklärung von
Politik abfinden und darauf hoffen, daß
wir uns auf den Wohlstandsinseln von solchem Ungemach abschotten können?
Viele Skeptiker gehen davon aus, daß
sich die migrationsverursachenden Krisenfaktoren noch verschärfen werden, also alle Hoffnungen auf eine erfolgversprechende Prävention trügerisch seien und
135
F L U C H T U N D M I G R AT I O N
nur von rechtzeitigen Einsichten in das
Unvermeidliche ablenken: nämlich der
militärischen Absicherung der ‘Festung
Europa’. Sie findet bereits statt und wird
noch ausgebaut werden; sie befreit aber
die europäischen Führungsgruppen nicht
von der Einsicht, daß das Migrationsproblem mittel- und langfristig nur durch die
Verbesserung der Lebensbedingungen in
den Herkunftsländern und durch eine
friedenspolitische Absicherung des Bleiberechts entschärft werden kann. Die Vorgänge auf dem Balkan liefern täglichen
Anschauungsunterricht für diese Mahnung.
Dem hobbesianischen Horrorszenario
des ‘globalen Kampfes aller gegen alle’,
der unvermeidlich mit ‘neuen Völkerwanderungen’ verbunden wäre, ist erstens die
Erfahrung entgegenzuhalten, daß der Problem- und Leidensdruck bewirken kann,
was Vernunft und Moral nicht schaffen,
zweitens die Überzeugung, daß die
Staatengemeinschaft die Welt verändern
und den ‘globalen Kampf aller gegen alle’
verhindern könnte, wenn sie nur einen
Teil der auf den jüngsten Weltkonferenzen
einvernehmlich verabschiedeten Aktionsprogramme verwirklichen würde.
Das Schwelgen in Katastrophenszenarien, das Klagen über Eruptionen ‘neuer
Barbarei’ und Millenium-Apokalypsen mögen bequeme Ohnmachtsgefühle befriedigen und Rechtfertigungen für das Nichtstun liefern: Warum helfen, wenn doch
nichts hilft? Solange Lösungen möglich
sind, gebietet das Gebot der Humanität,
die politische Vernunft und das aufgeklärte Eigeninteresse, sie zu versuchen. Ohnmachtslarmoyanz blockiert das notwendige Handeln und stellt einen Eskapismus
aus der Verantwortung von Politik dar, deren Aufgabe es nun einmal ist, nationale
und internationale Probleme zu lösen. Es
ist die Aufgabe der Zivilgesellschaft, sie
ständig und hartnäckig an diese Verantwortung zu erinnern. Wenn nur ein klei136
ner Teil der Absichtserklärungen, die
beim letzten Weltkindertag vom 20. September 1998 feierlich verkündet wurden,
verwirklicht würde, sähe die Lage der
Kinder in aller Welt wesentlich besser aus.
Anmerkung
1 Dieser Beitrag wurde auf der Fachtagung von
Netzwerk und ISA im September 1998 in Hamburg
als Vortrag gehalten. Daraus resultiert auch der besondere Vortragsstil des Beitrags.
Literatur
Bade, K. (Hg.): Migration – Ethnizität – Konflikt: Systemfragen und Fallstudien. Osnabrück 1996
Brett, R./McCallin, M.: Children: The Invisible Soldiers,
2. Aufl. Stockholm 1998
Cairns, E.: Children and Political Violence. Oxford 1996
Castles, St./Miller, M. J.: The Age of Migration. International Population Movements in the Modern World.
New York 1993
Koalition für die Beendigung des Einsatzes von Kindersoldaten: Kinder sind keine Soldaten. o.O. 1998
Loescher, G.: Beyond Charity: International Cooperation and the Global Refugee Crisis. Oxford 1992
Menzel, U.: Das Ende der Einen Welt. In: E+Z, 1998/2
Nuscheler, F.: Internationale Migration. Flucht und
Asyl. Opladen 1995
Opitz, P. J. (Hg.): Der globale Marsch. Flucht und Migration als Weltproblem. München 1997.
Pries, L. (Hg.): Transnationale Migration. Soziale Welt,
Sonderband 12. Baden-Baden 1997.
UNHCR: Die Lage der Flüchtlinge in der Welt. Bonn
(Jahresberichte).
Weiner, M.: International Migration and Security.
Boulder 1993
Zolberg, A. R.: Die Zukunft der internationalen Migrationsbewegungen. In: Prokla 1991(2), S. 189-221
Franz Nuscheler
A S Y L P O L I T I K I N E U R O PA
Asylpolitik in Europa
Im Sommer 1996 brachte das niederländische
Innenministerium im EU-Ministerrat Innen
und Justiz einen Entschließungsentwurf für einen ‘gemeinsamen Standpunkt’ zur Gruppe
der ‘unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge’
ein. Er zielte auf die Sicherung der Rechte der
Betroffenen und wurde von Organisationen
und Verbänden, die sich mit der Problematik
befassen, positiv aufgenommen. Als die Entschließung ein knappes Jahr später verabschiedet wurde, hatten sich Ziel und Inhalt der
Vorlage geändert. Zwar werden weiterhin
Mindestgarantien für Kinderflüchtlinge verabredet, aber neben den Schutzgedanken tritt
nun ein neues Element: die Flüchtlingsabwehr.
Der folgende Beitrag befaßt sich mir den Gemeinsamkeiten, aber auch differenzierten politischen Akzenten der euopäischen Flüchtlingspolitik sowie ihren Folgen für die Flüchtlinge
selbst.
1. Vorbemerkung
Wie es in dem entsprechenden Bericht der
deutschen Bundesregierung heißt, sei die
verabschiedete europäische Entschliessung ‘im Einklang mit der deutschen
Rechtslage’- im Klartext: Die Entschliessung bringt keinerlei Verbesserung hinsichtlich der Rechte von Kinderflüchtlingen in der Bundesrepublik Deutschland.
Während im ursprünglichen Entwurf klar
geregelt wurde, daß mit ‘minderjährigen
Flüchtlingen’ alle AsylbewerberInnen unter 18 Jahren gemeint sind, gelang es der
Bundesregierung, ihrer eigenen Praxis
entsprechend, diese Altersgrenze aufzuweichen und in ihrem Sinne festzuklopfen,
daß nämlich nur die unter 16jährigen das
Recht auf eine spezielle Unterbringung
haben ( Unterbringung). Außerdem wollen die MinisterInnen Maßnahmen zur
Verhinderung der illegalen Einreise von
Minderjährigen ergreifen und schreiben
explizit fest, daß die sog. Drittstaatenregelung auch bei Kindern und Jugendlichen
angewandt werden darf. Von der ursprünglichen Intention der Entschließung
blieb also – vor allem aufgrund der Intervention des deutschen Innenministeriums
– nicht viel übrig.
Daß das deutsche Innenministerium
sich mit seinen Vorstellungen in der Asylpolitik innerhalb der EU durchsetzt, ist
eher die Regel als die Ausnahme. In der
Europäischen Union hat die Bundesrepublik Deutschland eine starke Position und
agiert insbesondere im Bereich der Innenund Justizpolitik als ‘Meinungsführer’ und
‘Schrittmacher’. Besonders eingesetzt hat
sie sich für eine effektive Kriminalitätsbekämpfung und eine restriktive Asylpolitik.
Oberstes Ziel bei der Asylpolitik ist ihr die
gemeinsame ‘Bekämpfung der illegalen
Einwanderung’ und eine Harmonisierung
asylpolitischer Regelungen innerhalb der
EU. Um dies zu erreichen, setzte sich die
Bundesregierung in den letzten Jahren
insbesondere auch für eine Vergemeinschaftung der Asylpolitik ein.
2. Demokratisches Defizit in der
asylpolitischen Zusammenarbeit
Wenngleich die Vorstellungen von den Inhalten einer EU-weiten Asylpolitik bei den
Nichregierungsorganisationen (NRO) aus
dem Flüchtlingsbereich naturgemäß andere als die der Bundesregierung sind,
haben sich in den vergangenen Jahren die
meisten Organisationen und Verbände
(z. B. Amnesty International oder der Europäische Flüchtlingsrat ECRE) dem Ziel
einer Vergemeinschaftung der Asylpolitik
der EU angeschlossen. Teilweise mag dabei – vor allem nach dem enttäuschenden
Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur
Neufassung des Artikel 16 GG – die Hoffnung eine Rolle gespielt haben, über die
EU ließe sich das Schlimmste verhüten
und zumindest Mindeststandards des
Schutzes für Flüchtlinge sichern. Eine
Vergemeinschaftung der Asylpolitik wür137
F L U C H T U N D M I G R AT I O N
de, so die Argumentation, insbesondere
mehr Öffentlichkeit und demokratische
Kontrolle der EU-Politik, sprich: mehr
Einflußmöglichkeiten, bedeuten.
Denn in der jetzigen Form der Zusammenarbeit spielen Öffentlichkeit und demokratische Kontrolle keine Rolle. Allein
die verantwortlichen MinisterInnen der
Mitgliedstaaten entscheiden selbstherrlich
hinter verschlossenen Türen und verabschieden ‘gemeinsame Standpunkte’ oder
‘Maßnahmen’. Eine Mitberatung durch
die nationalen Parlamente oder das Europäische Parlament findet nicht statt. Wenn
überhaupt, werden Dokumente erst nach
der Beschlußfassung veröffentlicht. Kaum
besser ist es bei den europäischen Übereinkommen ( Schengener Abkommen
und Dubliner Übereinkommen), die im Gegensatz zu den ‘Standpunkten’ und ‘Maßnahmen’ rechtsverbindlich für die Mitgliedstaaten werden. Auch hierbei hat das
Europäische Parlament nichts zu sagen,
und die nationalen Parlamente beraten
nicht mit, sondern müssen den Übereinkommen lediglich im nachhinein – ohne
auch nur ein Komma am Vertragstext ändern zu können – zustimmen, damit sie in
Kraft treten können.
Dieses Demokratiedefizit wurde auch
durch das Europäische Parlament heftig
beklagt. Trotzdem gelang es bei der Reform des derzeit noch geltenden EU-Vertrages nicht, diesen Mißstand zu beseitigen und eine Demokratisierung der Union
zu verankern. Von Sicherung der Grundrechte, Transparenz und demokratischer
Kontrolle findet man auch im neuen EUVertrag, dem demnächst geltenden ‘Amsterdamer Vertrag’, wenig. Im Gegenteil:
Gerade im Bereich der Asylpolitik wird
den nationalen Parlamenten immer mehr
die Kontrolle entzogen, ohne daß im Gegenzug adäquate Mechanismen auf Unionsebene aufgebaut werden. Dem Prinzip einer demokratischen Gewaltenteilung entspricht dies nicht.
138
Inhaltlich legt sich die Union im ‘Amsterdamer Vertrag’ für die nächsten Jahren auf folgende Schwerpunkte fest:
– Kriterien und Verfahren zur Festlegung
des Mitgliedstaates, der für die Prüfung
eines Asylantrags zuständig ist;
– Mindestnormen für die Aufnahme von
AsylbewerberInnen;
– Harmonisierung des Flüchtlingsbegriffs
sowie
– Mindestnormen für das Asylverfahren.
3. Politische Auswirkungen
Entscheidungen, die die Innen- und JustizministerInnen in puncto Asyl und Einwanderung bereits getroffen haben, sind
zwar bis auf das Schengener und Dubliner
Übereinkommen für die Mitgliedstaaten
nicht rechtsverbindlich. Nichtsdestotrotz
haben sie in hohem Maße Auswirkungen
auf die nationale Politik. Denn mit dem
Verweis auf Brüssel werden die nationalen Gesetzgebungen den Verabredungen
innerhalb der EU angepaßt und dies bedeutet immer: Harmonisierung des Asylrechts auf dem niedrigsten Niveau.
Ein Beispiel: 1992 verabschiedeten die
EU-InnenministerInnen in London drei
wegweisende Entscheidungen: Die Entschließung zu ‘offensichtlich unbegründeten Asylanträgen’ (in der Hinweise für das
Vorliegen unbegründeter Anträge aufgenommen und verkürzte Asylverfahren verabredet wurden), ein einheitliches Konzept
in bezug auf die Zurückweisung von Asylsuchenden in ‘sichere Drittstaaten’ außerhalb der EU und Schlußfolgerungen zum
Konzept sog. sicherer Herkunftsstaaten.
Sämtliche nationalen Gesetzgebungen
wurden diesen Entschließungen in der
Folgezeit angepaßt. Die deutsche Gesetzeslage war 1992 noch durch das in
Artikel 16 geltende Grundrecht auf Asyl
geprägt. Doch die Londoner Entschliessungen lieferten den BefürworterInnen
der Änderung des Grundrechts Schüt-
A S Y L P O L I T I K I N E U R O PA
zenhilfe: Wenn sich die Staaten der EU auf
diese Eckpunkte der Asylpolitik einigten,
könne die Bundesrepublik keinen Sonderweg einschlagen und ihr altes Asylrecht
beibehalten. Die BRDeutschland sei durch
die Entscheidungen der EU zu einer Änderung seiner Gesetzeslage gezwungen.
Faktisch war es jedoch nicht die EU, die
diesen Druck entfaltete, faktisch war es
die deutsche Bundesregierung selbst, die
innerhalb der EU auf eine Einschränkung
des Asylrechts drängte, um schließlich
über den Umweg der EU zu einer Änderung der Rechtslage in Deutschland zu gelangen. Der 1993 neu gefaßte Artikel 16
enthält im übrigen alle Elemente der im
Vorjahr in London getroffenen EU-Entschließungen: die ‘offensichtlich unbegründeten Asylanträge’, das System der
‘sicheren Drittstaaten’ und der ‘sicheren
Herkunftsländer’.
4. Das Schengener Abkommen
Unmittelbar rechtsverbindlich für die Mitgliedstaaten sind hingegen das Schengener Abkommen, das bis auf Großbritannien und Irland alle EU-Staaten unterzeichnet haben, und die Dubliner Konvention. Das Schengener Abkommen – in seinen Grundzügen bereits 1985 von einigen
EU-Staaten verabredet – trat 1995 in
Kraft. Mit dem Abkommen sollte die Freizügigkeit in Europa verwirklicht werden,
allerdings um den Preis einer Reihe sog.
Ausgleichsmaßnahmen. Dies sind im wesentlichen strikte, nach einem einheitlichen Muster praktizierte Kontrollen gegen
illegale EinwandererInnen an den Aussengrenzen der Schengen-Staaten, eine
einheitliche Visumspolitik sowie verdachtsunabhängige Kontrollen im grenznahen
Raum. Kernstück des Abkommens ist das
Schengener Informationssystem, in dem
alle an den Grenzen gewonnenen oder für
Grenzübertritte relevanten Daten (z. B. illegale Einreiseversuche, Drogenhandel
oder Kfz-Verschiebungen) gespeichert und
an den Grenzübergängen abgerufen werden können. Diese in der ganzen Welt einmalige Datenbank enthält heute mehr als
6 Mio. Datensätze ( Schengener Abkommen).
Das Dubliner Abkommen, das alle EUStaaten unterschrieben haben, umfaßt einen Teilbereich des Schengener Abkommens. Hier wird verbindlich geregelt, welcher EU-Staat für ein Asylgesuch zuständig ist, nämlich derjenige, dessen Hoheitsgebiet von dem/der Asylsuchenden zuerst
betreten wurde bzw. derjenige, der dem/
der Einreisenden ein Visum ausgestellt
hat. Ein Effekt dieser Bestimmung ist, daß
zumindest geregelt ist, daß der Antrag eines Asylsuchenden von dem zuständigen
EU-Staat geprüft wird, ein anderer Effekt
ist jedoch, daß alle EU-Staaten eine äusserst restriktive Visumspolitik betreiben
und ihre Außengrenzen lückenlos zu kontrollieren versuchen, um sicherzugehen,
daß so wenige Asylsuchende wie möglich
ihr eigenes Territorium erreichen.
Das Schengener Abkommen wurde weder vom Europäischen Parlament noch
von den nationalen Parlamenten beraten.
Es kam allein auf Initiative der Regierungen zustande und wurde nach seiner Fertigstellung von den Parlamenten der Mitgliedstaaten ratifiziert. Seit seinem Inkrafttreten wacht der Schengen Exekutivausschuß, dem die zuständigen MinisterInnen der Mitgliedstaaten angehören,
über seine Umsetzung. Mit dem ‘Amsterdamer Vertrag’ wird das Abkommen nun
in die EU integriert. Alle Beschlüsse (der
sog. Schengen-Acquis), die der Exekutivausschuß bisher getroffen hat, werden
unverändert übernommen. Für die EUStaaten, die nicht Mitglied von Schengen
sind, also Großbritannien und Irland,
wurden Sonderbestimmungen vereinbart.
Sie können an allen oder auch nur an einigen Schengen-Maßnahmen teilnehmen.
Seit dem Fall der Mauer gewann das
139
F L U C H T U N D M I G R AT I O N
Schengener Abkommen bei Verhandlungen mit Drittstaaten zunehmende Bedeutung. Besonders die mittel- und mittelosteuropäischen Staaten, die als Transitstaaten für Flüchtlinge bei der Bekämpfung
der ‘illegalen Einwanderung’ eine Pufferfunktion für die EU haben, sollen – nach
den Vorstellungen Westeuropas – die
Schengen-Standards bei polizeilichen und
grenzpolizeilichen Maßnahmen übernehmen, ohne allerdings gleichzeitig in den
Genuß der Freizügigkeit zu kommen. Ursprünglich nur von einer kleinen Gruppe
von EU-Kernstaaten (Frankreich, Deutschland und die Benelux-Staaten) erarbeitet,
hat das Schengener Abkommen heute
Bedeutung für die Gestaltung der Politik
der Inneren Sicherheit und des Umgangs
mit Flüchtlingen in ganz Europa – nicht
nur innerhalb der EU. Problematisch dabei ist vor allem, daß diejenigen Staaten,
die auf gute Zusammenarbeit mit der EU
angewiesen sind bzw. sogar mittel- oder
langfristig den Beitritt zur Union anstreben, politisch unter Druck geraten. Sie
müssen die von außen an sie herangetragenen Schengen-Standards umsetzen,
wenn sie ihre Beziehungen zur EU nicht
gefährden wollen.
5. Alternativen für die europäische
Flüchtlingspolitik
So undemokratisch das Schengener Abkommen zuwege gebracht wurde und
heute praktiziert wird: immerhin gelang
es 1994 im Bonner Bundestag einer kleinen Gruppe von ParlamentarierInnen einen Schengen-Beobachtungsausschuß einzurichten, der vom Bundesinnenministerium in unregelmäßigen Abständen unterrichtet wird. Die Papierflut zu sichten, die
nicht-öffentlichen Sitzungen des Schengen-Exekutivausschusses zu beobachten
und daraus politische Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln – dies gelingt allerdings nur sehr wenigen. Die Schengen140
Zusammenarbeit ist bis heute – ebenso
wie die Verfolgung der entsprechenden
EU-Aktivitäten – eine Spezialistenaufgabe
geblieben. Dies betrifft nicht nur die ParlamentarierInnen, sondern viel mehr noch
die Nichtregierungsorganisationen. Zwar
geriet die europäische Ebene speziell in
der BRDeutschland in jüngster Vergangenheit (nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum geänderten Artikel
16, das stark auf die europäische Ebene
verweist) in den Mittelpunkt des Interesses, bis heute blieb jedoch der Kreis
derjenigen, die sich intensiv mit der europäischen Asylpolitik auseinandersetzen,
sehr begrenzt. UNHCR und Amnesty International verfügen über ein Brüsseler
EU-Büro und der Europäische Flüchtlingsrat ECRE, ein multinationaler Zusammenschluß europäischer Verbände und
Organisationen, die in der Flüchtlingsarbeit aktiv sind, hat nationale Europabeauftragte ernannt, die Öffentlichkeits- und
Lobbyarbeit betreiben. Die ehrenamtliche
Flüchtlingsarbeit indes wird vom Netzwerk UNITED (UNITED for Intercultural
Action – European network against nationalism, rasism, fascism and in support of
migrants an refugees), dem europaweit
ca. 500 Organisationen angehören, koordiniert ( Interessenvertretung).
Insbesondere die Grünen im Europäischen Parlament haben die europäische
Asylpolitik in der Öffentlichkeit und im
Parlament immer wieder auf die politische Agenda gesetzt. Ihre Forderungen
konzentrieren sich dabei sowohl auf die
formaldemokratischen Aspekte, als auch
auf die Demokratisierung der Strukturen
der innenpolitischen Zusammenarbeit innerhalb der Europäischen Union. Es ist
mit demokratischen Prinzipien unvereinbar, wenn diejenigen, die in den Nationalstaaten in der Exekutive sind, auf europäischer Ebene zur Legislative mutieren
und ihre Entscheidungen dort weder von
den Parlamenten noch von den Gerichten
SCHENGENER UND DUBLINER ABKOMMEN
kontrollieren lassen. Zu einer Demokratisierung gehört schließlich auch, die Verfahren der Entscheidungen transparent
zu gestalten, denn erst dann ist eine demokratische Öffentlichkeit in der Lage,
Einfluß zu nehmen und ggf. politischen
Druck zu entfalten. Dieser Druck muß im
übrigen – das dürfte nach dem bisher gesagten klar geworden sein – unter den aktuell geltenden Voraussetzungen bei den
Verantwortlichen auf nationaler Ebene,
d. h. in der BRDeutschland beim Innenministerium, ansetzen. Eine gemeinschaftliche Asylpolitik sollte zudem darauf basieren, daß es jedem Mitgliedsland freigestellt ist, höhere Standards als die in der
Union vereinbarten ‘Mindeststandards’
anzuwenden.
Allerdings nützt es wenig, auf eine Vergemeinschaftung der europäischen Asylpolitik und demokratische Verfahren zu
setzen und darüber die Inhalte der bislang
praktizierten Politik aus dem Auge zu verlieren. Solange Flüchtlinge in jedem Dokument der EU in einem Atemzug mit Kriminellen genannt werden, solange sie wegen
der fehlenden Möglichkeiten einer legalen
Einreise zu illegalen Einwanderern umdefiniert werden und die Verantwortlichen
weiter an der Abschottung der ‘Festung
Europa’ bauen, solange werden auch demokratischere Strukturen kaum zu einer
Verbesserung der Lage der Asylsuchenden in der EU, zu mehr Aufnahmebereitschaft gegenüber Flüchtlingen oder zu
einer Übernahme der Verantwortung für
die Fluchtursachen führen. Darum müssen die Forderungen nach einer Vergemeinschaftung der Asylpolitik mit Inhalten gefüllt werden.
Vor allem und zuerst muß daher die
Europäische Union die international vereinbarten Standards, wie die Genfer
Flüchtlingskonvention (GFK) und die Europäische
Menschenrechtskonvention
(EMRK), beachten und umsetzen. EU-Initiativen müssen auf ihre Vereinbarkeit mit
internationalen Standards überprüft werden können. Zwar ist der Verweis auf die
EMRK und GFK Bestandteil des EU-Vertrags und fast aller entsprechenden Entschließungen, die faktische Politik der EU
spricht jedoch eine andere Sprache. Die
Gefahr, daß die Europäische Union Intention und Inhalt dieser internationalen
Abkommen sowohl durch die eigene Praxis, als auch durch neue Instrumente im
Umgang mit Asylsuchenden aushöhlt, ist
heute größer als je zuvor. Die Achtung der
Menschenrechte muß darum rechtsverbindlich oberstes Gebot in allen Politikbereichen auch der Europäischen Union
werden ( Ethik und Moral).
Claudia Roth, Petra Hanf
Schengener und
Dubliner Abkommen
Der Artikel befaßt sich mit den wesentlichen
asylrelevanten Regelungen des Schengener
Durchführungsübereinkommens und des
Dubliner Übereinkommens. Er thematisiert die
grundsätzliche Problematik dieser internationalen Verträge und nimmt bezug auf die Auswirkungen, die diese Regelungen auf AsylbewerberInnen in der Bundesrepublik Deutschland haben.
1. Entstehungsgeschichte
Am 14.6.1985 trafen sich die VertreterInnen mehrerer EU-Staaten in der luxemburgischen Stadt Schengen, um dort
ein Übereinkommen zu unterzeichnen,
das den schrittweisen Abbau von Kontrollen an den Binnengrenzen zwischen diesen Staaten regelt. Da die Unterzeichnerstaaten der Auffassung waren, daß mit
der entstandenen Freizügigkeit Probleme
141
F L U C H T U N D M I G R AT I O N
hinsichtlich einer nötigen gemeinsamen
Visaerteilung oder der Möglichkeit der
freien Bewegung von AsylbewerberInnen
entstanden seien, haben die Staaten am
19.6.1990 das Übereinkommen zur
Durchführung des Übereinkommens von
Schengen (Schengen-Durchführungsübereinkommen) geschlossen. Beide Übereinkommen werden seit dem 26.3.1995 für
Belgien, die Bundesrepublik Deutschland,
Frankreich, Luxemburg, Niederlande,
Portugal und Spanien angewandt. Später
sind Italien und Österreich beigetreten.
Auch Griechenland hat das Übereinkommen unterzeichnet. Es wird dort jedoch
noch nicht angewandt, weil dort die technischen Voraussetzungen zur Einführung
des ‘Schengener Informationssystems’
noch nicht erfüllt sind.
Obwohl alle Erstunterzeichnerstaaten
auch Mitgliedstaaten der Europäischen
Gemeinschaft waren, wurde das Abkommen bewußt nicht als ein EG-Abkommen
ausgestaltet. Dadurch sollten nicht nur die
Brüsseler Gremien (EU-Kommission, Europäischer Rat und Europäisches Parlament) umgangen, sondern zugleich eine
kritische parlamentarische und öffentliche Begleitung weitestgehend ausgeschlossen werden.
Am 15.6.1990 wurde das Dubliner
Übereinkommen abgeschlossen, das mit
dem asylrechtlichen Teil des Schengener
Duchführungsübereinkommens weitgehend inhaltsgleich ist. Das Dubliner Übereinkommen befaßt sich – anders als die
Schengener Regelungen – ausschließlich
mit Zuständigkeitsregelungen für die
Durchführung von Asylverfahren. Deshalb
war zu erwarten, daß ein größerer Kreis
von Staaten dieses Abkommen unterzeichnen und in Kraft setzen würde. Seine
Bestimmungen sind außerdem detaillierter als die Regelungen im Schengener
Durchführungsübereinkommen.
Am 1.9.1997 ist das Dubliner Übereinkommen zwischen den zwölf Erstunter142
zeichnerstaaten Belgien, Dänemark, Bundesrepublik Deutschland, Griechenland,
Spanien, Frankreich, Irland, Italien, Luxemburg, Niederlande, Portugal, sowie
Großbritannien und Nordirland in Kraft
getreten. Seitdem werden in der BRDeutschland die Regelungen des Dubliner
Übereinkommens anstelle des Schengener
Durchführungsübereinkommens
angewendet. Inzwischen haben auch Österreich, Schweden und Finnland das Dubliner Übereinkommen unterzeichnet.
2. Inhalt
Die Übereinkommen enthalten im wesentlichen Regelungen über die Zuständigkeit
zur Durchführung von Asylverfahren. Das
Ziel, das mit diesen Übereinkommen verfolgt wurde, war eine gerechtere Verteilung von AsylbewerberInnen in den Schengen-Staaten zu erreichen. Die Verteilung
soll nach objektiven Kriterien erfolgen,
den AsylbewerberInnen sollte die Möglichkeit genommen werden, ihren Zufluchtsstaat frei zu wählen, was insbesondere für Familien sehr problematisch sein
kann. Dies gilt insbesondere in den Fällen,
in denen die einzelnen Familienmitglieder
nicht zusammen fliehen (können) oder bei
ihrer Flucht unterschiedliche Reisewege
benutzen. Prinzipiell gehen beide Übereinkommen bei AsylbewerberInnen davon
aus, daß Asylanträge von Familienmitgliedern von verschiedenen Vertragsstaaten geprüft werden können. Eine Zusammenführung der Familie findet grundsätzlich nicht statt. Diese kann nur in Ausnahmefällen gestattet werden, wenn besondere humanitäre und familiäre Gründe bestehen, die über die Erhaltung und Wiederherstellung der Familieneinheit hinausgehen. Allerdings ist bei einer länger
andauernden Trennung von Familienmitgliedern zu bedenken, daß durch die
Trennung Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verletzt
SCHENGENER UND DUBLINER ABKOMMEN
sein könnte. Art. 8 EMRK untersagt den
Vertragsstaaten die nicht ausreichende
Berücksichtigung der Familieneinheit. Allerdings haben die Betroffenen selbst
nicht die Möglichkeit, eine Zusammenführung der Familie zu beantragen. Vielmehr müßte einer der betroffenen Staaten
den jeweils anderen Staat um Übernahme
des/der Familienangehörigen bitten.
Im übrigen ist sowohl die Ausgestaltung des Asylverfahrens als auch die Anerkennungspraxis für Flüchtlinge aus verschiedenen Herkunftsländern in den einzelnen europäischen Staaten sehr unterschiedlich, so daß die Behinderung in der
Wahl des Zufluchtstaates auch entscheidend für die Schutzgewährung sein kann
( Asyl- und Flüchtingspolitik Europa).
Im wesentlichen wurde in den Übereinkommen das Verursacherprinzip und das
‘one-chance-only-Prinzip’ niedergelegt.
Außerdem gibt es Regelungen über eine
gemeinsame Visaerteilungspraxis, Sanktionen gegen Beförderungsunternehmen
und die Einrichtung des ‘Schengener Informationssystems’ (SIS) zum verbesserten Datenaustausch.
3. Verursacherprinzip
Nach dem Verursacherprinzip ist derjenige Mitgliedsstaat des Schengener Durchführungsübereinkommens für die Prüfung
eines Asylbegehrens (und damit auch für
die Aufnahme der AntragstellerInnen) zuständig, der
– die Ausstellung eines Einreisevisums
für den/die AntragstellerIn genehmigt
hat,
– dem/der AntragstellerIn eine Aufenthaltserlaubnis erteilt hat,
– über dessen Außengrenzen der/die AntragstellerIn eingereist ist, ohne für diesen Staat ein Visum zu benötigen,
– über dessen Außengrenzen der/die AntragstellerIn ohne Erlaubnis eingereist
ist,
– bereits einem Familienangehörigen
des/der AntragstellerIn den Flüchtlingsstatus zuerkannt und den Aufenthalt gewährt hat oder
– sich unter bestimmten Umständen freiwillig für diesen Asylantrag zuständig
erklärt.
Das bedeutet, daß derjenige Staat für
die Prüfung eines Asylantrages zuständig
ist, der die Einreise des/der DrittausländerIn verursacht, man könnte auch sagen:
‘verschuldet’ hat: entweder, weil er ein
Visum erteilt hat oder die Einreise nicht
verhindert hat oder bereits Familienangehörigen den Flüchtlingsstatus zuerkannt hat ( Asylverfahren).
4. One-chance-only-Prinzip
In Art. 29 Abs. 1 des Schengener Durchführungsübereinkommens verpflichten
sich die Mitgliedstaaten, jedes Asylbegehren, das im Hoheitsgebiet eines der
Vertragsstaaten gestellt wird, zu behandeln. In Art. 29 Abs. 2 wird dieser Grundsatz jedoch insoweit eingeschränkt, als die
Mitgliedsstaaten sich dort das Recht vorbehalten haben, Asylbegehrende nicht auf
ihr Hoheitsgebiet einreisen zu lassen bzw.
sie in einen Drittstaat zurück- oder auszuweisen.
Hat ein/eine AsylbewerberIn also bereits z. B. in Großbritannien ein Asylverfahren abgeschlossen, kann er/sie nicht in
einen anderen Mitgliedstaat des Schengener Übereinkommens reisen und dort
erneut einen Asylantrag stellen – es sei
denn, der zweite Staat erklärt sich freiwillig für die Überprüfung dieses Asylantrags
zuständig.
Das Prinzip der Beschränkung auf einen Asylantrag innerhalb der SchengenStaaten ist aufgrund der unterschiedlichen Behandlung von AsylbewerberInnen
in den einzelnen Staaten sehr problematisch. Weder das Schengener noch das
Dubliner Übereinkommen enthalten Re143
F L U C H T U N D M I G R AT I O N
gelungen über gemeinsame Kriterien für
die Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention, Mindestgarantien für ein faires Asylverfahren und gerichtlichen
Rechtsschutz. Ebenso fehlt eine Regelung
über eine gegenseitige Anerkennung der
Entscheidungen über Asylanträge.
Noch problematischer ist die Regelung,
wenn man sie im Zusammenhang mit
Drittstaatenregelungen und der inzwischen sehr zahlreichen Rückübernahmeabkommen sieht. Am Beispiel der Bundesrepublik ist deutlich zu erkennen, daß dies
dazu geführt hat, die ‘Festung Europa’
weiter auszubauen ( Asyl- und Flüchtlingspolitik BRD).
Die BRDeutschland hat die ihr durch
die EU-Regelungen und durch das Schengener Durchsatzübereinkommen eröffneten Möglichkeiten extensiv genutzt und
Regelungen über sog. ‘sonstige Drittstaaten’ bzw. ‘sichere Drittstaaten’ erlassen, in
welche die AsylantragstellerInnen zurückgeschickt werden können, wenn sie – aus
diesen kommend – versuchen, in die Bundesrepublik einzureisen.
Nach dem deutschen Asylrecht werden
Asylanträge von anderen AntragstellerInnen in der BRDeutschland nicht geprüft, wenn diese aus einem ‘sicheren
Drittstaat’ in die Bundesrepublik einreisen. Sichere Drittstaaten in diesem Sinne
sind alle Mitgliedsstaaten der Europäischen Union und darüber hinaus Norwegen, Polen und die Schweiz. AsylantragstellerInnen, die aus einem dieser Staaten
in die Bundesrepublik einreisen, können
in der Bundesrepublik zwar einen Asylantrag stellen, dieser wird jedoch nicht inhaltlich geprüft. Es wird lediglich überprüft, aus welchem dieser Drittstaaten der
oder die betreffende Person eingereist ist.
Der Asylantrag wird dann als unbeachtlich beschieden. Die Bundesrepublik
nimmt in diesem Fall zu dem betreffenden
Drittstaat Kontakt auf und beantragt, daß
dieser den oder die Asylsuchende ‘zurück144
nimmt’. Durch das Schengener Durchführungsübereinkommen sollte sichergestellt
werden, daß der betreffende Drittstaat
auch verpflichtet ist, die betreffende Person zurückzunehmen.
In der Praxis führte dies zu einigen
Problemen. In vielen Fällen weigern sich
die betreffenden Drittstaaten, die betroffene Person aufzunehmen oder sie nehmen
diese auf und schicken sie dann ihrerseits,
ohne eine inhaltliche Prüfung des Asylantrags, weiter in einen weiteren Drittbzw. Viertstaat. Das Problem der Kettenabschiebung wird insbesondere relevant,
wenn die betreffende Person mehrere
Länder durchquert hat, bevor sie in einem
Land einen Asylantrag gestellt hat. Der
europäische Flüchtlingsrat ECRE (European Council on Refugees and Exiles) hat
eine Reihe solcher Kettenabschiebungen
dokumentiert. Auch der UNHCR (Hoher
Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen) hat mehrfach darauf hingewiesen,
daß die Drittstaatenregelung zu dem Phänomen von ‘Refugees in Orbit’ führt.
5. Sanktionen gegen Beförderungsunternehmen
Im Schengener Durchführungsübereinkommen sind weitere Hürden für Asylsuchende eingebaut worden, indem auch
die Beförderungsgesellschaften in die
Pflicht genommen werden, zu überprüfen,
ob die von ihnen beförderten Personen im
Besitz gültiger Einreisepapiere für den jeweiligen Zielstaat sind. Ist dies nicht der
Fall und wird dem/der AusländerIn die
Einreise in den Zielstaat verweigert, so ist
das Beförderungsunternehmen verpflichtet, auf seine Kosten den/die AusländerIn
wieder in den Herkunftsstaat oder einen
anderen Drittstaat, in den er einreisen
darf, zurückzubringen. Das betrifft vor allem Luftverkehrsgesellschaften, die mit
Sanktionen belegt werden können. Diese
Regelung ist oftmals nicht nur wegen ih-
SCHENGENER UND DUBLINER ABKOMMEN
rer flüchtlingsfeindlichen Zielrichtung kritisiert worden, sondern auch, weil damit
hoheitliche Aufgaben (Kontrolle der Einreisewilligen) auf private Unternehmen
übertragen worden sind, die gar nicht in
der Lage sind, diese Aufgaben zu erfüllen,
sofern sie sich nicht auf das Erkennen gefälschter Pässe spezialisieren wollen, was
sicherlich nicht in ihren Aufgabenbereich
gehört.
In der Praxis führen die Vorgaben an
die Fluggesellschaften jedoch dazu, daß
politisch Verfolgte, die gerade aufgrund
ihrer Verfolgungssituation nicht die Möglichkeit haben, sich gültige Einreisedokumente zu verschaffen, und für die der Flug
die einzige Möglichkeit des Entkommens
sein kann, ebenso abgewiesen werden wie
unerwünschte EinwanderInnen. Anders
als beim Erreichen der Staatsgrenze greift
auch hier kein gerichtlicher Rechtsschutz.
In der BRDeutschland ist in §§ 73 f
Ausländergesetz diese Sanktion gegen
Beförderungsunternehmen in nationales
Recht umgesetzt worden. Das Bundesverwaltungsgericht hielt diese Regelung für
verfassungswidrig und hat sie dem Bundesverfassungsgericht zur Überprüfung
vorgelegt. Das Bundesverfassungsgericht
hat diesen Vorlagebeschluß inhaltlich
nicht behandelt, sondern als unzulässig
zurückgewiesen.
6. Datenaustausch (SIS)
Das Schengener Durchführungsübereinkommen gestattet den Mitgliedsstaaten einen umfangreichen Datenaustausch. Die
Mitgliedsstaaten haben aufgrund des
Schengener Durchführungsübereinkommens ein Informationssystem (SIS) gegründet, und jeder Mitgliedsstaat speist
dort seine Daten ein und kann diese jederzeit abrufen. Da dieser Datenaustausch
nicht auf europarechtlicher Ebene geregelt ist und das Schengener Durchführungsübereinkommen keine eigenen Da-
tenschutzregelungen enthält, ist völlig unklar, inwiefern die im SIS eingespeisten
Daten überhaupt geschützt sind ( Datenschutz). Insbesondere ist auch nicht
geklärt, daß diese Daten nicht etwa den
Herkunfts- und damit potentiellen Verfolgerstaaten der Asylsuchenden zur Verfügung gestellt werden.
7. Kinder und Jugendliche
Das Schengener Durchführungsübereinkommen enthält keine spezifischen Regelungen für Kinder oder Jugendliche. In
Art. 36 ist jedoch geregelt, daß bei Vorliegen humanitärer, insbesondere familiärer oder kultureller Gründe eine andere
Vertragspartei um die Übernahme der Zuständigkeit zur Prüfung des Asylbegehrens ersucht werden kann. Besondere familiäre Gründe können z. B. Minderjährigkeit ( Minderjährigkeit) oder Pflegebedürftigkeit von Familienangehörigen
sein. Damit ist jedoch nicht sichergestellt,
daß Familienangehörige, die bei der
Flucht getrennt wurden und sich nun in
verschiedenen Schengen-Staaten aufhalten, tatsächlich zusammengeführt werden
können. Das Schengener Durchführungsübereinkommen und das Dubliner Übereinkommen kennen den Grundsatz der
Familienzusammenführung nicht. Es kann
also durchaus sein, daß die Eltern oder
ein Elternteil von Kindern, die z.B. in der
Bundespublik Aufnahme fanden, ihr Asylverfahren in einem anderen SchengenStaat durchführen und sich auch dort aufhalten müssen. Die Kinder müssen ihr
Asylverfahren getrennt von den Eltern
durchführen.
Die betreffende Familie selbst kann
sich auch nicht an den jeweils anderen
Staat wenden und Familienzusammenführung beantragen. Einer der SchengenStaaten, in dem sich Teile der Familie aufhalten, müßte sich, wie bereits ausgeführt, an den anderen betroffenen Schen145
F L U C H T U N D M I G R AT I O N
gen-Staat wenden und diesen bitten, die
Zuständigkeit auch für den Rest der
Familie zu übernehmen oder sich bereit
erklären, die anderen Familienangehörigen aufzunehmen. Nur für den Fall, daß
ein Schengen-Staat einem Familienangehörigen bereits den Flüchtlingsstatus gewährt hat, kann sich auch der Rest seiner
Familie zu diesem begeben.
Roland Appel, Katrin Sandmann
Einwanderungspolitik
Obwohl Einwanderungspolitik in der Bundesrepublik nicht als eine ausdifferenzierte Ressortpolitik existiert, werden Möglichkeiten der
Zuwanderung und Niederlassung durch politische Entscheidungen beeinflußt. Gleichwohl
war und ist das politische System nicht in der
Lage, Wanderungsbewegungen umfassend und
präzise zu steuern. Der Beitrag skizziert Elemente und Entwicklungstendenzen der politischen Regulation von Zuwanderung. Grenzüberschreitende Wanderungen werden als
Problem für eine nationalstaatliche Politik
analysiert, für die Loyalitäts- und Leistungsbeziehungen zu den Staatsbürgern konstitutiv
sind.
1. Einleitung: Elemente von
Zuwanderungs- und
Einwanderungspolitik
Zentrales Thema der politischen Auseinandersetzungen in der Bundesrepublik
und den Staaten der Europäischen Union
über Einwanderungsfragen war und ist
seit Ende der 80er Jahre die behauptete
Notwendigkeit einer Begrenzung unerwünschter Zuwanderung, insbesondere
der Einwanderung von Flüchtlingen und
illegalen ArbeitsmigrantInnen. Hintergrund dessen ist die Vorstellung, daß un146
ter Bedingungen anhaltender Massenarbeitslosigkeit und einer Finanzkrise der
öffentlichen Haushalte die ‘Grenzen der
Belastbarkeit’ der nationalstaatlichen Ökonomien und der sozialstaatlichen Sicherungssysteme erreicht bzw. überschritten
seien. Befürchtet wurde bzw. wird, daß
die aufgrund von politischer Verfolgung,
Verarmung und ökologischen Katastrophen weltweit zunehmenden Wanderungsbewegungen zu einer Massenwanderung nach Europa führen. Eine zentrale
Aufgabe nationalstaatlicher und europäischer Politik sei deshalb die Verhinderung
unkontrollierter Zuwanderung.
In der Folge dieser Vorstellung wurden
seit Beginn der 90er Jahre zahlreiche Gesetze beschlossen und Maßnahmen durchgeführt, die Einwanderung erschweren
bzw. verhindern sollen, die insbesondere
auf eine Einschränkung des Asylrechts
und seine europäische Vereinheitlichung
ausgerichtet sind. Die offenkundigste Konsequenz hiervon war die 1993 beschlossene Änderung des Asylrechtsartikels im
Grundgesetz (Art. 16 GG), welche die Bedingungen der Inanspruchnahme des dort
verankerten
individuellen
Rechtsanspruchs auf Asyl erheblich erschwert hat.
Dies veranlaßt Kritiker dieser Änderung,
von einer ‘de-facto-Abschaffung’ des Asylrechts zu sprechen ( Asylpolitik). Insbesondere aus den Erfahrungen der Praxis der humanitären Hilfe, der Rechtsberatung sowie der Sozialen Arbeit mit
Flüchtlingen heraus wird der bundesdeutschen Ausländer- und Asylpolitik zudem
vorgeworfen, daß sie eine kontinuierliche
und deutliche Absenkung der Rechtsansprüche von und sozialstaatlichen Leistungen für Flüchtlingen betreibt (vgl.
Komitee für Grundrechte und Demokratie
1992; Prantl 1994; Pro Asyl 1998). Bezweifelt wird in diesem Zusammenhang,
daß rechtsstaatliche sowie grund- und
menschenrechtliche Standards und die in
internationalen Vereinbarungen festge-
E I N WA N D E R U N G S P O LITI K
legten Kriterien im Umgang mit Flüchtlingen noch hinreichend beachtet werden.
Alle bisherigen Regierungen haben sich
bisher politisch geweigert, aufgrund der seit
dem Zweiten Weltkrieg eingetretenen faktischen Einwanderungssituation Deutschland auch explizit als Einwanderungsland
zu betrachten. Dies motiviert die Forderung, diese Haltung aufzugeben, und eine
entsprechende Einwanderungspolitik in
der Erwartung zu entwickeln, daß damit
die entstandene Einwanderungssituation
politisch in einer Weise gestaltet werden
könne, die nicht weiter auf ‘politischer
Erkenntnisverweigerung’ (Manifest der
60, 1994, S. 21) beruhe und dem Grundsatz „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ (GG Art. 1) auch im Umgang mit
Flüchtlingen Rechnung tragen könne. Appelliert wird dabei auch an die besondere
historische Verpflichtung Deutschlands im
Umgang mit politischen Verfolgten. Gegenstände weiterer Kritik sind darüber
hinaus die Einbürgerungsbedingungen für
in der Bundesrepublik geborene und aufgewachsene AusländerInnen, die rechtliche Unzulässigkeit einer doppelten Staatsbürgerschaft sowie verschiedene Aspekte
der Benachteiligung oder anderweitig geminderter Lebenschancen von MigrantInnen im Recht, im Erziehungssystem oder
auf Arbeitsmärkten.
Im folgenden skizzieren wir Konturen
dessen, was man als Migrations- oder Zuwanderungspolitik kennzeichnen kann,
d. h. politische Entscheidungen, welche
die Möglichkeiten von Zu- und Einwanderung und die Lebensbedingungen von
MigrantInnen betreffen. Offenkundige Bestandteile einer solchen Politik sind erstens Gesetzgebungsakte, Verwaltungsanordnungen und sonstige Maßnahmen, die
sich a) auf die Kontrolle der Grenzen beziehen, b) festlegen, wer das Gebiet eines
Staates betreten darf oder nicht, c) die
Möglichkeiten der Arbeitsaufnahme für
MigrantInnen, des Nachzugs von Fami-
lienangehörigen, die Eheschließung mit
Nichtdeutschen regulieren sowie d) Kriterien festlegen, gemäß denen Flüchtlingen Einreise und Aufenthalt gestattet wird.
Zweitens werden die Lebensbedingungen
von Eingewanderten durch eine Reihe von
Gesetzen und Regelungen des Ausländerund Asylrechts beeinflußt, die diese gegenüber Staatsangehörigen in eine Position minderer Rechte verweisen. Hinzu
kommen drittens allgemeine arbeitsmarkt-, rechts- und sozialpolitische Entscheidungen, die – auch wenn sie nicht
unmittelbar auf Einwanderungswillige
und Eingewanderte zielen –, die Bedingungen betreffen, mit denen sie während
eines Aufenthaltes in der Bundesrepublik
zu rechnen haben.
Für ein angemessenes Verständnis der
Thematik ist es vorab wichtig, sich klar zu
machen, daß nicht jede Zuwanderung auf
Einwanderung, also auf dauerhafte Niederlassung zielt. Insofern ist der Terminus
‘Einwanderungspolitik’ problematisch. Zuwanderung kann zwar im Ergebnis dadurch zu Einwanderung werden, daß Zuwanderer ihre Lebensführung auf die Einwanderungsregion hin ausrichten. Ein
solcher Niederlassungsprozeß setzt auch
häufig unabhängig von den ursprünglichen Absichten von MigrantInnen ein. Er
kann politisch erwünscht sein oder geduldet werden, es kann aber politisch auch
versucht werden, Niederlassung zu verhindern. Gleichwohl bleibt Zuwanderung
vielfach befristet und führt nicht zwangsläufig zu dauerhafter Niederlassung.
2. Wanderungen als Problem nationalstaatlicher Politik
Wanderungen sind kein Problem der Gesellschaft insgesamt. Für eine transnational operierende Ökonomie etwa ist die
Mobilität von Arbeitskräften kein Hindernis, sondern potentiell eine günstige Bedingung für Anlage- und Verwertungs147
F L U C H T U N D M I G R AT I O N
strategien. Erst in der Perspektive einer
nationalstaatlich verfaßten Politik stellt
sich Staatsgrenzen überschreitende Wanderung als ein zentrales Problem der modernen Gesellschaft dar. Eine wesentliche
Strukturfolge der Einteilung der Welt in
Staaten ist die nationale Staatsbürgerschaft und ein damit verbundener partikularer Universalismus, der die Teilnahme eines jeden Individuums an einem,
aber auch nur einem Staat vorsieht.
Staatsbürgerschaft begründet eine im
Prinzip lebenslange Leistungs- und Loyalitätsbeziehung zwischen dem Staat und
seinen BürgerInnen, die im nationalen
Wohlfahrtsstaat institutionalisiert ist und
die den Staat bei der Herstellung seiner
politischen Entscheidungen auf die Orientierung an der Gesamtheit der StaatsbürgerInnen und ihrem Anspruch auf Gleichheit als Mitglieder des Staatsvolkes verpflichtet.
Grenzüberschreitende Migration stellt
die politische Einteilung der Weltbevölkerung in Staatsbevölkerungen in Frage
und bringt MigrantInnen in eine strukturell prekäre Beziehung zu nationalen
Wohlfahrtsstaaten in den beiden Dimensionen der Loyalität zum Staat und des
Anspruchs auf Leistungen des Staates.
Denn als nationaler Staat beobachtet der
Staat MigrantInnen zum einen in der
Perspektive ihrer politischen Loyalität. MigrantInnen unterscheiden sich von Staatsbürgern diesbezüglich dahingehend, daß
sie in der Regel über keine historisch entwickelten Beziehungen zum jeweiligen
Nationalstaat verfügen, von denen angenommen werden kann, daß sie Identifikation und Loyalität begründen. Sofern
der Staat Wohlfahrtsstaat im Sinne eines
sozialen Ausgleichsmechanismus nach innen ist, impliziert dies zweitens immer
auch die Errichtung einer Ungleichheitsschwelle nach außen, die durch MigrantInnen überschritten werden muß, und
die damit die Frage provoziert, in wel148
chem Verhältnis MigrantInnen zu den
Leistungen des Wohlfahrtsstaates stehen.
Zuwanderung begründet vor diesem Hintergrund wiederkehrend Appelle an die
primäre Verpflichtung des Nationalstaates, hinreichende Leistungen für seine
StaatsbürgerInnen zu erbringen. Der nationale Wohlfahrtsstaat interveniert daher
in Prozesse der Zuwanderung unter den
Gesichtspunkten der Aufrechterhaltung
der Loyalitäts- und Leistungsbeziehung zu
der Gemeinschaft der StaatsbürgerInnen.
Orientiert an diesem Kriterium wird er als
Filter wirksam für Wanderungsversuche
und die damit verbundenen Versuche der
Teilnahme von Individuen an gesellschaftlichen Teilbereichen wie der Ökonomie,
Erziehung oder Gesundheit.
Alle Staaten regeln auf der allgemeinen
Grundlage, daß es kein generelles Recht
von Individuen auf Einwanderung in einen
Staat gibt, die Bedingungen, unter denen
sie Zuwanderung gestatten. Sie lassen Migration unter nationalen, wirtschaftsbzw. arbeitsmarkt- und bevölkerungspolitischen, bildungs- und entwicklungspolitischen, familienrechtlichen oder flüchtlingsrechtlichen Gesichtspunkten zu, und
sie regulieren die daran gebundenen Teilnahmechancen von MigrantInnen durch
die Zuteilung von rechtlichem Aufenthaltsstatus, damit direkt oder indirekt
verknüpften Privilegien, Erlaubnissen,
Verboten und Ansprüchen auf staatliche
Leistungen. Solche Festlegungen können
in abgestufter Weise teilnahmebegünstigend gefaßt sein. Sie können aber auch
darauf zielen, Teilnahmechancen in wirtschaftlicher, rechtlicher, gesundheitlicher
oder erzieherischer Hinsicht zu limitieren
oder zu verhindern, um so politische Optionen des Ausschlusses und der territorialen Ausweisung zu erhalten.
E I N WA N D E R U N G S P O LITI K
3. Die Bundesrepublik – ein
Einwanderungsland?
Vor diesem Hintergrund kann man heute
die Verwendung des Terminus Einwanderungspolitik in einem politisch programmatischen und in einem deskriptiven
Sinne beobachten. Im ersten Fall wird üblicherweise eine Politik referiert, wie sie
charakteristisch für klassische Einwanderungsländer wie Kanada, Australien oder
die USA ist. Im zweiten Fall faßt man unter den Terminus alle politischen Entscheidungen, die mit der Regulation jeder
Art von Zuwanderung sowie der Bedingungen befaßt sind, unter denen ZuwanderInnen der Aufenthalt auf dem Territorium eines Staates und die Teilnahme an
Ökonomie, Politik, Recht, Erziehung, Gesundheit oder Familie gestattet ist. Die europäischen Staaten betrachten sich nicht
als Einwanderungsländer, auch wenn sie
sich untereinander dadurch unterscheiden, inwieweit sie Zuwanderungsprozesse
und die anschließende Niederlassung dieser Zuwanderer als faktische Einwanderung anerkennen und diese dann auch
als EinwanderInnen bezeichnen. Im Unterschied zu Frankreich, den Niederlanden oder Schweden ist die Bezeichnung
„Einwanderer“ im politischen Sprachgebrauch in Deutschland bis heute auch für
MigrantInnengruppen umstritten, deren
endgültige Niederlassung wie im Fall der
vormaligen ‘Gastarbeiter’ politisch kaum
mehr in Frage steht. In Staaten wie
Deutschland wird mit dem deklarativen
Festhalten daran, daß es sich um kein
Einwanderungsland handelt, politisch
zum Ausdruck gebracht, daß Einwanderung kein Ziel der Politik ist und es entsprechend auch keiner Einwanderungspolitik bedarf. Unstrittig war aber
Deutschland neben den USA in den Jahren seit dem Zweiten Weltkrieg eine der
Hauptzuwanderungsregionen in der Welt.
Unbeschadet aller programmatischen
Auseinandersetzungen und Abgrenzun-
gen in den letzten zwei Jahrzehnten unterscheidet sich daher auch die Migrationspolitik in Deutschland in zahlreichen
Strukturmerkmalen nicht von dem, was
man auch in anderen Zuwanderungsländern beobachten kann.
Zuwanderungsprozesse nach Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg umfassen
Flüchtlinge und Vertriebene, ArbeitsmigrantInnen auf der Basis ihrer arbeitsmarktpolitischen Anwerbung (‘GastarbeiterInnen’), Familiennachzugswanderung,
AsylbewerberInnen und (Bürger-) Kriegsflüchtlinge, die sog. SpätaussiedlerInnen
sowie schließlich illegale ZuwanderInnen.
Migrationspolitik ist gegenwärtig in allen
westeuropäischen Staaten weitgehend
von der Maxime beherrscht zu verhindern, daß aus dem weltweiten Wanderungspotential (vgl. UNHCR 1994; Opitz
1997) eine für die europäischen Staaten
politisch unkontrollierbare Masseneinwanderung resultiert. Der EU-internen
Durchsetzung der Freizügigkeit des Personenverkehrs entspricht der Versuch der
Etablierung einer koordinierten bzw. EUeinheitlichen Migrationspolitik gegenüber
MigrantInnen aus sog. Drittstaaten (
Schengener und Dubliner Abkommen).
Dies bedeutet nicht, daß die einzelnen
Nationalstaaten die Kontrolle über Zuwanderung aufgegeben haben, sondern
sie versuchen damit vielmehr, Kontrollpotential zurückzugewinnen, das im Rahmen der europäischen Integration zu
schwinden schien.
4. Migrationskontroll- und
Flüchtlingspolitik
Es gab zwei große Anlässe in Europa, bezogen auf die die verstärkte Kontrolle
oder der Stop von Zuwanderungen politisch gefordert und mittels verschiedener
Maßnahmen durchzusetzen versucht wurde. Der eine betraf die Beendigung der politisch aktiven Rekrutierung von Arbeits149
F L U C H T U N D M I G R AT I O N
migrantInnen, der andere die politische
Kontrolle und Unterbindung von Fluchtmigrationen. Mitte der 1970er Jahre beendeten die meisten Staaten in Europa die
aktive Rekrutierung ausländischer Arbeitskräfte und versuchten zum Teil, sie
zur Rückkehr in ihre Herkunftsländer zu
bewegen. Die ArbeitsmigrantInnen kamen
aber während der Zeit des Ausbaus und
der Konsolidierung des modernen Wohlfahrtsstaates und hatten daher sozialrechtliche Ansprüche erworben, an denen
solche politischen Versuche der Beförderung ihrer Rückkehr scheiterten. Anstelle
dessen trat schließlich eine von Land zu
Land verschieden ausgestaltete sog. Integrationspolitik auf der Basis der Aufrechterhaltung eines Zuwanderungsstops, mit
der diese ZuwanderInnen, die ehemaligen
„GastarbeiterInnen“, mit den Inländern
schließlich weitgehend – abgesehen von
den politischen Kernrechten des aktiven
und passiven Wahlrechts – rechtlich
gleichgestellt wurden und in deren Rahmen ihnen in allen Ländern inzwischen
Einbürgerungsrechte eingeräumt worden
sind.
Mit der Entstehung und einem bis heute anhaltenden Wachstum der weltweiten
Flüchtlingsproblematik seit etwa Ende der
1970er Jahre richteten sich in Europa die
politischen Versuche der Kontrolle der
Zuwanderung zunehmend auf den Flüchtlingsbereich und generell auf eventuelle
Zuwanderungen aus den ärmeren sog.
Drittstaaten. Das Interesse an einer nationalstaatlichen, politischen Kalkülen gemäßen Regulierung von Migration, also an
einer quantitativen und qualitativen
Steuerung bzw. einer zeitlichen Befristung
von Ein- und Auswanderung steht dabei
in einem Spannungsverhältnis zu den in
internationalen Vereinbarungen festgeschriebenen Rechten von Flüchtlingen. So
spricht die allgemeine Erklärung der Menschenrechte (Art. 14) „Jedermann“ das
Recht zu „in anderen Ländern vor Ver150
folgung Asyl zu suchen und zu genießen“
und (Art. 15) „seine Staatsangehörigkeit
zu wechseln“. Auch die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 faßt die legitimen Fluchtursachen und ihre Rechte im
Aufnahmeland wesentlich weiter als das
deutsche Asylrecht.
Der Zusammenbruch der sozialistischen Staaten führte Ende der 1980er
Jahre zu beinahe hysterischen Prognosen
über bevorstehende ‘Einwanderungsfluten’. Der Anstieg der Zahl der Flüchtlinge
aus den Kriegs- und Bürgerkriegsregionen der Nachfolgestaaten des ehemaligen
Jugoslawien stellte dann die Fluchtproblematik in einem seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gekannten Ausmaß in
das Zentrum der Politik in Europa. Migrationspolitik in diesem Bereich ist zu einem erheblichen Teil Flüchtlingsabschreckungspolitik geworden. Sie hat einerseits die Schwellen der Erreichbarkeit
der Zufluchtländer erheblich angehoben.
Durch Harmonisierung ihrer Asylpolitik
im Rahmen der Abkommen von Schengen
und Dublin und der Übernahme dieser
Abkommen in den EU-Rahmen, mit der
Einführung der Kategorie sicherer Drittstaaten, strikter Visaerfordernisse für Zuwandernde aus den meisten Drittstaaten
und mit der Durchsetzung der Beachtung
dieser politischen Voraussetzungen für die
grenzüberschreitende Beförderung von
Personen durch Transportunternehmen
haben sie Kontrollkompetenzen über den
Zugang zum Territorium der EU-Staaten
zurückgewonnen. Sie haben in dieser Weise die Zahl der Fluchtzuwanderungen seit
Beginn der 1990er Jahre absenken können, ohne nationales oder internationales
Recht zu brechen, damit aber die Erreichbarkeit ihres Territoriums für ZuwanderInnen unabhängig von der Frage, ob es
sich um rechtmäßige Flüchtlinge bzw.
AsylbewerberInnen oder um MigrantInnen auf der Suche nach Erwerbsmöglichkeiten handelt, auf einschneidende Weise
E I N WA N D E R U N G S P O LITI K
erschwert. Auf die in den 1980er Jahren
einsetzende Fluchtzuwanderung in grossen Zahlen haben die nationalen Wohlfahrtsstaaten (nicht nur) in Europa also
reagiert, indem sie in Kooperation die
Ungleichheitsschwelle nach außen durch
die allgemeine Erschwerung der Zutrittsbedingungen zu ihrem Territorium für
Individuen aus wirtschaftlich ärmeren
Ländern erhöht haben. Nur Individuen,
die in der Lage sind, diese Hürden zu
überwinden, können überhaupt noch in
Verfahren zur Überprüfung ihres Asylanspruchs eintreten oder den Status eines
De-facto-Flüchtlings erlangen. (Nicht nur)
legale Fluchtmigration setzt damit auf
Seiten der Individuen unter Bedingungen
der Überwindung hoher politischer Migrationsschwellen entsprechende Kommunikationskompetenzen sowie den Zugang zu
relevantem Wissen, Geld und Organisationen wie Botschaften, Konsulate, Transportunternehmen und auch illegalen
Schlepperorganisationen voraus. Es ist
daher auch nicht überraschend, daß
Flüchtlinge und AsylbewerberInnen meist
ein hohes Qualifikationsprofil aufweisen.
Brechen die reicheren Wohlfahrtsstaaten formal mit der Errichtung von solchen
Zuwanderungsschwellen nicht das nationale und internationale Flüchtlingsrecht,
sondern machen es vielmehr in vielen Fällen unwirksam, so findet dies umgekehrt
in ihren Bestimmungen zu den Teilnahmemöglichkeiten und Versorgungsansprüchen von Flüchtlingen und AsylbewerberInnen seine Entsprechung. Die
Staaten schränken ihre Bewegungsfreiheit sowie die Freiheit der Wahl des
Wohnortes ein, verbieten die Arbeitsaufnahme oder erlauben sie nur unter hoch
restriktiven Bedingungen, begrenzen ihren Anspruch auf Gesundheitsversorgung
und beschränken ihre Versorgung mit den
Mitteln zum Lebensunterhalt auf Minimalsätze, gemessen an den Standards für
staatliche Unterstützungsleistungen in
dem jeweiligen Land. Man kann den Sinn
dieser Restriktionen dahingehend zusammenfassen, daß Staaten gegenüber AsylbewerberInnen und Flüchtlingen teilnahmeverhindernd in dem Sinne tätig werden, daß sie bis zur Beendigung der rechtlichen Überprüfungsverfahren ihres Asylanspruchs bzw. bis zum Wegfall der
Fluchtursachen bei De-facto-Flüchtlingen
den Zugang zu sozialen Systemen über die
staatlich eingegrenzten Möglichkeiten hinaus versperren. Sie reduzieren die Teilnahme der Individuen an der Gesellschaft
auf das, was zur Durchführung der Verfahren notwendig ist, und beschränken
die Möglichkeiten der Lebensführung in
einer Weise, daß ihr provisorischer Charakter erhalten und sozial erkennbar
bleibt. Die Rigorosität, mit der diese
Politik z. T. durchgesetzt worden ist und
aktuell auch noch verstärkt wird,1 reagiert
auf die Erfahrungen mit der Arbeitsmigration in den 1970er Jahren und den
Sachverhalt, daß mit der Fortdauer des
Aufenthalts von MigrantInnen die Wahrscheinlichkeit ihres Bleibens und des Erwerbs von Rechtspositionen gegenüber
dem Staat zunimmt. Flüchtlinge wachsen
mit der Dauer ihres Aufenthalts in Rechte
hinein und je länger sie sich auf dem
Territorium des Zufluchtstaates aufhalten,
um so geringer wird die Wahrscheinlichkeit ihrer Rückkehr.
Der Versuch, diese Wahrscheinlichkeit
zu reduzieren, schlägt sich in Deutschland
besonders deutlich in den politischen Regulationen zeitlich befristeter Arbeitsmigrationen in der Form der WerkvertragsarbeitnehmerInnen und der Saisonarbeit
nieder. Die rechtlichen Bestimmungen zu
diesen Zuwanderungsformen legen klare
und unwiderrufliche Befristungen des
Aufenthalts fest und unterwerfen darüber
hinaus die Beschäftigung der WerkvertragsarbeitnehmerInnen dem Sozialrecht
ihrer Herkunftsländer. Damit soll ein erneutes Hineinwachsen von Arbeitsmi151
F L U C H T U N D M I G R AT I O N
grantInnen in unwiderrufliche Rechtsansprüche verhindert werden und gesteuerte Arbeitsmigration zugleich als flexibles arbeitsmarktpolitisches Instrument
bei Aufrechterhaltung der staatlichen
Ungleichheitsschwelle erhalten bleiben.
Man kann vor diesem Hintergrund zunächst feststellen, daß der politisch befürchtete und wissenschaftlich vielfach
diagnostizierte Kontrollverlust der nationalen Wohlfahrtsstaaten in Europa über
den Zugang zu ihrem Territorium und die
Zusammensetzung ihrer Bevölkerung aufgrund ihrer internen Migrationspolitik
und der Form ihrer Kooperation nicht eingetreten ist. Sie haben in der beschriebenen Weise die Zuwanderungszahlen abzusenken vermocht. Andererseits sehen sie
sich mit Formen der dauerhaften und von
ihnen kaum einzuschränkenden bzw. zu
kontrollierenden Formen der Zuwanderung konfrontiert, wovon abschließend
unter dem Gesichtspunkt der Reichweite
von Migrations- bzw. Einwanderungspolitik hier die Familiennachzugswanderung
und die Zuwanderung von Illegalen diskutiert werden sollen.
5. Grenzen der Steuerung und Kontrolle
von Migration und unbeabsichtigte
Folgen
Familienwanderungen gehören quantitativ neben Flucht- und Arbeitsmigrationen
zu den mittlerweile bedeutendsten und
folgenreichsten Wanderungsströmen in
allen Einwanderungsländern. Ihre Bedeutung besteht vor allem darin, daß sie dauerhafte Wanderungsbeziehungen zwischen Herkunfts- und Zielländern herstellen. An diesen Familien- und daraus hervorgehenden Kettenwanderungen kristallisieren sich Netzwerke zwischen Herkunfts- und Einwanderungsregionen und
aus ihnen resultieren sog. ‘transnational
communities’ oder ‘transnationale soziale
Räume’. Studien zu diesen ‘transnationa152
len’ sozialen Strukturen zeigen, daß es an
Migration selbst, ihren Netzwerken, Erfordernissen und Gelegenheiten zur Bildung von Organisationen kommt, die politische, rechtliche, gesundheitliche, religiöse, kulturelle sowie ökonomische Leistungen in Form von Geld, Konsum- und
Dienstleistungsgütern zur Verfügung stellen und die ihrerseits eine selbsttragende
dauerhafte Struktur durch ihre Verankerung in den Herkunfts- und den Zielregionen der MigrantInnen gewinnen
können. ‘Transnationalität’ meint daher
nicht, daß Nationalstaaten irrelevant werden, sondern daß die Lebensführung von
MigrantInnen, aber nicht nur von MigrantInnen sich an Organisationen und Beziehungsnetzwerken ausrichten kann, die
aus Migration selbst resultieren, eine gewisse Dauerhaftigkeit gewinnen und auch
politisch nicht in den Bezugsrahmen nur
eines Nationalstaates eingespannt sind.
Familienwanderungen und solche aus ihnen resultierenden und durch sie aufrechterhaltenen Strukturen sind migrationspolitisch für die Versuche nationaler
Wohlfahrtsstaaten, Wanderungen unter
dem Gesichtspunkt der Aufrechterhaltung
der Ungleichheitsschwelle zu kontrollieren und einzuschränken, in dem Sinne relevant, daß hier die Kontrollkapazität des
Wohlfahrtsstaates, die im Zusammenhang
von Asyl- und Fluchtwanderungen erheblich aufgerüstet worden ist, unter rechtsstaatlichen Bedingungen hinsichtlich der
Kontrolle und Beschränkung der Wanderung von Familienmitgliedern an Grenzen
stößt, denn international anerkannt ist
das Recht auf Zugang zur eigenen (Kern-)
Familie.
Quantitativ schwer zu bestimmen ist
die gleichwohl zu vermutende Zunahme
illegaler Zuwanderung in allen reicheren
Zuwanderungsregionen. Illegale Migration ist die Rückseite der wohlfahrtsstaatlichen Formen der Wanderungskontrolle.
Sie ist einerseits Resultat der jegliche
E I N WA N D E R U N G S P O LITI K
Unterschiede einebnenden Erhöhung der
Migrationsschwellen gegenüber MigrantInnen aus ärmeren Staaten, wie sie in Reaktion auf ansteigende Flucht- und Asylwanderungen in den reicheren Wohlfahrtsstaaten erfolgt ist. Illegale Migration
erfolgt in verschiedenen Formen. Sie ist illegal, weil sie trotz fehlender staatlicher
Erlaubnis erfolgt, aufenthaltsrechtliche
Teilnahmebeschränkungen
mißachtet
bzw. weil das staatliche Territorium nach
Ablauf der Aufenthaltsbewilligung nicht
verlassen wird.2
Illegale Zuwanderung macht darüber
hinaus sichtbar, wie stark Staaten in die
sozialen Teilnahmegelegenheiten und -angebote in gesellschaftlichen Bereichen wie
der Ökonomie, der Erziehung oder der
Gesundheit und entsprechender Organisationen eingreifen und sie für NichtStaatsbürgerInnen auch da zu verstellen
versuchen, wo solche Gelegenheiten durch
ihre eigenen StaatsbürgerInnen nicht ergriffen werden (müssen) bzw. auch nicht
ergriffen werden können.3 Denn ein Sinn
der Kontrolle und des Ausschlusses von
MigrantInnen ist die Aufrechterhaltung
von sozialstaatlich hergestellten Standards, die das Verhindern des Unterlaufens dieser Standards durch unregulierte
Zuwanderung voraussetzen. Dies erzeugt
aber gerade unter der Bedingung weltweit
gestiegener räumlicher Mobilitätschancen
für Individuen, die vielfach auf existierende Wanderungsnetzwerke oder inzwischen weltweit operierende Schlepperorganisationen zurückgreifen können, Teilnahmechancen an Gesellschaft, die auf
Illegalität beruhen. Die Lebensführung
von illegalen MigrantInnen unterscheidet
sich je nach Zuwanderungsland erheblich,
abhängig von den jeweiligen staatlichen
Migrantenkontrollregimen, von den räumlichen Distanzen, die sie überwinden müssen, und von den Strukturen, an denen illegale Wanderungsnetzwerke entstehen
können. Aber das Leben von illegalen
MigrantInnen ist kein separiertes Leben,
sie leben nicht jenseits staatlich regulierter Organisationen, sondern ihre Teilnahmedomänen werden dem Staat vorenthalten. In verschiedenen Produktionsund insbesondere Dienstleistungsbereichen entstehen Beschäftigungsverhältnisse, an deren Aufrechterhaltung sowohl
Organisationen und Privathaushalte, aufgrund niedriger Löhne für hohe Arbeitsleistungen, als auch ein großer Teil
der MigrantInnen selbst, aufgrund der aus
der Illegalität selbst resultierenden Beschäftigungschancen, interessiert sind.
Ihr „Standortvorteil“ auf den für sie relevanten Güter- und Arbeitsmärkten ist
Illegalität und damit das Umgehen wohlfahrtsstaatlicher
Regulierungen.
Die
staatliche Ungleichheitsschwelle wird mit
ihrer erfolgreich organisierten Mißachtung zu einer Teilnahmechance für MigrantInnen, deren Versuch der Einkommenserzielung sich nicht an den Gleichheits- und Verteilungsstandards der Wohlfahrtsstaaten orientiert, in die sie illegal
einwandern. An der wohlfahrtsstaatlichen
Ungleichheitsschwelle entsteht als paradoxer Effekt der gesteigerten staatlichen
Migrationsabwehr ein Bereich der Zuwanderung, der seine Schubkraft geradezu aus dieser Abwehr als Voraussetzung
des wechselseitigen Interesses von Organisationen und Privathaushalten, die Illegale beschäftigen, und den Illegalen selbst
zu beziehen scheint.
6. Perspektiven
Mit dem Regierungswechsel im Herbst
1998 besteht eine gewisse Aussicht, daß
die politische Weigerung anzuerkennen,
daß die Bundesrepublik de facto zu einem
Einwanderungsland geworden ist, aufgegeben wird. Für die Kinder der Eingewanderten in der 2ten und 3ten Generation sind Rechtsänderungen zu erwarten, die ihre Einbürgerung erleichtern
153
F L U C H T U N D M I G R AT I O N
und ausländerrechtliche Ungleichstellungen beenden. Demgegenüber ist es wahrscheinlich, daß gegenüber Flüchtlingen
(und auch gegenüber den SpätaussiedlerInnen) eine Politik der Einwanderungskontrolle und -verhinderung fortgesetzt
wird.
Literatur
Anmerkungen
Eichenhofer, E. (Hg.): Migration und Illegalität. IMISSchriften Band 7. Osnabrück 1998
1 Zum Beispiel in Deutschland mit der Einführung
des Asylbewerberleistungsgesetzes 1993 (das
AsylbewerberInnen und Flüchtlinge aus der Sozialhilfe herausnahm und damit deutlich machte, daß
ihnen wohlfahrtsstaatliche Leistungen in einem
weitergehenden Sinne nicht zustehen), mit den erneuten Leistungseinschränkungen in der Neufassung von 1998 und den jüngsten politischen Ankündigungen weiterer Kürzungen.
Komitee für Grundrechte und Demokratie (Hg.): Ausländerfeindlichkeit in Deutschland – Wir alle sind gemeint. Sensbachtal 1992
2 Aus politischen Gründen bestehen vielfach Vorbehalte gegen die Markierung dieser Form der Zuwanderung als illegal und es wird Anschluß an die
angelsächsische Redeweise von ‘undocumented
migrants’ vorgeschlagen. Der Terminus ‘illegale ZuwanderInnen’ indiziert aber eine wesentliche Bedingung der Lebensführung dieser ZuwanderInnen, die man beachten muß: Illegale ZuwanderInnen schließen sich selbst mit dem Versuch, ihre
Wanderung staatlich unbeobachtbar zu machen,
vom Recht aus – nicht deshalb, weil der Staat ihnen
den Zugang dazu verwehrt, sondern weil die Teilnahme am Recht voraussetzt, daß sie als rechtsfähige Adressen identifizierbar sind. Mit einer solchen Identifikation aber würde die Unrechtmäßigkeit ihres Aufenthalts sichtbar und damit reversibel.
Illegale Zuwanderung impliziert also über den Versuch hinaus, der staatlichen Beobachtung zu entgehen, den Selbstausschluß vom Rechtssystem.
Die sozialen Folgen dieses Sachverhalts für die Lebensführung der Zuwanderer, ihre Abhängigkeit
und Beherrschbarkeit durch andere aufgrund ihrer
dadurch reduzierten sozialen Konfliktfähigkeit sind
evident ( Illegalität)
3 Zum Teil können sie diese Gelegenheiten aufgrund
von Sozialleistungsansprüchen ablehnen, z. T. dürfen sie diese Gelegenheiten nicht annehmen, weil
sie in ihrem Zuschnitt rechtliche Auflagen wie Sozialversicherungspflichten, Tarifbestimmungen oder
Arbeitszeitregelungen mißachten.
154
Bade, K.-J. (Hg.): Deutsche im Ausland – Fremde in
Deutschland. München 1992
Bade, K.-J. (Hg.): Das Manifest der 60. Deutschland
und die Einwanderung. München 1994
Bommes, M./Halfmann, J. (Hg.): Migration in nationalen Wohlfahrtsstaaten. Theoretische und vergleichende Untersuchungen. IMIS-Schriften Band 6. Osnabrück 1998
Nuscheler, F.: Internationale Migration. Flucht und
Asyl. Opladen 1995
Opitz, P. J. (Hg.): Der globale Marsch. Flucht und Migration als Weltproblem. München 1997
Prantl, H.: Deutschland. Leicht entflammbar. Ermittlungen gegen die Bonner Politik. München/Wien
1994
Pro Asyl (Hg.): Recht für Flüchtlinge. Ein Leitfaden
durch die Praxis des Ausländer- und Asylrechts.
Karlsruhe 1996
Pro Asyl (Hg.): Mindestanforderungen an ein neues
Asylrecht. Frankfurt 1998.
Treibel, A.: Migration in der modernen Gesellschaft.
Weinheim und München 1990
UNHCR (Hg.): Die Lage der Flüchtlinge in der Welt.
Bonn 1994
Michael Bommes, Albert Scherr
A SYL- U N D F LÜ C HTLI N G S P O LITI K I N D E R B R D
Asyl- und Flüchtlingspolitik in der
Bundesrepublik
Der Beitrag skizziert die zentralen Elemente
der Asylpolitik. Er beschäftigt sich mit dem
Gestaltungsspielraum der Politik auf den unterschiedlichen politischen Ebenen (Europa,
Bundesrepublik, Länder, Kommunen). Er zeigt
zudem Möglichkeiten für politisches Engagement auf.
Vorbemerkung
Asylpolitik, so wie sie hier definiert wird,
ist geprägt durch die Ausgestaltung in Gesetzen, Verordnungen, Durchführungsbestimmungen und Erlassen, begleitet von
Meinungsäußerungen und Willensbekundungen, Parteienbeschlüsse und Gesetzesinitiativen. Daneben ist die Rechtsprechung, insbesondere der Obergerichte zu
beachten, sowie die Ausgestaltung der sozialen Rechte und die finanziellen Aufwendungen der öffentlichen Hände für
Flüchtlinge inklusive der Betreuungsaufgaben.
Asylpolitik ist auch immer Politik eines
Nationalstaates, denn unbestritten liegt es
in dessen Ausgestaltungsrecht, wer das
Land betreten darf, wer und wie Asyl erhält und welche sozialen Rechte er genießt. Die Asylpolitik der Bundesrepublik
nahm ihren Anfang in den Beratungen des
Parlamentarischen Rates, als dessen Ergebnis der alte Artikel 16 „politisch Verfolgte genießen Asylrecht“ im Grundgesetz verankert wurde. Die Genfer Flüchtlingskonvention1 und die Europäische
Menschenrechtskonvention2 bilden den
völkerrechtlichen Rahmen für die Asylund Schutzgewährung, ausgestaltet durch
das Ausländergesetz3 und das Asylverfahrensgesetz4.
1. Die Asylpolitik der Europäischen
Union (EU)
Seit Beginn der Achtziger Jahre werden
nationale Entwicklungen auch durch eine
stärkere Ausrichtung auf die EU bestimmt5. Unter dem Stichwort „Europäische Harmonisierung des Asylrechtes“
sind europaweit Kriterien eingeführt worden, z. B. die Drittstaatenregelung, die es
für Flüchtlinge zunehmend schwieriger
machen, in einem EU-Land Aufnahme
und Schutz zu finden. Die Vereinheitlichung der Visapraxis, Datenaustausch
und das gemeinsame Ziel der Sicherung
der EU-Außengrenzen haben diese Entwicklung nachhaltig geprägt.
Im Europäischen Kontext ist die ‘Festung Europa’ seit langem erklärtes politisches Ziel, aber die Geschwindigkeit, mit
der dieses passiert, ist bedenkenswert.
Unter der Überschrift ‘Europäische Harmonisierung’ hat vor allem die vormalige
Bundesregierung versucht, Standards im
Asylbereich festzulegen. Schon bei den
Verhandlungen auf europäischer Ebene
der Verträge von Schengen6 und Dublin7,
wo die Frage geklärt werden sollte, welcher Staat für die Durchführung der Asylverfahren zuständig sei, kam es zu einer
folgenschweren Fehleinschätzung seitens
der Bundesregierung. Die Vertreter des
Bundesministerium des Innern (BMI) hatten sich mit Nachdruck dafür eingesetzt,
daß u.a. das europäische Land zuständig
für die Durchführung eines Asylverfahren
sein sollte, in das der Flüchtling ‘zuerst
seinen Fuß hineinsetzt’. Dies wird vor dem
Umstand verständlich, daß zum Zeitpunkt
der Verhandlungen im Osten der BRD die
Mauer als Asylgrenze funktionierte. Mit
dem ‘Fall’ der Mauer fiel auch zugleich
der ‘Schutzwall’ gegen die Flüchtlinge.
Dies wurde dann zum entscheidenden
Faktor für die dann vehement geforderte
Grundgesetzänderung ( Schengener und
Dubliner Abkommen).
Auf der europäischen Ebene hat sich
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F L U C H T U N D M I G R AT I O N
aber noch mehr getan: Neben einer Vereinheitlichung der Visumspraxis in Europa, der Einführung von Asylkriterien wie
‘safe countries’, gemeint sind damit Herkunftsländer in denen nach Überzeugung
des Gesetzgebers keine Menschenrechtsverletzungen vorkommen (in Deutschland
sind das z. B. Bulgarien, Rumänien, Polen,
Slowakische Republik, Tschechische Republik, Ungarn und Ghana8) oder das ‘one
chance only’ Prinzip, gemeint ist damit,
daß nur noch in einem Staat ein Asylverfahren durchgeführt werden kann,
dessen Ergebnis auch in den übrigen europäischen Staaten gilt – trotz unterschiedlicher Asylkriterien und Anerkennungspraktiken – ist es nunmehr auch der
Versuch, eine Vereinheitlichung der Kriterien für ‘offensichtlich unbegründete’
Asylverfahren europaweit einzuführen.
Auch hier mit dem Ziel, möglichst viele
Flüchtlinge möglichst schnell legal abschieben zu können. Begleitet werden diese Maßnahmen von einem europäischen
Datenaustausch, der es ermöglicht, in
kurzer Zeit herauszufinden, ob bereits in
einem anderen Mitgliedstaat der EU ein
erfolgloses Asylverfahren durchgeführt
wurde. Bei all diesen Bemühungen stehen
nicht die Fluchtursachen, nicht das Verfolgungsschicksal im Mittelpunkt der
Überlegungen, sondern entscheidend werden fehlende Visa, die ersten Gebietskontakte und damit der Fluchtweg.
Derzeit spielen Fragen des ‘temporary
protection’9 und des ‘responsibility sharings’ eine größere Rolle als die Vereinheitlichung des materiellen Asylrechtes –
also der Frage wer? erhält wann? Asyl.
Bemerkenswert an der EU-Diskussion ist
die Tatsache, daß kein Land Flüchtlinge
ernsthaft aufnehmen möchte. Dafür
spricht die zügige Einigung bei der Angleichung der Visapraxis. Für StaatsbürgerInnen aus mehr als 140 Ländern
gilt der Visumszwang EU-weit und die
Verhinderung von ‘illegaler Zuwanderung’
156
gilt ebenfalls als vordringliches gemeinsames Ziel. Daß mit dieser ‘illegalen Zuwanderung’ zum größten Teil Flüchtlinge
gemeint sind, ergibt sich aus den Zugangszahlen für 1998 in Deutschland. Allein
über 60 % der zumeist illegal eingereisten
Asylantragsteller kamen allein aus den
Krisengebieten Jugoslawien, Afghanistan,
Irak und Türkei. Ob hier der Asylrechtsschutz oder eine andere Form des Schutzes (der subsidiäre Schutz z. B. aufgrund
der EMRK) der geeignete ist, mag dahingestellt bleiben. Tatsache bleibt, daß die umgesetzten Normen, einhergehend mit dem
Sinken der absoluten Zugangszahlen in
der EU zu einer Verdrängung der Flüchtlinge – deren Zahlen weltweit keineswegs
abnehmen – in die ärmeren Länder der
Welt bedeuten. Damit wird der individuelle
Schutzgedanke des Asylrechts in seiner
Wirkung verkehrt, da gleichzeitig die
Fluchtursachenbekämpfung nur marginal
stattfindet. Wo liegt dann das gemeinsame
Interesse an der Lösung z. B. der Frage des
responsibility sharing, also der gemeinsamen Verantwortung und des Ausgleiches
der Belastungen (‘burden sharing’)? War
bis vor drei Jahren noch Deutschland dasjenige Land, in dem ca. 60 % aller EU-weiten Asylanträge gestellt wurden, haben die
Drittstaatenregelung sowie vermehrte
Grenzkontrollen eine Verdrängung in andere EU-Staaten bewirkt. 1998 waren es
nur noch 32 % aller Asylanträge, die in
Deutschland gestellt wurden und somit
drängt jetzt nicht nurmehr Deutschland
auf Klärung der o. a. Fragen sondern auch
die Länder, deren Zugangszahlen seitdem
erheblich angestiegen sind. Lösungen, die
sich an der Hilfebedürftigkeit von Flüchtlingen orientieren, stehen dagegen nicht
auf der Tagesordnung. Vereinfacht gesagt,
jedes Land versucht so wenige Flüchtlinge
wie möglich aufzunehmen und die Aufwendungen für sie auf ein Minimum zu beschränken ( Asylbewerberleistungsgesetz).
A SYL- U N D F LÜ C HTLI N G S P O LITI K I N D E R B R D
Mit rechtsstaatlich verabschiedeten
Normen wird versucht, eine unsichtbare
Mauer um die EU zu legen. Mit Hilfe von
Gesetzen und Verordnungen wird die legale Einreise erschwert. Dies wird zunehmend begleitet durch eine Öffentlichkeitsarbeit, aus der die Bevölkerung nur den
einen Schluß ziehen kann, daß eine Bedrohung durch Flüchtlinge erfolge und
diese daher abgewehrt werden müssen.
Politisch gesehen haben wir es mit dem
Widerstreit der Rechte des Individuums –
des Flüchtlings – und den ihn schützenden
Menschenrechten und Konventionen mit
dem Recht des Nationalstaates zu tun, der
Einreise, Asylrecht, Verfahren und aufenthaltsbeendende Maßnahmen regelt. Leere
öffentliche Kassen haben hier die Entscheidung maßgeblich zu Ungunsten des
Individualschutzes beeinflußt.
2. Die Asylpolitik auf Bundesebene
Ein Blick in die Koalitionsvereinbarungen
vom 20.10.1998 offenbart, daß auch von
der Rot/Grünen Bundesregierung in Fragen der Flüchtlings- und Asylpolitik enttäuschend wenig zu erwarten ist. Unter
dem Stichwort EU sind dort folgende Vorhaben aufgelistet:
„Wir setzen uns in der EU zur Stärkung
der Inneren Sicherheit und zur Gewährleistung der Bürgerrechte folgende Ziele:
Harmonisierung der Asyl-, Flüchtlingsund Migrationspolitik (Schwerpunkte:
Bekämpfung illegaler Einwanderung –
insbesondere Schleuserkriminalität -, gerechte Lastenverteilung unter Berücksichtigung der Kommissionsvorschläge, nachhaltige Bekämpfung der Fluchtursachen.“
(Abschnitt IX. Sicherheit für alle – Bürgerrechte stärken, Punkt 6. EU-Initiativen).
Auch hier wird – wie bei der alten Bundesregierung – das Hauptaugenmerk auf
die Abschottung nach außen gesetzt, weniger auf Fragen, wie bedrohte Flüchtlinge denn das Asylland Deutschland
überhaupt erreichen können. In Abschnitt
IX. (Sicherheit für alle – Bürgerrechte
stärken, Punkt 7. Integration) heißt es
weiter:
„Wir setzen uns mit Nachdruck für eine
gemeinsame europäische Flüchtlings- und
Migrationspolitik ein, die die Genfer
Flüchtlingskonvention und die Europäische Menschenrechtskonvention beachtet.
Ziel der gemeinschaftsrechtlichen Regelung muß eine ausgewogene Verantwortungs- und Lastenverteilung sein. Während der deutschen Ratspräsidentschaft
werden wir vorschlagen, die Kompetenz
für alle Fragen der Flüchtlings- und
Migrationspolitik bei einem Mitglied der
Europäischen Kommission zu bündeln.
Die bisherige Anwendung des Ausländergesetzes hat in einer geringen Zahl von
Einzelfällen zu Ergebnissen geführt, die
auch vom Gesetzgeber nicht gewollt waren. Wir werden künftig alle gesetzlichen
und administrativen Möglichkeiten (§§
32, 54, 30 Abs. 4 AuslG und die darauf bezogenen Verwaltungsvorschriften) nutzen,
in solchen Fällen zu helfen. Sollte sich das
geltende Recht als zu eng erweisen, werden wir eine Änderung des § 30 Abs. 2
AuslG ins Auge fassen.
Die Dauer der Abschiebungshaft und
des Flughafenverfahrens werden im Lichte des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes
überprüft. Wir wollen gemeinsam mit den
Ländern eine einmalige Altfallregelung
erreichen. Wir werden die Verwaltungsvorschriften mit dem Ziel der Beachtung
geschlechtsspezifischer Verfolgungsgründe überarbeiten.“
Der Eindruck beim Lesen der wenigen
Zeilen drängt sich auf, daß es nicht um eine Abkehr von der auf Abwehr und Abschreckung gerichteten Politik der Bundesrepublik geht. Für diejenigen, die mit
Flüchtlingen arbeiten sei aber gesagt: Sicherlich ist die Situation nicht aussichtslos, denn sowohl Innenministerium als
auch Justizministerium sowie das Amt der
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F L U C H T U N D M I G R AT I O N
Ausländerbeauftragten der Bundesregierung sind wesentlich gesprächsbereiter
und offener in Asyl- und Flüchtlingsfragen
als zuvor. Auch wird die Zukunft zeigen,
ob der neue Außenminister die Berichte
des Auswärtigen Amtes, die eine wesentliche Grundlage zur Beurteilung der Lage
in den Herkunftsländern darstellt, den
Anforderungen eines fairen Asylverfahrens anpassen kann.
3. Rückschau
Bevor einige Kernbereiche der Flüchtlings- und Asylpolitik näher beleuchtet
werden, zuerst eine kurze Rückschau: Gehen wir zurück zum 6. Dezember 1992,
dem Tag, an dem der sog. Parteienkompromiß zur Asylfrage der Öffentlichkeit
präsentiert wurde. Was ist dort als Maßnahmenpaket verabredet worden?
– Die Grundgesetzänderung des Art. 16;
2; 2
– Eine eigenständige Regelung für
Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge
außerhalb der Asylverfahren.
– Ein eigenes Leistungsgesetz für Asylbewerber, ein seit vielen Jahren immer
wieder gefordertes Sondergesetz, das
die Sozialhilfe für Flüchtlinge in Sachleistungen und auf niedrigerem Niveau
als für Deutsche festschreiben sollte.
– Eine Altfallregelung, um die über
700.000 Asylverfahren die sich bei Bundesamt und Verwaltungsgerichten angesammelt hatten, zügig zu bearbeiten.
– Eine konzeptionelle Gesamtlösung für
die Zuwanderung
Was davon ist nun seit dem 26. Mai
1993, dem Tag der Grundrechtsänderung
im Deutschen Bundestag umgesetzt worden?
– Art. 16 a Grundgesetz, der mit seiner
Drittstaatenregelung und dem Prinzip
der sicheren Herkunftsländer den individuellen Rechtsschutz von Flüchtlingen nahezu aushebelt und die Stan158
dards des internationalen Rechtsschutzes für Flüchtlinge nachhaltig verschlechtert hat
– Die Regelungen im AuslG und AsylVfG,
die einen – zeitlich begrenzten – Sonderstatus für Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge ermöglichen; neben den inhaltlichen Kritikpunkten ist vor allem
zu bemängeln, daß diese Regelung
noch in keinem Fall Anwendung gefunden hat, auch nicht bei den Flüchtlingen mit der größten Akzeptanz im Bundesgebiet, den bosnischen Kriegsflüchtlingen.
– Das Asylbewerberleistungsgesetz
– Eine erste, bereits im August 1993 in
wesentlichen Teilen beendete Altfallregelung und eine weitere Regelung aus
dem März 1996, die vor dem 1.1.1987
eingereiste Alleinstehende und vor dem
Stichtag 1.7.1990 eingereiste Familien
mit mindestens einem minderjährigen
Kind umfaßte.10
Der wichtigste Punkt des Parteienkompromisses zur Asylfrage, die konzeptionelle Gesamtlösung, ist gar nicht erst auf den
parlamentarischen Weg gebracht worden.
Wie zu erkennen ist, fehlt es zumindest
am politischen Willen, konzeptionelle
Überlegungen zur Zuwanderungsthematik, die sich an den Bedürfnissen der
ZuwanderInnen orientieren, in Gesetzeskraft zu gießen. Aber vergessen wir nicht:
die Bundesrepublik definiert sich erst sehr
zögerlich als ein Land, in das Zuwanderung stattgefunden hat und stattfindet
und baut dementsprechend sowohl Barrieren auf, um Zuwanderung zu verhindern, als auch Verfahrenswege, um Abschiebungen zu erleichtern.
Verfahrenshürden werden durch fehlende Verfahrensberatung zu Fallstricken.
Gemeinschaftsverpflegung, Sachleistungen und Gemeinschaftsunterkünfte verhindern solidarische Hilfen und Rechtsanwälte können nicht mehr bezahlt werden. Die prognostizierte und eingetretene
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starke Zunahme von Menschen ohne jeden Aufenthaltsstatus führt aber keineswegs zu Überlegungen in Richtung Hilfestellungen, sondern zu einem Diskurs
über Kriminalität und Innere Sicherheit,
mit dem Ziel, die Abschiebungen rechtlich
noch mehr zu erleichtern und die Unterstützung von Menschen ohne Aufenthaltsrecht unter Strafe zu stellen. Dies ist dann
im sog. Verbrechensbekämpfungsgesetz
vom 28.10.1994 auf den Weg gebracht
worden. Ein Blick nach Italien verdeutlicht hingegen, daß auch unpopuläre Lösungen möglich sind. So hat das Italienische Parlament beschlossen, unter bestimmten Bedingungen etwa 200.000 ‘Illegale’ zu legalisieren. Solche Überlegungen
gab und gibt es auch in Spanien und
Schweden, nicht aber in der Bundesrepublik.
1997 war das europäische Jahr gegen
Rassismus. Unter der Federführung des
Bundesinnenministeriums wurden viele
Aktionen, Veranstaltungen und Projekte,
die diesem Ziel dienten, mit vielen Mio.
Euro gefördert. Aber auch vier einschneidende Verschärfungen wurden von der
Bundesregierung gerade in dem Jahr
durchgesetzt. 1. Im Januar hatte der Bundesinnenminister durch Änderung der
Durchführungsverordnung zum Ausländergesetz (DVAuslG) den Visumszwang
auch für unter 16-jährige aus der Türkei,
Tunesien, Jugoslawien und Marokko eingeführt, die, als Angehörige ehemaliger
Anwerbestaaten, von der allgemeinen Visumspflicht befreit waren. Um damit die
Einreise von ca. 2000 jährlich einreisenden unbegleiteten Flüchtlingen, vor allem
aus der Türkei, zu verhindern, wurde etwa eine halbe Million hier lebender Kinder und Jugendlicher visumspflichtig gemacht. 2. Im Juni wurde ein für alle ab
dem 15. Mai 1997 eingereisten Asylantragsteller ein generelles Arbeitsverbot
verhängt. 3. Zum 1. Juni wurde das Asylbewerberleistungsgesetz auch auf Kriegs-
und Bürgerkriegsflüchtlinge ausgedehnt
sowie die eingeschränkten Leistungen bis
zum Juni 2000 festgelegt.. 4. Mit Wirkung
des 1. Novembers wurden die Ausweisungsbestimmungen im Ausländergesetz
verschärft.
4. Die Regelungen der Bundesebene
4.1 Einreise und Drittstaatenregelung
Der Paß ist einmal von Bertold Brecht als
der edelste Teil des Menschen bezeichnet
worden. Für die Einreise von Flüchtlingen
jedenfalls hat er eine wichtige Funktion.
Ohne ihn und ohne ein darin enthaltenes
Visum ist ein offizieller Grenzübertritt und
damit eine legale Einreise ins Bundesgebiet nicht möglich. Die entsprechenden Regelungen sind im Ausländergesetz (AuslG)
und im Asylverfahrensgesetz (Asyl VfG)
eingeführt. Die Liste der Staaten, deren
Staatsangehörige ein Visum benötigen
gibt es nicht, wohl aber eine sogenannte
Positivliste, die die Staaten mit visumsfreien Einreisen auflistet.
Ein Asylantrag kann nur auf dem Boden der Bundesrepublik gestellt werden,
nicht etwa in einer deutschen Botschaft
oder einem Konsulat. Aus diesem Grunde
kommt es für Flüchtlinge wesentlich darauf an, faktisch einreisen zu können.
Bedingt durch die ‘Drittstaatenregelung’
ist eine Einreise auf dem Landweg theoretisch unmöglich geworden, da jeder
Flüchtling direkt bei der versuchten Einreise an der Grenze zurückgewiesen werden kann, weil er einen Asylantrag im ‘sicheren Drittland’ – eben dem Land, durch
das er gerade gereist ist – hätte stellen
können/müssen. Wird ein Flüchtling bei
dem Versuch, die Grenze zur Bundesrepublik zu überschreiten oder kurz danach im grenznahen Bereich von der
Grenzbehörde aufgegriffen, passiert folgendes: Der Flüchtling wird erkennungsdienstlich behandelt und umgehend in
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F L U C H T U N D M I G R AT I O N
den Nachbarstaat zurückgeschoben. Seit
der Grundgesetzänderung kommt hier die
sogenannte
Drittstaatenregelung
des
Grundgesetzartikel 16 a Abs. 2 zur Anwendung, die besagt, daß sich derjenige
nicht auf das Asylrecht berufen kann, der
„aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft oder aus einem anderen Drittstaat einreist, in dem die Anwendung des Abkommens über die
Rechtsstellung der Flüchtlinge und der
Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten sichergestellt
ist.“ In § 18 AsylVfG erhält die Grenzbehörde die Befugnis zur Einreiseverweigerung, wenn die Einreise über einen
sicheren Drittstaat erfolgt. Hierbei erhält
der Flüchtling keine juristische Möglichkeit, die vom Gesetz vermutete Sicherheit
überprüfen zu lassen und zu widerlegen.
Beruft sich der Flüchtling dagegen nicht
auf den Asylrechtsschutz, so ist das fehlende Visum Anlaß für den Tatbestand der
illegalen Einreise, der ebenfalls zur sofortigen Zurückweisung führt. Auch die theoretische Chance eines dagegen eingelegten Rechtsbehelfs verhindert die sofortige
Zurückschiebung nicht11. In der Praxis
kommen aber pro Monat ca. achttausend
Flüchtlinge heimlich über die Landesgrenzen in die Bundesrepublik und beantragen
die Anerkennung als politische Flüchtlinge. Dies hat einerseits dazu geführt,
daß sich sowohl die Grenzkontrollen erheblich verschärft haben12 und die Nachbarstaaten der Bundesrepublik ihrerseits
verstärkte Kontrollen an ihren Außengrenzen – insbesondere nach Osten hin –
durchführen. Andererseits vertrauen sich
Flüchtlinge immer häufiger Fluchthilfeorganisationen, sogenannten Schleppern
an, um unbemerkt vom Bundesgrenzschutz (BGS), der sie zurückweisen würde, die Grenze zu überschreiten. Der ehemalige Bundesinnenminister gab in seinem Asylerfahrungsbericht 1994 vom 20.
Juni 1995 die Zahl der Zurückweisungen/
160
Zurückschiebungen an den Außengrenzen
mit 146.845 Personen an. Dem standen
nur 1927 direkt an der Grenze gestellte
Asylanträge gegenüber.13 Deren Zurückweisung war lediglich aufgrund einer völkerrechtlichen Verpflichtung der Bundesrepublik z. B. durch Visumserteilung unterblieben. Für die Flüchtlinge, denen die
Einreise gelingt, gilt dann, daß der Reiseweg für die Behörden im Inland oft nicht
mehr nachvollziehbar ist. Dies ermöglicht
die Durchführung von Asylverfahren. Aus
Sicht des Bundesinnenministeriums lag
und liegt hierin das Praxisdefizit der Drittstaatenregelung. Aus der Sicht der Flüchtlingsinitiativen und Menschenrechtsorganisationen liegt gerade in diesem Praxisdefizit die einzige Chance für Flüchtlinge
auf Durchführung eines Asylverfahrens in
der Bundesrepublik14.
Anders ist die Situation, wenn Flüchtlinge die Grenze heimlich überschreiten
und die Behörden erst im Inland auf sie
aufmerksam werden. Hierbei besteht für
die Behörden das Problem, bei einer geplanten Zurückschiebung dem Drittstaat
glaubhaft zu machen, daß die Einreise
über ihn erfolgt ist. Dies führt zu vielen
bürokratischen Schwierigkeiten, da die
meisten Rückübernahmeabkommen15 vorschreiben, daß, wenn mehr als eine Woche Aufenthalt seit der Grenzüberschreitung vergangen ist, ein bürokratisches
Verfahren gegenüber dem Drittstaat eingeleitet werden muß, in dem die Zuständigkeit des Drittstaates z. B. anhand von
Geld, Fahrkarten, Stempeleintragungen
u. ä. begründet wird, die auf die Einreise
über eben diesen Drittstaat schließen lassen.
Zur Drittstaatenregelung gab es, und
auch das soll hier erwähnt werden, nicht
wenige Stimmen, die die Verfassungsmässigkeit der Vorschrift bezweifelten. Wie sicher ist denn der als sicher unterstellte
Drittstaat für den betreffenden Flüchtling? Und muß nicht dem Flüchtling Ge-
A SYL- U N D F LÜ C HTLI N G S P O LITI K I N D E R B R D
legenheit gegeben werden, diese gesetzliche Vermutung der Sicherheit zu widerlegen? Anwaltliche Vertretung sowie Kontakte zu Beratungsstellen hatten dazu geführt, daß in einigen Fällen Verfassungsbeschwerden gegen die sofortige Zurückschiebung eingelegt wurden. Das Bundesverfassungsgericht hatte vor seinen Entscheidungen vom 14.5.1996 in mehreren
Eilverfahren die Einreise trotz der Drittstaatenregelung zugelassen, da z. B. das
tschechische Asylverfahren die Klausel
beinhaltet, daß ein Asylverfahren nur bei
der Ersteinreise, nicht aber nach einer
Zurückweisung/Zurückschiebung
oder
Abschiebung durchgeführt wird. Denn,
würde von der tschechischen Republik ihrerseits eine Abschiebung durchgeführt,
wäre der von der Genfer Flüchtlingskonvention verbotene Tatbestand der Kettenabschiebung (‘Non-Refoulment-Gebot’)
gegeben. Der gleiche Vorbehalt gilt für
Griechenland. Griechenland praktiziert
ebenfalls eine Drittstaatenregelung, die
aber den vollständigen Ausschluß von
Asylverfahren zur Folge hat. So wird z. B.
iranischen Flüchtlingen, die über die Türkei nach Griechenland eingereist sind,
kein formelles Asylverfahren ermöglicht,
sondern statt dessen die Abschiebung in
die Türkei durchgeführt. Eine Zurückschiebung iranischer Flüchtlinge nach
Griechenland würde deshalb eine verbotene Kettenabschiebung bedeuten, da die
weitere Abschiebung in die Türkei und
von dort zurück in den Iran zu befürchten
ist. Kettenabschiebungen sind auch noch
auf Grund eines weiteren Tatbestandes zu
befürchten: Nicht nur die Bundesrepublik
hat mit allen Anrainerstaaten Rückübernahmeabkommen abgeschlossen, sondern auch alle Nachbarstaaten haben
ebenfalls Übernahmeabkommen mit wiederum ihren Nachbarstaaten ausgehandelt. Dies verschiebt die Asylgrenzen weiter nach Osten. Interessant in diesem Zusammenhang ist die Bewertung der Dritt-
staatenregelung durch das alte Bundesinnenministerium: „Die Drittstaatenregelung ist einer der Eckpunkte der Asylrechtsreform. Sie hat – allein schon durch
ihre Existenz – maßgeblich zu dem Rückgang der Asylbegehrenden im 2. Halbjahr
1993 beigetragen.“ ...und trägt immer
noch dazu bei.
Mit den Entscheidungen zum Asylrecht
hat am 14. Mai 1996 das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) festgestellt, daß sowohl die Drittstaatenregelung als auch die
Liste der sicheren Herkunftsländer verfassungskonform sind. Seitdem überprüft
niemand mehr, ob die als sicher geltenden
Drittstaaten tatsächlich sicher sind. Es
gibt zwar Rechercheberichte von Journalisten, es gibt Einzelfallschilderungen,
die die Sicherheit bezweifeln – dies gilt
aber nur für die jeweiligen Einzelfälle und
revidiert nicht den Grundsatz der Anwendung der Drittstaatenregelung. Dies
wurde folgerichtig von PRO ASYL als die
„Verwässerung eines Grundrechtes“ bezeichnet, bei dem der Einzelfall nicht
mehr zählt. Bei der Beurteilung der möglichen Verbesserungen durch die neue
Bundesregierung darf nicht vergessen
werden, daß diese Regelungen mit Stimmen großer Teile der SPD verabschiedet
wurden.
Noch schwieriger ist die Situation für
Frauen auf der Flucht. Weltweit sind die
meisten Flüchtlinge Frauen und Kinder –
sie sind die am ehesten und stärksten von
Kriegen, Bürgerkriegen, Krisen und Naturkatastrophen Betroffenen. Sie sind zudem zweifacher Verfolgung ausgesetzt.
Auf der einen Seite stehen alle Verfolgungsmaßnahmen, die auch Männer z. B.
wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit
oder ihrer Religion treffen können, zum
anderen werden sie auch als Frau, als Ziel
frauenspezifischer, sexueller Verfolgung
bedroht.
Die Bedingungen im Fluchtland
Deutschland sind dagegen nicht geeignet,
161
F L U C H T U N D M I G R AT I O N
hierauf adäquat zu reagieren. Frauenspezifische Asylgründe werden grundsätzlich
nicht anerkannt, obwohl die flüchtlingspolitische Forderung nach Anerkennung von
frauenspezifischen Fluchtgründen in den
Asylverfahren und/oder Berücksichtigung
dieser als Abschiebungshindernis von allen Initiativen, Menschenrechtsorganisationen und auch vom UNHCR erhoben
worden ist und nun auch in den Koalitionsvereinbarungen vom 20.10.1998 erwähnt ist.
Das Asylverfahren wird überwiegend
von männlichen Dolmetschern, Asylentscheidern und Richtern bestimmt. Die
psychosoziale Versorgung ist in der Bundesrepublik – mit Ausnahme weniger
Städte – mangelhaft. Therapiezentren für
traumatisierte und/oder vergewaltigte
Frauen fehlen. Ist ein geeigneter, regulärer Therapieplatz gefunden, gibt es meist
keine Kostenübernahmebereitschaft durch
die öffentliche Hand.
4.2 Das Flughafenverfahren nach
§ 18 a AsylVfG
Nicht erst seit der spektakulären Zurückschiebung der 7 sudanesischen Flüchtlinge vom Frankfurter Flughafen im
September 1995 steht das Flughafenverfahren gemäß § 18 a des Asylverfahrensgesetzes (AsylVfG) in der Kritik. Das Flughafenverfahren wird nur durchgeführt,
wenn
– der Flüchtling aus einem als sicher bezeichneten Herkunftsland16 kommt
– und/oder bei fehlenden oder verfälschten Papieren.
Entweder wird die Einreise gestattet
und eine Weiterleitung erfolgt in eine Aufnahmeeinrichtung oder eine Zurückschiebung wird durchgeführt.
Bei Einreise auf dem Luftwege (in den
Flughäfen Frankfurt, Berlin, München,
Hannover, Düsseldorf und Stuttgart) gibt
es auf dem Flughafengelände ‘exterrito162
riale’ Lager (§ 18 a AsylVfG i.V.m. § 74 a
AuslG) für die Flüchtlinge, die entweder
aus einem sogenannten ‘sicheren’ Herkunftsland kommen oder deren Reisedokumente fehlen oder ge- oder verfälscht
sind. Der Begriff exterritorial ist vielleicht
ein wenig irreführend, er erklärt aber am
einfachsten den Sachverhalt, daß diese
Flüchtlinge in der Einrichtung als noch
nicht eingereist gelten. Für sie gelten
dann Sonderregelungen (§ 18 a AsylVfG
i. V. m. § 74 a AuslG ). Bei ihnen wird im
Schnellverfahren über Asylantrag/Einreise entschieden. Es ist eine Verweildauer
von längstens drei Wochen in diesen
Flughafenlagern vorgesehen, die aber in
Einzelfällen immer wieder überschritten
wird.
An diese Fristen sind allerdings nicht
nur Flüchtlinge, sondern auch das Bundesamt und die Verwaltungsgerichte gebunden. So muß z.B. das Bundesamt die
Entscheidung innerhalb von 48 Stunden
fällen, anderenfalls ist dem Flüchtling die
Einreise zu gestatten. Der Flüchtling wiederum hat bei Ablehnung seines Asylantrages eine Rechtsmittelfrist für einen begründeten Eilantrag an das Verwaltungsgericht von 72 Stunden. Erst das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat in seinem
Urteil vom 14.5.1996 zur Flughafenregelung klargestellt, daß noch eine weitere
Frist zur Begründung der Klageschrift von
vier Tagen gewährt werden muß. Wenn
Rechtsmittel Aussicht auf Erfolg haben
sollen, kann dies nur bei Akteneinsicht gewährleistet werden. Daß diese extrem
kurzen Fristen die Arbeit der Rechtsbeistände erschweren, ist naheliegend, und
ein effektiver Rechtsschutz ist nur noch
unter schwierigsten Bedingungen zu gewährleisten.
Da es in der Bundesrepublik in Asylverfahren keine obligatorische Rechtsberatung gibt und Prozeßkostenhilfe17 nur bei
Aussicht auf Erfolg gewährt wird, kommt
den wenigen im Flughafengelände tätigen
A SYL- U N D F LÜ C HTLI N G S P O LITI K I N D E R B R D
AnwältInnen eine große Bedeutung zu.
Hier hat ebenfalls das BVerfG auf die
Notwendigkeit der Verfahrensinformation
hingewiesen. Der Einsatz von engagierten
AnwältInnen hat jedenfalls dazu geführt,
daß nur wenigen Flüchtlingen die Einreise
verweigert wurde18.
Da auch Minderjährige aufgrund einer
Anweisung des ehemaligen Bundesinnenministers in das sog. Flughafenverfahren
aufgenommen werden, kommt es zu den
unterschiedlichsten Problemen ( Flughafenverfahren). Zum einen wird die Altersbestimmung durch Handwurzelknochenröntgenuntersuchungen vorgenommen, deren Einsatz umstritten ist, da es
sich einerseits um eine Zwangsuntersuchung handelt, und andererseits deren
Genauigkeit nur Rückschlüsse auf das Alter mit einer Abweichung von plus/minus
zwei Jahren ermöglicht ( Altersfeststellung).19 Daneben kommt es zu sozialen
Härtefällen, wie z. B. dem eines 2-jährigen
Flüchtlingskindes aus Afghanistan, in dessen Fall vom befragenden BGS-Beamten
zu Protokoll gegeben wurde: „Das Kind ist
nicht in der Lage, auf die Fragen zu antworten.“ 20
4.3 Asylverfahren und Entscheidungspraxis beim Bundesamt
Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge bildet die Verwaltungsebene im Asylverfahren. Es klärt den
Sachverhalt und entscheidet, ob ein Asylverfahren durchgeführt wird. Das ist die
sogenannte Beachtlichkeitsprüfung. Hierbei ist entscheidend, ob bereits in einem
anderen Land ‘Sicherheit vor Verfolgung’
gefunden wurde oder ob die Einreise über
einen ‘sicheren Drittstaat’ erfolgt ist. In
diesen Fällen wird kein Asylverfahren
durchgeführt, und der Flüchtling wird sofort aufgefordert, die Bundesrepublik zu
verlassen. Wenn Rechtsmittel dagegen Erfolg haben oder wenn die Beachtlich-
keitsprüfung positiv ausgeht, kommt es zu
einem regulären Asylverfahren.
Durch eine Anhörung des Flüchtlings
klärt das Bundesamt, ob Asylgründe und
Abschiebungshindernisse vorliegen, und
entscheidet dann über den Asylantrag.
Nach dem geltenden Asylverfahrensrecht
entscheidet das Bundesamt:
1. über die Asylanerkennung nach Art.
16 a GG.
2. Über das sogenannte kleine Asyl, den
Abschiebungsschutz gemäß der Genfer
Konvention und
3. über die nicht-asyl-relevanten Abschiebungshindernisse nach § 5321 des Ausländergesetzes. Darüber hinaus kommt
dem Bundesamt die Aufgabe zu, bei
Nicht-Anerkennungen nach Art. 16 a
GG eine Abschiebungsandrohung22 und
im Falle der Einreise aus einem ‘sicheren Drittstaat’ eine Abschiebungsanordnung23 zu erlassen. Bei Entscheidungen über einen Asylantrag hat das
Bundesamt drei Möglichkeiten:
1. Es kann den Flüchtling anerkennen.
2. Es kann den Asylantrag als ‘unbegründet’ ablehnen, und
3. es kann den Asylantrag als ‘offensichtlich unbegründet’ (o. u.) ablehnen.
Im Rahmen der vorgesehenen mündlichen Anhörung ist dem Flüchtling Gelegenheit zu geben, zu seinen Asylgründen
und seit der Asylrechtsreform von 1992
auch zu seinen Abschiebungshindernissen
Stellung zu beziehen. Dieser Anhörung
kommt im Asylverfahren eine besondere
Bedeutung zu, da die Bundesamtsbefragung die ‘Sachaufklärungsebene’ im Asylverfahren darstellt. Später nachgereichte
Gründe können unberücksichtigt bleiben.
Aus dem Grunde fordern die Flüchtlingsorganisationen seit langem eine Verfahrensberatung gerade auch vor der ersten
Anhörung, um Flüchtlingen das komplizierte Verfahren sowie ihre Rechte und
Pflichten zu erläutern. In einigen Bundes163
F L U C H T U N D M I G R AT I O N
ländern, z. B. Niedersachsen, gibt es Verfahrensinformationszentren, entstanden
nach einem Modell des UNHCR, die bei
den Zentralen Ausländerbehörden bzw.
den Außenstellen des Bundesamtes angesiedelt sind. In diesen Beratungsstellen,
die staatlich finanziert sind, wobei aber
Wohlfahrtsverbände
Anstellungsträger
sind, arbeiten hauptamtliche SozialarbeiterInnen und DolmetscherInnen zusammen mit Ehrenamtlichen, die die Erstinformation für Flüchtlinge durchführen.
Materialien, Videos, Broschüren und
Handzettel über den Ablauf der Asylverfahren, über Rechte und Pflichten der Beteiligten sind in den Sprachen der Hauptherkunftsländer vorrätig. Die in allen eingerichteten Zentren erfahrene anfängliche Skepsis von Seiten der Verwaltung
wich im Laufe der Zeit einer Kooperation,
von der sowohl die Verwaltung – nach eigenem Bekunden – als auch die Flüchtlinge profitierten.24
Verfahrensberatung setzt im günstigsten Fall vor dem Asylverfahren an und
begleitet Flüchtlinge während der gesamten Dauer des Verfahrens. Die Erfahrung
zeigt aber, daß aufgrund fehlender Beratungsstellen in den Außenstellen des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (BAFl) die Verfahrensberatung häufig erst nach Ablehnung des
Asylantrages vorgenommen wird. Dies
kann die Chancen auf Anerkennung des
Asylantrages wesentlich beeinflussen.
Einhergehend mit der Gefahr, direkt an
der Grenze zurückgewiesen zu werden,
nimmt die Zahl derjenigen Flüchtlinge zu,
die keine Chance auf ein faires Asylverfahren mehr sehen und als ‘heimliche
Menschen’, ohne einen ausländerrechtlichen Status zu überleben versuchen (
Illegalität). Die oft unzureichende Entscheidungs- und Spruchpraxis von Bundesamt und Verwaltungsgerichten erzeugt
ebenfalls ‘heimliche Menschen’. Die
Fluchtgründe haben sich nicht geändert,
164
viele Flüchtlinge können nicht in ihr Herkunftsland zurückkehren, sie ‘tauchen unter’, wie es verwaltungstechnisch heißt.
Sie werden per Haftbefehl gesucht und
wenden sich vermehrt an die Beratungsstellen.
Verallgemeinern lassen sich die Erfahrungen in bezug auf die Qualität von Anhörungen und Entscheidungen nicht, dazu
gibt es zu viele Unterschiede. UNHCR, amnesty international und PRO ASYL rügen
aber seit der Asylrechtsnovelle immer
wieder die Anhörungspraxis bzw. die Befragungspraxis des Bundesamtes. So sollte durch die Frage nach der ‘Wahrscheinlichkeit eines Lottogewinnes in der
Bundesrepublik’ in der Anhörung eines
der sieben oben angesprochenen Sudanesen festgestellt werden, ob er in seinem
Heimatland Mathematikstudent sei. Fragen z. B. nach einem fehlenden Ehering
stehen stärker im Vordergrund als die
asylrelevante Aufklärung der Einlassungen der Betroffenen z. B. in bezug auf ihre
Folterspuren. Mit einer solchen Sachaufklärung korrespondiert dann auch die
Entscheidungspraxis des Bundesamtes.
Der UNHCR stellt ebenso wie amnesty international fest, daß die rechtliche Würdigung der Verfolgungsschicksale vom Bundesamt nur unvollständig geschieht.25
Summarisch läßt sich feststellen, daß in
vielen Fällen dem Amtsermittlungsgrundsatz26 nicht entsprochen wird, daß die
Sachaufklärung unzureichend ist und daß
die Bewertungen der Asylanträge oft juristisch fehlerhaft und/oder ungenau ausfallen.
In vielen Bundesamtsentscheidungen
sowie der Rechtsprechung gibt es noch
weitere Problembereiche. Weder die Anerkennung nach Artikel 16 a GG noch die
Zuerkennung von Abschiebungshindernissen gemäß § 51 Abs. 1 AuslG, das sogenannte kleine Asyl gemäß der Genfer
Flüchtlingskonvention, wird bei der sogenannten nichtstaatlichen Verfolgung ge-
A SYL- U N D F LÜ C HTLI N G S P O LITI K I N D E R B R D
währt. So wird Flüchtlingen aus Ländern,
in denen keine Staatsgewalt zu verzeichnen ist, so z. B. Afghanistan und Somalia,
diese Rechtsstellung generell verweigert.
Lediglich eine ausländerrechtliche Duldung auf der Basis des § 53 AuslG kann
erteilt werden. UNHCR und die gesamte
Flüchtlingslobby fordern hier politische
Korrekturen. Die geringen, derzeit bei ca.
4 % liegenden Anerkennungsquoten des
BAFl,27 geben also nur bedingt Auskunft
über die Schutzbedürftigkeit von Flüchtlingen. Die nichtöffentlichen Lageberichte
des Auswärtigen Amtes spielen sowohl bei
der Einschätzung der politischen Lage in
den Herkunftsländern als auch bei der
Frage einer möglichen Rückkehrgefährdung eine bedeutende Rolle. Hier bleibt
abzuwarten, ob die Berichte zur Menschenrechtslage in Zukunft detaillierter
und wirklichkeitsnäher ausfallen werden.
Leider ist zu konstatieren, daß eine auf
Akzeptanz zielende Öffentlichkeitsarbeit
immer noch vergeblich auf Bundesebene
zu suchen ist.
4.4 Die Aufenthaltsbeendigung
Wenn Flüchtlinge in den Asylverfahren
unanfechtbar erfolglos bleiben, droht,
schon aus der Systematik des Ausländergesetzes, die Abschiebung. Die Kompetenzen für die Aussetzung einer Abschiebung liegen einmal – zwar eingeschränkt
(s. u.) – auf der kommunalen Ebene bei
der Ausländerbehörde, bei Entscheidungen, die eine bestimmte Nationalität oder
Gruppe betreffen, aber auf Bundesebene28. Hier werden in der Innenministerkonferenz der Länder bundesweit geltende Abschiebungsstopps vereinbart, auch
können, wie bei bosnischen Kriegsflüchtlingen, Staffelungen für die Abschiebungstermine vorgenommen werden.
Das Bundesinnenministerium ist frei in
der Gestaltung dieser Abschiebungsstopps, aber da politische Rücksichtnah-
men auf die Bundesländer und eine Zurückhaltung bei der Zusicherung der Kostenübernahme zu verzeichnen ist, werden bundesweit geltende Abschiebungsstopps nur sehr selten erlassen. Das bedeutet, daß eine Abschiebung lediglich
„vor Ort“ verhindert werden kann.
Die eng gefaßten Vorschriften des allgemeinen Ausländerrechts ermöglichen
kaum einen Spielraum, wenn es um humanitäre Gründe für ein weiteres Verbleiben im Bundesgebiet geht29. Hier ist die
Politik gefordert, Nachbesserungen im
Ausländerrecht vorzunehmen. Vor dem
Hintergrund der innenpolitischen Debatte
erscheint dies aber leider eher unwahrscheinlich.
Eine Ausnahme bilden die sogenannten
Altfallregelungen. Zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Artikels ist eine in den Koalitionsvereinbarungen verabredete Altfallregelung in der Planung, deren genaue
Ausgestaltung aber noch nicht bekannt
ist. Entscheidend wird die Zahl der davon
Begünstigten sein. Von der Altfallregelung, die im März 1996 verabschiedet
wurde, sind lediglich 7.800 Personen begünstigt worden. Eine Größenordnung,
die mehr als 50.000 Flüchtlinge umfassen
würde, ist wohl nicht zu erwarten.
Natürlich hat es auch in der Vergangenheit nicht nachvollziehbare Urteile,
Beschlüsse, Entscheidungen und Abschiebungsverfügungen gegeben. Ich verweise
an dieser Stelle auf ein Zitat vom Landesanwalt Dr. Synschab eine Ausweisung
betreffend:
„Es verletzt auch nicht die Menschenwürde, wenn jemand beim Eintritt ungewisser Ereignisse im Heimatland, inhaftiert, mißhandelt oder gar getötet wird.“
Inhaftierungen, Mißhandlungen und Tötungen mögen an sich die Menschenwürde
verletzen, sind aber nicht der Behörde zuzurechnen, die die Abschiebung veranlaßt
hat.“ 30
Auf die vielen Erfahrungen mit man165
F L U C H T U N D M I G R AT I O N
gelnden Abschiebungsschutzmöglichkeiten, die Flüchtlinge und die sie Unterstützenden machen, die, gerade wenn es
um Aufenthaltssicherung geht, immer
wieder bei der Verwaltung und den Verwaltungsgerichten scheitern, sei an dieser
Stelle ausdrücklich hingewiesen.
Inwieweit Flüchtlinge und MigrantInnen im öffentlichen Diskurs stehen, belegt
das folgende Beispiel. Im Nachgang zu
den Protesten wegen der Inhaftierung des
Kurdenführers Öçalan in der Türkei erklärte Bundesinnenminister Schily, es
werde harte Strafen und notfalls die Ausweisung von gewalttätigen KurdInnen geben. Sie würden den Krieg von der Türkei
in die Bundesrepublik tragen und könnten
daher den Schutz des Gastlandes nicht
länger in Anspruch nehmen. Unberücksichtigt bleibt, daß gerade diese Menschen, zumeist Angehörige der 2. und 3.
Generation der ‘Eingewanderten’, keine
verschiebbare Masse darstellen, die man
je nach Wohlverhalten oder Bedarf hierbehalten oder ausweisen kann; sie sind
ein fester Bestandteil der Bevölkerung.
Die permanente Verletzung der Menschenrechte in der Türkei, seit Jahren öffentlich geleugnet oder zumindest heruntergespielt, der angedrohte Genozid am
kurdischen Volk mit Hilfe Deutscher Waffen, deren Einsatz gegen die KurdInnen
stets heftig bestritten wurde, lassen nur
den Schluß zu, Abschiebungen von KurdInnen in die Türkei sind unzulässig und
müssen daher untersagt werden. Die bisherige Praxis der Verwaltung und der
Verwaltungsgerichte hatte aber schon mit
dem Rechtskonstrukt der vorgeblichen inländischen Fluchtalternative in der Westtürkei Abschiebungen möglich gemacht.
5. Asylpolitik auf Landesebene
Bedingt durch die rechtlichen Vorgaben
der Bundesebene sind die Gestaltungsmöglichkeiten auf Landesebene wesent166
lich geringer aber keineswegs unerheblich. Verantwortlichkeiten lassen sich in
folgenden Bereichen feststellen:
– Festlegung des Verteilungsschlüssels
für die Unterbringung in den Gemeinden
– Festlegung der Erstattungsbeträge für
kommunale Sozialhilfekosten
– Festlegung der Betreuungsgelder
– Einrichtung und Unterhaltung der Landesaufnahmeeinrichtungen
– Umfang der Finanzierung von nichtstaatlichen Flüchtlingsorganisationen
– Einrichtung und Unterhalt von Abschiebungshaftanstalten
– Einrichtung von Härtefallkommissionen
– Interpretation und Präzisieren der bundesweit geltenden Gesetze und Erlasse
durch Ländererlasse in den Bereichen
Aufenthaltsverfestigung, Aufenthaltsbeendigung, Art und Hilfe der Leistungsgewährung sowie einzelner Themenprojekte
– Einflußnahme auf Bundesregelungen
durch die Beteiligung an der Innenministerkonferenz der Länder sowie über
die Arbeit im Bundesrat
Die Positionen zum Thema Flüchtlinge
und die Bereitschaft, finanzielle Aufwendungen über die Pflichtleistungen hinaus
zu gewähren sind abhängig von den jeweiligen Mehrheitsverhältnisse in den
Landesregierungen. Daraus resultiert auch
eine kontroverse Haltung bei den Verhandlungen in der Innenministerkonferenz und im Bundesrat.
Am Beispiel Art und Hilfe der Leistungsgewährung lassen sich Unterschiede der Landespolitik besonders gut verdeutlichen. In den Koalitionsvereinbarungen von SPD und Bündnis90/Die Grünen
in NRW 1995 wird den Kommunen freigestellt, trotz des Sachleistungsprinzipes
Barleistungen an Flüchtlinge zu tätigen.
Damit wird den Kommunen ein Ermessensspielraum gewährt, der in den meisten Bundesländern fehlt.
A SYL- U N D F LÜ C HTLI N G S P O LITI K I N D E R B R D
Eine besondere Bedeutung hat die Landesebene auch bei den Abschiebungen.
Zwar hat die Landesebene keine – über
sechs Monate hinausgehende31 – Befugnis,
die Abschiebung von Flüchtlingen aus bestimmten Staaten oder besonderen Gruppen auszusetzen, dafür ist der Spielraum
für Lösungen in Einzelfällen aber beträchtlich ( Härtefallkommission). So ist
in einem Erlaß des Innenministeriums
NRW auf einen Beschluß des OVG Münster
hingewiesen worden, nach dem ein hier
geborenes Kind und seine Mutter zumindest einen Anspruch auf eine sechsmonatige Duldung haben. Desweiteren ist in einem Erlaß auch geregelt, daß unter bestimmten Bedingungen gleichgeschlechtliche Beziehungen einen Abschiebungsschutz haben. Oft sind es nur Nuancen,
die die Unterschiede in den Ländern ausmachen, die aber in der Arbeit mit Flüchtlingen eine große Rolle spielen.
Auch auf Landesebene ist es bedeutsam, ob die Politik sich des Themas behutsam annimmt oder der Ministerialverwaltung überläßt. Wesentliche Impulse gehen
hier – leider – fast ausschließlich von
Bündnis 90/Die Grünen aus. Ein Blick
nach Niedersachsen verdeutlicht, daß mit
dem Ausscheiden von Bündnis 90/Die
Grünen die Finanzierung für die Flüchtlingssozialarbeit erheblich reduziert wurde und das Innenministerium die Kooperationswilligkeit, mit der Flüchtlingslobby
gemeinsam für adäquate Lösungen zu arbeiten, deutlich verringert hat. Auch werden die Möglichkeiten positiver Öffentlichkeitsarbeit zum Thema Flüchtlinge zu wenig bis gar nicht genutzt. Statt dessen wird
von Vollzugsdefiziten unverzüglich notwendig gewordener Abschiebungen, von
Mißbrauch und Kriminalität gesprochen.
Eine gezielte Aufklärung der Bevölkerung
findet nicht statt.
6. Asylpolitik in der Kommune
Die politische Ebene der Kommune ist das
Kommunalparlament. Die Entscheidungskompetenz des Stadtrates oder des Kreistages liegt im Wesentlichen bei den Fragen der Unterbringung und der Sozialhilfepraxis. Da die Arbeit der kommunalen Ausländerbehörden nicht im Bereich
der kommunalen Selbstverwaltung liegt,
ist sie Auftragsverwaltung und setzt die
Bundes- und Landesvorgaben mit nur eingeschränktem Handlungsspielraum um.
Daraus resultiert ein sensibles Wechselspiel zwischen Politik, der Verwaltung und
der Flüchtlingsarbeit in Initiativen und
Verbänden. Die Gestaltungsmöglichkeiten
auf kommunaler Ebene sind:
– Aufwendungen für die Betreuung
– Initiativen im Städtetag und zur Landesregierung
– Finanzierung der freien Träger und Initiativen
– Kooperation mit den freien Trägern
und Initiativen
– Medizinische Versorgung
– Öffentlichkeitsarbeit
– Sozialhilfepraxis
– Unterbringung
Geringe öffentliche Mittel und der meist
niedrige Stellenwert des Themas Flüchtlinge innerhalb der Kommunalpolitik sind
eine wesentliche Ursache für die vielfach
katastrophalen Bedingungen z. B. in der
Unterbringung. Gerade Unterbringung,
Betreuung und die Sozialhilfepraxis liegen
im Kernbereich der Regelungskompetenz
der Kommunen, aber nur wenige Städte
machen sich den Sachverstand und die
Kompetenz der nichtstaatlichen Flüchtlingsorganisationen zu Nutze, in dem sie
sie mit in die kommunale Planung einbeziehen. Aus diesem Grunde divergiert
auch die Sozialhilfepraxis von der Gemeinschaftsverpflegung über Gutscheinpraxis bis hin zur vollständigen Leistungsgewährung in bar. Auch gibt es Kommunen, die in Fragen der Abschiebungs167
F L U C H T U N D M I G R AT I O N
praxis den Ausländerbehörden den Dialog
mit den Initiativen nahelegen oder durch
Ratskommissionen oder „runde Tische“
erzeugen. Die kommunale Ebene ist hierfür aus dem Grunde besonders geeignet,
weil es um konkret anwesende Menschen
und ihre Schicksale geht, und dadurch oft
bessere Überzeugungsarbeit möglich
wird.
Die kommunalen Ausländerbeiräte und
der Grad ihrer Einbindung in kommunalpolitische Entscheidungsabläufe sind
ebenfalls entscheidende Faktoren die helfen, das Thema Flüchtlinge positiv zu besetzen und machbare Lösungen herbeizuführen.
7. Schlußbemerkung
Die Politik der Einreiseverhinderung, der
Abschottung, ergänzt durch die Abschrekkung, praktiziert vor allem durch das
Asylbewerberleistungsgesetz nach dem
Prinzip, den Aufenthalt so unangenehm
wie möglich zu gestalten – koste es, was es
wolle – und die Praxis der immer rigider
durchgeführten Abschiebungen, benötigt
zwei Komponenten, um umgesetzt werden zu können: Die ‘Schüblinge’, wie sie
im Amtsdeutsch heißen, müssen diskriminiert, diskreditiert und kriminalisiert werden und man benötigt Abschiebungshaftanstalten.32 Flüchtlinge, die in Lagern konzentriert werden, erfahren keine Solidarität mehr. Es sei daran erinnert, daß bei
dezentraler Unterbringung von Flüchtlingen, die die Flüchtlingsbewegung stets
gefordert hat, Flüchtlinge zu Nachbarn
werden. Wenn dann Flüchtlinge abgeschoben werden sollen, sind diese Maßnahmen oftmals am beherzten Widerstand von FreundInnen und Nachbarn gescheitert. Aber wer geht schon einmal
ganz spontan in ein Flüchtlingslager, das
zudem auch noch Stacheldrahtumzäunung und eine Eingangskontrolle vorweisen kann.
168
Aus der langjährigen Erfahrung in der
Flüchtlingsarbeit, auch in der Vernetzung
mit anderen Initiativen, Gruppen, Vereinen etc. lassen sich deutlich übereinstimmend erfahrene Problemzonen benennen:33
1. Flüchtlinge haben keine Lobby (Stichworte: Multikultur, Einwanderung, Doppelte Staatsbürgerschaft, Bleiberecht
unterhöhlt Asylkompromiß).34
2. Niemand bekämpft nachhaltig Fluchtursachen (BosnierInnen; Roma; KurdInnen).
3. Flüchtlingsarbeit und unabhängige Beratungsstellen werden kaum finanziert.
4. Verfahrens-, Entscheidungs- und Anerkennungspraxis in den Asylverfahren
werden
den
Flüchtlingen
nicht
gerecht.35
5. Durch restriktive Rechtsprechung einhergehend mit der Einengung des Art.
16 a GG. haben nur noch wenige
Flüchtlinge Aussicht auf Asylanerkennung. Die Anerkennungsquoten spiegeln daher nur die enge Auslegung,
nicht aber die tatsächlich erlittene Verfolgung wider.
6. Strukturelle Gewalt gegen Flüchtlinge
und MigrantInnen ist im administrativen Sprachgebrauch z. B. in den Mitteilungen des nordrhein-westfälischen
Städte- und Gemeindebundes vom
20.10.199036 sowie bundesweit im Ausländergesetz, im Asylverfahrensgesetz,
im Asylbewerberleistungsgesetz, bei
der Unterbringung und in der Sozialleistungspraxis anzutreffen. Ebenso ist
rassistisch geprägtes Wortgut auch bei
Behörden37 vorzufinden.
7. Die Sündenbockfunktion der wirtschaftlich Schwachen und damit die
Entsolidarisierung einzelner Gruppen
wie Sozialhilfeberechtigten, Arbeitslosen etc. wird gefördert.
Die Flüchtlingsschicksale, und die von
mir geschilderten rechtlich/politischen Bedingungen, stellen die Unterstützungsbe-
A SYL- U N D F LÜ C HTLI N G S P O LITI K I N D E R B R D
wegung vor neue Herausforderungen.
Kirchenasyl muß, trotz der heftigen Kritik,
ein Mittel des zivilen Ungehorsams bleiben, und wenn, wie beschrieben, geltendes Recht für Flüchtlinge gegenstandslos
wird, haben wir erst recht die Verpflichtung zum Widerspruch und zum Widerstand. Wir haben aber somit auch eine
moralische Verpflichtung zum Handeln.
Die Angst vor Konsequenzen darf für unseren friedlichen Widerstand kein Hindernis sein. Und wir werden weiterhin für
Gleichberechtigung und die Einhaltung
der Menschenrechte eintreten mit der unerschöpflichen Kraft der Liebe.
Anmerkungen
1 Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskonvention) vom 28. Juli
1951 (BGBl. II 1953, S. 559, Bekanntmachung vom
28.4. 1954, BGBl. II, S. 619; mit dem Zusatzprotokoll vom 31.1. 1967, in Kraft getreten am 5.11.
1969 (BGBl. II S. 1293).
2 Konvention zum Schutze der Menschenrechte und
Grundfreiheiten (EMRK) vom 4. November 1950,
verkündet mit Gesetz vom 7. August 1952 (BGBl. II,
S. 685).
3 Gesetz über die Einreise und den Aufenthalt von
Ausländern im Bundesgebiet (Ausländergesetz )
vom 9. Juli 1990 (BGBl. I, S. 1354) in der Fassung
vom 29. Oktober 1997 (BGBl. I, S. 2584).
4 Asylverfahrensgesetz (AsylVfG) vom 27. Juni 1993
(BGBl. I, S. 1361) geändert durch Gesetz vom
29.10.1997 (BGBl. I; S. 2584).
5 In diesen Ausführungen bleibt die detaillierte Entwicklung der Asylpolitik bis zur Asylrechtsreform
des Jahres 1993 aus Platzgründen unberücksichtigt. Vgl. hierzu: Ursula Münch „Asylpolitik in der
Bundesrepublik Deutschland“, Opladen 1992.
6 In den Art. 28 bis 38 des Schengener Durchführungs Übereinkommens (SDÜ) ist detailliert geregelt, welches Land unter welchen Bedingungen
zuständig für die Durchführung eines Asylverfahrens ist. In der Bundesrepublik hierfür zuständig
ist das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge. Dort wurde eine Koordinierungsstelle ‘Schengen-Dublin/Internationale Auf-
gaben (KSD/IA)’ eingerichtet. Die Aufgaben der
KSD/IA sind: Stellung von Übernahmeersuchen
an andere Vertragsstaaten. Die Entscheidung über
Übernahmeersuchen anderer Vertragsstaaten.
Und die Regelung der Verfahren im Zusammenhang mit der Überstellung von Asylbewerbern.
Das BAFl macht dies bei Vorliegen folgender
Voraussetzungen: Der Asylantrag kann binnen 2
Wochen als offensichtlich unbegründet entschieden werden oder der Asylantrag wird als unbeachtlich gemäß § 29 AsylVfG eingestuft, oder die
Einreise erfolgte über einen sicheren Drittstaat,
der kein Schengen Staat ist und die Rückführung
in Dritt- oder Heimatstaat kann zügig erfolgen.
7 ‘Dubliner Abkommen’, das im Juni 1990 von allen
EG-Staaten unterzeichnet wurde, kann als Ergänzung zum ‘Schengener Abkommen’ angesehen
werden und heißt im Volltext: ‘Übereinkommen
über die Bestimmung des zuständigen Staates für
die Prüfung eines in einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft gestellten Asylantrags.’
Damit ist bereits im Titel das Ziel des Abkommens
genannt. Das ‘Dubliner Abkommen’ regelt, welcher EG-Staat für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Hierbei sind zwei Kriterien
festgeschrieben: Zum einen ist der Staat zuständig, dessen Boden als erstes von dem neu ankommenden Flüchtling betreten wird. Zum anderen
der Staat, der dem Flüchtling ein Visum ausgestellt
oder ihm eine Aufenthaltsgenehmigung erteilt hat.
Zu bedenken ist hierbei, daß die Auslandsvertretungen die Visaerteilung bei Flüchtlingen äusserst restriktiv handhaben und die Erteilung von
Aufenthaltsgenehmigungen die absolute Ausnahme darstellen. Die Zuständigkeit für die Bearbeitung von Asylanträgen ist vor allem für die Bundesrepublik Deutschland von erheblicher Bedeutung.
8 Vgl. § 29 a AsylVfG sowie Anlage II (zu § 29 a).
9 Gemeint ist damit die vorübergehende Aufnahme
bei Massenflucht z. B. in einer Kriegs- oder Bürgerkriegssituation. Am Beispiel des Umgangs mit
bosnischen Flüchtlingen läßt sich hervorragend
aufzeigen, daß die Bundesrepublik im Einklang mit
der EU immer stärker auf diese vorübergehende
Aufnahme von Flüchtlingen hinarbeitet. Dies bedeutet, daß jeder aufenthaltsperspektivische Ansatz für Flüchtlinge äußerst schwierig ist. Die zuständigen EU-Minister sind sich einig, daß nach
einer gewissen Zeit – z. B. nach einem Friedensabkommen – Flüchtlinge wieder in ihr Herkunftsland zurückkehren müssen. Dies erlaubt keine Lebensplanung, die ständig drohenden Abschiebun-
169
F L U C H T U N D M I G R AT I O N
gen macht auch die psycho-soziale Versorgung
fast unmöglich. Somit müssen in jedem Einzelfall
individuelle Lösungen erarbeitet, d. h. beantragt
und gegebenenfalls juristisch erstritten werden.
Dadurch erhalten Fragen, insbesondere nach einer Weiterwanderung eine neue Aktualität – und
das bei abnehmender Bereitschaft der klassischen
Einwanderungsländer, Flüchtlinge in ihre Einwanderungsprogramme aufzunehmen.
10 Beide Regelungen haben schon rein zahlenmäßig
keine Entlastung gebracht. Weniger als 10.000
Flüchtlinge sind nach Angaben des LMI NRW –
Auskunft von MR Engel gegenüber der Härtefallkommission am 14.1.1999 – von diesen Regelungen begünstigt worden. Eine weitere – einmalige
Altfallregelung ist im Koalitionsvertrag angekündigt und wird voraussichtlich ebensowenig den
Forderungen der Flüchtlingslobby nach Würdigung von humanitären Bleiberechtsregelungen
entsprechen.
11 Theoretisch deshalb, weil selten ein Flüchtling die
Landgrenze im Beisein eines Rechtsbeistandes mit
Mobilfax überschreitet, um einen notwendigen
Stoppantrag, eine einstweilige Anordnung, an das
zuständige Verwaltungsgericht abzusenden.
12 Hier sind vor allem die Personalerhöhung des Bundesgrenzschutzes (BGS) entlang der Ostgrenzen,
der Einsatz von Hundestaffeln und Nachtsichtgeräten sowie die Mitwirkung der Bevölkerung bemerkenswert, die den Behörden beim ‘Stellen’ der
‘Illegalen Zuwanderer’ behilflich ist.
13 Asylerfahrungsbericht 1994.
14 Wie weit diese unterschiedlichen Positionen auseinanderliegen, läßt sich am BMI Asylerfahrungsbericht 94 ablesen, in dem der Innenminister auf
einen Ratgeber von PRO ASYL hinweist, daß dort
den Beratern nahe gelegt wird, Flüchtlingen klarzumachen, daß das Preisgeben ihres Reiseweges
den Ausschluß vom Verfahren und möglicherweise die sofortige Zurückschiebung zur Folge haben
könnte. Asylerfahrungsbericht 1994.
15 In den Rückübernahmeabkommen verpflichten
sich die Unterzeichnerstaaten gegenüber der Bundesrepublik Deutschland, diejenigen Flüchtlinge,
die über den jeweiligen Staat nach Deutschland
eingereist sind, für deren Asylantrag sich die Bundesrepublik aber nicht zuständig erklärt, zurückzunehmen und ihrerseits ein Verfahren durchzuführen. Eine zweite Form der Rückübernahmeabkommen bezieht sich auf Angehörige des Vertragspartners der Bundesrepublik. Die Abkommen
mit der Bundesrepublik Jugoslawien und mit Bos-
170
nien sind aktuell sehr bedeutsam, da mit dem
Funktionieren zügige Rückführungen (gemeint
sind Abschiebungen) möglich sind. Als Gegenleistung hat sich die Bundesrepublik z. B. bei dem
Abkommen mit Polen verpflichtet, diesem Staat eine vertraglich ausgehandelte Summe zu zahlen.
Mit Hilfe dieser Rückübernahmeabkommen sollen
sowohl die Lücke in den Grenzen nach Osteuropa
geschlossen werden, die durch die Vereinigung
und den Wegfall der innerdeutschen Grenze entstanden ist als auch sogenannte Verzugsdefizite
bei den Abschiebungen abgebaut werden.
16 Vgl. Anlage II zu § 29 a AsylVfG, die sog. safe countries.
17 Prozeßkostenhilfe gibt es nicht beim Verwaltungsverfahren beim Bundesamt. Beim Verwaltungsgerichtsverfahren gibt es sie nur bei Mittellosigkeit
und der oben erwähnten Aussicht auf Erfolg. Die
Praxis z. B. am Frankfurter Flughafen belegt, daß
ohne Fremdfinanzierung keine anwaltliche Hilfe zu
erreichen ist, da Flüchtlingen mit der Ablehnung
vom Bundesamt nur der Hinweis auf einen öffentlichen Fernsprecher und eine Liste aller Anwälte
(Asylanwälte nicht gesondert gekennzeichnet) in
Frankfurt ausgehändigt wird. Dies geschieht, um
vordergründig der Rechtswegegarantie des Grundgesetzes (Artikel 19.4.) zu genügen.
18 Vgl.: Bericht des Bundesministerium des Innern
zur Fortschreibung des Asyl-Erfahrungsberichts
1993 – Asyl-Erfahrungsbericht 1994, S. 23. Von
5.402 Asylgesuchen auf Flughäfen sind 377 Zurückweisungen zu verzeichnen und davon 191 Fälle nach § 18 a AsylVfG.
19 Für bundesweites Aufsehen sorgten mehrere Fälle
in Bremen, in denen junge Westafrikaner zwangsweise geröntgt wurden, um über das Knochenwachstum ihr Alter bestimmen zu können. Zwei
junge Männer sind in Bremen vor Gericht von dem
Vorwurf der ‘vorsätzlichen mittelbaren Falschbeurkundung’ freigesprochen worden. Über diese Fälle
des Zwangsröntgens wurde in Fernsehreportagen
Anfang Oktober 1995 berichtet. Vgl. hierzu auch
den Artikel „Röntgen-Streit in der Klinik“. In: taz
Bremen vom 27. September 1995.
20 Kurzdokumentation unbegleitete minderjährige
Flüchtlingskinder am Frankfurter Flughafen, Januar bis Juni 1995. Vorgelegt vom Frankfurter
Flughafensozialdienst. 27.7.1995. Fall Nr.: 11.
21 § 53 AuslG regelt Abschiebungsschutz bei Gefahr
von Folter oder Todesstrafe sowie bei Auslieferung.
Die ‘Europäische Menschenrechtskonvention’
(EMRK) ist ebenfalls Prüfnorm nach diesem Paragraphen.
A SYL- U N D F LÜ C HTLI N G S P O LITI K I N D E R B R D
22 Die Abschiebungsandrohung gemäß § 34 AsylVfG
setzt die §§ 49 ff AuslG asylrechtlich um. Erst seit
dem 1.7.1992 ist dies Aufgabe des Bundesamtes.
Es handelt sich hierbei um eine Ordnungsverfügung, im Detail um eine Ausreiseaufforderung. Sie
ist mit der Drohung verbunden, im Falle der nicht
freiwilligen Ausreise die Ausreiseverpflichtung auf
dem „Wege des unmittelbaren Zwanges“ durch
die Abschiebung durchzusetzen. In der Abschiebungsandrohung soll der Staat angegeben werden, in den die Abschiebung erfolgen soll.
23 Die Abschiebungsanordnung nach § 34 a AsylVfG
kann im Gegensatz zur Abschiebungsandrohung
nicht mit Eilanträgen an das Verwaltungsgericht
(§§ 80.5 oder 123 VwGO) angefochten werden.
24 Vgl.: Rundbrief des Niedersächsischen Flüchtlingsrates Nr. 30/95, Göttingen 1995.
25 Vgl.: PRO ASYL: Hefte zum ‘Tag des Flüchtlings’
1994, 1996 und 1998 und: PRO ASYL: Vor der Tür
des Gesetzes. Der Streit um die Zurückschiebung
sudanesischer Flüchtlinge. Dokumentation eines
Einzelfalles. Frankfurt/Main Oktober 1995, und:
Gaus, G. et al. (Hg.): Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 11 ‘95. Blätter Verlagsgesellschaft, Bonn 1995, S. 1348 ff.
26 Vgl. § 24 VwVfG.
27 Dazuzurechnen sind noch einmal 2 % Anerkennungen gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention
sowie die Anerkennungen durch die Verwaltungsgerichte, insgesamt etwa 25 – 30 %.
28 Vgl. hierzu: Volker Maria Hügel, Flüchtlinge beraten – ein Orientierungskurs mit Schulungsmaterialien im Ausländerrecht, Teil I und Teil II, GGUA
Münster 1998.
29 vgl. hierzu: PRO ASYL, Mindestanforderungen an
ein neues Asylrecht. Mai 1998.
30 Zitiert nach: Büro für notwendige Einmischungen
(Hg.) Anleitung zum politischen Ungehorsam, S.
352 ff, Hamburg 1993.
31 Vgl. § 54 AuslG.
32 Hügel, V. M.: In einem Vortrag auf der Tagung ‘Europäisierung der Asylpolitik’ im Dezember 1995 in
der Evangelischen Akademie in Mülheim. „Den
Ausländerbehörden wird durch die fast regelmäßige Verhängung von Abschiebungshaft der Zugriff
auf Flüchtlinge erheblich erleichtert. Es kommt
hierbei zu einem Konflikt zwischen dem Anspruch
der Bundesrepublik, Flüchtlinge, die kein Asyl erhalten haben, abschieben zu wollen, und dem hohen Rechtsgut der persönlichen Freiheit der
Flüchtlinge. Leider verhängen die zuständigen
Amtsrichter – die mit dem asyl- und ausländerrechtlichen Verfahren nicht befaßt sind – Abschiebungshaft im Eiltempo.“
Fehlende Rechtsbeistände der Flüchtlinge bei den
Terminen vor den Haftrichtern und fehlende Richtlinien für die Verhängung von Abschiebungshaft
kennzeichen die schwierige Situation der Flüchtlinge und derjenigen, die sich für sie einsetzen. Ein
weiterer Einschnitt in das Persönlichkeitsrecht von
Flüchtlingen besteht in zahlreichen Problemen der
Ausgestaltung der Haftanstalten und in der Praxis
des Haftalltags. So wird z. B. der Zugang zu den
Hafthäusern durch die JVA-Verwaltungen sehr beschränkt. Ein Besuch ist nur möglich, wenn der
Name eines inhaftierten Flüchtlings genannt wird.
Die Besuchszeit ist auf 1 Stunde im Monat beschränkt.
33 Die nachfolgende Aufzählung hat keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sie soll lediglich ein
paar Schlaglichter auf die Diskussionen werfen,
die in den meisten Flüchtlingsinitiativen geführt
werden.
34 Die damalige positive Akzeptanz und Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung gegenüber bosnischen
Kriegsflüchtlingen darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß die übrigen Flüchtlinge kaum Unterstützung erfahren und keine Lobby haben. Wellen
von Hilfsbereitschaft hat es mehrere in der Vergangenheit gegeben. Sie sind in ihrer Wirkung a)
sehr kurzzeitig und b) haben nicht zu einem
grundsätzlichen Umdenken geführt. Diese reinen
humanitären Hilfsaktionen sind zwar wichtig, dürfen aber nicht anstelle von anderen, ebenfalls
wichtigen und notwendigen politischen Aktionen
durchgeführt werden.
35 Vgl. hierzu die Veröffentlichungen vom ökumenischen Vorbereitungsauschuß sowie von PRO
ASYL anläßlich der Woche des ausländischen Mitbürgers und zum Tag des Flüchtlings 1988 bis
1998.
36 Dort heißt es: „Die Landesregierung appelliert an
die Städte und Gemeinden, soweit irgend möglich,
in den von ihnen betriebenen Unterkünften zur
Unterbringung von Asylbewerbern und De-FactoFlüchtlingen ebenfalls für einen „abschreckenden“
Effekt durch die Art der Unterbringung zu sorgen.“
(Hervorhebung im Original).
37 Vgl. hierzu Ralph Giordanos Ausführungen zum,
wie er es nennt „Verlust der humanen Orientierung“ in: Die zweite Schuld; Berlin 1990, Seiten 29
ff
Volker Maria Hügel
171
F L U C H T U N D M I G R AT I O N
Härtefallkommissionen
In dem folgenden Beitrag werden Möglichkeiten der Abschiebungsverhinderung am Beispiel
der Härtefallkommission des Landes NRW und
des ‚Trialogmodells’ auf kommunaler Ebene
aufgezeigt. Die bisherige Arbeit der Härtefallkommission NRW wird daraufhin untersucht,
ob sie geeignete Möglichkeiten zur Abschiebungsverhinderung finden konnte oder ob sie
letztlich zur Legitimation von Abschiebungen
unter einer rot/grünen Landesregierung beitrug. Es kann dabei zumeist nicht explizit auf
Kinderflüchtlinge eingegangen werden.
1. Entstehung und Arbeitsweise der
Härtefallkommission in NRW
Nach den Landtagswahlen 1995 in Nordrhein-Westfalen wurde eine rot/grüne
Landesregierung gebildet. Im Rahmen der
Koalitionsverhandlungen und späteren
Vereinbarungen wurde die Einrichtung einer Härtefallkommission (HFK) verabredet. Fragen über Kompetenzen, Zusammensetzung und Arbeitsweise wurden im
Jahre 1995 geklärt. Mit der konstituierenden Sitzung im Februar 1996 begann die
Kommission mit der Arbeit. Die HFK ist
ein behördenunabhängiges Beratungsgremium, das mit einer eigenen Geschäftsstelle beim Innenministerium angesiedelt
ist. Es setzt sich aus acht stimmberechtigten Mitgliedern zusammen:
1. Vertreter des Landesinnenministeriums, gleichzeitig Vorsitzender der HFK
2. Vertreter des MAGS (Ministerium für
Arbeit, Gesundheit und Soziales – seit
der Ministerienneuordnung das Sozialministerium)
3. Vertreter der katholischen Kirche
4. Vertreter der evangelischen Kirche
5. Vertreterin der Liga der Wohlfahrtsverbände
6. Vertreterin von AGISRA
7. Vertreter/in von PRO ASYL
8. Vertreter vom Flüchtlingsrat NRW
Inhaltlich behandelt die HFK nur An172
träge von Menschen, denen aufenthaltsbeendende Maßnahmen drohen. Sie kann
keine Weisungen erteilen, sondern sie gibt
Empfehlungen an die zuständige Ausländerbehörde. Darüber hinaus kann sie
auch bei grundsätzlichen Problemstellungen oder Fragen Empfehlungen und/oder
Stellungnahmen an den Innenminister abgeben, die z. B. auf einen Abschiebestopp
für ein bestimmtes Herkunftsland abzielen.
Erfahrungen mit einer Härtefallkommission gibt es außerhalb von NRW bereits seit sieben Jahren in Berlin. Dort arbeitet eine HFK, die allerdings nach der
Auffassung des Berliner Flüchtlingsrates
demokratischen Spielregeln nicht entspricht, denn der Innensenator hat das
Recht, sich eine sog. Vorprüfung vorzubehalten. Dennoch erschien auch in Berlin
die Möglichkeit, eine Überprüfung von
Härtefällen mit Hilfe von Fachleuten aus
der Flüchtlingsbewegung vornehmen zu
lassen, eine Chance zu beinhalten.
Die Verfahrenskriterien für die HFK in
NRW wurden vom Innenministerium im
Auftrag der rot/grünen Landesregierung
entwickelt. Im folgenden wird anhand des
Weges, den ein Antrag nimmt, gleichzeitig
auf Verfahrensmängel hingewiesen. Sobald ein Antrag bei der Geschäftsstelle der
HFK eingeht, ist die erste Aufgabe der
Geschäftsstelle, entweder die zuständige
Ausländerbehörde per Fax, Brief oder Telefon zu benachrichtigen und sie zu bitten
von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen
solange abzusehen, bis eine Empfehlung
der HFK ergangen ist. Das ist insofern von
Bedeutung, da Anträge an die HFK keine
‘aufschiebende Wirkung’ haben. Gemeint
ist damit, daß ein Antrag an die HFK keinen ‘Rechtsbehelf’ darstellt und es daher
eines Erlasses des Innenministers bedurfte, der die Bitte an die Ausländerbehörden
enthielt, bis zur Entscheidung der HFK
abzuwarten. Dennoch liegt die Kompetenz
über die Abschiebung bei der zuständigen
H Ä R T E FA L L K O M M I S S I O N E N
Ausländerbehörde. (Von den 86 Ausländerbehörden in NRW hält sich die überwiegende Mehrzahl an diese Bitte.)
Als folgender Schritt wird der Antrag
an die HFK der zuständigen Ausländerbehörde zur Kenntnis gegeben. Diese ist
dann verpflichtet, gegenüber der HFK eine Stellungnahme abzugeben und erst
wenn die Stellungnahme bei der HFK eingetroffen ist, wird die gesamte Akte den
Kommissionsmitgliedern zur Verfügung
gestellt, so daß sie ca. eine Woche vor jeder Sitzung den kompletten Aktenvorgang
vorliegen haben, über den dann in der
Sitzung beraten wird. Die Beratungen, die
alle zwei Wochen stattfinden und in denen
jeweils ca. 15-20 Anträge behandelt werden, sind im wesentlichen davon geprägt,
inwieweit die Anträge über die maßgeblichen Härtefallkriterien Aufschluß geben.
Selbstverständlich stellt jede Abschiebung
für die Betroffenen eine Härte dar. Da
aber von der Kommission verlangt wird,
daß eine rechtlich nachvollziehbare Empfehlung gegeben werden muß, kann die in
den Anträgen beschriebene Härte nicht
das einzige Kriterium sein, sondern es
muß auch ein ‘Lösungsweg’ zur Abschiebungsverhinderung gefunden werden. Ein
wichtiges Kriterium für die Härte ist beispielsweise der Grad der Integration, den
man an verschiedenen Bereichen festmachen kann, z. B. Sprachkenntnisse, Schulbesuch der Kinder, eigenständige Arbeit
und somit die Sozialhilfeunabhängigkeit,
eine eigene Wohnung innezuhaben, am
politischen oder sozialen Leben teilzuhaben sowie die Dauer des Aufenthaltes. Sie
gelten als Gradmesser für Integration.
Wenn dann in der Kommission eine
Empfehlung ergeht, geht diese an die
Fachaufsicht, die beim Innenministerium
liegt. Erst dann geht sie an die zuständige
Ausländerbehörde. Es ist ein demokratisches Manko, daß diese Benachrichtigung
nicht den AntragstellerInnen zugestellt
wird, sondern daß sie lediglich an die zu-
ständige Ausländerbehörde geschickt wird.
Zu beachten ist dabei, daß die Empfehlungen der HFK für die Ausländerbehörden
nicht rechtlich bindend sind. Bei den
Empfehlungen gibt es für die Ausländerbehörden ein psychologisches Problem, da
sie sich nicht gerne vorschreiben lassen,
wie die ‘richtige’ Auslegung des Ausländergesetzes vorzunehmen ist. Die Behörde hatte bereits eine Entscheidung getroffen, die daraufhin von der HFK überprüft
wird. Die HFK kommt dann eventuell zu
einem anderen rechtlichen Schluß. Von
daher ist es auch immer eine Frage der
Vermittlung, wie es ermöglicht werden
kann, diese Korrektur der Entscheidungen für die Ausländerbehörden nachvollziehbar zu machen. Die wesentliche Aufgabe, sowohl beim Aktenstudium als auch
bei der Beratung, ist es, einen rechtlich
nachvollziehbaren Anhaltspunkt zu finden, worin der weitere Aufenthalt begründet werden kann.
Eine große Schwierigkeit stellt der § 55
Abs. 4 AuslG dar. Der besagt: „Ist rechtskräftig entschieden, daß die Abschiebung
eines Ausländers zulässig ist, kann eine
Duldung nur erteilt werden, wenn die Abschiebung aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist oder nach
§ 54 ausgesetzt werden soll. [...]“ In der
Regel liegt bei ehemaligen AsylbewerberInnen genau hierin das juristische Problem. Tatsächliche Gründe können z. B.
Reiseunfähigkeit, fehlende Transportmöglichkeiten oder fehlende Reisedokumente
sein. Um dann einen weiteren Aufenthalt
zu ermöglichen, sind die rechtlichen Anhaltspunkte, die die Kommission hat, das
Ausländergesetz und/oder die ständige
Rechtsprechung. Zunehmend gewinnt
auch der europäische Gerichtshof (EuGH)
und der europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) an Bedeutung. Die
europäische Menschenrechtskonvention
(EMRK), die im Ausländergesetz in § 53
Abs. 4 Niederschlag gefunden hat, legt
173
F L U C H T U N D M I G R AT I O N
z. B. den Familienbegriff anders aus als
dies im deutschen Ausländerrecht der Fall
ist. Zur Kernfamilie gehören nach dem
Ausländergesetz nur die Ehegatten und
die minderjährigen Kinder, keineswegs
aber Geschwister, auch wenn sie im gemeinsamen Haushalt leben. Die Rechtsprechung des EGMR dagegen legt die
EMRK dahingehend aus, daß Geschwister,
auch wenn sie erwachsen sind, aber in gemeinsamem Haushalt leben, unter den
Familienbegriff fallen. Desweiteren werden die von der EMRK definierten Abschiebungshindernisse im Artikel 3: „Niemand darf der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe unterworfen werden.“ durch die Rechtsprechung des EGMR an Bedeutung gewinnen.
Somit bilden das Ausländergesetz, die
deutsche, insbesondere die höchstrichterliche Rechtsprechung und die Rechtsprechung des EuGH den Kern der juristischen
Ansatzpunkte für die Beratung in der
HFK. Desweiteren werden selbstverständlich Gutachten und Stellungnahmen beispielsweise über die medizinische Versorgung in den Herkunftsländern zu Rate gezogen, um in besonderen Fällen zu einer
Empfehlung zu kommen. Ein Beispiel: Für
die meisten Ausländerbehörden ist lediglich von Bedeutung, ob jemand reisefähig
ist, nicht aber ob eine Therapie oder medikamentöse Behandlung im Heimatland
sichergestellt ist. Dies ist ein wesentlicher
Punkt, der in Zukunft an Bedeutung gewinnen wird, wenn die Ausländerbehörden erkennen, daß es auch prüfenswert
ist, ob jemand in der Lage ist, in seinem
Heimatland, auch aus Gründen der medizinischen Versorgung, überleben zu können. Da dies im Ausländerrecht nicht explizit genannt ist, entsteht hier Spielraum
für Empfehlungen.
174
2. Statistik der Einzelfallbearbeitung
Die Ende 1995 eingerichtete Härtefallkommission hat sich im Februar 1996
konstituiert und die Zahlen bis einschließlich zum 31.12.1998 sollen im folgenden
erläutert werden. Insgesamt wurden
2.008 Anträge an die HFK gestellt. Davon
sind 1.768 bereits bearbeitet worden. Das
heißt, teilweise wurden sie beraten, z. T.
gab es Ausschlußgründe, die zur ‘Nichtbearbeitung’ führten, z. T. konnte die Kommission die Fälle wegen ‘freiwilliger’ Ausreise, bzw. wegen Vollzugs der Abschiebung nicht beraten. Von den 2.008 Anträgen sind 1.188 in der Kommission selbst
beraten worden. Es hat 222 positive Empfehlungen gegeben. Das sind 18,7 %. Es
hat 288 Empfehlungen (24,2 %) unterhalb
des Antragsbegehrens gegeben. Wegen
Petition als Ausschlußgrund (175 Anträge), wegen Vollzugs, bzw. ‘freiwilliger’
Ausreise (69 Anträge) oder wegen sonstigen Erledigungen (36 Anträge) wurden
diese Fälle nicht in der HFK beraten. Eine
sonstige Erledigung kann z. B. sein:
– Antragsrücknahme
– Antragsbegehren betrifft nicht die Ausreise
– AntragstellerIn ist nicht aus NRW oder
zwischenzeitlich untergetaucht und für
die Behörden nicht mehr erreichbar.
Das Ausschlußkriterium des Untertauchens gilt nicht für Menschen im Kirchenasyl, solange es ein öffentliches
Kirchenasyl ist, da die Betroffenen sowohl für die HFK als auch für die Behörde dort erreichbar sind.
Der Ausschlußgrund des Untertauchens ist generell sehr problematisch.
Hier fehlt ein wesentlicher Handlungsspielraum für die Kommission. Menschen
entziehen sich aus den unterschiedlichsten Gründen dem Zugriff der Behörden.
Illegalisierte bzw. Untergetauchte haben
somit keine Möglichkeit mehr, sich durch
die Kommission relegalisieren zu lassen.
So kann beispielsweise die Rechtslücke
H Ä R T E FA L L K O M M I S S I O N E N
zwischen abgelehntem Erstasylantrag und
Asylfolgeantrag und die damit verbundene
Unsicherheit Menschen dazu bringen, unterzutauchen, weil sie nicht wissen, ob es
überhaupt zur Durchführung eines weiteren Asylverfahrens kommt. Eine Zahl erscheint aber auch beachtenswert: Bei 94
Anträgen gab es bereits eine positive Erledigung im Sinne der AntragstellerInnen,
ohne daß es zu einer Beratung durch die
Kommission kam.
3. Empfehlungen der HFK an das
Innenministerium
Der zweite gewichtige Arbeitsansatz der
HFK besteht darin, generelle Empfehlungen an den Innenminister oder an die Politik abzugeben. Hierbei wird nicht nur auf
die Kenntnisse der Kommissionsmitglieder zurückgegriffen, sondern auch die Erfahrung der Arbeit in der Kommission zugrundegelegt. Diese perspektivische Arbeit der HFK hat auch schon Erfolge zu
verzeichnen: Auf Anregung der HFK ist
die Altfallregelung des Jahres 1996, als
Härtefallregelung deklariert, vom Innenministerium NRW modifiziert worden. Somit konnte der ‘Teufelskreis’ durchbrochen werden, daß nur diejenigen unter
die Altfallregelung fallen, die die Stichtagsregelung erfüllen und unabhängig von
der Sozialhilfe leben. Es ist aber häufig so,
daß durch die kurzen Duldungszeiten
oder sogar nur die Erteilung von ‘Grenzübertrittsbescheinigungen’ eine Arbeitsaufnahme in der Regel nahezu unmöglich
gemacht wird.
Vor diesem Hintergrund hat die HFK
den Innenminister gebeten, in den Fällen,
in denen die Zeitschiene, also die Stichtage erfüllt worden sind, für Familien mit
minderjährigen Kindern 1.7.1990 oder für
die übrigen Personen 1.1.1987 die Erteilung einer ‘Aufenthaltsbefugnis’ nicht
vom Sozialhilfebezug abhängig zu machen. Statt dessen kann eine sechsmonati-
ge Befugnis erteilt werden. Diese ermöglicht den Erhalt der ‘besonderen Arbeitserlaubnis’. Durch Arbeitsaufnahme werden dann die Voraussetzungen erfüllt, unter die Altfallregelung zu fallen und ein
dauerhaftes Bleiberecht zu erhalten.
Das zweite, was die HFK erreicht hat,
ist ein Erlaß des Innenministers, daß bei
Vorliegen tatsächlicher Abschiebungshindernisse eine ‘Duldung’ nach § 55 Abs. 4
AuslG zu erteilen ist und somit die häufige
Praxis von Ausländerbehörden, in diesen
Fällen lediglich ‘Grenzübertrittsbescheinigungen’ auszustellen, rechtswidrig ist.
Ein weiterer Erfolg der HFK: Das OVG
Münster hat in einem Beschluß vom 27.8.
1996 festgestellt: Ein in der BRD geborenes ausländisches Kind genießt nach § 69
AuslG zumindest für die ersten 6 Monate
nach der Geburt ein Aufenthaltsrecht.
Dies hat der Innenminister in Erlaßform
gebracht.
Inhaltlich arbeitet die HFK desweiteren
zu folgenden Themen:
– Frauen auf der Flucht
– Eigenständiges Aufenthaltsrecht für
AusländerInnen (§ 19 AuslG)
– Situation von Flüchtlingskindern
– § 30 AuslG
– Straffälligkeit bei Jugendlichen und
drohende Ausweisung
– Verwaltungsvorschriften zum Ausländergesetz
– Anregungen zur Altfallregelung 1999
Zu diesen Themen werden in Arbeitsgruppen Stellungnahmen erarbeitet. Die
Stellungnahme zu „Frauen auf der Flucht“
ist auch bereits dem Innenminister vorgelegt worden und dieser hat sie nicht nur in
einer Presseerklärung verarbeitet, sondern auch zugesagt, die Anregungen auf
der Bundesebene, sowohl bezüglich der
Anhörungssituation, als auch der Entscheidungen des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge
(BAFl), in die Innenministerkonferenz der
Länder (IMK) hineinzutragen. Es wird
175
F L U C H T U N D M I G R AT I O N
sehr kritisch zu beobachten sein, inwieweit diese Vorgaben oder allgemeinen
Empfehlungen der HFK durch den Innenminister umgesetzt werden.
4. Kritik an der Arbeit der
Härtefallkommission
Zur grundsätzlichen Kritik an der HFK,
die in der Vergangenheit geübt wurde:
Sowohl weite Teile der CDU und der FDP
als auch ein starker Teil der SPD lehnten
und lehnen die HFK ab. Einer der Hauptkritikpunkte an der HFK kam von den
zehn Verwaltungsstädten in NRW, vom
Städtetag NRW und vom damaligen Bundesinnenminister Kanther. Der HFK wurde vorgeworfen, daß sie unnütze und zusätzliche Kosten verursache, da durch sie
Abschiebungen verhindert oder hinausgezögert würden. Darüber hinaus wurde angegeben, daß die Arbeit der Kommission
durchgängig rechtswidrig sei. Eines der
Argumente war, daß die HFK im Ausländergesetz nicht vorgesehen sei. Hier sei jedoch auf die Praxis der Ausländerbehörden, ‘Grenzübertrittsbescheinigungen’
zu erteilen, hingewiesen, denn auch die
‘Grenzübertrittsbescheinigungen’ sind keineswegs Bestandteil des Ausländergesetzes.
Kritik gibt es aber auch von der ‘anderen Seite’. Aus dem kritischen Spektrum
der Flüchtlingsunterstützungsbewegung
wird immer wieder betont, daß die HFK
der rot/grünen Landesregierung ein Alibi
für Abschiebungen biete. Aus den bisherigen Erfahren bleibt jedoch die Schlußfolgerung zu ziehen, die Arbeit der HFK
weiterzuführen und sich dennoch gleichzeitig politisch nicht mit dem Erreichten
zufriedenzugeben. Die Arbeit der HFK ist
vor allen Dingen auch aufgrund der sehr
guten Zusammenarbeit mit den Vertretern vom Innenministerium ausgesprochen konstruktiv. Es ist derzeit der richtige Weg, Flüchtlingen auf allen Ebenen
176
durch Warteschleifen Möglichkeiten einzuräumen, ihre persönliche Situation darzustellen, wenn die Kompetenzen für Abschiebungen beim Bundesinnenminister
liegen.
Aufgabe der HFK ist es, sich dann Gedanken darüber zu machen, inwieweit juristische Ansatzpunkte gegeben sind, um
eine Lösung zu finden. In Abgrenzung
zum Petitionsausschuß soll noch gesagt
werden, daß sich die HFK gerade im
Unterschied zu ihm durch den gebündelten Sachverstand seiner Mitglieder aus
der konkreten, praktischen Arbeit auszeichnet. Dagegen werden die Anliegen im
Petitionsausschuß durch gewählte VolksvertreterInnen geprüft, die mit sehr vielen
verschiedenen Rechtsgebieten vertraut
sein müssen. Enttäuschend ist deshalb die
Reaktion von Teilen des Petitionsausschusses, die die HFK für überflüssig halten. Enttäuschend ist ebenfalls die nur
‘vorsichtig vorhandene’ Unterstützung der
Arbeit der HFK durch die SPD und durch
den Innenminister. Die HFK wünscht sich
eine stärkere Akzeptanz und Unterstützung. So wird erwartet, daß wenn Ausländerbehörden sich nicht an Empfehlungen
der HFK halten, das Innenministerium des
Landes mit seinem Gewicht versucht, die
Empfehlungen mitumzusetzen. Die Vergangenheit hat gezeigt, daß die Arbeit der
HFK auch sehr sachgerecht ist, da das
Innenministerium den Empfehlungen nur
in wenigen Fällen (10!) nicht gefolgt ist.
Auch die Ausländerbehörden selbst haben
sich lediglich in sehr wenigen Fällen geweigert, den Empfehlungen nachzukommen.
Positiv ist demgegenüber zu vermerken, daß einige Städte Ratsbeschlüsse gefaßt haben, daß
a) die Empfehlungen der HFK abgewartet
werden sollen und
b) diese auch umgesetzt werden sollen.
Dies geschah in den Städten Lünen, Essen und Düsseldorf.
H Ä R T E FA L L K O M M I S S I O N E N
Grundsätzlich bleibt die Frage, ob es
sinnvoll ist, diesen enormen Zeitaufwand
durch Aktenstudium, Recherche der
Rechtsprechung, eventuelle Rücksprachen mit den AntragstellerInnen und/oder
deren RechtsanwältInnen und die Sitzungstermine zu betreiben oder ob man
diese Zeit nicht effektiver nutzen könnte.
Für die HFK lautet die Antwort eindeutig
JA. Nicht weil lediglich die Auffassung
vertreten wird, daß jede Person oder Familie, die über eine ‘Positivempfehlung’
der HFK vor der Abschiebung bewahrt
werden kann, ein Erfolg ist. Das reicht
nicht aus, sondern jede Möglichkeit muß
genutzt und ausgeschöpft werden, um dieser politischen Vorgabe der ‘Abschiebungen um jeden Preis’ etwas entgegenzusetzen. Gerade durch solche Einrichtungen
wie die HFK, die dadurch ihren Stellenwert erhalten, daß sie beim Innenministerium angebunden sind und von den entsendenden Organisationen getragen werden, die dem Innenministerium z. T. sehr
kritisch gegenüberstehen, sind langfristig
Veränderungen möglich.
Die Arbeit des ‘Bremsers auf dem rückwärts fahrenden Zug’ ist sicherlich eine
gute Umschreibung für das, was in der
HFK gemacht wird. Es wäre wünschenswert, daß es in allen Bundesländern Härtefallkommissionen gäbe, zumal es auch
für die Arbeit der Kommission spricht,
wenn sich nach dem ‘Modell NRW’ in
Schleswig-Holstein ebenfalls Ende des
Jahres 1996 eine HFK aufgrund der rot/
grünen Verhandlungen konstituiert hat.
4. Die Einbindung der kommunalen
Ebene
Durch das Einbinden des Sachverstandes
von Menschen aus der MigrantInnen- und
der Flüchtlingsarbeit, vor allem aus Nichtregierungsorganisationen (NGO), das Modellcharakter hat, wird es möglich, auf die
bisher lediglich auf juristischen und ver-
waltungstechnischen Kenntnissen beruhenden Entscheidungsstrukturen des Innenministeriums und der Politik Einfluß
zu nehmen. Dem liegt ein Modell zugrunde, das sich auch auf die kommunale
Ebene übertragen lassen sollte: Das sog.
‘Trialog-Modell’. Damit ist das Zusammenspiel von gewählten VolksvertreterInnen
auf kommunaler Ebene im Stadt- oder
Gemeinderat, VertreterInnen der Verwaltung sowie VertreterInnen der in diesem
Bereich tätigen Wohlfahrtsverbände, Vereine und Initiativen gemeint. Für die Jugend-, Sozial- und Drogenarbeit ist es seit
langem eine Selbstverständlichkeit, daß
über die Zusammenarbeit von Sachverstand in Initiativen, in den Wohlfahrtsverbänden und der oft konträren Ansicht
in der Verwaltung eine positive, befruchtende Zusammenarbeit erwächst und daß
den PolitikerInnen vor Ort im ‘Trialog’ eine sachgerechte Entscheidung leichter gemacht wird.
Wer hätte beispielsweise vor 25 Jahren
daran gedacht, daß in der Bundesrepublik
über Methadonprogramme, über die Freigabe von Cannabisprodukten oder über
‘Gesundheitsräume’ nachgedacht würde.
Dies ist ein wesentlicher Erfolg des Miteinanders nach dem Trialogmodell. Auch
bezüglich der Situation der Sozialhilfeberechtigten, der wirtschaftlich Schwachen,
der Alleinerziehenden wurde der Sachverstand der Beratungsstellen miteinbezogen.
Im Flüchtlings- und Migrationsbereich
fehlt genau dieses Instrument. Es gibt
zwar in vielen Städten Ausländerbeiräte,
aber dieses ‘zahnlose, politische Spielzeug’ ist nicht dazu angetan, eine selbstverständliche Verzahnung aller Lebensbereiche vorzunehmen und auch nicht das
zu tun, was in der HFK gemacht und was
vielerorts auch kommunal geschehen
müßte, nämlich in das laufende Geschäft
der Verwaltung einzugreifen. Abschiebungen sind das laufende Geschäft der Ver177
F L U C H T U N D M I G R AT I O N
waltung. Wer dort intervenieren will, muß
auf die Verwaltung zugehen und sie bitten, die Entscheidung noch einmal zu
überdenken. Hierdurch entsteht die Möglichkeit, Gründe nicht nur z. T. erstmalig
vortragen zu können, sondern mit dafür
zu sorgen, daß die Schicksale anders bewertet werden als es bislang vielfach der
Fall
war.
Es ist davon auszugehen, daß sich langfristig auch dadurch etwas verändert,
wenn die Verwaltung immer wieder dazu
gebracht wird, in das Gespräch mit den
Initiativen und den Betroffenen einzutreten. Dazu ein Beispiel: Seit vielen Jahren
beteiligt sich der Flüchtlingsrat NRW an
den sog. Behördentagungen, die in der
evangelischen Akademie in Mülheim stattfinden. Dort treffen sich VertreterInnen
aus Initiativen, Ausländerbehörden und
Zentralen Ausländerbehörden (ZAB) sowie EinzelentscheiderInnen des BAFl, um
gemeinsam Fachreferate zu Flüchtlingsherkunftsländern oder zu bestimmten
Rechtsauslegungen zu hören und dann in
Arbeitsgruppen darüber zu diskutieren.
Dies hat dazu beigetragen, daß die Polarisierung, auf der einen Seite, überspitzt
formuliert, ‘die brutalen Menschen in der
Behörde’ und auf der anderen Seite die
‘rührseligen, nichts begreifenden HelferInnen’ zwar nicht aufgehoben, aber abgemildert wird. Hierdurch wird ermöglicht, den jeweiligen Standpunkt der ‘anderen Seite’ zu erkennen und zur Lösung
des Problems beizutragen. Die anschliessende Arbeit in der Praxis wird erleichtert.
Die BehördenvertreterInnen haben einstimmig erklärt, daß auch sie es für sinnvoll erachtet haben, zu erfahren, wie die
unterschiedlichen Sichtweisen sein können und dies auch ihnen für die Arbeit
hilfreich ist. Die MitarbeiterInnen der
Initiativen haben erkennen können, daß
sie, je mehr Sachverstand und Ruhe sie in
der Argumentation an den Tag legten, um
178
so eher in der Lage waren, die vermeintlich verhaßte Gegenseite zu überzeugen.
Das Trialog-Modell im Migrations- und
Flüchtlingsbereich ist eine sinnvolle Ergänzung zur HFK. Dies wird insbesondere
dadurch deutlich, daß viele Anträge, die
an die HFK gerichtet werden, bei etwas
offeneren Gesprächen auch ohne weiteres
‘vor Ort’ zu lösen wären. Zudem kann
nach dem Trialog-Modell auch in den
Bundesländern gearbeitet werden, in denen es keine Härtefallkommission gibt.
Am Ende dieses Beitrags wird deshalb ein
Musterantrag an eine Kommune abgedruckt.
5. Ein persönliches Resümee
Ich denke, der positive Effekt eines Trialogs und einer HFK liegt in dem Lernerfolg
auf beiden Seiten. Ausländerbehörden lernen, daß es nicht nur ihre Sichtweise gibt,
denn das hat etwas von einer Ausschnittswahrnehmung, vergleichbar damit, daß die Polizei auch immer nur dann
gerufen wird, wenn ein unangenehmer
Vorfall zu verzeichnen ist, wenn eine
Straftat begangen worden ist. So funktioniert auch die Wahrnehmung der MitarbeiterInnen in den Ausländerbehörden,
die sich besonders an die Male erinnern,
wo sie sich nicht ernst genommen fühlten
oder wo sie eine schwierige Situation mit
MigrantInnen hatten. Dieses wird durch
offene Gespräche abgemildert, da man die
andere Seite zu verstehen lernt.
Hierdurch erhält das ‘Handeln nach
dem Gewissen’ eine größere Chance.
Vor zwei Jahren ist die Geschichte eines Polizisten durch die Presse gegangen,
der einen Abschiebungshäftling nach zwei
Tagen Polizeigewahrsam entlassen hat,
weil er meinte, daß die Unterbringung unmenschlich sei und der dafür später
dienstlich gerügt worden ist und ein Verfahren durchstehen mußte. Einzelfälle
bleiben nicht solche, wenn die Bewegung
H Ä R T E FA L L K O M M I S S I O N E N
beginnt, Menschen in den Behörden nicht
als Gegner zu betrachten, sondern als
Menschen, die u. U. entweder falsche Entscheidungen fällen oder diese Entscheidungen vor dem Hintergrund eines Rechtes fällen, das modifiziert werden müßte.
Um für eine solche Modifikation Mehrheiten zu finden, bedarf es dieser Form
der Auseinandersetzung und des Lerneffektes auf kommunaler und auf Landesebene, denn nur dann ist eine kaum zu bewegende Ebene wie der Bund noch beeinflußbar.
Deshalb: Härtefallkommissionen: JA,
Trialog: JA. Das heißt nicht, daß auf Fundamentalkritik auch an rot/grünen Abschiebungen verzichtet werden soll oder
daß wir uns daran beteiligen. Wir versuchen, mit in diesen Entscheidungsprozeß
einzugreifen, um dort, wo es möglich ist,
Abschiebungen zu verhindern.
Volker Maria Hügel
Bürgerinnen- und Bürgerantrag
(im Sinne einer Anregung nach § 24 GO)
Erweiterung der Zusammensetzung und der Kompetenzen der Kommission des Rates zur
Unterbringung von Asylbewerbern und Aussiedlern (Unterbringungskommission) und Umbenennung in eine Kommission für Flüchtlings- und Migrationsfragen. (Arbeitstitel)
Der Rat der Stadt Münster möge beschließen:
1. Zusätzlich zu ihren bisherigen Kompetenzen erhält die Unterbringungskommission des Rates
der Stadt Münster das Recht, Fragen des Aufenthaltes, aufenthaltsbeendender Maßnahmen
und Abschiebungen von Ausländerinnen und Ausländern bzw. ausländischen Flüchtlingen zu
beraten und für die Verwaltung Empfehlungen auszusprechen. Die Erweiterung der Aufgaben
läßt eine neue Betitelung der Kommission sinnvoll erscheinen. (Vorschlag: Kommission für
Flüchtlings- und Migrationsfragen) Wenn keine Erweiterung der Kommission des Rates zur
Unterbringung von Asylbewerbern und Aussiedlern (Unterbringungskommission) möglich ist,
soll dieser Antrag dahingehend verstanden werden, daß eine eigenständige Kommission gebildet wird.
2. Die Unterbringungskommission besteht zur Zeit aus Vertreterinnen und Vertretern der
Ratsparteien (je 2 von CDU und SPD sowie der Vorsitzenden von Bündnis 90/Die Grünen) und
Vertretern des Sozialamtes.
In Zukunft soll die Kommission – nach dem Trialog – Modell – aus folgenden Mitgliedern bestehen (oder die neue Kommission soll bestehen aus):
– 6 zu bestimmenden Mitgliedern freier Träger aus dem Bereich der Flüchtlings- und
Migrationsarbeit. (u.a. Diözesan Caritas Verband, Diakonisches Werk, DPWV, ESG/KSG). Die
Betreuungsverbände erhalten Beratungs- Rede-, Antragsrecht und geben den gewählten
Ratsmitgliedern in den zur Entscheidung anstehenden Fragen Empfehlungen.
– 2 gewählte Mitglieder des Ausländerbeirates. Sie erhalten den gleichen Status wie die
Mitglieder freier Träger.
179
F L U C H T U N D M I G R AT I O N
– Die Sozial- und Ordnungsverwaltung ist durch die Dezernatsebene zumindest durch Amtsund Abteilungsleitung vertreten. Diese stellt den Mitgliedern der Kommission die Erlaßlage, die
Anweisungen, Verfahrenshinweise und Verordnungen etc. der Bundes- und Landesregierung
sowie der Bezirksregierung (RP) und der jeweiligen Dezernate zur Verfügung.
– Je 2 Ratsmitglieder der im Rat vertretenen Parteien
Vertreterinnen und Vertreter von Menschenrechtsorganisationen, Flüchtlingsinitiativen sowie
Anwälte, Bevollmächtigte und Betroffene können auf Einladung des Gremiums gehört werden.
Ebenso können diese beantragen, in eigener Sache angehört zu werden.
Wenn bei schwierigen Themen oder Einzelfällen keine Einigung erzielt werden kann, wenn die
Empfehlung/der Beschluß der Kommission und die Verwaltungsauffassung divergieren, wird den
Betroffenen die Möglichkeit eingeräumt, sich an den Petitionsausschuß oder die Härtefallkommission des Landes zu wenden.
Die Sitzungen der Kommission sind öffentlich. Lediglich bei Behandlung von Einzelfällen und/
oder personenbezogenen Daten, wird die Öffentlichkeit ausgeschlossen. Die Verwaltung erstattet Bericht über die Umsetzung der Empfehlungen der Kommission.
Begründung:
Migration und Flucht gehören heute zu den erstrangigen Themen im sozial- und gesellschaftspolitischen Bereich. Insbesondere die Kommunen stehen vor immer neuen Herausforderungen,
um die Unterbringung, Versorgung, Beratung, Betreuung und Integration dieser Menschen
grundgesetzkonform zu ermöglichen. Bislang stehen sich oft Verwaltung und Initiativen sowie
Verbände oft als „Kontrahenten“ gegenüber, wenn es z.B. um die Qualität der Unterbringung, um
Betreuungsstandards oder um Abschiebungen geht. Fälle wie der Aufbruch des Kirchenasyls im
Sommer 1992 haben zu einem enormen Vertrauensverlust – gerade bei Flüchtlingen – geführt.
Erfahrungen aus anderen Städten belegen, daß der Abbau dieses Mißtrauens nur durch
Offenheit, klare Absprachen und intensive Diskussionen sowie gemeinsames Lernen zu erreichen ist.
Lösungen vieler, gerade auch Detailprobleme sind langfristig nur möglich, wenn ein Konsens
(auch) in der münsterschen Bevölkerung über die interkulturelle Gegenwart und noch mehr der
Zukunft erzielt wird. Konsens wird aber nur durch eine gezielte und regelmäßige Aufklärung erreicht. Wirtschaftlich benachteiligte Gruppen haben oft wenig Verständnis für die Tatsache, daß
die Kommunen gemäß Flüchtlingsaufnahmegesetz zur Unterbringung von Flüchtlingen verpflichtet sind, aber sie selbst keinen angemessenen Wohnraum finden. Daraus ergeben sich
Neid und Vorurteile, die ein friedliches Miteinander be- und verhindern.
Der Dialog mit Verwaltung und Politik muß daher institutionalisiert werden, wenn die Stadtregierung in der Migrations- und Flüchtlingspolitik neue Akzente setzen und positive Veränderungen bewirken will. Hierzu ist der Trialog zwischen Politik, Verwaltung und den freien Kräften,
wie er im Jugend- und Sozialbereich insbesondere im Drogen- sowie Schwulen- und Lesbenbereich seit langem selbstverständlich ist, zu schaffen. Erfahrungen der Vergangenheit zeigen,
daß es nicht funktioniert, auf das freiwillige Zustandekommen dieses Trialoges zu setzen.
Ein Beispiel: Der im Rahmen der Aktion „1-DM pro Bürger für fremdenfreundliche Maßnahmen“
von der Verwaltung eingerichtete „Runde Tisch“ funktionierte nur so lange, wie Geld verteilt wurde. Eine Auseinandersetzung und ein inhaltliches Miteinander-Reden fand nicht statt. Eine gesellschaftspolitische Wirkung wurde nicht erzielt.
180
H Ä R T E FA L L K O M M I S S I O N E N
Die Erfahrungen – nicht nur in Münster – haben gezeigt, daß eine vertrauensvolle Zusammenarbeit aller mit den Belangen von Migration und Flucht in Münster beschäftigten Institutionen, Körperschaften, Verbänden und Initiativen notwendig und längst überfällig ist. Viele – gerade diesen Personenkreis benachteiligende – Entscheidungen der Verwaltung werden von dieser als „laufendes Geschäft“ angesehen, wo die Verwaltung – wenn überhaupt – nur noch eine
Informationspflicht gegenüber dem Rat sieht. Eine Auseinandersetzung zu diesen Themen mit
dem Stadtrat und den freien Trägern, und damit eine demokratische Auseinandersetzung, findet
nicht statt. Eine Änderung der münsterschen Politik ist daher nur mit Beteiligung der freien Kräfte
zu erreichen. Der Vergleich mit der Drogenthematik bietet sich an. Auch hier bedurfte es jahrelanger sozialarbeiterisch – politischer Auseinandersetzung und Öffentlichkeitsarbeit, um eine
Akzeptanz der Drogenarbeit zu erreichen und damit effektiver intervenieren zu können.
Dieses neue Modell könnte auch gleichzeitig dazu beitragen, daß die auf Landesebene eingerichtete Härtefallkommission eine kommunale Umsetzung/Ergänzung erfährt. Oftmals werden
Hilferufe in schwierigen Fällen direkt an die Landesebene gerichtet. Seit Einrichtung der LandesHärtefallkommission ist diese mit einer Vielzahl von Fällen konfrontiert worden. Oftmals wäre es
aber gar nicht nötig, die Landesebene einzuschalten, wenn es lokal diese Kommission gäbe, die
sich damit beschäftigen würde. Lösungen sind auch in der Vergangenheit oft erst durch Landesvermittlung erzielt worden.
Deshalb braucht es auf kommunaler Ebene ein entsprechendes Instrument, das die Funktion
übernimmt, Probleme „vor Ort“ einer Lösung „vor Ort“ zuzuführen. Lediglich, wenn das nicht
möglich ist, kann/soll der Fall an die Landesebene weitergegeben werden.
Gerade eine Gesetzeslage auf Bundesebene, die die Situation verkennt, daß in die Bundesrepublik „eingewandert“ wird, erfordert von den Kommunen eine klare Positionierung zugunsten „ihrer ausländischen Einwohnerinnen und Einwohner“. Wenn das Bundesverfassungsgericht in seinen Urteilen vom 14. Mai 1996 festschreibt, dass das Bundesrecht verfassungskonform sei –
aber dennoch einzelne Menschen schutzlos bleiben können, ist es Verpflichtung der Politik, der
Verwaltung und der freien Kräfte, dem Einzelfall gerecht zu werden.
Die fehlende Kompetenz kommunaler Gremien, in aufenthaltsrechtlichen Fragen der Verwaltung
Weisungen zu erteilen, macht es nicht überflüssig sich mit dieser über mögliche Lösungen auf
dem Empfehlungswege auseinanderzusetzen.
Der Ausländerbeirat der Stadt Münster, der als Vertretungsorgan der ausländischen EinwohnerInnen Münsters einen wertvollen Beratungsbeitrag leistet, kann die Aufgaben der Kommission
nicht ersetzen. Er hat laut Gemeindeordnung und Satzung eine andere Funktion. Die Kompetenz
des Ausländerbeirates ist aber für diese neue Kommission ebenso unverzichtbar wie die freien
Träger, die in flüchtlings- und migrationspoltischen Fragen ansonsten kein institutionell garantiertes Gehör finden.
Die Ausgestaltung der Migrations- und Flüchtlingspolitik in Münster ist die jetzt anstehende
Aufgabe. Hierzu soll die Erweiterung der Kommission des Rates zur Unterbringung von
Asylbewerbern und Aussiedlern (Unterbringungskommission) oder die Einrichtung einer neuen
Kommission für Flüchtlings- und Migrationsfragen einen Beitrag leisten, entsprechend dem
Artikel 1 unseres Grundgesetzes: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu
schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Dieses Postulat muß daher gerade auf lokaler
Ebene eine neue Bedeutung erhalten.
181
F L U C H T U N D M I G R AT I O N
Fluchthilfe
Seit Ende der 80er Jahre werden die Themen
Flucht und Migration in zunehmendem Maße
mit dem Schlagwort der Inneren Sicherheit
verknüpft. Eine besondere Rolle spielt dabei
die sogenannte ‘Bekämpfung des Schlepperunwesens’ (vgl. u.a. Hellenthal 1994). Die
Begriffe ‘Schlepper’ und ‘Schleuser’ sind im
Felde der Migrationspolitik politische Kampfbegriffe. Ihre Konnotation verweist auf kriminelle Akteure, die Menschen illegal über Grenzen ‘schleusen’ oder sie gar ‘schleppen’, also
zwingen, diese Grenzen zu überwinden. Eine
solche Interpretation der heutigen Situation
von MigrantInnen und Flüchtlingen hat mit der
Realität nicht viel zu tun. Es scheint uns daher
dienlich zu sein, diese politischen Kampfbegriffe durch den Begriff der kommerziellen Fluchthilfe zu ersetzen. Selbst mit den vom Bundesgrenzschutz veröffentlichten Statistiken über
festgehaltene ‘illegale’ GrenzgängerInnen, läßt
sich zeigen, daß es immer noch einem Großteil
der Flüchtlinge und MigrantInnen gelingt, ohne auf Fluchthilfe zurückzugreifen, die EUAußengrenzen zu überwinden. Dies steht im
Mißverhältnis zu den üblichen Darstellungen
der Experten der Inneren Sicherheit und wird
uns im zweiten Teil beschäftigen. Ein Rückblick
auf die 80er Jahre wird abschließend zeigen,
daß Fluchthilfe noch vor kurzer Zeit ein anerkanntes und vor Gericht einklagbares Gewerbe
war.
Kein Mensch verläßt freiwillig seine Heimat,
seine Freunde. Es ist immer die allerletzte der
erwogenen Möglichkeiten.
(Vietnamesische Migrantin bei einer Diskussionsveranstaltung der Karavane am
22.8.1998 in Berlin)
Nimmt man als Ausgangspunkt den Zwang
oder die Notwendigkeit für einen Menschen, sein Land zu verlassen und ist ihm
diese Möglichkeit verwehrt, so muß er
sich der Hilfe von Personen und Gruppen
versichern, die mit der Umgehung von
Verboten und Hindernissen Erfahrung haben und dieses Know-How in Form einer
182
Dienstleistung anbieten. Sofern die Fluchthilfe nicht politisch, religiös oder humanitär motiviert ist, handelt es sich bei den
AnbieterInnen dieser Dienstleistung um
Geschäftsleute, die einen Gewinn erzielen
wollen. In der Regel wird zwischen den
Vertragsparteien eine mündliche Vereinbarung getroffen, die aufgrund des fehlenden rechtlichen Sicherungsrahmens nicht
einklagbar ist. Der staatliche Verfolgungsdruck führt dazu, daß der Geschäftsablauf
durch hohe Risiken für alle Beteiligten und
heimliche Fortbewegung gekennzeichnet
ist. Dies führt in der Tendenz zu einem relativ großen Abhängigkeitsverhältnis zwischen den heimlich Reisenden und den
AnbieterInnen der Dienstleistung. Allerdings dürfte auch hier der ‘Leumund’ der
Angebotsseite bei potentiellen EmigrantInnen eine entgegengesetzte Rolle spielen:
Wie bei anderen marktförmig vermittelten
Dienstleitungen sind auch die AnbieterInnen von Fluchthilfe auf einen guten Ruf
angewiesen, der von erfolglosen RückkehrerInnen schnell zerstört werden kann.
Es soll bei dieser Erwägung keineswegs
verschwiegen werden, daß es Formen von
Fluchthilfe gibt, die für MigrantInnen und
Flüchtlinge in Abhängigkeitsverhältnissen
oder gar mit dem Tode enden. Allerdings
kann eine berechtigte Kritik an ausbeuterischer oder fahrlässig geplanter Fluchthilfe nicht davon losgelöst betrachtet werden, daß erst das System der administrativen und materiellen Grenzsicherung den
Raum dafür kreiert, in dem sich die verschiedenen Formen von Fluchthilfe entwickeln. Sie sind für viele Flüchtlinge und
MigrantInnen die einzigen Möglichkeiten,
Grenzen zu überwinden und somit ein
notwendiger Bestandteil des Grenzregimes.
Es liegt in der Natur der Sache, daß nur
sehr schwer Aussagen darüber gemacht
werden können, wie viele Flüchtlinge und
MigrantInnen zur heimlichen Einreise
nach Deutschland auf die Dienstleistung
FLUCHTHILFE
Fluchthilfe zurückgreifen. In den Veröffentlichungen des Innenministeriums und
des Bundesgrenzschutzes (BGS) wird allerdings der Eindruck vermittelt, daß der
überwiegende Teil der heimlichen Grenzübertritte mit Hilfe von ‘Schlepperorganisationen’ bewerkstelligt werde. Selbst
wenn jedoch die vom BGS regelmäßig veröffentlichten Statistiken zu Rate gezogen
werden, läßt sich diese Darstellung in
Frage stellen. So gibt der BGS beispielsweise für das Jahr 1996 an, 27.024 ‘illegale’ GrenzgängerInnen aufgegriffen zu haben, dabei wären 2.215 ‘Schleuser’ festgestellt worden, die insgesamt 7.500 ‘Opfer’
über die Grenzen geleitet hätten (SZ,
26.2.1997). Nach Schätzungen des Grenzschutzes liegen die tatsächlichen Zahlen
‘illegaler’ Grenzübertritte vier- bis fünfmal
höher als die der Festnahmen. Etwas entsprechendes läge dann wohl für die Zahl
der FluchthelferInnen und der von ihnen
Beförderten nahe. Es bleibt dann jedoch
immer noch eine deutliche Überzahl von
etwa drei Vierteln der Grenzübertritte, die
von MigrantInnen und Flüchtlingen in
Eigenregie versucht werden.
Wenn man darüber hinaus die statistischen Angaben des BGS daraufhin untersucht, welche Gruppen von Flüchtlingen
und MigrantInnen mit Hilfe von Fluchthilfeunternehmen einreisen, zeigen sich länderspezifische Häufungen. Auch diese werden in den interessierten Veröffentlichungen der ‘Sicherheitsexperten’ selten ausgewiesen und schon gar nicht interpretiert. Nehmen wir als Beispiel das Jahr
1995. Für diesen Zeitraum gibt der BGS
an (vgl. GSA Frankfurt Oder, 31.12.1996),
allein an der deutsch-polnischen Grenze
13.276 Personen wegen ‘illegaler Einreise’ festgenommen zu haben. Davon seien
1.096 Personen (8 %) von FluchthelferInnen unterstützt und 238 ‘Schleuser’ festgenommen worden. Ein Blick auf die Liste
der Herkunftsländer der glücklosen
GrenzgängerInnen ergibt folgendes Bild:
Zur Einreise ins Schengengebiet verhelfen
ließen sich – laut BGS Angaben – von den
1.858 Menschen aus überwiegend weiter
entfernten Ländern1 353 Personen (19 %).
Von 531 festgenommen InderInnen seien
es 101 Personen (19 %) gewesen, von
1.062 ArmenierInnen 175 Personen (16,5
%) und von den 399 AfghanInnen 53 Personen (13 %). Aus den eben erwähnten
Herkunftsländern ließ sich somit jede
fünfte bis achte festgenommene Person
über die Grenze verhelfen. Menschen aus
den osteuropäischen Ländern griffen auf
die Dienstleistung Fluchthilfe weit seltener zurück: Von den 6.505 festgenommenen RumänInnen waren es lediglich 296
(4,5 %), von 531 UkrainerInnen 25 (4,7 %),
von 531 BulgarInnen 33 (6,2 %), von 531
MoldawierInnen 7 (1,3 %) und von 398
RussInnen 16 Personen (4 %). Somit bleibt
festzuhalten: selbst die veröffentlichten
Zahlen des BGS spiegeln die Tatsache wider, daß die Frage durchaus differenziert
zu beantworten ist, ob auf dem Weg nach
Westeuropa die Hilfe kommerzieller
Fluchthilfeunternehmen ganz oder nur
teilweise in Anspruch genommen werden
muß, oder ob es möglich ist, die Reise in
Eigenregie durchzuführen. Dies dürfte in
erster Linie von den Migrationsbedingungen für Menschen aus verschiedenen Ländern abhängen. Nach unseren Beobachtungen finden sich selbstorganisierte Reisen vor allem dann, wenn die Anreise
durch die osteuropäischen Staaten noch
relativ einfach zu bewerkstelligen ist. Als
Beispiel hierfür kann eine 124 Personen
große Gruppe von Roma aus Rumänien
genannt werden, die im August 97 vom
polnischen Grenzschutz bei Piensk, nördlich von Zgorzelec, verhaftet wurde (Gazeta Wyborcza 29.8.1997). Die Gruppe, in
der sich 64 Kinder im Alter von einem Monat bis zu zwölf Jahren befanden, stammte aus zwei rumänischen Kleinstädten. Sie
hatte sich einen Bus mit Fahrer gemietet,
der sie bis zu einem Ferienort an der deut183
F L U C H T U N D M I G R AT I O N
schen Grenze gebracht hatte. Dort hatte
sie in Zelten polnischer Pfadfinder übernachtet. Obwohl sie sich legal in Polen
aufhielt, wurde die Gruppe vom polnischen Grenzschutz verhaftet, in einem
Konvoi an die ukrainische Grenze eskortiert und abgeschoben. Für Flüchtlinge
aus asiatischen oder afrikanischen Staaten sind derart selbstorganisierte Reisen
nach Westeuropa praktisch nicht mehr
möglich. Zwar kann unter Umständen ein
Visum für Rußland oder die Ukraine beschafft werden, die Weiterreise durch die
angrenzenden osteuropäischen Staaten
wird jedoch mittlerweile massiv verfolgt
und ist mit unübersehbaren Schwierigkeiten verbunden.
Eine letzte Bemerkung im Zusammenhang mit den vom BGS veröffentlichten
Daten betrifft die Zahl der festgenommenen FluchthelferInnen. Von Jahr zu Jahr
wird hier ein Ansteigen gemeldet. Diese
Zunahme dürfte einerseits damit zusammenhängen, daß schon die Anreise durch
die osteuropäischen Länder und der
Grenzübertritt immer schwieriger wird.
Andererseits dürfte sie auf den gleichen
Effekt zurückzuführen sein, der für die
Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) festgestellt werden kann, denn „Steigerungen
oder Rückgänge der Registrierung einzelner Delikte in der PKS können immer
auch auf eine Veränderung des Aufhellungsgrades, auf verändertes Kontrolloder Anzeigeverhalten zurückzuführen
sein“ (Lehne 1997, S. 65). Im Zusammenhang der steigenden Festnahmezahlen von
FluchthelferInnen dürfte hier eine stärkere Fokussierung der gesamten Grenzfahndung auf diesen Aspekt ebenso verantwortlich sein, wie eine verstärkte Anzeigebereitschaft der in die Grenzsicherung
eingebundenen Bevölkerung (vgl. FFM
1998). Außerdem ist der Inhalt dessen,
was als ‘Schlepperei’ bezeichnet wird,
ständig erweitert worden.
Interessant sind auch die vom BGS an184
gegebenen Herkunftsländer der festgestellten ‘Schleuser’. Von den 1996 festgenommenen 387 ‘Schleusern’ seien 226
aus Polen, 77 aus Deutschland und 18 aus
der Tschechischen Republik. Es spricht also einiges dafür, daß die ‘kleine’ spontane
Fluchthilfe wesentlich häufiger stattfindet
als die von langer Hand vorbereitete internationale Migrationsinszenierung, wie das
Bundesinnenministerium immer wieder
darstellt. Dabei ist natürlich zu berücksichtigen, daß i.d.R. nur diejenigen ‘Fußschleuser’ und Transporteure erwischt
werden, die den letzten und risikoreichsten, oft einzig illegalen Abschnitt des
Fluchtweges bestreiten.
Wie sehr auch die rechtliche Betrachtung von Fluchthilfe vom jeweiligen politischen Kontext abhängt, verdeutlicht ein
Rückblick in die 80er Jahre. Damals, zur
Zeit der propagandistischen Auseinandersetzung zwischen Ost und West, feierten die westlichen Medien nicht nur die
Taten der FluchthelferInnen, Gerichte gewährten im Zweifelsfall auch Rechtsschutz für die gewerbsmäßige und nicht
selten bandenmäßig organisierten ‘Schlepper’ – oder damals vielmehr: Fluchthilfeorganisationen.2 So urteilte 1980 der Bundesgerichtshof (BGH) als Revisionsinstanz
zugunsten eines Fluchthelfers. Dieser forderte trotz des mißlungenen Versuchs, einen DDR-Bürger über die Grenze zu bringen, den vereinbarten Vorschuß in Höhe
von 10.000 Mark von seinem westdeutschen Auftraggeber und war nach dessen
Weigerung bis vor den BGH gezogen. Der
BGH kam in seinem Urteil zu dem Schluß,
„daß ein solcher Vertrag nicht allgemein
gegen die guten Sitten verstößt“. Mehr
noch, bei der Erörterung des kommerziellen Charakters dieser Fluchthilfe kam der
BGH zu der Einschätzung, „es sei nicht in
jedem Fall anstößig, eine Hilfeleistung,
selbst für einen Menschen in einer Notlage, von einer Vergütung abhängig zu
machen“. Das gelte auch, wenn – wie im
FLUCHTHILFE
geschilderten Fall – Hilfe bei der „Ausübung eines Grundrechts an ein Entgelt“
geknüpft sei. Das Schleusen von DDR-BürgerInnen über die deutsch-deutsche Grenze beruhe „durchaus auf billigenswerten,
ja edlen Motiven“ und sei mithin nicht verwerflich. Auch über einen angemessenen
Preis machten sich die Richter Gedanken:
„Fluchthilfevergütungen von 15.000 Mark
oder 13.000 Mark je ‘geschleuster’3 Person“ schienen ihnen „im Hinblick auf hohe
Unkosten des Fluchthelfers nicht als überhöht“. Es wendet sich Kunde an Anbieter,
„weil (...) bei ihm die Kenntnisse, Erfahrungen und Verbindungen“ erwartet werden, die für eine Flucht, einen heimlichen
Grenzübertritt benötigt werden. Auch
„der Zwang, der Fluchthilfeorganisation
‘blindes Vertrauen’ zu schenken, und die
faktische Unabänderlichkeit (...) der von
ihr gestellten Bedingungen“, spielten
schon zu jener Zeit eine Rolle und verdeutlichen jenes Abhängigkeitsverhältnis,
welches den heutigen ‘Schleppern und
Schleusern’ per se als ausbeuterisch angelastet wird. Schließlich geht der BGH
auch auf die Gefahren ein, die mit einem
unerlaubten Grenzübertritt verbunden
sind: „Zu der Frage, ob ein Fluchthilfevertrag sittenwidrig ist, weil ein Fluchthilfeunternehmen Gefahren für beteiligte und
womöglich auch unbeteiligte Personen
hervorrufen kann, hat der (...) Senat (...)
ausgeführt, daß nicht jeder Vertrag sittenwidrig ist, der für die Beteiligten mit persönlichen Gefahren verbunden ist.“ Es
lohnt sich, diese Erörterungen in dieser
Breite zu zitieren, weil sie der heute im
Hinblick auf Fluchthilfe propagierten
Sicht diametral entgegenstehen. Seit es
den Feind im Osten nicht mehr gibt und
seit die Bewegungsfreiheit aller Deutschen mit der Wiedervereinigung erreicht
worden ist, ist von Freizügigkeit keine Rede mehr. Im Gegenteil, den Strategen der
Inneren Sicherheit ist heute kein Vergleich
mehr zu gewagt, kein Bild mehr zu schief,
um den Entschluß von Menschen, ihre
Heimat – aus welchen Gründen auch immer – zu verlassen, als von kriminellen,
skrupellosen ‘Menschenschmugglern’ erzwungenen Akt zu diffamieren.
Es ist aufschlußreich, genauer hinzusehen, wie in den heutigen Debatten der
‘Schlepper’-Diskurs je nach Interesse Anwendung findet. Solange es darum geht,
Fluchthilfe zu kriminalisieren und als Teil
der ‘Organisierten Kriminalität’ dazustellen, erscheinen Flüchtlinge und MigrantInnen als bedauernswerte Opfer, denen
schon in den Herkunftsländern aufgelauert wurde und die unter Vorspiegelung
falscher Tatsachen zum rechtswidrigen
Einwandern nach Europa verlockt oder
gar gezwungen werden. Auch die Tatsache, daß es auf den heimlichen Reiserouten von Flüchtlingen und MigrantInnen
immer wieder zu Tragödien und Unfällen
kommt, die teilweise schlecht organisierter oder fahrlässiger Fluchthilfe geschuldet sind, wird in diesem Zusammenhang
dazu genutzt, generell die Skrupellosigkeit
und Brutalität des ‘Schlepperunwesens’
(Kanther) zu illustrieren. Selbst der Innenminister Bayerns, Günther Beckstein, betont in solchen Fällen: „(...) es gehe ihm
hier auch um das Wohl und die Gesundheit derjenigen Menschen, die sich in den
Händen skrupelloser Schleuser befänden“
(SZ, 17.1.1995). Ganz anders sieht es aber
dann aus, wenn es Flüchtlingen und MigrantInnen gelungen ist, die EU-Außengrenze – mit oder ohne Hilfe – zu überschreiten und sie in die Fänge der deutschen Flüchtlingsverwaltung und Abschiebemaschinerie geraten. In diesem
Augenblick erscheinen die heimlich Eingereisten in den Verlautbarungen der Sicherheitsstrategen nicht mehr als Opfer
sondern als TäterInnen, die illegal Grenzen überquert haben und Asyl ‘mißbrauchen’. Dazu gehört auch das immer wiederkehrende Argument, die hohen Preise
erlaubten es ohnehin nur reichen Bürge185
F L U C H T U N D M I G R AT I O N
rInnen fremder Staaten („Wer hat in der
Dritten Welt schon so viel Geld?“) sich
FluchthelferInnen zu leisten. Hier ist die
Schnittstelle, an der der Diskurs über die
heimlich Einreisenden mit dem einer internationalen Kriminalität verknüpft wird,
dem dann wieder der Ruf nach einer
Verbesserung der Grenzsicherung folgt.
Damit schafft sich das Denksystem der
Inneren Sicherheit selbst die Voraussetzung für eine weitere Aufrüstung an der
Grenze, die weitere Verschärfung der Gesetze und sorgt damit auf seiten der solchermaßen verfolgten Menschen für eine
weitere Zunahme illegaler Handlungen,
die dann wieder als Argument für das
Anziehen der Restriktions-Schrauben des
Grenzregimes und der Inneren Sicherheit
dienen.
Anmerkungen
1 Zum Beispiel Vietnam, Syrien, Nepal, Bangladesh,
Zaire (Kongo), Jordanien, Äthiopien, Ruanda, Kasachstan, Aserbeidschan, China, Pakistan, Türkei/
Kurdistan usw.
2 Im folgenden wird immer wieder diese Entscheidung des Bundesgerichtshofes von 21.2.1980,
NJW 1980, Heft 29, S.1574 ff zitiert.
3 Im Original in Anführungszeichen: heute wäre es
genau umgekehrt und Fluchthilfe würde in Gänsefüßchen gesetzt.
Literatur
Forschungsgesellschaft Flucht und Migration e.V.
(Berlin): Die Grenze – Flüchtlingsjagd in Schengenland. Themenheft in der Publikationsreihe des Fördervereins Niedersächsischer Flüchtlingsrat e.V., in Zusammenarbeit mit der Bundesarbeitsgemeinschaft
Pro Asyl. Juli 1998
Grenzschutzamt (GSA) Frankfurt/Oder: SB 15 Grüne
Grenze. Tabellen zu Aufgriffen von illegalen Grenzgängern, Schleusern und geschleusten Personen an
der deutsch-polnischen Grenze vom 31.12.1996
186
Hellenthal, Markus (Leiter der Grenzschutzdirektion
Koblenz): Die aktuelle Entwicklung der illegalen Zuwanderung nach Deutschland insbesondere mit Blick
auf die Schleuserkriminalität und andere Felder der
grenzbezogenen organisierten Kriminalität und die
Gegenmaßnahmen des Bundesgrenzschutzes in seiner neuen Organisationsstruktur. In: Die Polizei. Zentralorgan für das Sicherheits- und Ordnungswesen
mit Beiträgen aus der Polizeiführungsakademie. 85.
Jahrgang, Heft 1, Januar 1994, S. 1-24.
Lehne, Werner: Kriminalstatistik und Kriminalpolitik.
In: antimilitarismus information (ami), 12/97.
Forschungsgesellschaft Flucht
und Migration e.V.
KINDERFLÜCHTLINGE IN DER BRD
3.
Kinder auf der Flucht
Kinderflüchtlinge in
der Bundesrepublik
Deutschland
Der Beitrag dient als Einführung in das Thema
‚Kinderflüchtlinge’. Er benennt die zentralen
Probleme, die den unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen das Leben in der Bundesrepublik erschweren und entwickelt konkrete Perspektiven für humanere Lebensbedingungen im
Aufnahmeland. Er formuliert die dafür notwendigen politischen Schritte und die erforderlichen rechtlichen Veränderungen. Nicht zuletzt
macht er deutlich, daß auch der Standard von
Betreuungs- und Bildungseinrichtungen für
Kinderflüchtlinge an deren besondere biographische Bedingungen angepaßt werden müßte.
Sie kommen z. B. aus Afghanistan, Ruanda, Sri Lanka, Äthiopien, aus der Türkei,
dem Libanon, Irak, aus dem Kosovo, Rumänien oder einem der Nachfolgestaaten
der ehemaligen Sowjetunion, aus Angola,
Iran oder Vietnam. Sie fliehen vor Bürgerkrieg, Gewalt, drohendem Kriegsdienst
oder politischer Verfolgung, vor Hunger,
ökologischen und ökonomischen Katastrophen, Perspektivlosigkeit und aus lebensbedrohlichen Situationen: Kinder und Jugendliche, die allein auf der Flucht sind –
die sogenannten ‘U.M.F.’, wie sie in der
Behördensprache heißen: Unbegleitete
minderjährige Flüchtlinge. Weltweit sind
nach Schätzungen von Flüchtlingsorgani-
sationen 6 bis 10 Mio. Kinder allein auf
der Flucht, und ihre Zahl wird jährlich
größer. Auf 6.000 bis 10.000 wird die Zahl
der Kinderflüchtlinge geschätzt, die z. Z.
in der Bundesrepublik Deutschland leben.
1. Besondere Schutzbedürftigkeit
Die überwiegende Zahl der alleinstehenden Kinder und Jugendlichen kommt geschockt, verzweifelt und unter extremem
Streß stehend hierher. Sie leiden besonders an dem Trauma der Trennung, herausgerissen aus allem, was ihnen vertraut
ist: der gewohnten Umgebung, der Obhut
von Mutter und Vater, der Großfamilie,
der Schule und Gemeinschaft und ihrem
kulturellen und sozialen Umfeld. Viele von
ihnen haben Krieg, Bedrohung und Verfolgung erlebt. Drei Aspekte kennzeichnen
die besondere Schutz- und Hilfsbedürftigkeit:
– Alleinstehende Flüchtlingskinder sind
Minderjährige. Sie wurden Opfer einer
politischen und gesellschaftlichen Situation, auf die sie keinerlei Einfluß
hatten. Sie sind auf die Betreuung und
Hilfe Erwachsener in allen wichtigen
Angelegenheiten ihres Lebens angewiesen.
– Alleinstehende Flüchtlingskinder sind
unbegleitete Minderjährige, sie wurden
von Eltern und Geschwistern getrennt
und haben oft den Tod ihrer Eltern, naher Angehöriger oder FreundInnen
187
KINDER AUF DER FLUCHT
miterlebt. Unbegleitete Minderjährige
sind Kinder, die keinen Schutz mehr
durch ihre Familien und keine Bezugsperson haben, die ihre Erfahrungen
und ihr Leid ‘auffangen’ und ihnen Sicherheit und Geborgenheit geben kann.
– Alleinstehende Flüchtlingskinder sind
Flüchtlinge, d. h., Kinder, die in Folge
von Krieg, Bürgerkrieg, politischer Verfolgung und anderer existenzbedrohender Umstände ihre Heimat und zugleich ihre Familien verlassen mußten.
Sie waren auf der Flucht oft großen
physischen und psychischen Strapazen
ausgesetzt. Wenn sie hier ankommen,
sind sie häufig schwer traumatisiert (
Traumatisierung). Sie stehen unter dem
Eindruck von Kampfhandlungen und
Gewaltakten, von Tod und Zerstörung.
Die Situation im Exilland stellt sie vor
schwere Herausforderungen. Sie stehen bei ihrer Ankunft unvorbereitet einer oft völlig fremden und neuen Umgebung gegenüber, die sie in vielerlei
Hinsicht ängstigt und überfordert.
2. Die UN-Kinderrechtskonvention:
Menschenrechte für Kinder
Die ‘Charta des Kindes’ von 1959 enthielt
den Satz: „Die Menschheit schuldet den
Kindern das Beste, das sie zu geben hat.“
Dies war eine Willensbekundung, aber
kein verbindliches Recht.
Um der massiven Verletzung von Lebenschancen und -perspektiven einer immer größeren Zahl von Kindern in vielen
Ländern der Welt wirksam zu begegnen,
verabschiedeten die Vereinten Nationen
am 20. November 1989 das Übereinkommen über die Rechte des Kindes, die UNKinderrechtskonvention (KK). In ihr sind
die Menschenrechte für Kinder in sehr
präziser Weise formuliert. Dies gilt gerade
auch für die Kinder und Gruppen von
Kindern, die aufgrund besonderer Umstände und außerordentlicher Gefährdun188
gen und Belastungen besonderer Schutzund Hilfsmaßnahmen bedürfen. Zu ihnen
zählen auch die Kinderflüchtlinge ( Gesetzliche Grundlagen).
Ihnen gilt die spezielle Regelung in Artikel 22 der Kinderrechtskonvention (KK),
nach der jeder Vertragsstaat verpflichtet
ist, „geeignete Maßnahmen zu treffen, um
sicherzustellen, daß sowohl Kinder, die
erst die Rechtsstellung eines Flüchtlings
begehren, als auch jene, die bereits den
Status nach völker- und innerstaatlichem
Recht besitzen, angemessenen Schutz und
humanitäre Hilfe“ erhalten. Artikel 22,
Abs. 2 KK erwähnt die Verpflichtung der
hiesigen Behörden, Eltern oder andere
Familienangehörige des Kindes ausfindig
zu machen, bzw. dann, wenn dies nicht
möglich ist, dem Kind denselben Schutz zu
gewähren „wie jedem anderen Kind, das
aus irgendeinem Grund dauernd oder
vorübergehend aus seiner familiären Umgebung herausgelöst ist“.
Hervorzuheben ist auch Artikel 1 KK.
Er stellt klar, daß die Kinderrechtskonvention auf alle Menschen anzuwenden ist,
die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben. Dies ist vor allem vor dem Hintergrund der deutschen Regelung, die die
Verfahrensmündigkeit ab dem 16. Lebensjahr vorsieht und dann die Erwachsenen-Regel anwendet, von großer Bedeutung.
Gemäß Artikel 3 Abs. 1 KK ist bei allen
Maßnahmen, die Kinder betreffen, „das
Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der
vorrangig zu berücksichtigen ist“. Aus
Artikel 6 Abs. 2 KK folgt, daß die Vertragsstaaten „in größtmöglichem Umfang
das Überleben und die Entwicklung des
Kindes (gewährleisten)“. Den besonderen
Respekt vor dem Willen und den Bedürfnissen des Kindes drückt Artikel 12 aus, in
welchem einem dazu fähigen Kind zugesichert wird, seine eigene Meinung in allen
es berührenden Angelegenheiten frei äussern zu können und diese Meinung ange-
KINDERFLÜCHTLINGE IN DER BRD
messen und entsprechend dem Alter und
der Reife zu berücksichtigen.
Nach Artikel 20 KK hat ein Kind, das
vorübergehend oder dauernd aus seiner
familiären Umgebung herausgelöst wird,
einen Anspruch auf besonderen staatlichen Schutz und Beistand.
Gemäß Artikel 37 KK ist eine Inhaftierung von Kindern – und damit auch Abschiebungshaft bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingskindern – grundsätzlich zu vermeiden.
Die UN-Konvention über die
Rechte des Kindes
– Sie wurde am 20. November 1989
verabschiedet und am 5. April 1992
von der Bundesrepublik ratifiziert –
mit Vorbehalten.
– Die UN-Konvention über die Rechte
des Kindes wurde bisher von 191
Staaten unterzeichnet (Stand: Dezember 1997).
– Sie verpflichtet die Unterzeichnerstaaten, jedes Kind umfassend vor
Hunger, Armut, Gewalt (physischer
und psychischer), vor Diskriminierung und Ausbeutung, vor Folter und
Drogen zu schützen.
– Sie gilt für alle Kinder bis zur Vollendung des 18. Lebensjahrs.
– Sie nimmt die Staaten in die Pflicht,
für die Sicherheit, den Schutz und
die Fürsorge von besonders belasteten oder gefährdeten Kindern zu sorgen (z. B. behinderte Kinder, Kinder
in Kriegen, ausgebeutete Kinder, zur
Prostitution gezwungene Kinder,
Flüchtlingskinder).
– Sie führt dazu, daß sich die Unterzeichnerstaaten regelmäßig einer
UN-Kommission stellen müssen, um
über die Fortschritte bei der Umsetzung der Konvention zu berichten.
Wir heben diese Artikel besonders hervor, weil die Bundesrepublik Deutschland
denjenigen ausländischen Kindern, die
ohne die erforderliche Aufenthaltsgenehmigung deutschen Boden betreten, die
Rechte aus der Kinderrechtskonvention
vorenthalten möchte.
3. Die UN-Konvention über die Rechte
des Kindes in der Bundesrepublik
Deutschland
Die Kinderrechtskonvention wurde 1992
von der Bundesregierung ratifiziert – allerdings mit dem Vorbehalt: Keine Bestimmung der Kinderrechtskonvention soll
dahin ausgelegt werden können, daß sie
das Recht der Bundesrepublik Deutschland beschränke, Gesetze und Verordnungen über die Einreise von Ausländern und
die Bedingungen ihres Aufenthaltes zu erlassen oder Unterschiede zwischen Inländern und Ausländern zu machen. Mit
anderen Worten: Das deutsche Ausländerund Asylrecht soll durch die Konvention
nicht berührt werden, obwohl oder weil
das besonders restriktive deutsche Ausländer- und Asylrecht weit hinter den Maßgaben der Konvention zurückbleibt. Mit
dieser Vorbehaltserklärung und der derzeitigen Praxis steht Deutschland im klaren Widerspruch zu den Anliegen der Kinderrechtskonvention. Nach Ansicht von
PRO ASYL und aller der in der ‘National
Coalition für die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland’ zusammengeschlossenen Verbände und
nicht zuletzt nach Auffassung des UNKomitees für die Rechte des Kindes in
Genf ist dieser Vorbehalt gemäß Artikel 51
Abs. 2 der Konvention selbst nicht zulässig, da er mit Ziel und Zweck des Übereinkommens unvereinbar ist ( Kinderrechte, Gesetzliche Grundlagen). In seinem Bericht vom 17. November 1995 empfiehlt
das UN-Komitee eine Überprüfung der
seitens der Bundesrepublik Deutschland
189
KINDER AUF DER FLUCHT
bei der Ratifizierung abgegebenen Erklärung mit dem Ziel einer möglichen Rücknahme (Randziffer 22). Nach Ansicht des
Ausschusses erscheinen die abgegebenen
Erklärungen „unnötig“ oder erwecken andernfalls „Zweifel hinsichtlich ihrer Vereinbarkeit mit der Konvention“.
Seit der Ratifizierung der KK durch die
Bundesregierung hat sich die Lage der
Kinderflüchtlinge durch die Verschärfung
des Asylrechts und die Änderung des
Grundgesetzes weiter verschlechtert: In
Deutschland gilt nicht das ‘Kindeswohl’
(the best interest of the child) gemäß der
KK als maßgeblich und vorrangig, sondern das restriktive Ausländer- und Asylrecht.
4. Deutsches Asyl- und Ausländerrecht
widerspricht Erfordernissen des
Kinderschutzes
Asyl- und Ausländerrecht werden der besonderen Schutzbedürftigkeit der Kinderflüchtlinge und den gesetzlichen Erfordernissen des Kinderschutzes nicht gerecht.
Artikel 22 KK verpflichtet die Bundesrepublik Deutschland aber dazu, auch unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen die
Einreise und den Aufenthalt zu gestatten
und sie in jugendhilferechtlicher Hinsicht
wie deutsche Kinder zu behandeln. Dem
stehen – besonders nach den Verschärfungen des Ausländer- und Asylrechts 1993 –
eine ganze Reihe gesetzlicher Bestimmungen und die derzeitige Rechtspraxis im
Umgang mit Kinderflüchtlingen entgegen:
– Die Drittstaaten-Regelung,
nach der jede Person, die aus einem sicheren Drittstaat kommt, an der Grenze
zurückzuschicken ist, wird unterschiedslos
auch auf unbegleitete Flüchtlingskinder
angewandt ( Asylpolitik EU, Schengener
und Dubliner Abkommen). Ohne Prüfung,
ob und welchen Bedarf an Betreuung, Beratung und Hilfe das Kind benötigt,
190
kommt es immer wieder zu Zurückschiebungen von Kindern in Drittstaaten –
ebenfalls ohne Prüfung und Garantie, daß
dort die Inobhutnahme des Minderjährigen mit den erforderlichen Schutzmaßnahmen und Leistungen nach dem Haager
Minderjährigen Schutzabkommen (MSA)
gesichert ist.
– Das sog. Flughafenverfahren
ist ein Asyl-Schnellverfahren für alle Asylsuchenden, die über einen Flughafen einreisen wollen und kein gültiges Visum besitzen oder aus einem ‘sicheren Herkunftsstaat’ kommen. Dieses Schnellverfahren wird seit dem Erlaß des Bundesinnenministers vom Juli 1994 auch auf
Kinder und Jugendliche angewandt. Für
die Dauer dieses Verfahrens sind die
Flüchtlinge im Transit des Flughafengebäudes untergebracht, das sie nicht verlassen dürfen. Die Umstände der nicht
kindgerechten Unterbringung, die Überforderung, Verunsicherung und Verängstigung z. T. traumatisierter Kinder durch
das Schnellverfahren und die Art der Befragung, sowie die Betreuung durch hierfür nicht ausgebildete Grenzschutzbeamte, widerspricht diametral der Schutzbedürftigkeit und dem Kindeswohl ( Flughafenregelung).
– Die Handlungsfähigkeit von Kindern im
Asylverfahren
Kinderflüchtlinge zwischen 16 und 18
Jahren werden im Asylverfahren wie Erwachsene behandelt. Ist das Verfahren
schon für Erwachsene ohne Hilfe kaum
durchschaubar und nicht zu bewältigen,
unterstellt der Gesetzgeber Kindern, deren hinreichende Einsichts- und Artikulationsfähigkeit aufgrund vorangegangener Flucht- und Verlusterfahrungen gerade in dieser Situation anzuzweifeln ist,
„Handlungsfähigkeit“: Weil sie nach § 12
AsylVfG als verfahrensfähig definiert sind,
erhalten sie im Asylverfahren regelmäßig
KINDERFLÜCHTLINGE IN DER BRD
keinen Vormund (wenn sie schon einen
haben, kann dieser übergangen werden)
und werden zusammen mit Erwachsenen
untergebracht ( Asylverfahren).
– Altersbestimmung
Bei Minderjährigen, die weder einen Paß
noch einen Identitätsnachweis besitzen,
ist häufig die Frage des Alters ungeklärt.
Gegen alle Grundsätze des Kinder- und
Jugendschutzes praktizieren bundesdeutsche Behörden zweifelhafte und umstrittene Methoden zur Altersbestimmung, um
nach Möglichkeit durch fiktive Altersfestsetzungen (auf 16 Jahre) die Kinder ‘asylmündig’ zu machen. Die umstrittene Methode der Praxis des Zwangsröntgens (des
Handwurzelknochens) wurde am Frankfurter Flughafen und in den Bundesländern weitgehend eingestellt, nachdem ein
Gutachten von PRO ASYL und dem Verein
Demokratischer Ärztinnen und Ärzte diese
Praxis als rechtswidrig und gesundheitsgefährdend nachwies. Das Grundsatzurteil
des BGH vom 3. Dezember 1997 stellt fest,
daß das Zwangsröntgen den Tatbestand
der gefährlichen Körperverletzung i. S. des
§ 223 a StGB erfüllt.
Bundesgrenzschutz, Polizei und Ausländerbehörden sind dazu übergegangen,
eine Altersfeststellung nach bloßer ‘Inaugenscheinnahme’ vorzunehmen, obwohl
sie dazu weder geschult noch von ihrer
Aufgabenstellung her geeignet sind ( Altersfeststellung) (s. nebenstehender Kasten).
– Drängen ins Asylverfahren
Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge
werden oft ins Asylverfahren gedrängt,
auch wenn sie keine Asylgründe im herkömmlichen Sinne geltend machen können. Der Grund ist weniger die Unerfahrenheit der Kinder oder ihrer BetreuerInnen, sondern die Weigerung vieler Ausländerbehörden, sich dem Problem der Kinderflüchtlinge zu stellen. Dies hat auch fi-
Altersfeststellung durch ‘Inaugenscheinnahme’ – ein Hamburger terre
des hommes-Mitarbeiter berichtet:
„Aboudou Konan, geb. 1983 in Côte
d’Ivoire, wurde am 12.11.1997 in der
Ausländerbehörde unter dem Verdacht, ein falsches Geburtsdatum angegeben zu haben, verhaftet, als er mit
einem Betreuer der Jugendeinrichtung
eine Duldung beantragen wollte. Der
Sachbearbeiter schätzte das Alter auf
mindestens 16 Jahre und beschloß die
Umverteilung. Der Minderjährige wurde in Handschellen abgeführt und zur
erkennungsdienstlichen Behandlung
zum Polizeipräsidium gebracht. Gegen
3.30 Uhr (morgens) kam der Anruf von
der Polizei, daß Aboudou freigelassen
würde. eine Betreuerin holte ihn ab.
Am nächsten Tag erfolgte die Asylantragstellung mit dem fiktiven Alter,
und am darauffolgenden Tag wurde
Aboudou zu einer Erwachsenenunterkunft in Nestorf-Horst bei Boizenburg
gebracht.“
nanzielle Hintergründe. Oft heißt daher
die Alternative: Abschiebung oder Asylantrag. Auf diese Weise kommt es zu unnötigen, manchmal von vornherein aussichtslosen Asylverfahren. Das, was es eigentlich im Interesse des Kindeswohls aufzuklären gilt, nämlich die persönliche Lebenssituation, bleibt unaufgeklärt, weil
sich der Blick auf die politische Situation
im Herkunftsland konzentriert.
– Ablauf des Asylverfahrens
Die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge durchlaufen im Asylverfahren das
gleiche Prüfungsverfahren wie Erwachsene. Nach ihrer Einreise oft ohne nähere
Prüfung ins Asylverfahren hineinge191
KINDER AUF DER FLUCHT
drängt, werden sie häufig ohne Vorbereitung, ohne Hilfe und ohne die erforderliche
Behutsamkeit erkennungsdienstlich behandelt und müssen eine routinemässige
Befragung über sich ergehen lassen, deren
Sinn und Zweck sie nicht verstehen. Ihre
genauen Fluchtgründe und die Beweggründe ihrer Eltern können so nicht ermittelt werden. Unerfahrenheit, Unsicherheit
und Angst führen dazu, daß die Kinder
nicht in der Lage sind, ein Schutzbegehren
nachvollziehbar zu begründen. Art, Anforderungen und Ablauf dieses nicht kindgerechten Verfahrens führen in aller Regel
dazu, daß Kinder an den strengen Verfahrens- und Mitwirkungsregelungen – zumal ohne geschultes Personal und ohne
die Anwesenheit einer vertrauten Person –
scheitern müssen. Der Aspekt des Kindeswohls und der besonderen Schutzbedürftigkeit aufgrund des Alters findet keine hinreichende Berücksichtigung.
– Abschiebungshaft
Immer wieder kommt es auch vor, daß
Kinder und Jugendliche zwischen 16 und
18 Jahren, denen der Aufenthalt in der
Bundesrepublik aufgrund des Asyl- und
Ausländerrechts verweigert wird, in Abschiebungshaft genommen werden. Diese
Praxis und auch die nicht kindgerechte
Unterbringung von Kindern unter haftähnlichen Bedingungen während des Flughafenverfahrens verstößt gegen das Gebot
des besonderen Schutzes, der freiheitsentziehende Maßnahmen bei Kindern vom
Prinzip her ausschließt ( Abschiebung).
– Einschränkungen der Entwicklungschancen von Kindern
Kinderflüchtlinge, die den ausländer- und
asylverfahrensrechtlichen Regelungen unterliegen, sind auch hinsichtlich ihrer sozialen Entwicklung und notwendiger psychosozialer Betreuung schlechter gestellt
als deutsche Kinder und Jugendliche. So
werden ‘asylmündige’ Minderjährige zwi192
schen 16 und 18 Jahren verpflichtet, in einer Gemeinschaftsunterkunft mit erwachsenen Asylsuchenden zu wohnen. Die Bedingungen dort entsprechen i.d.R. nicht
den Anforderungen einer kind- und jugendgerechten Entwicklung. Die Kinder
werden hier wie Erwachsene behandelt,
sie erhalten i.d.R. keine besondere soziale
Betreuung; die Förderung zum Erlernen
der deutschen Sprache ist nicht vorgesehen; die besondere Schutzbedürftigkeit
z. B. junger Mädchen vor Belästigungen
und Übergriffen bleibt genauso unberücksichtigt wie die Notwendigkeit und der
große Bedarf an psychosozialer Betreuung für viele Kinder und Jugendliche, die
mit ihren traumatischen Erlebnissen, dem
Verlust ihrer Heimat und allem Vertrauten
sowie der Konfrontation mit der fremden
Umgebung und auch der Erfahrung der
Ablehnung nicht fertig werden. Auch in
der Gesundheitsfürsorge und im Bereich
von Erziehung und Bildung unterliegen
minderjährige Flüchtlingskinder gravierenden Einschränkungen, die den Grundsatz des Kindeswohls verletzen.
5. Forderungen und Positionen
Die nach der Kinderrechtskonvention völkerrechtlich seit über 7 Jahren bestehende Pflicht der Bundesrepublik zur Schutzgewährung gegenüber Kinderflüchtlingen
ist innerstaatlich bisher noch immer nicht
umgesetzt worden. Das innerstaatliche
deutsche Recht und die Rechtspraxis stehen – entgegen der deutschen Vorbehaltserklärung – nicht im Einklang mit den
Bestimmungen der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen.
Um dem völkerrechtlichen Gebot der
besonderen Hilfe, des besonderen Schutzes und der besonderen Fürsorge gegenüber minderjährigen Flüchtlingen endlich
Rechnung zu tragen, fordern PRO ASYL,
UNICEF, terre des hommes und alle in der
‘National Coalition für die Umsetzung der
KINDERFLÜCHTLINGE IN DER BRD
UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland’ zusammengeschlossenen über 90
Verbände und Institutionen einschneidende Maßnahmen und gesetzliche Veränderungen:
(1) Uneingeschränkte Umsetzung der UNKinderrechtskonvention und Rücknahme
der seitens der Bundesrepublik Deutschland bei der Ratifizierung abgegebenen
Erklärungen
Diese Erklärung stellt auf die Vorrangigkeit des deutschen Asyl- und Ausländerrechts vor der UN-Kinderrechtskonvention ab. Dies verstößt gegen völkerrechtliche Grundsätze und gegen den Geist der
Kinderrechtskonvention. Nach Artikel 51
Abs. 2 KK sind Vorbehalte, die mit dem
Ziel und Zweck dieses Übereinkommens
unvereinbar sind, nicht zulässig. Das UNKomitee für die Rechte des Kindes in Genf
hat die Bundesregierung bereits 1995
nach der Anhörung über den Stand der
Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland aufgefordert, eine
Überprüfung der seitens der Bundesrepublik Deutschland bei der Ratifizierung der
UN-Kinderrechtskonvention abgegebenen
Erklärungen mit dem Ziel der Rücknahme
vorzunehmen.
(2) Aussetzung der ‘Drittstaaten-Regelung’ und des ‘Flughafenverfahrens’ für
unbegleitete minderjährige Flüchtlinge
Sowohl die Drittstaaten-Regelung als auch
die Flughafenregelung verstoßen gegen
die UN-Kinderrechtskonvention, weil asylsuchende Kinder wie Erwachsene behandelt werden und an der Grenze zurückgewiesen werden können oder am
Flughafen ein Asylschnellverfahren zu
durchlaufen haben – ohne Beachtung und
Berücksichtigung der besonderen Schutzbedürftigkeit, einer erforderlichen Inobhutnahme und entsprechender Kinderschutzmaßnahmen. Artikel 3 KK, der das
Kindeswohl als gegenüber allen staatli-
chen Maßnahmen übergeordnetes Prinzip
konstruiert, wurde bei der Änderung des
Asyl- und Ausländerrechts 1993 nicht hinreichend bedacht. Erforderlich sind zumindest Ausnahmeregelungen, die den
Notwendigkeiten eines Kinder- und Jugendschutzes Rechnung tragen. Der Gesetzgeber ist dringend gefordert, eine Änderung im Ausländer- und im Asylverfahrensgesetz herbeizuführen und die Kinderflüchtlinge aus der Drittstaaten- und
Flughafenregelung herauszunehmen.
(3) Kinderschutz bis zur Volljährigkeit
Kinderschutz im Sinne der Konvention
(Art. 1) muß bis zum Alter von 18 Jahren,
bis zur Volljährigkeit, gewährt werden.
Gesetzliche Änderungen des § 12 Asylverfahrensgesetz und § 68 Ausländergesetz
sind daher dringend erforderlich ( Minderjährigkeit/Vorgezogene Volljährigkeit).
Nach der Vorschrift des § 68 Abs. 2 AuslG
können derzeit schutzsuchende Kinder an
der Grenze zurückgewiesen oder in ihr
Heimatland zurückgeschoben werden, ohne daß das Jugendamt oder das Vormundschaftsgericht eingeschaltet werden. Die
Zurückweisungsmöglichkeiten nach § 68
Abs. 2 AuslG eröffnen dem Bundesgrenzschutz Freiräume, die unvereinbar mit den
Grundsätzen des Kinderschutzes und
Rechtsstaatsprinzips sind. Das Kindeswohl
verlangt, stets den Zutritt zu ermöglichen,
damit in Ruhe geprüft werden kann, welche Maßnahmen erforderlich und geeignet
sind.
(4) Vormundschaft
Ein kompetenter Vormund oder Pfleger ist
für alle Kinderflüchtlinge unter 18 Jahren
unverzüglich nach der Einreise zu bestellen. Das Vormundschaftsgericht hat eine
Vormundschaft von Amts wegen anzuordnen, wenn es von der Notwendigkeit erfährt. Wichtig und sinnvoll ist es, mit Hilfe
des Jugendamtes einen engagierten und
kompetenten Privatvormund oder Vereins193
KINDER AUF DER FLUCHT
vormund zu finden, der sich optimal um
die Belange des Kindes kümmern kann.
Erfahrungsgemäß sind die Amtsvormünder der Jugendämter häufig überlastet
und überfordert und können dem Kind
nicht das notwendige Maß an Betreuung,
Beratung und sachkompetenter Vertretung gegenüber den Behörden widmen (
Vormundschaft, Vereinsvormundschaft).
(5) Clearing-Verfahren
In allen Bundesländern sind Clearing-Stellen einzurichten, in denen Kinderflüchtlinge unmittelbar nach ihrer Einreise Aufnahme und Unterkunft erhalten ( Erstversorgungseinrichtungen). Hier soll ihnen zunächst einmal Ruhe, Verarbeitung
ihrer Erlebnisse und eine Neu-Orientierung ermöglicht werden. Im Rahmen
eines Clearing-Verfahrens sollen die persönlichen Lebensverhältnisse des unbegleiteten Minderjährigen (Identität, Herkunft, Verbleib der Eltern oder anderer
Erziehungsberechtigter im Herkunftsland,
in Deutschland oder in einem Drittland sowie familiäre und soziale Lebensumstände) vertrauensvoll und mit fachkompetenter Hilfe ermittelt werden. Im Sinne der
besonderen Schutzbedürfnisse dieser
Flüchtlingskinder gemäß Art. 3 und 22
der Konvention soll hier vor allem mit
Ruhe und Sorgfalt, mit Zeit und Zuwendung, unter kindgerechten Bedingungen
und mit der erforderlichen Gesprächs- und
Betreuungsintensität überhaupt erst einmal das persönliche Schicksal des Flüchtlingskindes abgeklärt und seine bestmögliche Entwicklung und Perspektive im
Sinne des Kindeswohles beraten werden.
Für die Dauer des gesamten Clearing-Verfahrens erhalten die Kinder und Jugendlichen eine Aufenthaltsbefugnis. Am Ende
dieses Prozesses soll gemeinsam mit dem
Kind beraten und entschieden werden,
a) ob eine gefahrlose Rückkehr des Minderjährigen in sein Herkunftsland möglich ist, falls dort überhaupt eine kind194
und jugendgerechte Betreuung und
Perspektive gewährleistet ist;
b) ob für den Minderjährigen aufgrund
begründeter Furcht vor Verfolgung ein
Asylantrag gestellt werden sollte oder
c) ob ein humanitäres Bleiberecht (über
§§ 30, 32 oder 54 Ausländergesetz) beantragt werden sollte, das sich auch
aus Gründen ergeben kann, die sich
aus dem KJHG herleiten, insbesondere
eine nicht gesicherte kind- bzw. jugendgerechte Betreuung im Herkunftsland.
(6) Altersfeststellung
Bei Minderjährigen, bei denen die Frage
des Alters ungeklärt ist (und aufgrund
fehlender Dokumente bleibt), die weder
einen Paß noch einen Identitätsnachweis
besitzen, darf eine Altersfeststellung nur
von anerkannten Fachkräften (z. B. Kinderärztinnen und -ärzten und Kinderpsychologinnen und -psychologen zusammen
mit Vormund und geschultem Personal)
vorgenommen werden. Dies darf nur in einem sachgerechten Verfahren, ohne
Zwang, ohne unzulässigen Eingriff in die
körperliche Unversehrtheit (also z. B.
nicht durch Handwurzelröntgen) geschehen; dabei ist die physische und psychische Reife vorrangig zu berücksichtigen.
Im Zweifelsfall ist zugunsten des Minderjährigen zu entscheiden. Eine Altersfeststellung durch ungeschultes oder fachfremdes Personal (z. B. Polizei, Ausländerbehörde, Bundesgrenzschutz) aufgrund
des äußeren Erscheinungsbildes durch eine sog. ‘Inaugenscheinnahme’ ist nicht
sachgerecht und daher zu unterlassen (
Altersfeststellung).
(7) Kindgerechtes Verfahren
Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge
sind nach ihren Flucht- und Verlusterfahrungen noch weniger als erwachsene
Flüchtlinge in der Lage, ihr Asylbegehren
nachvollziehbar, detailreich und widerspruchsfrei zu begründen. Nach wie vor
KINDERFLÜCHTLINGE IN DER BRD
besteht die Tendenz, Flüchtlingskinder
nach ihrer Einreise ohne nähere Prüfung
(Clearing-Verfahren) in Asylverfahren hineinzudrängen ( Asylverfahren). Unter
den Bedingungen des derzeitigen Anhörungs- und Verfahrensablaufes müssen
gerade diejenigen Kinder scheitern, die
unter den Folgen von Flucht, Krieg und
Gewalt zu leiden haben. Die Kürze der
Fristen, mangelnde Vorbereitung, langwierige Befragung, erkennungsdienstliche
Behandlung und mangelnde Behutsamkeit
bei der Erforschung der genauen Fluchtumstände können weitere Ängste, Verunsicherung und Blockaden auslösen. Die
gegenwärtige Praxis der Anhörung zur
Feststellung der Flüchtlingseigenschaft
kann für ein Kind mit realem Verfolgungsschicksal sehr traumatisch sein. Daher sollte grundsätzlich keine Anhörung
eines unbegleiteten Flüchtlingskindes
beim Bundesamt für die Anerkennung
ausländischer Flüchtlinge ohne eine erwachsene Vertrauenspersonen (VormünderInnen, Kinderflüchtlingsbeauftragte,
RechtsanwältInnen) stattfinden.
Im Clearing-Verfahren gewonnene Erkenntnisse sind zu Gunsten der Kinder zu
berücksichtigen. Analog dem ClearingVerfahren ist ein kindgerechtes Anhörungs- und Asylverfahren zu entwickeln,
das dem Kindeswohl Rechnung trägt und
nicht einseitig einer asyl- und ausländerrechtlich geprägten Betrachtungsweise
der Behörden und Gerichte folgt. Um den
Erfordernissen eines kindgerechten Verfahrens zu genügen, sind EinzelentscheiderInnen speziell auszubilden und zu
schulen. Unbegleitete Minderjährige sind
künftig nur noch von ihnen in einem kindgerechten Verfahren anzuhören.
(8) Unterbringung, soziale Betreuung und
Versorgung
Kinderflüchtlinge sollen nach dem KJHG
in Jugendhilfeeinrichtungen untergebracht werden und nicht in Sammellagern
zusammen mit Erwachsenen. Ihr Bedarf
an psychischer und sozialer Betreuung,
medizinischer Versorgung sowie die Förderung ihrer Entwicklungsmöglichkeiten
in Schule und Ausbildung entsprechend
den Vorgaben der Kinderrechtskonvention sind wie bei jedem deutschen Kind zu
gewährleisten ( Unterbringung).
(9) Verbot der Abschiebungshaft
Abschiebungshaft für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge ist grundsätzlich zu
verbieten. Die Inhaftierung von Minderjährigen zu diesem Zweck verstößt gegen
das Gebot des besonderen Schutzes, den
Kinder und Jugendliche nach der UN-Kinderrechtskonvention und anderen internationalen Abkommen genießen.
(10) Sofortmaßnahmen und gesetzliche
Änderungen
Neben der grundsätzlichen völkerrechtlichen Verpflichtung, das deutsche Ausländer- und Asylrecht an die Völkerrechtsnormen der Kinderrechtskonvention anzupassen, könnten einige Sofortmaßnahmen und Gesetzesergänzungen – auch im
Rahmen des geltenden Ausländer- und
Asylverfahrensrechts – unmittelbar zu einer Verbesserung des Kinderschutzes und
damit der Situation vieler Kinderflüchtlinge in der Bundesrepublik beitragen:
a) Altfallregelung
Die von der ständigen Konferenz der
Innenminister und -senatoren der Länder am 29. März 1996 in Hamburg beschlossene Härtefallregelung berücksichtigte überhaupt nicht die besondere
Situation der unbegleiteten Minderjährigen (Einreise vor dem 1.1.1987). Die
Erfahrungen haben gezeigt, daß ein
über Jahre andauernder ungesicherter
Aufenthalt gerade für unbegleitete junge Flüchtlinge eine große psychische
Belastung darstellt, die eine humanitäre
Lösung erfordert. Die Innenministerkonferenz wird daher aufgefordert, eine
195
KINDER AUF DER FLUCHT
Altfallregelung für junge Flüchtlinge zu
verabschieden, die sich länger als 2
Jahre in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten. Ihnen sollte eine Aufenthaltsbefugnis erteilt werden.
b) Aufenthalt nach erfolgter Integration
Kinderflüchtlinge leben oftmals Jahre
im Aufnahmeland, bevor die Fluchtgründe, ihre Herkunft und die Situation
im Heimatstaat abgeklärt werden können. Während dieser Zeit haben sie
sich in Deutschland integriert und sie
haben nicht nur Freundinnen und
Freunde, sondern oft auch Ersatzeltern
gefunden. Sie sind mit den europäischen Lebensweisen vertraut und haben sich den Sitten und Gebräuchen ihrer Heimat entfremdet. Oft sind sie längere Zeit in Deutschland gewesen als in
ihrem Herkunftsstaat.
Bei dieser Konstellation bedeutet die
Zurückschickung der Kinder den Verlust der zweiten Heimat und fügt den
kindlichen Seelen neuen, schweren
Schaden zu. Dies ist mit dem Kindeswohl oft nicht zu vereinbaren. Eine erfolgte Integration kann daher ein Abschiebungshindernis darstellen.
c) Verbesserung des Verfahrensrechts
Nach § 90 Asylverfahrensgesetz können allgemeine Verfahrensvorschriften
erlassen werden. Dies ist bis heute
nicht geschehen. Damit eine einheitliche Handhabung erfolgt, sind solche
Verfahrensvorschriften zu erlassen.
Im Rahmen dieser Verfahrensvorschriften ist zu bestimmen, daß der besonderen Situation unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge Rechnung getragen
wird. Dies verlangt, daß dem eigentlichen Asylverfahren eine ‘Clearing-Phase’ vorgeschaltet wird (vgl. oben), in
welcher abzuklären ist, ob die Stellung
eines Asylantrages überhaupt dem Kindeswohl entspricht oder ob nicht andere Maßnahmen, wie die Beantragung
196
eines asylunabhängigen Aufenthalts
oder die Rückführung in die Heimat,
dem Kindeswohl entsprechen.
d) Härtefallregelung im Ausländergesetz
Eine Härtefallregelung im Ausländergesetz käme auch den schutzbedürftigen unbegleiteten Minderjährigen zugute. In § 55 Abs. 4 ist eine Härtefallklausel einzufügen, nach der auch unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen ein Aufenthaltstitel gegeben werden kann.
6. Bilanz und Ausblick
Die Zwischenbilanz über die Umsetzung
nach 7 Jahren Kinderrechtskonvention in
Deutschland im Hinblick auf die Rechte
von Kinderflüchtlingen fällt negativ aus.
Die Bundesregierung und die deutschen
Behörden werden ihrer Verpflichtung zum
besonderen Schutz von Kinderflüchtlingen
noch immer nicht gerecht. Dies führt dazu, daß viele der durch Flucht, Menschenrechtsverletzungen und Krieg oft schwer
traumatisierten Kinder keine ausreichenden Hilfen in Deutschland erhalten.
Gemeinsam mit der National Coalition
für die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland erinnern wir
die Bundesregierung an ihr Versprechen,
die Rücknahme ihrer bei der Ratifizierung
abgegebenen Vorbehalte zu prüfen. Neben
den Kinderflüchtlingen gibt es eine große
Zahl von Kindern, z. B. aus binationalen
Partnerschaften, hier geborener Kinder
aus MigrantInnen-Familien mit ungesichertem rechtlichen Aufenthaltsstatus,
deren Rechte ebenfalls in eklatanter Weise verletzt werden. Die in der deutschen
Behörden- und Verwaltungspraxis geltende Vorrangigkeit eines als ‘Fremdenabwehrrecht’ falsch verstandenen Asyl- und
Ausländerrechts führt in vielen Einzelschicksalen immer wieder zu unerträglichen Härten.
AUFNAHMELÄNDER
Deshalb werden PRO ASYL, die Kinderund Menschenrechtsorganisationen, die
Wohlfahrtsverbände, die Kirchen und alle
in der National Coalition zusammengeschlossenen Initiativen und Verbände ihre
Bemühungen für die betroffenen Kinder
gegenüber der Politik verstärken, bis und
damit die UN-Kinderrechtskonvention
ausnahmslos für alle Kinder in Deutschland gilt!
Heiko Kauffmann
Aufnahmeländer1
Ende September 1996 trafen sich auf Einladung des UNHCR 2 in Genf Vertreterinnen und
Vertreter von Statusfeststellungsbehörden und
zuständigen Ministerien aus 21 westlichen
Aufnahmeländern, um über das Thema „unbegleitete minderjährige Asylsuchende“ unter besonderer Bezugnahme auf die von UNHCR im
Entwurf vorgelegten ‘Richtlinien über allgemeine Grundsätze und Verfahren zur Behandlung
asylsuchender unbegleiteter Minderjähriger’
zu diskutieren. An diesem Symposium nahmen
des weiteren Delegierte zwischenstaatlicher
Organisationen wie des Ministerrates der
Europäischen Union, des ICRC 3, UNICEF 4, IGC 5
sowie 16 verschiedene nationale Nichtregierungsorganisationen teil 6. Hintergrund des
Symposiums war die seit Mitte der 90er Jahre
verstärkt gesehene Notwendigkeit, sich dieses
Themas sowohl auf nationaler7 als auch auf internationaler Ebene gesondert zu widmen. Der
Beitrag skizziert die auf diesem Hintergrund
getroffenen Entscheidungen am Beispiel einiger ausgewählter Staaten.
1. Vorbemerkung
Innerhalb der Europäischen Union8 wurden erste Entwürfe einer geplanten Entschließung betreffend ‘unbegleitete minderjährige Staatsangehörige dritter Län-
der’ abgefaßt9, und auch IGC legte seinen
Schwerpunkt für 1996 auf diese Gruppe
der Asylsuchenden. Einer der Kernpunkte
des Austausches unter den Aufnahmeländern war die Schwierigkeit, in dem Spannungsfeld Zuwanderungskontrolle einerseits und primäre Berücksichtigung des
Kindeswohles andererseits den Verpflichtungen aus den internationalen Kinderschutzabkommen gerecht zu werden, ohne dadurch einen verstärkten Zuzug von
minderjährigen Flüchtlingen auszulösen
( Kinderflüchtlinge). Es wurde deutlich,
in welchem Maße die westlichen Asylländer Sonderverfahren für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge eingerichtet hatten
bzw. diese in das für Erwachsene geltende
asyl- und ausländerrechtliche Verfahren
miteinbezogen wurden ( Asyl- und
Flüchtlingspolitik Europa). Nachfolgend
wird die Behandlung von ‘minderjährigen
unbegleiteten Flüchtlingen’ in den drei europäischen Aufnahmestaaten Niederlande, Großbritannien und Dänemark skizziert, um diese graduell unterschiedlichen
Spezialmaßnahmen zu beleuchten. Diese
Asylländer wurden auch deshalb gewählt,
weil die Herkunftsländer dieser Kinderflüchtlinge nicht zu stark von denen in der
Bundesrepublik Deutschland abweichen.10
2. Beispiel Niederlande
Seit dem 1.9.1992 ist in den Niederlanden
eine spezielle Politik für Kinderflüchtlinge
(sog. AMA-Verfahren) in Kraft.
– Definition
Als solcher gilt, wer das 18. Lebensjahr
noch nicht vollendet hat und bei der Einreise nicht von einem volljährigen Verwandten begleitet wird.
– Zahlen
Nach Einführung des AMA-Verfahrens
stieg die Zahl der Kinderflüchtlinge kurzfristig an: zwischen 1994 und 1996 lag sie
197
KINDER AUF DER FLUCHT
konstant bei 1630 bis 1690 Neueinreisen
pro Jahr. Im Jahre 1997 war ein erneuter
Anstieg auf 2845 Minderjährige zu verzeichnen. Im Schnitt sind 75 % der Kinderflüchtlinge zwischen 15 und 17 Jahre
alt. In den Jahren 1992 bis 1995 waren etwa ein Viertel der Kinderflüchtlinge Mädchen. Hauptherkunftsland war von 1992
bis 1995 jeweils Somalia, gefolgt von China, Angola, Zaire und Äthiopien 11 (
Herkunftsländer).
– Einreise
Grundsätzlich gelten die Visabestimmungen sowie theoretisch auch Dritt- und
Sicherer-Herkunftsstaat-Regelungen auch
im Fall von Kinderflüchtlingen. Da vor einer Rückführung einer/eines Minderjährigen jedoch immer geprüft werden muß,
ob im aufnehmenden Staat adäquate Bedingungen vorliegen, wird in der Praxis
ein beschleunigtes Verfahren wie das Flughafenverfahren nur bei Zweifeln an dem
angegebenen Alter bzw. der Staatsangehörigkeit durchgeführt.
– Altersfeststellung
Durch die Änderung ausländerspezifischer Bestimmungen12 im März 1996 wurde die Möglichkeit einer Altersfeststellung
geschaffen. Danach wurde, wenn bei der
ersten Registrierung des/der Minderjährigen Zweifel an den Altersangabe auftraten, eine weitergehende Befragung vorgenommen. War diese nicht aufschlußreich,
so wurde der/die Minderjährige in das
Aufnahmezentrum Oisterwijk gebracht,
wo er einer eingehender Prüfung, bestehend aus Röntgenaufnahmen von Kiefer
und Zähnen sowie Hand und Oberarm, einer Untersuchung des Kopfes sowie der
Abnahme eines Gebißabdruckes unterzogen wurde ( Altersfeststellung). Hierfür
war jedoch in allen Fällen die Zustimmung der Minderjährigen erforderlich.
Von April bis September 1996 wurde eine
derartige medizinische Untersuchung bei
198
etwa 40 Personen vorgenommen, die in
fast allen Fällen eine höheres Alter als das
von den AntragstellerInnen angegebene
ergab. Auch wenn der Gerichtshof in Den
Haag und seine Nebenstellen13 aufgrund
der Einverständniserklärung der Betroffenen die grundsätzliche Rechtmäßigkeit
der Untersuchungen bestätigt haben, so
hat die Nebenstelle ‘s-Hertogenbosch in
mehreren Urteilen jedoch festgestellt, daß
das Ergebnis der jeweiligen einzelnen Untersuchung nicht konkludent war. In der
Praxis war für die medizinische Überprüfung nur ein Arzt zuständig, der diese
Aufgabe Ende 1997 niederlegte. Ende
März 1998 kündigte die damalige Justizstaatssekretärin in einem an das Parlament gerichteten Brief an, man werde die
Praxis derartiger Untersuchungen so bald
wie möglich wieder aufnehmen.
– Unterbringung und Vormundschaft
Kinder unter 12 Jahren werden nach der
Einreise sofort in spezielle Jugendaufnahmestellen mit 24-Stunden-Betreuung gebracht (z. B.Valentijn-Stiftung in Nunspeet
und Lochem) oder an Pflegefamilien vermittelt. Kinder ab 12 Jahren werden nach
einer ersten kurzen Befragung im Anmeldezentrum, bei der die persönlichen Daten aufgenommen werden, einem der vier
Erstaufnahmezentren Eindhoven, Oisterwijk, Haarlem oder Schalkhaar zugewiesen. Diese Einrichtungen verfügen über
spezielle Betreuungsprogramme für Kinderflüchtlinge. Hier wird nunmehr die
Vormundschaftsbestellung
eingeleitet.
Falls keine Privatperson als Vormund zur
Verfügung steht, wird durch den Bezirksrichter der Vormundschaftsstiftung Stichting De Opbouw die Vormundschaft übertragen, was etwa 3 Monate dauert. Nach
maximal acht Wochen Verbleib in der
Erstaufnahmeeinrichtung werden Kinder
zwischen 12 und 15 Jahren in eine Jugendaufnahmestelle weitergeleitet (Valentijn-Stiftung); ältere Kinder werden in ei-
AUFNAHMELÄNDER
ne Sonderabteilung für Jugendliche einer
regulären Asylbewerberunterkunft gebracht. Angehörige beider Gruppen werden nach weiteren sechs Monaten in die
Obhut des Vormundes gegeben, der dann
die Verantwortung für sie übernimmt.
Geplant ist, diese Übergangszeit in den
Aufnahmeeinrichtungen – die Zeit der Bestellung des Vormundes – auf drei Monate
zu verkürzen.
Eine Vormundschaft endet im Alter von
18 Jahren. In der Praxis sorgt die Stiftung
De Opbouw jedoch auch weiterhin für die
jungen Flüchtlinge, beispielsweise wenn
deren Verfahren noch nicht abgeschlossen
sind.
– Antrag auf Asyl bzw. Aufenthaltsgenehmigung
Kinderflüchtlinge ab 12 Jahren können in
einem Anmeldezentrum selbständig einen
Asylantrag stellen, der neuerdings aus
Gründen der Verfahrensvereinfachung
auch einen Antrag auf Erteilung einer
Aufenthaltsgenehmigung aus zwingenden
humanitären Gründen impliziert. Für unter 12jährige stellt der jeweilige gesetzliche Vertreter diese Anträge.
– Anhörung
Anders als bei Erwachsenen wird bei Kindern während der ersten 4 Wochen nach
Asylantragstellung grundsätzlich von einer Anhörung abgesehen, damit sie/ er
erst einmal die jüngsten Ereignisse verarbeiten kann und mit der neuen Umgebung
vertraut wird. Kinder unter 12 Jahren
werden nicht persönlich angehört, da dies
nach Ansicht der VormünderInnen dem
Kindeswohl entgegensteht. Die Befragung
von Minderjährigen wird von besonders
erfahrenen AnhörerInnen vorgenommen.
Große Bedeutung wird der Klärung der
persönlichen Umstände der Kinderflüchtlinge beigemessen; in manchen Fällen
wird z. B. nach der Anhörung das Außenministerium um Recherche bezüglich des
Aufenthaltsortes von Familienangehörigen im Herkunftsland ersucht. Grundsätzlich soll in dieser Frage schnell eine Klärung herbeigeführt werden14, andernfalls
wird eine vorläufige Aufenthaltsgenehmigung erteilt (siehe unten).
Kinderflüchtlinge haben während des
gesamten Asylverfahrens Anspruch auf
kostenlose Rechtsberatung durch einen
Rechtsanwalt, der durch das Justizministerium finanziert wird.
– Aufenthaltsmöglichkeiten
Jugendlichen bis zu 12 Jahren, die keine
persönliche Anhörung durchlaufen, wird
in der Regel eine Aufenthaltsgenehmigung erteilt, da in diesen Fällen keine Informationen vorliegen, aufgrund derer
man die Anträge ablehnen könnte.
Ältere Jugendliche können ebenso wie
erwachsene Asylsuchende als Flüchtlinge
im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention
(GFK) anerkannt werden. Dies ist durchschnittlich in weniger als 10 % der Gesuche von Kinderflüchtlingen der Fall. Alternativ kann eine Aufenthaltsgenehmigung aus humanitären Gründen erteilt
werden. Letztere wird provisorisch auch
dann für ein Jahr erteilt, wenn adäquate
Aufnahmebedingungen im Herkunftsland
nicht gegeben sind. In diesen Fällen wird
die Aufenthaltsgenehmigung jedoch mit
dem Zusatz versehen: „Aufenthalt als unbegleiteter minderjähriger Asylsuchender
erlaubt“. Die meisten Kinderflüchtlinge in
den Niederlanden erhalten diese Art von
Aufenthaltstitel15. Die provisorische Aufenthaltsgenehmigung kann jederzeit widerrufen werden, wenn sich die Bedingungen im Herkunftsland ändern, z. B.
wenn der Verbleib von Familienangehörigen bekannt wird oder eine adäquate
Unterbringung etwa in einem Waisenhaus
gesichert ist.
Wenn ein Kinderflüchtling drei Jahre
lang eine provisorische Genehmigung innehatte, kann ihm eine Aufenthaltsgeneh199
KINDER AUF DER FLUCHT
migung aus humanitären Gründen erteilt
werden, falls er keine Straftaten begangen
hat. Danach wird die Aufenthaltsgenehmigung nur noch widerrufen, wenn der
Betroffene wegen einer schweren Strafttat
verurteilt worden ist.
– Rückführung
Vor jeder Rückführung eines Kinderflüchtlings muß die persönliche Zustimmung des Staatssekretärs des Justizministeriums eingeholt werden. Es muß sichergestellt sein, daß der Kinderflüchtling
im Herkunftsland in Empfang genommen
wird.
3. Beispiel Großbritannien
Seit Mai 1995 gibt es in Großbritannien
ein spezielles Modul für Kinderflüchtlinge
innerhalb des Asylverfahrens (Unaccompanied Children’s Module), das eine altersgemäße Befragung durch speziell geschulte AnhörerInnen oder DolmetscherInnen in einer kindgerechten Umgebung
vorsieht.
– Definition
Als Kinderflüchtling gilt, wer das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet und in
Großbritannien keinen erwachsenen Verwandten oder Vormund hat, an den sie/er
sich nach der Einreise wenden kann. Als
„unbegleitet“ gilt nicht, wer zusammen
mit einem Erwachsenen einreist, der qua
Gesetz oder Gewohnheitsrecht die Verantwortung für den Minderjährigen innehat.
– Zahlen
Die Zahl der Kinderflüchtlinge ist seit
1992 (190 Asylgesuche) kontinuierlich gestiegen. 1995 wurden 597 und 1996 623
Neueinreisen registriert. Die Mehrzahl der
Kinderflüchtlinge ist über 16 Jahre alt.
Ihre Hauptherkunftsländer sind derzeit
Äthiopien, Sri Lanka, Somalia, Eritrea,
Afghanistan, Sierra Leone und die Türkei.
200
– Einreise
Grundsätzlich gelten die allgemeinen Einreisebedingungen auch für Kinderflüchtlinge. Was das Konzept des „sicheren
Drittstaates“ anbelangt, so muß er erklären, warum er in dem betreffenden Drittstaat nicht um Asyl nachgesucht hat. Auch
das Prinzip des „sicheren Herkunftslandes“ ist theoretisch auf Kinderflüchtlinge
anwendbar, jedoch findet eine Rückführung nur statt, wenn adäquate, dem Kindeswohl entsprechende Empfangsbedingungen gewährleistet sind.
– Altersfeststellung
Es obliegt dem Kind selbst, das von ihm
angegebene Alter durch Dokumente oder
glaubhaftes Vorbringen zu belegen. Es
können auch medizinische Gutachten beigebracht werden. Nach offizieller Auffassung sind derartige Gutachten jedoch nur
eingeschränkt aussagefähig, da von Altersabweichungen bis zu 2 Jahren nach
oben und unten ausgegangen werden
muß. Von seiten der britischen Einwanderungsbehörde (Immigration and Nationality Directorate/IND) werden deshalb keine Altersfeststellungen in Auftrag gegeben.
– Unterbringung und Vormundschaft
Es entspricht nicht der üblichen Praxis in
Großbritannien, für alle Kinderflüchtlinge
VormünderInnen zu bestellen. Nach der
Einreise werden sie von der Einwanderungsbehörde in die Obhut der örtlichen
Sozialbehörden gegeben, die gemäß dem
‘Children Act’ aus dem Jahre 1989 für die
Betreuung und Unterstützung von Kinderflüchtlingen zuständig sind. Unter Berücksichtigung des ethnischen, sprachlichen
bzw. religiösen Hintergrundes sowie auch
den Wünschen und Gefühlen der Minderjährigen werden Kinderflüchtlinge in Einrichtungen oder Pflegefamilien untergebracht. Jedoch sorgen eine/ein BeraterIn
des Board of Advisors sowie Sozialar-
AUFNAHMELÄNDER
beiterInnen oder BehördenmitarbeiterInnen, für das Wohl des Kindes. Die Gesundheitsvorsorge entspricht der von britischen Staatsangehörigen. Kindern im
schulpflichtigen Alter wird neben dem
normalen Unterricht auch Englischunterricht erteilt.
– Antrag auf Asyl bzw. Aufenthaltsgenehmigung
Die Möglichkeiten, außerhalb eines Asylverfahrens Anträge auf Erteilung einer
Aufenthaltsgenehmigung zu stellen, sind
relativ gering. Für die Asylantragstellung
gibt es kein Mindestalter.
– Anhörung
Kinder unter 10 Jahren werden für gewöhnlich nicht angehört; Kinder zwischen
10 und 14 Jahren nur in Anwesenheit eines erwachsenen Verwandten oder Vormundes. Kinder über 14 können auch alleine befragt werden. Die Anhörung kann
durch besonders geschulte BeamtInnen
durchgeführt werden (Unaccompanied
Children Module). Kinderflüchtlinge haben ebenso wie erwachsene Asylsuchende
Anspruch auf kostenlose Rechtsberatung
durch einen Rechtsanwalt.
– Aufenthaltsmöglichkeiten
Grundsätzlich kann Kinderflüchtlingen in
Großbritannien ebenso der Flüchtlingsstatus nach der GFK zuerkannt werden
wie erwachsenen Asylsuchenden. In diesem Fall wird zunächst eine für vier Jahre
gültige Sonderaufenthaltsgenehmigung
(Exceptional Leave to Remain or Enter/
ELR) erteilt, deren unbefristete Verlängerung anschließend beantragt werden
kann. Falls sich der/die Minderjährige
nicht für den Flüchtlingsstatus qualifiziert, kann eine Sonderaufenthaltsgenehmigung aus humanitären Gründen gewährt werden. Eine solche wird auch in
den Fällen von unter 18jährigen ausgestellt, die mangels adäquater Aufnahme-
bedingungen nicht in ihr Herkunftsland
zurückgeführt werden können. Die Aufenthaltsgenehmigung wird zuerst für 12
Monate erteilt und für gewöhnlich zweimal um jeweils drei Jahre verlängert.
Nach diesen insgesamt 7 Jahren kann eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis beantragt werden. Das Erreichen der Altersgrenze von 18 Jahren führt nicht zum Widerruf einer Aufenthaltsgenehmigung aus
humanitären Gründen.
Seit Einführung des Sonderverfahrens
im Mai 1995 bis zum August 1996 wurden
in Großbritannien 5 Kinderflüchtlinge als
Flüchtlinge anerkannt; weiteren 201 wurde eine Sonderaufenthaltsgenehmigung
erteilt. Die Anträge von 252 Kinderflüchtlingen wurden abgelehnt.
– Rückführung
Grundsätzlich wird eine Abschiebung von
Kinderflüchtlingen nur in Betracht gezogen, wenn eine freiwillige Rückkehr nicht
möglich ist. Vor jeder Rückführung eines
UMF muß geklärt sein, daß der/die Betroffene bei einer Rückkehr keiner ernsthaften Gefahr ausgesetzt wäre. Falls genaue Informationen zur Situation vor Ort
nicht erhältlich sind oder angemessene
Empfangsbedingungen nicht gegeben
sind, wird i.d.R. zugunsten des Kindes entschieden und eine Sonderaufenthaltsgenehmigung erteilt.
4. Beispiel Dänemark
Dänemark betrachtet Kinderflüchtlinge
als besonders verletzbare Gruppe, für die
eine Reihe von Sondermaßnahmen ergriffen wird, um diese Fälle unter vorrangiger
Berücksichtigung des Kindeswohles zu
behandeln.
– Definition
Als Kinderflüchtling gilt, wer das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat und
nicht von einer erwachsenen Betreuungs201
KINDER AUF DER FLUCHT
person begleitet wird. Bei nicht verwandten Betreuungspersonen wird im Einzelfall geprüft, ob die oder der Betroffene als
begleitet oder unbegleitet gilt.
– Zahlen
Die Zahl der Kinderflüchtlinge ist seit
1993 (350 Neueinreisen) gesunken (1994:
322; 1995: 244). Etwa die Hälfte der Minderjährigen sind zwischen 15 und 17 Jahre alt. Sie reisen in der Regel alleine, während die jüngeren Kinderflüchtlinge oft
bereits Verwandte in Dänemark haben.
Etwa ein Drittel der Kinderflüchtlinge in
den Jahren 1993 – 1995 waren Mädchen;
Hauptherkunftsländer waren Somalia, Sri
Lanka (1993 auch Bosnien-Herzegowina),
Irak und Afghanistan.
– Einreise
Grundsätzlich gelten die Visabestimmungen auch für Kinderflüchtlinge. Das Konzept des ‘sicheren Drittstaates’ wird generell nicht auf unter 15jährige angewandt.
Kinderflüchtlinge werden nur in Ausnahmefällen beschleunigten Verfahren unterzogen; hier muß zusätzlich das Vorliegen
von humanitären Abschiebungshindernissen geprüft werden.
– Altersfeststellung
Wenn Zweifel an der Minderjährigkeit bestehen, können die Polizeibehörden oder
die Dänische Einwanderungsbehörde eine
ärztliche Untersuchung in Auftrag geben,
die vom Rechtsmedizinischen Institut
durchgeführt wird und unter anderem eine Untersuchung des Gebisses sowie der
Handgelenkknochen umfaßt.
– Unterbringung und Vormundschaft
Kinderflüchtlinge werden – sofern sie nicht
bei Verwandten oder privat untergebracht
sind – in gesonderten Aufnahmezentren
untergebracht, die von der Dänischen Einwanderungsbehörde finanziert und vom
Dänischen Roten Kreuz geführt werden.
202
Letzteres ist dafür zuständig, eine/n VertreterIn zu bestimmen, der mit dem Kinderflüchtling alle behördlichen Termine,
einschließlich der Asylanhörung, wahrnimmt. Der/die für die Kinderflücht-linge
bestimmte VertreterIn gilt jedoch nicht als
Vormund im rechtlichen Sinne und kann
daher keine Rechtsgeschäfte im Namen
des/der Minderjährigen führen.
– Antrag auf Asyl bzw. Aufenthaltsgenehmigung
Für die Asylantragstellung gibt es kein
Mindestalter; jedoch durchlaufen die unter 15jährigen in Dänemark grundsätzlich
nicht das normale Statusfeststellungsverfahren. Statt dessen wird ihnen gemäß
Art. 9,2,(4) des Dänischen Ausländergesetzes (DK-AuslG) eine Aufenthaltserlaubnis mit 3jähriger Gültigkeit erteilt. Sofern
sie als reif genug eingeschätzt werden,
durchlaufen Kinder über 15 Jahre das
normale Statusfeststellungsverfahren.
– Anhörung
Sowohl während des Registrierungsverfahrens bei der Grenzpolizei als auch bei
den Polizeibehörden im Inland sowie dem
Anhörungsverfahren vor der Einwanderungsbehörde muß immer ein/e VertreterIn des Dänischen Roten Kreuzes anwesend sein. Letzteres muß demzufolge bei
Ankunft eines Kinderflüchtlings sofort
verständigt werden. Dadurch soll sichergestellt sein, daß die Befragungen mit der
gebotenen Sorgfalt und unter Berücksichtigung des Alters sowie der besonderen Umstände des Einzelfalles durchgeführt werden. Das Innenministerium hat
zudem für die relevanten BehördenmitarbeiterInnen Richtlinien erstellt. Im Klageverfahren wird dem Kind ein Rechtsanwalt beigeordnet, der aus öffentlichen
Mitteln finanziert wird.
– Aufenthaltsmöglichkeiten
Grundsätzlich können Kinderflüchtlinge
AUFNAHMELÄNDER
in Dänemark ebenso Asyl gewährt werden
wie erwachsenen Asylsuchenden. Dies besteht in der Zuerkennung des Flüchtlingsstatus nach der GFK, wie normiert in Art.
7,(1) DK-AuslG sowie des sog. De-FactoStatus gem. Art. 7,(2) DK-AuslG. Im Falle
negativer Entscheidungen16 wird automatisch geprüft, ob die Voraussetzungen für
die Erteilung einer besonderen Aufenthaltsgenehmigung gem. Art. 9,2, (4) DKAuslG vorliegen. Diese wird beispielsweise
erteilt, wenn der Kinderflüchtling bei
Rückkehr in eine bedrohliche Lebenssituation geraten würde, etwa weil die Existenzbedingungen im Herkunftsland nicht
gegeben sind, der Verbleib der Eltern
nicht geklärt ist oder letztere wegen Inhaftierung nicht für ihr Kind sorgen können. Bei negativem Ausgang des Verfahrens kann ein Kinderflüchtling des weiteren bei dem Innenministerium eine Aufenthaltsgenehmigung aus humanitären
(z. B. medizinischen) Gründen beantragen.
In den Jahren 1994 (1995) erhielten
19 % (12 %) der Kinderflüchtlinge den
Flüchtlingsstatus, 31% (30 %) De-factoStatus und 25 % (43 %) eine besondere
Aufenthaltsgenehmigung. Bei Vorliegen
einer dieser drei Statusformen wird eine
drei Jahre gültige Aufenthaltserlaubnis
erteilt, die anschließend in eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis umgewandelt und
grundsätzlich nur in Ausnahmefällen17 widerrufen werden kann. Liegen die Voraussetzungen für eine humanitäre Aufenthaltsgenehmigung gem. Art. 9,2,(2) DKAuslG vor, wird zunächst eine auf 6 Monate befristete Aufenthaltserlaubnis gewährt, die dann um nochmals 6 Monate
und anschließend um 1 Jahr verlängert
werden kann. Danach prüft die Einwanderungsbehörde, ob eine besondere Aufenthaltsgenehmigung erteilt werden kann.
Wenn Kinderflüchtlingen Asyl oder eine
besondere Aufenthaltsgenehmigung gewährt wurde, werden sie dem Dänischen
Flüchtlingsrat übergeben, der ein 18monatiges Integrationsprogramm durchführt, das ihre besonderen Bedürfnisse
berücksichtigt.
– Rückführung
Kinderflüchtlinge werden nicht in ihr Herkunftsland zurückgeführt, wenn ihre Eltern oder andere gesetzliche VertreterInnen nicht auffindbar sind oder wenn eine
ausreichende Betreuung nicht gewährleistet ist. Diese Praxis hat dazu geführt, daß
nur eine sehr geringe Zahl von Kinderflüchtlingen von Rückführungen betroffen
sind.
5. Fazit
Interessant an der Behandlung von Kinderflüchtlingen in den vorgenannten Ländern ist zunächst, daß – im Gegensatz zu
der Praxis in der BRDeutschland – exakte
Zahlen in bezug auf das Geschlecht (
Geschlecht), die Herkunftsländer ( Herkunftsländer), die Altersstruktur ( Alter,
Altersfeststellung) und die
Aufenthaltstitel ( Aufenthaltstitel) der
Kinderflüchtlinge ( Kinderflüchtlinge)
vorliegen. Bemerkenswert ist auch, daß
die Einführung eines Sonderverfahrens
für Kinderflüchtlinge nicht zwangsläufig
eine Steigerung der Zugangszahlen nach
sich zieht, wie das Beispiel Dänemark
zeigt. Schließlich ist festzustellen, daß sie
in den drei aufgeführten Ländern wesentlich gefestigtere Aufenthaltstitel erhalten,
als dies i.d.R. in der BRDeutschland der
Fall ist. Im Einklang mit dem Kindeswohl
ermöglichen diese Aufenthaltstitel von der
Anlage her auch durchaus einen langfristigen und sogar dauerhaften Aufenthalt
im
Zufluchtsland
(
Asylund
Flüchtlingspolitik BRD).
203
KINDER AUF DER FLUCHT
Anmerkungen
1 Aus Gründen der Vereinfachung werden im Rahmen dieses Textes unter der Bezeichnung ‚Kinderflüchtlinge’ minderjährige Schutzsuchende unabhängig davon verstanden, ob und wie das Statusfeststellungsverfahren abgeschlossen wurde.
2 United Nations High Commissioner for Refugees
(Amt des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen).
3 International Committee of the Red Cross (Internationales Rotkreuz-Komitee).
4 United Nations Children’s Fund (Kinderhilfswerk
der Vereinten Nationen).
5 Inter-Governmental Consultations on Asylum, Refugee and Migration Policies in Europe, North
America and Australia; d.h. Treffen von Regierungsdelegierten westlicher Aufnahmestaaten.
6 Zum Beispiel die Nationalen Flüchtlingsräte aus
den Niederlanden, Großbritannien, Italien und Dänemark, oder Kinderhilfsorganisationen wie
Swedish Save the Children. Aus der BRD war der
Deutsche Zweig e.V. des Internationalen Sozialdienstes vertreten.
7 Kanada z. B. erließ am 26.8.1996 für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Statusfeststellungsbehörde IRB gesonderte Richtlinien zur Behandlung von Asylgesuchen minderjähriger Flüchtlinge.
8 Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union hatten bis zu diesem Zeitpunkt keine gesonderte
Ausarbeitung zum Thema UMF verabschiedet, jedoch in ihrer Entschließung vom 21./22.06.1995 zu
Mindestgarantien für Asylverfahren folgendes unter Zusätzliche Garantien für unbegleitete Minderjährige festgelegt: Rdnr. 26: „Es muß dafür gesorgt werden, daß um Asyl ersuchende unbegleitete Minderjährige von einer Einrichtung oder einem hierzu bestellten Erwachsenen vertreten werden, wenn sie nach nationalem Recht nicht verfahrensfähig sind. Während des persönlichen Gesprächs können unbegleitete Minderjährige von
den vorgenannten Erwachsenen oder Vertretern
der Einrichtung unterstützt werden. Diese haben
die Interessen des Kindes zu wahren.“ Unter Rdnr.
27 heißt es: „Bei der Prüfung des Asylantrags eines unbegleiteten Minderjährigen sind dessen
geistige Entwicklung und die Reife zu berücksichtigen.“
9 In der letztendlich am 11.06.1997 verabschiedeten
Entschließung des Rates der Europäischen Union
204
betreffend unbegleitete minderjährige Staatsangehörige dritter Länder heißt es u. a. in der Präambel: ...„Unbegleitete minderjährige Staatsangehörige dritter Länder sind im allgemeinen schutzbedürftig, weshalb sie besonderen Schutzes und
besonderer Betreuung bedürfen.“ Gem. Art. 1 dieser Entschließung sind hiervon Personen betroffen, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet
haben. Art. 4 legt fest, daß bei der Prüfung eines
Asylantrags eines unbegleiteten Minderjährigen
neben anderen objektiven Sachverhalten und
Umständen auch das Alter, die Reife und die geistige Entwicklung des Minderjährigen sowie sein
möglicherweise begrenztes Wissen über die Bedingungen im Herkunftsland berücksichtigt werden sollten. Art. 5 lautet: „(1) Wird einem Minderjährigen der weitere Aufenthalt in einem Mitgliedstaat nicht gestattet, so kann der betreffende
Mitgliedstaat ihn nur in sein Herkunftsland oder in
ein aufnahmebereites Drittland zurückführen,
wenn dort bei seiner Ankunft – gemäß den Bedürfnissen, die seinem Alter und dem von ihm erreichten Maß an Selbständigkeit entsprechen – eine angemessene Aufnahme und Betreuung gewährleistet sind. ... (4) Minderjährige dürfen auf
keinen Fall in ein Drittland zurückgeführt werden,
wenn diese Rückführung dem Abkommen über
die Rechtsstellung der Flüchtlinge, der Europäischen Konvention über die Menschenrechte und
Grundfreiheiten, dem Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe oder dem
Übereinkommen über die Rechte des Kindes unbeschadet der Vorbehalte, die die Mitgliedstaaten
gegebenenfalls bei der Ratifizierung dieses Übereinkommens eingelegt haben, oder den Protokollen zu diesem Übereinkommen zuwiderlaufen
würde.“
10 Die Zusammenfassungen geben – mit Ausnahme
von den Niederlanden – den Stand 1.1.1997 wieder. Sie basieren auf den Staatenberichten, wie sie
in dem Report on Unaccompanied Minors des
Secretariat of the Intergovernmental Consultations
on Asylum, Refugee and Migration Policies in Europe, North America and Australia vom Juli 1997
veröffentlicht wurden, den während des UNHCRSymposiums am 19./20.9.1996 abgegebenen Regierungsstellungnahmen, der Übersicht des Dänischen Flüchtlingsrates über die rechtliche und soziale Situation für Asylsuchende und Flüchtlinge in
westeuropäischen Ländern vom Januar 1997, den
Auskünften der UNHCR-Vertretungen vor Ort,
dem Basispapier des niederländischen Anmelde-
S TAT I S T I K
zentrums Schiphol aus dem Jahre 1997 sowie Informationen des niederländischen Verbindungsbeamten beim Bundesamt für die Anerkennung
ausländischer Flüchtlinge.
11 Zahlen aus den Jahren 1996 und 1997 sind noch
nicht bekannt; die Reihenfolge der Hauptherkunftsländer des Jahres 1997 lautet wie folgt:
China, Somalia, Afghanistan, Sierra Leone, Liberia,
Sri Lanka, Irak, Sudan, Demokratische Republik
Kongo.
12 Aliens Circular 1994, Kap. B7 Abs. 13, geändert am
15. März 1996.
13 Amsterdam, Haarlem, Zwolle und ‘s-Hertogenbosch.
14 In dem o. g. Aliens Circular, i. e. den Verwaltungsvorschriften zum Ausländergesetz, ist eine Frist
von 6 Monaten vorgesehen. In mehreren Gerichtsurteilen wurde jedoch festgestellt, daß die Nichteinhaltung dieser Frist zu keinerlei Rechtsanspruch auf Erteilung einer vorläufigen Aufenthaltsgenehmigung führe.
15 In einem Urteil vom 3. Juli 1997, AWB 97/3056, hat
das höchste mit Ausländerrecht befaßte niederländische Gericht, die Rechtseenheidskamer des
Gerichtshofes in Den Haag, entschieden, daß die
Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung versagt
werden kann, wenn es keine Zweifel daran gibt,
daß der UMF in seinem Herkunftsstaat in der Lage
ist, alleine für sich zu sorgen.
16 Ergeht eine Ablehnung als offensichtlich unbegründet, so kann der Dänische Flüchtlingsrat gemäß seiner formalen Rolle eine Weiterbearbeitung
des speziellen Falles im beschleunigten Verfahren
ablehnen.
17 Zum Beispiel wenn die Genehmigung durch Betrug erschlichen wurde.
Anna Büllesbach
Statistik
Der Versuch, eine bundesweite Statistik über
die Anzahl, die Herkunftsländer und die Unterbringungsformen von Kinderflüchtlingen zu
führen, ist nicht einfach. Im Gegensatz zu AsylbewerberInnen über 16 Jahren werden Kinder
und Jugendliche unter 16 Jahren, die alleine
nach Deutschland einreisen, nicht über eine
zentrale Verteilungsstelle erfaßt, sondern in
dem Bundesland betreut, in dem sie das erste
Mal den Behörden gemeldet werden. Da jedoch
die Form der Betreuung und Unterbringung
Sache der jeweiligen Landesjugendämter ist
und keine bundeseinheitlichen Konzepte zur
Betreuung oder auch nur zur Erfassung angewandt werden, gibt es auch keine zentrale
Statistik, aus der eindeutige Bewegungen und
Veränderungen über den Zustrom und Verbleib
unbegleiteter jugendlicher Flüchtlinge zu entnehmen sind. So werden in den verschiedenen
Landesstatistiken jugendliche Flüchtlinge
manchmal unter der Rubrik ‚Asylbewerber’,
aber auch manchmal unter der Rubrik ‚ausländische Kinder und Jugendliche’ geführt, die jeweils andere Gruppen mit umfassen. Eine eindeutige Aussage ist daher nicht möglich. So ist
jede statistische Aussage von vornherein von
begrenztem Wert. Dennoch soll hier der Versuch unternommen werden, anhand der wenigen vorliegenden Quellen und eigenen Umfragen eine Darstellung über Zuwanderung und
Verbleib jugendlicher Flüchtlinge in Deutschland zu geben. Zu erwähnen ist noch, daß aus
der DDR keinerlei Angaben über jugendliche
unbegleitetete Flüchtlinge vorliegen. Alle Daten
vor 1990 beziehen sich von daher nur auf die
alten Bundesländer.
1. Entwicklung der Anzahl von
Kinderflüchtlingen in Deutschland
Die ersten Kinderflüchtlinge kamen gegen
Ende der Siebziger/Anfang der Achtziger
Jahre in die Bundesrepublik Deutschland.
Zwischen 1979 und 1983 wurden zum ersten Mal 1500 Kinderflüchtlinge aus Südostasien als Kontingent-Flüchtlinge in der
BRD aufgenommen (Jockenhövel-Schiekke 1998). Eine zweite größere, homogene
205
KINDER AUF DER FLUCHT
Gruppe von jungen Flüchtlingen reiste zu
Beginn der 80er Jahre aus Eritrea ein.
Die deutsche Jugendhilfe hatte sich bis
dahin noch nie intensiver mit dem Problem institutioneller Unterbringung ausländischer Jugendlicher beschäftigt. Nach
Jockenhövel-Schiecke werden ausländische Kinder erstmals 1982 in den Statistiken der bundesdeutschen Jugendhilfe
ausgewiesen, allerdings lassen die Zahlen
keine Rückschlüsse auf den Anteil junger
Flüchtlinge zu, da die Zahlen alle ausländischen Kinder, so auch Kinder von MigrantInnen, einbeziehen. Man kann jedoch davon ausgehen, daß der Zustrom
jugendlicher Flüchtlinge seit Beginn der
80er Jahre bis 1989 zunächst stetig zugenommen hat. So verzeichnet das Jugendamt Frankfurt die Aufnahme von insgesamt 188 jungen Flüchtlingen in den Jahren 1980 bis 1985, dann aber allein im
Jahre 1988 von 2.540 Kindern und Jugendlichen (Heun 1992). Eine bundesweite Zahlenangabe liegt nicht vor.
Mit der Öffnung der osteuropäischen
Grenzen 1989 kommt es zu widersprüchlichen Entwicklungen. Zum einen führt
die Öffnung der Landwege zu einer verstärkten Einreise über Osteuropa. Dagegen führt die Einführung der Visumspflicht für Minderjährige ab 1991 zu einer
Verringerung der Einreisezahlen. Nach einem sprunghaften Anstieg der gesamten
Asylbewerberzahlen kommt es 1993 zum
sogenannten Asylkompromiß und der Regelung der ‚sicheren Drittstaaten’. Dieses
neue Asylrecht sieht wesentlich verschärfte Bedingungen auch für jugendliche
AsylbewerberInnen vor. Im Gegensatz zur
Regelung vor 1993 werden jetzt Jugendliche, die bei ihrer Einreise das 16. Lebensjahr überschritten haben, nicht mehr
generell unter den Schutz des Kinder- und
Jugendhilfegesetzes gestellt, sondern als
selbst handlungsfähig im Sinne des Asylverfahrensgesetzes angesehen, was dazu
führt, daß sie direkt in den zentralen Auf206
nahmestellen für erwachsene AsylbewerberInnen untergebracht werden. Damit
entfallen diese Jugendlichen ebenfalls aus
den wenigen Statistiken zu jugendlichen
Flüchtlingen. Eine Abnahme der Gesamtzahlen in diesen Jahren ist also nicht unbedingt auf eine geringere Zureise zurückzuführen, sondern auf die gesetzliche
Neuregelung, die 16jährige Jugendliche
hier zu Erwachsenen macht. 1994 kommt
es so, bedingt durch das neue Asylgesetz,
zu einer Verringerung der Zahlen, aber
nach 1994 steigen die Zahlen wieder an.
Eine eigene Umfrage bei allen Landesjugendämtern weist für das Jahr 1996 folgende Zahlen aus: Bayern berichtet über
die Betreuung von 720 Jugendlichen im
Jahr 1995, die Mehrheit davon zwischen
16 bis 18 Jahren, lediglich 116 Jugendliche sind unter 16. In Berlin werden 249
Jugendliche in der Erstversorgung gezählt, dazu kommen ca. 2.000, die in den
verschiedensten Einrichtungen über die
Stadtbezirke untergebracht sind. Als
Durchschnittsalter wird 14,5 Jahre angegeben. Brandenburg nennt lediglich 57
Jugendliche mit einem Altersdurchschnitt
von 16, Hamburg betreut 2.106 Jugendliche, ohne daß nähere Angaben zum
Alter gemacht werden. Hessen gibt die
Einreise von 601 Jugendlichen für das
Jahr 1995 an, 1.022 befinden sich 1996 in
einer Unterbringung in Jugendhilfeeinrichtungen. In Mecklenburg-Vorpommern
sind lediglich 8 jugendliche Flüchtlinge
gemeldet, Niedersachsen nennt 112 Jugendliche, die landesweit betreut werden,
davon 41 unter 16 Jahren und 32 über 18
Jahren. Sachsen-Anhalt meldet 75 jugendliche Flüchtlinge, Rheinland-Pfalz
217 mit einem Durchschnitsalter von 13,7
Jahren. Baden-Württemberg gibt an, daß
dort keine alleinreisenden jugendlichen
Flüchtlinge untergebracht wären. In
Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein liegen den Landesjugendämtern keine Angaben vor, die restlichen 4 Bundes-
S TAT I S T I K
länder beantworteten die Umfrage nicht.
Das heißt aber, daß trotz des Fehlens der
Angaben von 6 Bundesländern mehr als
6.800 jugendliche Flüchtlinge im Jahre
1995/96 in den verschiedenen Landesjugendämtern gemeldet sind.
Nur wenige der Bundesländer machen
Angaben zum Geschlecht der Jugendlichen. Die Berliner nennen hier Zahlen von
95 % männlichen Jugendlichen, Mecklenburg-Vorpommern betreut 6 männliche
und 2 weibliche Jugendliche. Man kann
aber wohl davon ausgehen, daß im Durchschnitt mehr als zwei Drittel der betreuten
jungen Flüchtlinge männliche Jugendliche
sind.
Eine zweite Umfrage im Jahre 1998, also nach der Einführung der erneut verschärften Visumspflicht für ausländische
Kinder und Jugendliche, führt zu keinem
nennenswert anderen Ergebnis. Die meisten Landesjugendämter geben keine konkrete Antwort. Lediglich für 3 Länder
werden Angaben gemacht: Brandenburg
nennt heute 40 Jugendliche zwischen 12
und 19 und verzeichnet damit eine leichte
Abnahme, in Berlin werden 1998 2.630
Jugendliche im Alter von 15 bis 17 betreut, also eine Zunahme im Vergleich mit
1996, Hamburg zählt im März 1998 insgesamt 1.750 jugendliche Flüchtlinge, die
aber lediglich zu 5 % von der Jugendhilfe
betreut werden, auch hier eine Abnahme
im Vergleich mit 1996. Dem Saarland und
Schleswig-Holstein liegen keine Zahlen
vor, die anderen Landesjugendämter gaben keine Auskunft.
Ob sich aus diesen Zahlen eine Tendenz
ablesen läßt, ist fragwürdig. Die statistische Erfassung alleinreisender jugendlicher Flüchtlinge in den einzelnen Bundesländern, wenn eine solche überhaupt systematisch erfolgt, ist viel zu unterschiedlich als daß eindeutige Zahlen abzulesen
wären. Man kann aber davon ausgehen,
daß die zur Zeit vorliegenden Zahlen nicht
vermuten lassen, daß sich die Gesamtzahl
der Jugendlichen, die allein nach Deutschland einreisen, mit der Verschärfung der
Gesetzgebung verringert hat. Auch wenn
Schwankungen in den Zahlen vorliegen,
muß man davon ausgehen, daß auch weiterhin kontinuierlich größere Zahlen von
jugendlichen Flüchtlingen allein nach
Deutschland einreisen werden. Denn wenn
auch die Gesetzesänderungen eine Verschärfung der Einreisebedingungen vorsehen, so bleiben weltweit die Bedingungen, die zu der Flucht führen, unverändert
und damit die Motivation, in Deutschland
Schutz zu suchen, unvermindert.
Ein Fazit läßt sich zweifelsohne ziehen:
jugendliche alleinreisende Flüchtlinge
konzentrieren sich auf wenige Bundesländer, nämlich auf die Bundesländer,
über die eine weniger zu kontrollierende
Einreise erfolgen kann, nämlich die Einreise zu Land und zu Wasser. So sind
Hamburg und Berlin die Hauptziele. Die
Einreise nach Berlin erfolgt natürlich verstärkt über Brandenburg, es besteht aber
die Tendenz, bis nach Berlin zu reisen, um
sich erst dort den Behörden zu melden, da
offensichtlich die größeren Städte aufgrund der (bekannten) Konzentration von
jungen Flüchtlingen und den vielfältigeren
Möglichkeiten attraktiver sind als ländliche Gegenden. Hessen und Bayern nehmen ebenfalls größere Zahlen auf, hier
sind Frankfurt und München Haupteinreisepunkte für internationale Flüge. Damit aber ist die Betreuung jugendlicher
Flüchtlinge bzw. die Notwendigkeit, fachliche Standards zu setzen, für die einzelnen
Bundesländer unterschiedlich.
2. Herkunftsländer
Die jungen Flüchtlinge kommen aus immer mehr Ländern nach Deutschland.
Waren mit Beginn der 80er Jahre noch
große Gruppen aus gleichen Herkunftsländern zu verzeichnen, wie z.B. Südostasien, dann Eritrea und Äthiopien, so wer207
KINDER AUF DER FLUCHT
den mit der weltweiten Verschärfung der
Lebensbedingungen aufgrund von Kriegen und Bürgerkriegen aber auch Naturund Umweltkatastrophen immer mehr
Länder zum Ausgangspunkt von Fluchtbewegungen. Die politischen Weltereignisse
zeigen ihr Abbild in den Herkunftsländern
der jungen Flüchtlinge. Kamen nach den
Unruhen im Libanon verstärkt libanesische Flüchtlinge über das damalige OstBerlin, so kamen später größere Gruppen
aus Bangladesh dazu. Ab Mitte der 80er
Jahre wurden auch Afganisthan, Sri Lanka, der Iran sowie die Türkei zu vorrangigen Fluchtgebieten.
Wie sehr insgesamt die Zahl der Herkunftsländer immer mehr zunimmt, läßt
sich gut an den Zahlen des Jugendamtes
Frankfurt verdeutlichen: werden für 1986
überwiegend 6 verschiedene Herkunftsländer genannt, sind es im Jahre 1990 bereits 17 (Heun 1992). In unserer Umfrage
von 1996 benennt Hessen bereits 23 verschiedene Nationalitäten. Diese Entwicklung betrifft aber nicht nur die alten Bundesländer. Auch in den neuen Bundesländern werden nach der Vereinigung
junge Flüchtlinge aufgenommen, allein
Sachsen-Anhalt betreut 1996 bereits junge Flüchtlinge aus insgesamt 21 verschiedenen Nationen.
Auch wenn in allen Bundesländern
sehr viele unterschiedliche Nationalitäten
betreut werden, so sind doch Schwerpunkte zu verzeichnen. 1996 konzentrieren sich in Bayern Flüchtlinge aus dem
ehemaligen Jugoslawien, während Hamburg in den letzten Jahren besonders viele
junge Flüchtlinge aus Westafrika betreute.
Berlin weist eine große Gruppe von
Flüchtlingen aus Rumänien, Bangladesh
und aus Vietnam auf, während vor zwei
Jahren auch vorrangig junge Flüchtlinge
aus der Türkei (KurdInnen) betreut wurden. Brandenburg berichtete 1996 ebenfalls über eine große Anzahl von Flüchtlingen aus Vietnam, dazu kommen China
208
und Afghanistan als besonders vertretene
Herkunftsländer. Hessen gibt an, nur wenige Flüchtlinge aus Osteuropa zu betreuen, während ein hoher Anteil von Jugendlichen aus Afghanistan, Äthiopien, Türkei
(KurdInnen), Somalia und aus Indien zu
verzeichnen ist. Dabei sind relativ schnelle
Änderungen zu beobachten. Für alle drei
Bundesländer, die sowohl 1996 als auch
1998 Angaben über die Herkunftsländer
machten, zeichnen sich Änderungen ab:
Hamburg meldet einen starken Rücklauf
von KurdInnen, bei einer Zunahme von
Flüchtlingen aus Sierra Leone und Afghanistan. Berlin meldet eine rückläufige
Entwicklung aus Rumänien und der Türkei bei einer Zunahme der Einreise aus
der Mongolei und Algerien, Brandenburg
nennt für 1997/98 einen verstärkten Zuwachs von jungen Flüchtlingen aus Bangladesh und Sri Lanka. Deutlich wird, wie
sehr die aktuellen politischen Ereignisse
die Flüchtlingsbewegungen, gerade auch
die der Kinder und Jugendlichen, beeinflussen. Die verschärften Asylgesetze werden auch in Zukunft weder Kinder noch
Jugendliche hindern, aus den weltweiten
Notgebieten nach Deutschland zu kommen. Aufgabe der Jugendhilfe muß es
sein, angemessen auf die hilfesuchenden
Kinder und Jugendlichen zu reagieren.
Das heißt aber auch, daß an den jeweiligen politischen Ereignissen die zukünftigen Einreiseländer und auch die Einreisezahlen abzuschätzen sind. Die Jugendhilfe
kann sich also durchaus rechtszeitig hier
auf die auf sie zukommenden Bedürfnisse
einrichten.
3. Betreuungsformen
Die oben dargestellten Entwicklungen
spiegeln sich in der Entwicklung der Betreuungsformen wider. Als die ersten
Gruppen jugendlicher Flüchtlinge, zunächst als Kontingentflüchtlinge, nach
Deutschland einreisten, wurde vorrangig
S TAT I S T I K
versucht, die jungen Menschen in Pflegefamilien aufzunehmen. Jede Form institutioneller Betreuung wurde aufgrund der
damaligen breiten öffentlichen Diskussion
und Kritik der Heimerziehung als der Familie nachrangig betrachtet, und in breiter Öffentlichkeitsarbeit versucht, aufnahmewillige Familien für die südostasiatischen Kontingentflüchtlinge zu finden.
Diese ersten jungen Flüchtlinge, die als gesamte Gruppe organisiert nach Deutschland einreisten, wurden zu ca. einem Drittel in Pflegefamilien untergebracht (vgl.
Jockenhövel-Schiecke 1998). Die Erfahrungen waren allerdings wenig überzeugend. Nach Angaben von JockenhövelSchiecke mußte fast ein Drittel der Pflegebeziehungen wieder abgebrochen werden, da die unvorbereiteten Pflegfamilien
mit den kulturellen Differenzen und besonderen Anforderungen der jungen
Flüchtlinge überfordert waren ( Pflegefamilien). Die andere, mehr genutzte Alternative war die Unterbringung in Jugenddörfern und Wohngruppen, die auf
einer mono-ethnischen Unterbringung
aufgebaut waren, das heißt, man versuchte, die Kinder und Jugendlichen gruppenweise unterzubringen, um die kulturelle
Identität und die Bindung an die Herkunftskultur aufrechtzuerhalten ( Mono/multiethnische Unterbringung). Dabei
war das Bindeglied zwischen den jungen
Flüchtlingen vorrangig die gemeinsame
Herkunft, nicht jedoch eine gemeinsame
Problemlage. Allerdings war die Jugendhilfe zu dieser Zeit auf die Problematik der
Unterbringung von jungen Menschen aus
anderen Kulturen völlig unvorbereitet.
Dies betraf nicht nur junge Flüchtlinge,
sondern genauso Kinder von ArbeitsmigrantInnen, die in Deutschland außerhalb
ihrer Herkunftsfamilie untergebracht
werden mußten. Aufgrund dieser ersten
Erfahrungen mit ausländischen Kindern
und Jugendlichen in der institutionellen
Betreuung wurden dann pädagogische
Konzepte erarbeitet, die eine möglichst
mono-ethnische Unterbringung vorsahen,
bei der sowohl die Integration in die aufnehmende deutsche Kultur als auch die
Aufrechterhaltung der Bindung an die
Herkunftskultur und der eigenen kulturellen Identität gefördert werden sollten. Um
die Kinder und Jugendlichen genauso wie
die pädagogischen MitarbeiterInnen nicht
mit einer Vielzahl von unterschiedlichen
Kulturen zu überfordern, wurde versucht,
nicht mehr als 2 bis 3 Ethnien in einer
Einrichtung unterzubringen, um damit gezielt auf die dort vertretenen Kulturen eingehen zu können. Dieses Konzept beinhaltete ebenfalls die Forderung, wenn möglich auch muttersprachliche PädagogInnen in diesen Einrichtungen zu beschäftigen. Teilweise wurde darüber hinaus versucht, muttersprachlichen Unterricht im
Sinne des Erhalts der kulturellen Identität
aber auch der Rückkehrfähigkeit zu gewähren. Diese Konzepte eines bi-kulturellen Unterrichts scheiterten jedoch häufig
an den finanziellen Möglichkeiten.
Wurden anfangs die jungen Flüchtlinge
in speziellen Wohngruppen, jedoch überwiegend in bestehenden – mit deutschen
Kinder und Jugendlichen belegten – Jugendhilfeeinrichtungen
untergebracht,
kam es 1985 aufgrund der zunehmenden
Zahlen von Flüchtlingskindern aus immer
mehr unterschiedlichen Ländern zur Eröffnung der ersten Sammeleinrichtung für
Flüchtlingskinder in Berlin. Das hier angewandte Verfahren, alle in Berlin ankommenden jungen Flüchtlinge zunächst
in einer zentralen und speziellen Einrichtung ausschließlich für junge Flüchtlinge unterzubringen, um nach einer Eingewöhnungszeit, die ebenfalls zur behördlichen Abklärung der Lage diente, die
Jugendlichen dann in spezielle oder allgemeine Einrichtungen zu überstellen, wird
heute von allen Bundesländern angewandt, die größere Gruppen von Flüchtlingsjugendlichen aufnehmen. Neben die209
KINDER AUF DER FLUCHT
sen Erstversorgungseinrichtungen lassen
sich mit Ende der 80er Jahre drei Typen
von Betreuungsformen unterscheiden
(vgl. auch Jockenhövel-Schiecke 1998): eine mono-ethnische Unterbringung, die
möglichst nur eine Nationalität aufnimmt,
in der Praxis allerdings oft 2 bis 3 verschiedene Nationalitäten vereint, eine
multi-ethnische Unterbringung, die verschiedene Nationalitäten vereint, aber
sich nur an jugendliche Flüchtlinge wendet, und eine integrative Unterbringung,
in der ausländische und deutsche Jugendliche gemeinsam betreut werden.
Mit der zunehmenden Zahl der unterschiedlichsten Nationalitäten kommt es in
den letzten Jahren immer stärker zur
multi-ethnischen Unterbringung. Obwohl
diese von den PädagogInnen nicht unkritisch gesehen wird. Auf der einen Seite
wird die Entwicklung eines ‘Zweite Klasse’
Jugendhilfesystems befürchtet, das aufgrund geringerer finanzieller Ausstattung
bei einer Vielzahl von zusätzlichen pädagogischen Anforderungen (z. B. kulturelle Vielfalt, Verhaltensauffälligkeiten und
traumatische Erlebnisse im Herkunftsland
und auf der Flucht) kaum die Mindestanforderungen wie Integrationsförderung
bei gleichzeitigem Erhalt der kulturellen
Herkunftsidentität erfüllen kann. Auf der
anderen Seite wird die multiethnische
Unterbringung als Chance gesehen, an der
gemeinsamen Problemlage von Jugendlichen als Hauptbezugspunkt anzusetzen
( Mono-/multiethnische Unterbringung).
In letzter Zeit werden auch wieder integrative Betreuungsformen diskutiert, da
Erfahrungen gezeigt haben, daß besonders deutsche, sozial belastete Jugendliche von der gemeinsamen Unterbringung
mit jungen Flüchtlingen aufgrund deren
höherer Leistungsbereitschaft positiv beeinflußt werden (vgl. Landesjugendamt
Hessen 1996).
Heute verfügen fast alle Hauptanlaufpunkte für junge Flüchtlinge über Erst210
versorgungseinrichtungen
bzw.
über
Clearingstellen, die zunächst alle jungen
Flüchtlinge unter 16 Jahren aufnehmen,
die Sachlage klären und, wenn angezeigt,
die Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII
durchführen. Hier zeigen sich deutliche
Auswirkungen der Gesetzeslage auf die
pädagogische Arbeit. Vor jeder pädagogischen Betreuung steht zunächst die Altersfeststellung, wenn keine ausreichenden Nachweise vorliegen, da die Altersgrenze von 16 Jahren für die Inobhutnahme durch die Jugendhilfe zwingende Voraussetzung geworden ist. Einige Jugendämter, so z. B. Berlin und Hessen, führen
diese umstrittenen Altersfeststellungen
selbst durch, in Hamburg und Bayern erfolgt die Altersfeststellung durch die Ausländerbehörde. Erst anschließend kann
die Aufnahme in die Erstversorgung erfolgen. Ziel ist dabei eine erste Klärung des
Hilfebedarfes und der pädagogischen Notwendigkeiten, um die Jugendlichen dann
in geeignete Einrichtungen zu überstellen.
Allerdings entspricht die tatsächliche Verweildauer nicht unbedingt diesem Anspruch einer Erstversorgung. So nennt
Hamburg als durchschnittliche Verweildauer einen Zeitraum von 8,2 Monaten
(Dahlgaard 1998), nach Jordan (1998)
liegt der durchschnittliche Aufenthalt in einer Erstversorgungseinrichtung/Clearingstelle bundesweit bei ca. 5 1/2 Monaten.
Erstversorgungseinrichtung und Clearingsstelle sind oft identisch, teilweise wird
jedoch das Clearingverfahren ausserhalb
der Unterbringung durchgeführt. Jordan
(1998) hat die unterschiedlichen Clearingverfahren ausführlicher beschrieben.
Die weiterführende Betreuung ist je
nach Bundesland unterschiedlich. Die
Bundesländer, die die Mehrzahl der jugendlichen Flüchtlinge betreuen, nämlich
Berlin, Hamburg, Hessen und Bayern,
weisen auch die differenziertesten Angebote auf. So verfügt Hamburg 1998 über
Erstversorgungseinrichtungen mit insge-
S TAT I S T I K
samt 416 Plätzen, um die Jugendlichen
dann in bezirklichen Jugendwohnungen
(205 Plätze) oder Jugendpensionen (199
Plätze), in denen allerdings nur eine geringe pädagogische Betreuung gewährleistet ist, bzw. in regulären stationären Einrichtungen der Jugendhilfe (203 Jugendliche im Juni 1998) unterzubringen. Die
restlichen fast 700 im Jahre 1998 in Hamburg betreuten jugendlichen Flüchtlinge
werden offensichtlich außerhalb der Jugendhilfe untergebracht. Berlin betreut
ebenfalls mehr als 400 Jugendliche in einer zentralen Erstversorgungseinrichtung,
die dann in bezirkliche Unterbringungsformen in und außerhalb der Jugendhilfe
überstellt werden. Genauere Angaben
werden hier nicht gemacht. Hessen nennt
ebenfalls sehr unterschiedliche Formen
der weiterführenden Unterbringung wie
Familiengruppen, Jugendwohngruppen,
Betreutes Wohnen, oder Kinder- und Jugendheime, genauere Angaben über den
Umfang der einzelnen Betreuungsformen
und deren Nutzung im Verhältnis zur Nutzung von Plätzen in Kinder- und Jugendheimen, die vorrangig mit sozial belasteten
deutschen Jugendlichen zur Verfügung
stehen, liegen nicht vor.
Die Bundesländer, die nur wenige jugendliche Flüchtlinge betreuen, integrieren diese wenigen Jugendlichen in die bestehenden regulären Angebote (z. B. Mecklenburg-Vorpommern), oder haben sich
auf den Ansatz multi-ethnischer Betreung
fokussiert (z. B. Brandenburg), um so Einrichtungen zu schaffen, die auf die spezifischen Bedürfnisse der jungen Flüchtlinge
eingehen können. Hier wird die gemeinsame Lebenslage der jungen Flüchtlinge als
ausschlaggebend gesehen, und nicht die
gemeinsame Herkunft. Die Erfahrungen
aus solchen Einrichtungen, in denen sehr
viele unterschiedliche Ethnien gemeinsam
betreut werden (z. B. in Brandenburg bis
zu 20 Nationen gleichzeitig) haben neue
Diskussionsanregungen hinsichtlich inter-
kultureller pädagogischer Arbeit gegeben
(vgl. auch Fachhochschule Potsdam 1996
und 1998).
Allerdings scheint in der letzten Zeit die
beginnende Vielfalt in den Betreuungsformen wieder einer zunehmenden Einschränkung aufgrund immer geringerer
finanzieller Ressourcen weichen zu müssen. Um dem Abbau eines differenzierten
Betreuungssystems entgegen zu wirken,
wäre zum einen eine intensivere pädagogische Diskussion notwendig, die die Vorteile der ausdifferenzierten Angebote verdeutlicht, aber auch die dringende Einführung einer bundesweiten regelmäßigen
Statistik, die es erlaubt, den Bedarf und
die Entwicklungen in der Zukunft genauer
nachvollziehen zu können und damit auch
planbarer zu machen.
Literatur
Dahlgaard, S.: Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge
in Hamburg. In: Weiss, K./Rieker, P.: Allein in der
Fremde, S. 73-84. Münster 1998.
Heun, H-D./Kallert, H./Bacherl, C.: Jugendliche
Flüchtlinge in Heimen der Jugendhilfe. Freiburg 1992.
Jockenhövel-Schiecke, H.: Ausländische Jugendliche
in Einrichtungen der Jugendhilfe – Entwicklungen,
Erfahrungen, aktuelle Fragen. In: Weiss, K./Rieker, P.:
Allein in der Fremde, S. 45-72. Münster 1998.
Jordan, S.: Clearingverfahren und Erstaufname/Erstversorgung – Pädagogische Maßnahmen für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Ein Bericht über
die Bundesländer Berlin, Hessen, Hamburg und Bayern. In: Weiss, K./Rieker, P.: Allein in der Fremde, S.
85-96. Münster 1998.
Landesjugendamt Hessen, Außenstelle Wiesbaden:
Standortbeschreibung. Betreuung und Versorgung
von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen/Asylbewerbern in Hessen. Publikation des Landesjugendamtes Hessen. Wiesbaden 1996.
Karin Weiss, Oggi Enderlein
211
KINDER AUF DER FLUCHT
Interessenvertretung
In dem folgenden Beitrag werden die Kernaufgaben der Interessenvertretung für Kinderflüchtlinge skizziert. Dabei werden nationale
wie internationale Bestrebungen aufgezeigt.
Zudem werden die zentralen Gruppierungen
und Verbände vorgestellt, die sich in den letzten Jahren für die Interessen der Kinderflüchtlinge eingesetzt haben.
1. „Im Stich gelassen?“
Eine Studie für die Vereinten Nationen
über „Kinder im Exil“ (Unicef 1997) kritisiert die Europäische Union. Sie bezieht
sich auf deren Entwurf zu einer Stellungnahme über „Unbegleitete Minderjährige,
die im Stich gelassen wurden“. Der Titel
enthalte bereits ein klares Vorurteil. Er
beschreibe irrtümlicherweise und ohne
nähere Erklärung unbegleitete Kinder als
„im Stich gelassen“ (ebd. S. 37). Der Entwurfstitel war sicher gut gemeint, was von
dem Gesamttext allerdings nur mit Einschränkungen gelten kann. In diesem
wird über die Umstände nachgedacht, die
dazu führen, daß sich unter den vielen
Kinderflüchtlingen auf der Welt eine beachtliche Gruppe befindet, die ohne Eltern
oder Angehörige in den verschiedensten
Zielländern ankommen. In der Überschrift
des endgültigen Ratsbeschlusses sind die
„im Stich gelassenen“ allerdings nicht
mehr enthalten. Er spricht nur noch von
„unbegleiteten Minderjährigen aus Drittstaaten“.
Aber wäre es wirklich so abwegig gewesen, von im Stich gelassenen Kindern
zu sprechen? Damit könnte ja nicht nur
ihre Lage bei ihrer Ankunft, sondern vielleicht auch ihre Behandlung in den Aufnahmeländern
beschrieben
werden.
Schließlich will doch die UN-Studie über
die Behandlung von Kinderflüchtlingen in
bestimmten Industrieländern mit aller Besorgnis die Aufmerksamkeit auf die schrof212
fe, bisweilen sogar fremdenfeindliche
Behandlung von Kindern lenken, die dem
Grauen der Kriege entkamen und in den
reichen Industrieländern Zuflucht suchten. Damit wären sie in einem doppelten
und gesteigerten Sinn „im Stich gelassen“.
2. Ein breites Spektrum der
Interessenvertretung
Kann das auch für die Bundesrepublik gelten? Dem stehen eine Fülle von Stellungnahmen, Resolutionen, nationalen und internationalen Rechtsgrundlagen, Interventionen und vor allem auch eine professionelle und ehrenamtliche Sozialarbeit
entgegen, die sich für die Kinderflüchtlinge einsetzen und ihren Bedürfnissen
gerecht zu werden versuchen. Dieser Einsatz ist ohne ein gewisses Maß an öffentlicher und nichtöffentlicher Interessenvertretung nicht sinnvoll.
Wenn die unten angeführten Stellungnahmen auch nur einen Teil der an die Öffentlichkeit gelangten darstellen dürften,
läßt sich an der Liste ablesen, wer sich an
der Interessenvertretung beteiligt hat. Es
handelt sich um ein breites Spektrum vor
allem der Organisationen und Einrichtungen, die mit der Sorge um junge Menschen, und dabei eben auch für jugendliche Flüchtlinge befaßt sind. Dabei haben
die zuständigen Fachverbände unbegleitete Flüchtlingskinder nicht nur zu ihrer
Klientel gezählt, sondern sind sich immer
auch bewußt gewesen, daß mit ihnen
auch besondere, in der klassischen Arbeit
unbekannte Aufgabenstellungen verbunden waren. Dies dürfte sich nicht zuletzt
auf die Art und Weise bezogen haben, wie
die berechtigten Interessen dieser jungen
Menschen zu vertreten waren.
Kennzeichnend für die spezielle Interessenvertretung ist die gegenseitige Vernetzung der unterschiedlichsten Einrichtungen. Ein gutes Beispiel dürfte der
Fachverband Soziale Dienste für junge
INTERESSENVERTRETUNG
Flüchtlinge Berlin-Brandenburg e.V.. sein.
Er wurde 1991 von SozialarbeiterInnen,
ErzieherInnen,
FlüchtlingsberaterInnen
und anderen in der Arbeit mit Kinderflüchtlingen engagierten Personen gegründet. Dem Fachverband gehören sowohl
Einzelpersonen als auch Träger von Maßnahmen für junge Flüchtlinge als Mitglieder an. Maßgeblich für die Gründung
des Verbandes war die Erfahrung, daß es
mit den Kinderflüchtlingen um eine benachteiligte Personengruppe ging, die wie
viele andere Randgruppen keine Lobby hat
und sozialpolitische Einflußnahmen einzelner engagierter BetreuerInnen ohne organisatorischen Rahmen als wenig effektiv
erfahren wurden. Die im Internet wiedergegebene Selbstdarstellung des Fachverbandes enthält auch eine kritische Bemerkung über die vorhandenen Flüchtlingsinitiativen. Sie könnten sich diesem spezifischen Problem angesichts der erdrückenden Fülle der sonstigen Flüchtlingsprobleme nur am Rande widmen. Gleichzeitig
strebt er aber einen regen Austausch mit
dem Flüchtlingsrat Berlin an, insbesondere dessen ‘Arbeitskreis unbegleitete minderjährige Flüchtlinge’ und stimmt seine
Vorgehensweisen mit diesen Gremien ab.
Der Flüchtlingsrat Berlin ist wie alle landesweiten Flüchtlingsräte selbst wiederum
ein Zusammenschluß von Gruppen, Gemeinden, Verbänden und Einrichtungen,
die solidarisch mit Flüchtlingen sind.
Rechtspolitisch will der Verband erreichen, daß Maßnahmen der Jugendhilfe
Vorrang vor ausländer- und ordnungsrechtlichen Betrachtungsweisen erhalten.1
Eine Bündelung der Interessenvertretung für Kinderflüchtlinge auf Bundesebene wurde durch die National Coalition erreicht. Ihr Rechtsträger ist die Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe, selbst bereits
eine Vereinigung aller für den Jugendbereich kompetenten Organisationen. Als
Zusammenschluß von annähernd 90 bundesweit tätigen Organisationen und Initia-
tiven geht es ihr um die Umsetzung der
UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland. Diese Koalition stellt ein breites
Bündnis dar und schließt vor allem auch
Vereinigungen mit ein, die zur unmittelbaren Flüchtlingslobby gehören (vgl. National Coalition 1997). Internationale Organisationen und deren deutsche Zweige, alle
Organisationen der Erziehungshilfe, des
Kinderschutzes, die Sozialarbeit, der
Sport, Schule, aber auch politische und allgemeine Jugendverbände gehören hierzu.
Dies ist eine gesellschaftliche Repräsentation, bei der die unterschiedlichsten fachlichen und politischen Kompetenzen zusammengeführt werden, sich gegenseitig befruchten und damit nicht nur die politische, sondern eben auch die professionelle Grundlage einer gemeinsamen Intervention verstärken.
Die gesteigerte gesellschaftliche und
politische Kompetenz entfaltet ihre volle
Wirkung aber erst, wenn über die erarbeiteten Positionen nicht nur eine breite Zustimmung erreicht wird. sondern die Inhalte auch in den jeweiligen Organisationen aktiv verbreitet werden. Man könnte dies als die Innenseite einer effektiven
Interessenvertretung bezeichnen. Um es
mit anderen Worten zu sagen, eine Resolution darf nicht einfach abgehakt sondern sie muß auch intern verarbeitet werden. Das gilt vor allem dann, wenn Stellungnahmen den bisher gesetzten Rahmen von Organisationen überschreiten,
gesellschaftspolitisch vielleicht sogar neue
Ansätze enthalten oder der offiziellen Politik entgegenstehen.
3. Der politische und rechtliche Kontext
Rechtspolitisch erfolgt die Interessenvertretung der Kinderflüchtlinge in einem
komplizierten Geflecht nationaler und internationaler Rechtssetzung. Dabei erhebt
sich vor allem die Frage, wie der besondere Flüchtlingsschutz, der durch die Genfer
213
KINDER AUF DER FLUCHT
Flüchtlingskonvention oder in besseren
Zeiten auch durch das deutsche Asylrecht
zu gewähren war, mit den Verpflichtungen
und Rahmensetzungen des deutschen Jugendrechtes in Einklang zu bringen wären. Es geht aber auch um die juristische
Klärung, ob die Rechtsstellung aus dem
Haager Minderjährigenschutzabkommen
und der UN-Kinderrechtskonvention Vorrang vor asyl- und ausländerrechtlichen
Kriterien haben müßte. Nicht zuletzt stehen Entscheidungen darüber an, inwieweit eine konsequente Anwendung des
neuen Jugendrechtes auch jugendlichen
Flüchtlingen eine optimale Förderung garantieren könnte. Dabei hat es bisher zwei
gegenläufige Entwicklungen gegeben, die
immer mehr in den Vordergrund traten.
Einerseits wuchs die Bedeutung der Kinderrechtskonvention in der internationalen Rechtsgemeinschaft, andererseits
wurde das Asylrecht in der Bundesrepublik zunehmend eingeschränkt. Dies bezog sich nicht nur auf die Einschränkung
der Zugangsrechte von Flüchtlingen zum
Asylverfahren, sondern auch auf die Sozialhilfe, die soziale, psychologische, schulische und medizinische Versorgung von
Flüchtlingen.
3.1 Einschränkungen des Asylrechts
Bertold Huber hat bereits 1991, also zwei
Jahre bevor es zur Grundgesetzänderung,
zur weiteren Verschärfung des Asylverfahrensrechts und zu einer deutlichen Leistungsabsenkung für Flüchtlinge im Asylbewerberleistungsgesetz gekommen war,
in einer von terre des hommes in Auftrag
gegebenen Studie festgestellt, daß Kinderflüchtlinge zu den Ausländergruppen gehören, die am härtesten vom Ausländergesetz betroffen sind, das am 1.1.1991 in
Kraft getreten war (vgl. Huber 1991). Das
bezog sich vor allem auf die bis dahin
nicht vorhandene Visapflicht für unter 16jährige und die drakonische Bestrafung
214
von Fluggesellschaften und Transportunternehmen, die Flüchtlinge ohne ausreichende Einreisedokumente zu befördern
wagten.
Noch einschneidender war aber 1993
die Änderung des Grundrechts auf Asyl.
Die Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10.12.1948 enthält in
Art. 14 den bedeutsamen Passus über das
Asylrecht: „Jeder Mensch hat das Recht,
in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl
zu suchen und zu genießen“. Aus dieser
Formulierung läßt sich aber keine Rechtspflicht des Staates zur Asylgewährung ableiten. Das hat auch die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 nicht geschafft.
Erst das Grundgesetz bringt einen entscheidenden Fortschritt. „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“, so lautete lapidar Artikel 16, Abs. 2, Satz 2 Grundgesetz
und räumte damit dem staatlichen Schutz
des Flüchtlings Verfassungsrang ein und
zwar im Sinne eines individuellen, gerichtlich einklagbaren Grundrechts.
Mit der Grundgesetzänderung von 1993
wurde der Wortlaut dieses Artikels belassen, aber in seiner Anwendung so eingeschränkt, daß die Mehrheit der Flüchtlinge
jeglichen Anspruch auf Asyl verloren hat.
Die Einschränkung des Grundrechts auf
Asyl durch den neuen Artikel 16 a stellt eine weitgehende Aufkündigung des Status
eines Flüchtlings als Rechtssubjekt dar.
Flüchtlinge werden künftig wieder stärker
Objekte des Staates. Das zeigt sich auch in
einem der Begleitgesetze, dem sogenannten Asylbewerberleistungsgesetz ( Asylbewerberleistungsgesetz). Während bisher die Leistungen der Sozialhilfe für die
AsylbewerberInnen durch das Bundessozialhilfegesetz (BSHG) geregelt waren,
wird nun für diesen Personenkreis ein eigenes Gesetz geschaffen. Dabei ist eine
deutliche Absenkung der bisherigen Leistungen für AsylbewerberInnen vorgesehen, die im Regelfall als Sachleistungen zu
erbringen sind. Es handelt sich auch hier
INTERESSENVERTRETUNG
um eine Entrechtung und Entmündigung
von Menschen.
Dieser Trend muß bei dem Versuch, die
Interessenvertretung für Kinderflüchtlinge wahrzunehmen, beachtet werden und
zwar deswegen, weil er die Aufgabe einer
Umsetzung der Forderungen der Kinderrechtskonvention erheblich erschweren
dürfte. Dieser Trend ist direkt gegenläufig
zu dem, was die Kinderrechtskonvention
zu erreichen sucht.
3.2 Die Bedeutung der Kinderrechtskonvention
Die Probleme beginnen bereits mit der offiziellen Übersetzung aus dem Englischen.
Das „Aktionsbündnis Kinderrechte“, das
durch die „National Coalition“ abgelöst
wurde, kritisierte die amtliche Übersetzung des englischen Originaltextes „the
best interests of the child“ mit „Wohl des
Kindes“. Dieser im angelsächsischen
Sprachgebiet gängige Ausdruck ist älter
als die Formulierung in der Kinderrechtskonvention, und ist einfachhin übernommen worden. Mit Recht sieht die Kritik des
Aktionsbündnisses einen Unterschied darin, ob ich „im besten Interesse des Kindes“
oder nur zum „Wohl des Kindes“ handle.
Im Englischen wird das Kind stärker als
Subjekt mit eigenen Interessen gesehen.
Allerdings scheint es, wie es auch in der
Übersetzung der UNHCR-Richtlinien zum
Ausdruck kommt, keinen besseren Fachausdruck als „Wohl des Kindes“ zu geben.
Wir haben es nicht nur mit schwer übersetzbaren Unterschieden der Sprache
sondern mit unterschiedlichen Rechtskulturen zu tun. In diesen geprägte Begriffe
können oft nicht ohne Verlust wichtiger
Konnotationen übertragen werden. Mit
dem „Wohl des Kindes“ geht eine Dynamik verloren, die auch die Interessenvertretung als solche berührt. Trotzdem
bleibt die Feststellung gültig, daß die Kinderkonvention eine progressive Ausge-
staltung der Menschenrechte widerspiegelt ( Kinderrechte).
In der Analyse der Konvention wird immer wieder betont, sie stelle in der internationalen Rechtsgemeinschaft einen
deutlichen Fortschritt dar. Einmal werden
die allgemeinen Menschenrechte auf die
besondere Situation von Kindern übertragen, zum anderen werden spezielle Rechte der Kinder herausgestellt, die sich vor
allem daraus ergeben, daß diese besonders schutzbedürftig sind. Entscheidend
ist aber die Sicht des Kindes als eines eigenständigen Rechtssubjektes. Diese Sicht
überschreitet die in der Bundesrepublik
fürsorgliche und stellvertretende Wahrnehmung der Rechtsanliegen von Kindern. „Die individualrechtliche Ausrichtung der Konvention durch die Sicht des
Kindes als eigenständigem Rechtssubjekt
ist der deutschen Familienpolitik fremd;
noch immer sind die Rechte des Kindes
fast ausschließlich in das Familienrecht
eingebunden“ (Hugoth 1998, S. 70). Wenn
die Kinderrechtskonvention wirklich ernst
genommen wird, würde dies rechtliche
Auswirkungen bis in das Grundgesetz hinein haben. Das Kind müßte als Grundrechtsträger gesehen werden, das mit einer eigenen Menschenwürde und einem
eigenen Recht auch auf Selbstvertretung
ausgestattet wäre.
Erhebliche Kritik an der Haltung der
Bundesregierung gegenüber den Verpflichtungen der Konvention enthalten die
Vorschläge und Positionen der National
Coalition in ihrer Veröffentlichung „Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in der
Bundesrepublik Deutschland – Verpflichtungen aus der UN-Kinderrechtskonvention“ (National Coalition 1997). Sie wurde
von der Arbeitsgruppe „Kinder und Krieg“
erstellt. Ihr gehörten UNICEF, UNHCR, das
Institut für Friedenssicherung und Humanitäres Völkerrecht, das Deutsche Rote
Kreuz und neben amnesty international
und terre des hommes auch PRO ASYL an.
215
KINDER AUF DER FLUCHT
Das Dokument ist eine Auseinandersetzung mit der Position der Bundesrepublik,
die die Kinderrechtskonvention nur mit
Vorbehalten und damit erheblich eingeschränkt ratifiziert hat. Diese Vorbehalte
beziehen sich vornehmlich auf die Zugangsmöglichkeiten von unbegleiteten
Flüchtlingskindern auf das Bundesgebiet.
Die National Coalition bekräftigt darin
nochmals ihre Position von 1995, daß die
Bundesrepublik damit im klaren Widerspruch zu den Anliegen der Kinderrechtskonvention stehe, eine Auffassung, die von
internationaler Warte geteilt wird.
4. Die Aufgabe
Die Forderungen der National Coalition
geben den international geltenden Standard wieder, den anzumahnen und zu erreichen die politische Aufgabe des nächsten Jahrzehnts sein dürfte. Vielleicht gibt
es mit der neuen Bundesregierung einen
Fortschritt, zumal die Bundesrepublik
größten Wert darauf legt, international
ein vollwertiges Mitglied der Völkerfamilie
zu sein. Aber nicht nur an dieser, sondern
auch an anderen Stellen des Flüchtlingsschutzes bleibt sie hinter dem zurück, was
etwa die Genfer Flüchtlingskonvention
weltweit und die Europäische Menschenrechtskonvention im kontinentalen Bereich festgelegt haben. Es ist eine der besonders delikaten und schwierigen Aufgaben der Zivilgesellschaft in Deutschland,
sich diesem Unterschreiten der international gültigen Maßstäbe entgegenzustellen.
Die Interessenvertretung für Kinderflüchtlinge steht also vor einer doppelten
Aufgabe, einerseits dafür Sorge zu tragen,
daß der junge Mensch als Rechtssubjekt
ernster genommen wird, insofern er Kind
ist, aber auch insofern er Flüchtling ist.
Dabei sollten – wie es der Europäische
Flüchtlingsrat betont – Kinderflüchtlinge
„alle Rechte als Kinder und alle Rechte als
Flüchtlinge“ haben (Europäischer Flücht216
lingsrat 1996). Daher sei jeder Staat verpflichtet, sowohl die UN-Konvention über
die Rechte des Kindes und die Genfer
Flüchtlingskonvention von 1951 in vollem
Umfang zu respektieren.
Eine beachtliches Spektrum von Organisationen und Verbänden nimmt, wie wir
gesehen haben, die Interessen der Kinderflüchtlinge wahr. Das ist eine – wenn sie
denn ihre politische Kraft bündelt und
ausspielt – starke Lobby. Ihr Selbstverständnis und ihr Einsatzwille speist sich
vorwiegend aus dem deutschen Jugendund Familienrecht, und jetzt vor allem
auch aus der Kinderrechtskonvention.
Von der gesellschaftlichen Struktur her ist
die Interessenvertretung des Kindes als
Flüchtling wesentlich geringer. Der Einsatz für die Rechte des Kindes mag in der
Zukunft gewisse Erfolge erzielen. Das Engagement für Kinder, insofern sie Flüchtlinge sind, wird davon profitieren, selbst
in einem Klima, das auf Rechtsminderungen für Flüchtlinge eingestellt ist.
Anmerkung
1 Mittlerweile wurde auch ein ‘Bundesfachverband
unbegleitete minderjährige Flüchtlinge’ gegründet.
Die Adresse ist im Materialteil (Anhang) dieses
Buches zu finden.
Literatur
Huber, Bertold, Kinderflüchtlinge – Flüchtlingskinder.
Hrsg. von terre des hommes, Osnabrück, 1991, S. 16.
(Der Text ist in aktualisierter Form unter dem Stichwort Gesetzliche Grundlagen in diesem Handbuch
abgedruckt.)
Hugoth, Matthias: Kinderrechte und ihre Relevanz für
die Politik und Arbeit mit und für Kinder in Deutschland. In: Caritas ‘98. Freiburg 1998
National Coalition (Hrsg.): Unbegleitete minderjährige
Flüchtlinge in der Bundesrepublik Deutschland – Verpflichtungen aus der UN-Kinderrechtskonvention.
Vorschläge und Positionen, Bonn 1997
KINDERTRANSPORTE
Europäischer Flüchtlingsrat (ECRE): „Kinder als
Flüchtlinge“. Die wichtigsten Empfehlungen. London
1996
Herbert Leuninger
Kindertransporte
In einer von privater Hand organisierten Aktion gelang es 1938/39 etwa 10.000 jüdischen
Kindern und Jugendlichen, von Deutschland
nach Großbritannien zu fliehen. Der Ablauf der
Transporte wird im folgenden kurz dargelegt;
im Anschluß daran soll aufgezeigt werden, in
welchem Ausmaß nicht nur die Betreuung
während der Aufnahme, sondern auch die
Umstände, die sich Jahre später bieten, den
Zugang zur eigenen Vergangenheit prägen.
1. Organisation und Ablauf der
Transporte
Zwischen Dezember 1938 und September
1939 konnten etwa zehntausend jüdische
Kinder – ohne ihre Eltern – aus Deutschland, Österreich, der Tschechoslowakei
und Polen nach England emigrieren. Damit war Großbritannien das Land, das bei
weitem die größte Anzahl von jüdischen
Kindern aufnahm, die zwischen 1933 und
1945 vor dem Nationalsozialismus fliehen
mußten.1 Von den etwa zehntausend Kindern haben die wenigsten ihre Eltern wiedergesehen.
1938 war das Jahr, in dem die nationalsozialistische Verfolgung der Juden in
Deutschland ihren vorläufigen Höhepunkt
vor dem Zweiten Weltkrieg erreichte. Die
Flucht wurde für viele zur immer dringenderen Notwendigkeit, aber Paß und Visum
waren oft nur schwer zu bekommen. Doch
wenn schon die Erwachsenen nicht ausreisen konnten, so wollte man wenigstens
versuchen, die Kinder zu retten.2 Als im-
mer schrecklichere Nachrichten aus
Deutschland, zuletzt die Berichte über die
Verwüstungen der ‘Reichsprogromnacht’
vom 9. auf den 10. November 1938 das
Ausland erreichten, wurden auch in Großbritannien die Stimmen lauter, die die
Regierung zum Handeln aufforderten.
So debattierte am 16. November 1938
das englische Kabinett unter dem Vorsitz
von Neville Chamberlain über die Aufnahme jüdischer Kinder und beschloß noch
am selben Tag, eine unbestimmte Anzahl
von verfolgten Kindern aus Deutschland
einreisen zu lassen. Einzige Bedingung für
das Visum war die Zahlung einer Garantiesumme von fünfzig englischen Pfund
pro Kind, die entweder von bereits in
Großbritannien lebenden Verwandten
oder von einer der Organisationen, die an
der Aktion beteiligt waren, gestellt werden mußte. Mit diesem Geld sollte eine
eventuelle Emigration in ein Drittland finanziert werden, da die Regierung bei ihrer Entscheidung zunächst davon ausging,
daß England für die meisten Kinder nur
eine Zwischenstation war. Daran gekoppelt war das Versprechen der jüdischen
Organisationen, die den Kindertransport
in die Wege geleitet und später auch seinen gesamten Ablauf regelten und überwachten, daß keines der Kinder je von öffentlicher Hand unterstützt werden müßte.
Als die Operation ‘Kindertransport’ im
Parlament verhandelt wurde, war zunächst von einer Begrenzung auf 10.000
Kinder die Rede. Dieses Limit wurde später kaum noch erwähnt. Daß die Zahl der
geflohenen Kinder sich mit diesen angestrebten 10.000 schließlich beinahe deckte, scheint ‘zufällig’ zu sein. Wäre nicht
am 1. September 1939 der Zweite Weltkrieg ausgebrochen, so hätten die Organisatoren vermutlich noch eine weitaus grössere Anzahl von Kindern retten können.
Um den Verwaltungsaufwand möglichst
gering zu halten, hatte das britische In217
KINDER AUF DER FLUCHT
nenministerium versprochen, auf die Vorlage eines Passes für jedes einzelne Kind
zu verzichten und sich mit dem Abstempeln einfacher Reisepapiere zu begnügen.
Dieser Stempel sowie die Visumkarte, die
ebenfalls vom Innenministerium ausgestellt wurde, berechtigten die Kinder zur
Einreise. Auch die deutsche Regierung
gab nach kurzen Verhandlungen und einigen Schikanen3 eine umfassende Ausreisegenehmigung für alle mit dem Kindertransport ausreisenden Kinder. Bedingung
war letztendlich nur, daß die Kinder kein
Vermögen außer Land brachten. Dennoch
kam es gelegentlich zu Verzögerungen
beim Ausstellen der Reisepapiere und
sehr selten sogar zu einem Ausreiseverbot.
Bei der Reichsvertretung der Juden in
Deutschland und auf der Kultusgemeinde
in Wien konnten Eltern ihre Kinder für die
Ausreise registrieren lassen. Für die Auswahl der Kinder, die letztendlich ausreisen konnten, gab es keine festgelegten
Regeln; vordringlich jedoch sollten vor allem ältere Kinder in Sicherheit gebracht
werden, deren Eltern bereits von den
Nazis verhaftet worden waren und daher
selbst von einer Verhaftung bedroht waren. Auch einige Kinder, die bereits festgenommen und wieder freigelassen worden
waren, wurden so schnell wie möglich auf
den Transportlisten eingeschrieben. Damit Geschwister in der Fremde zusammen
bleiben konnten, versuchten deren Eltern,
ihre Kinder gemeinsam auf die Reise zu
schicken, doch war dies nicht immer möglich. In einigen Fällen konnten Geschwister zwar im selben Transport fliehen,
wurden dann aber bei ihrer Ankunft in
England getrennt.
Relativ kurzfristig, d. h. meist nur wenige Tage im voraus, wurden die Eltern von
der bevorstehenden Abreise ihrer Kinder
informiert, so daß nicht viel Zeit blieb, um
die nötigen Vorbereitungen zu treffen. Zur
Stunde des Abschiedes am Bahnhof wuß218
ten nur wenige Eltern, wohin genau ihre
Kinder kommen würden: die Kinder, die
mit der jüdischen Organisation ‘JugendAlijah’ fuhren, würden in Heimen mit angegliederten landwirtschaftlichen Betrieben unterkommen; einige wenige Familien hatten zudem Freunde oder Verwandte in England, die ihre Kinder aufnehmen
würden; bei allen anderen Kindern war
das Schicksal unklar.
2. Aufnahme der Kinder
In Harwich, dem Ankunftshafen, wurde
die Fähre von wartenden HelferInnen des
eigens gegründeten ‘Refugee Children’s
Committee’ (Kinderflüchtlinge-Komitee) in
Empfang genommen und die Kinder zunächst in einem leerstehenden Ferienheim untergebracht. Da immer wieder
neue Transporte aus Deutschland erwartet wurden und Platz für die Neuankömmlinge geschaffen werden mußte, war es
nötig, für die Kinder so bald wie möglich
ein neues Zuhause zu finden. Aufgerüttelt
durch die Presse hatten zahlreiche – jüdische und nicht-jüdische – Familien angeboten, Kinder bei sich aufzunehmen.
Die Erinnerungen an das Auswahlverfahren gleichen häufig der Schilderung eines Viehmarktes: Meistens während der
Mahlzeiten im Speisesaal kamen die potentiellen Pflegeeltern und suchten die
Kinder aus, die bei ihnen leben sollten. Je
jünger die Kinder waren, desto größer
waren ihre Chance, einen Platz in einer
Pflegefamilie zu finden. Blonde, blauäugige Mädchen – im Sinne der Naziideologie
‘arisch’ aussehend – wurden von den neuen Pflegeeltern bevorzugt ausgewählt; dagegen war es für dunkelhaarige, größere
Jungen viel schwieriger, in einer Familie
unterzukommen. Doch obwohl die Bereitschaft, ein oder sogar mehrere Kinder aus
Deutschland zu beherbergen, erstaunlich
groß war, konnten längst nicht alle Flüchtlinge in Familien untergebracht werden.
KINDERTRANSPORTE
Die Kinder, für die keine Pflegeeltern gefunden werden konnten, wurden auf verschiedene Heime über ganz Großbritannien verstreut verteilt.
Die Aktivitäten in England wurden
größtenteils vom ‘Refugee Children’s Movement’ (RCM) und vom ‘Jewish Refugees’
Committee’ geleitet. Diese Organisationen
unterhielten lokale Subkomitees, die die
Unterbringung der Kinder vor Ort überwachten und sich speziellen Belangen wie
Gesundheit, Ausbildung, Religion usw.
widmeten. ‘Marks & Spencer’ – ein noch
heute bekanntes und renommiertes Warenhaus – gab kostenlos Kinderkleidung
und Nahrungsmittel an das RCM aus.
Auch nicht-jüdische Organisationen leisteten großzügig Unterstützung; allen voran
die englischen Quäker, die bei der Unterbringung und Versorgung der Kinder halfen. Ein von dem ehemaligen Premierminister Lord Baldwin in der TIMES und
über Rundfunk verbreiteter Spendenaufruf an die englische Bevölkerung brachte
fünfhunderttausend Pfund ein4 – zu dieser
Zeit ein beachtlicher Betrag, vor allem,
wenn man bedenkt, daß Antisemitismus
auch in England nicht unbekannt war
und die Kinder darüber hinaus häufig als
‘feindliche’ Deutsche wahrgenommen
wurden.
Die neue Umgebung bedeutete für die
Kinder eine enorme Umstellung, die sie
nun ohne den vertrauten Beistand ihrer
Eltern bewältigen mußten. Das Essen war
ungewohnt, die Menschen sprachen in einer unbekannten Sprache, die Sitten und
Umgangsformen waren fremdartig und irritierend. Weil viele der deutschen Vornamen in England unbekannt waren, wurden manche Kinder mit einem englischen
Namen versehen. Einige Kinder hatten
große Schwierigkeiten in ihrer neuen Familie, wurden als billiges Dienstpersonal
benutzt, sexuell mißbraucht oder aber
komplett vernachlässigt. Andere wiederum erinnern sich gerne an ihre ehemalige
Pflegefamilie, und einige haben heute
noch Kontakt zu ihr. Schwierigkeiten ergaben sich auch aus der Tatsache, daß
längst nicht alle Pflegefamilien jüdischen
Glaubens waren. Kinder, die aus einem
sehr religiösen Elternhaus stammten, waren plötzlich gezwungen, nicht-koschere
Nahrung zu essen, und der Sabbat als
Feiertag wurde nicht mehr begangen – die
Traditionen, nach denen sie, ihre Eltern,
Großeltern und alle anderen Vorfahren
gelebt hatten, waren mit einem Schlag aus
ihrem Alltag gestrichen. Die beteiligten
Organisationen bemühten sich jedoch, Religionsunterricht und in regelmäßigen
Abständen auch Gottesdienste anzubieten.
Mit Ausbruch des Krieges ergaben sich
für die Kinder weitere Veränderungen:
Diejenigen, die mittlerweile 16 Jahre alt
waren, wurden, wie alle Deutschen, umgehend als ‘enemy aliens’, feindliche AusländerInnen, interniert. In der Regel dauerte die Internierung einige Wochen, bis
sie als Verfolgte des Nazi-Regimes klassifiziert und damit als ‘ungefährlich’ eingestuft wurden. Als später die Bomben des
‘Blitz’-Krieges über London und anderen
englischen Städten niedergingen, wurden
viele Kinder – deutsche wie englische –
aufs Land evakuiert, wo sie wiederum in
Familien unterkamen. Für die deutschen
Kinder bedeutete dies ein erneutes Verlassen einer Umgebung, die ihnen mittlerweile vertraut geworden war.
3. Kriegsende
Nach Kriegsende begann die Suche nach
den zurückgelassenen Verwandten. Die
meisten Angehörigen waren umgekommen, doch nur in den seltensten Fällen
war es möglich, ein exaktes Todesdatum
oder gar eine Begräbnisstätte ausfindig zu
machen. Die Kinder, deren Eltern überlebten, hatten mit anderen Schwierigkeiten zu kämpfen: Wieder mußten sie eine
219
KINDER AUF DER FLUCHT
vertraute, manchmal sogar liebgewonnene Umgebung verlassen und versuchen,
mit den inzwischen fremdgewordenen
leiblichen Eltern zusammenzuleben. Die
Eltern hingegen, die meist schwere traumatische Erfahrungen hinter sich hatten,
waren mit der Sorge um ihre Kinder häufig schlichtweg überfordert. Zu alledem
gesellte sich auch hier das Problem der
Sprache: zahlreiche Kinder hatten ihre
deutsche Sprache vergessen und mußten
wieder lernen, mit ihren Eltern zu kommunizieren.
Die ‘Kinder’ – wie sie sich immer noch,
auch auf englisch, bezeichnen – sind heute zwischen 60 und 70 Jahre alt. Einige
sind nach Israel gegangen; ein kleinerer
Teil ist in die USA, Kanada und Australien
weiter gewandert; der größte Teil in Großbritannien geblieben. Ganz wenige ‘Kinder’ sind in die Bundesrepublik Deutschland zurückgekehrt. Seit mehreren Jahren gibt es in Großbritannien, den USA
und Israel Vereinigungen5, deren Mitglieder sich regelmäßig treffen, um Erinnerungen und Erfahrungen auszutauschen.
4. Der Kindertransport – von heute aus
gesehen
Aus heutiger Sicht die Betreuung der
Kinder qualitativ zu bewerten, scheint
angesichts der Umstände problematisch,
doch lassen sich in der Biographie der
Kinder zwei Muster verfolgen, die Anlaß
geben sollten zum Nachdenken über den
längerfristigen Umgang mit Kinderflüchtlingen:
Zum einen fand bei den meisten Kindern das statt, was Hans Keilson „sequentielle Tramatisierung“ nannte (Keilson
1979). In Keilsons Arbeit wird die massivkumulative Traumatisierung bei Kindern
am Beispiel der jüdischen Kriegswaisen in
den Niederlanden unter dem Aspekt der
traumatischen Sequenzen, die diese Kinder durchlebten, systematisch analysiert.
220
Er kommt dabei zu dem Ergebnis, daß mit
dem Ende des Krieges keineswegs ein Ende der Traumatisierung einhergeht. Vielmehr setzen sich Trauma und Stress
durch die weitere Biographie der Probanden fort, auch in Situationen, die mit der
ursprünglichen Traumatisierung – der Erfahrung des Krieges und Trennung von
den Eltern – in keinem direkten Zusammenhang stehen.
Ähnlich verhält es sich mit den Kindern
des Kindertransportes: Nach den Antisemitismuserfahrungen in Deutschland und
der frühen Trennung von den Eltern folgte
in Großbritannien häufig die Stigmatisierung als ‘Deutsche’ und ‘Juden’ sowie
die ständige Erwartung nach Dankbarkeit
gegenüber ihren Gasteltern und ihrem
Gastland. Nach Kriegsende, als die Wahrheit über das Ausmaß des Holocaust bekannt wurde und die Überlebenden der
Konzentrationslager von dem, was sie
durchgemacht hatten, berichten konnten,
ergab sich für die ‘Kinder’ eine neue Perspektive. Zum einen wurden sie – vor allem, wenn eigene Familienangehörige im
Lager umgekommen waren – von dem
Schuldgefühl der Überlebenden geplagt.
Gleichzeitig mußten sie immer wieder erfahren, daß ihre Umwelt ihnen nicht das
Recht zugestand, sich zu beklagen, da sie
sich ins sichere England haben flüchten
‘dürfen’ und ihnen so die schlimmsten
Greuel erspart geblieben waren. Die Folgen der frühen Trennung von den Eltern
und die Einsamkeit in einem fremden
Land mit einer unbekannten Sprache
wurden hierbei völlig vernachlässigt. Erst
in den letzten etwa zehn Jahren, gelang es
den ‘Kindern’ – wie übrigens auch den sogenannten „versteckten Kindern“6 –, aus
dem Schatten der Auschwitz-Überlebenden herauszutreten: Kindertransport-Vereinigungen wurden gegründet und ‘Reunions’ abgehalten. In größeren Städten
wie London und New York finden seither
regelmäßige Treffen und Selbsthilfegrup-
KINDERTRANSPORTE
pen statt, in denen sich die TeilnehmerInnen über ihre Erfahrungen austauschen
können (Barnett 1995). Für viele bietet
dies zum ersten Mal die Möglichkeit, über
ihr Schicksal zu reden und trauern, ohne
sich ‘Weinerlichkeit’ und Undankbarkeit
vorwerfen lassen zu müssen.
Eine zweite Beobachtung ließ sich in
den Gesprächen mit den Überlebenden des
Kindertransportes machen: Die Möglichkeiten, mit der eigenen Vergangenheit umzugehen, hingen stark davon ab, in welchem Land das ehemalige ‘Kind’ schließlich seinen späteren Wohnsitz fand. ‘Kinder’, die in Großbritannien blieben, sind in
der Regel bis heute nur ‘British subjects’,
d. h. sie besitzen zwar einen britischen
Paß, werden aber weder von sich noch von
ihrer Umwelt als Briten akzeptiert, sondern bleiben – wenn auch unausgesprochen – Flüchtlinge. ‘Kinder’ hingegen, die
nun in den USA leben, befinden sich in einem Land, das sich zum großen Teil selbst
aus Flüchtlingen zusammensetzt und in
dem der Holocaust im kollektiven nationalen Gedächtnis eine sehr viel prominentere
Rolle spielt als beispielsweise in Großbritannien, wo der Sieg über Deutschland bis
heute eher als ruhmreiche militärische
Operation denn als Ende des Holocaust gefeiert wird. In Israel hingegen ist der
Holocaust eine der wichtigsten Legitimationen für die Existenz des Staates, und die
Vergangenheit der ‘Kinder’ gilt nicht als
Ausnahme, sondern als Regel unter den
BewohnerInnen dieses Landes.
So läßt sich abschließend feststellen,
daß nicht nur die Betreuung während der
Flucht bzw. die Aufnahme nach der Flucht
von Bedeutung ist, sondern in bisher möglicherweise noch unterschätztem Ausmaß
auch der Umgang und das Verständnis,
mit dem Kindern und Jugendlichen begegnet wird, die scheinbar schon längst
aus dem ‘Flüchtlingsstatus’ herausgetreten sind.
Anmerkungen
1 Zum Vergleich: Die USA nahmen im gleichen Zeitraum zweitausend unbegleitete Kinder auf. Unter
der Gesamtzahl der nach England emigrierten Juden nimmt der Kindertransport ebenfalls einen besonderen Platz ein: Von den insgesamt fünfzigtausend der zwischen 1933 und 1945 aus Deutschland
und Österreich nach Großbritannien geflohenen
Juden war immerhin ein Fünftel mit den Kindertransporten gekommen.
2 Ein ursprünglicher Plan der Jewish Agency, die sich
um die Emigration von Juden aus Deutschland
kümmerte, hatte vorgesehen, jüdische Kinder nach
Palästina in Sicherheit zu bringen, doch die britische Regierung, unter deren Protektorat Palästina
damals stand, hatte abgewehrt: Mit Rücksicht auf
die arabischen Nachbarn wollte man keine weiteren jüdischen Flüchtlinge ins Land lassen.
3 So ordnete Adolf Eichmann, als Leiter des Judenreferats im Wiener Reichssicherheitshauptamt zuständig für die Ausreisegenehmigungen der Kinder,
an, daß der erste Transport am Samstag das Land
verlassen haben müsse – dem Tag, an dem nach jüdischem Recht das Reisen nicht erlaubt ist.
4 Etwa die Hälfte des Geldes kam den Organisatoren
des Kindertransportes zugute.
5 In London und Jerusalem ist dies „Reunion of Kindertransport“; in New York die „Kindertransport
Association“.
6 Vgl. hierzu Jane Marks: The Hidden Children. The
Secret Survivors of the Holocaust, New York 1993;
André Stein: Versteckt und vergessen. Kinder des
Holocaust, Wien/München 1995
Literatur
Barnett, Ruth: The Other Side of the Abyss. A Psychodynamic Approach to Working with Groups of
People Who Came to England as Children on the Kindertransporte, in: British Journal of Psychotherapy
(1995) 12(2), S. 178-194
Gillespie, Veronica M.: Working with the ‘Kindertransports’, in: Sybil Oldfield (Hg.): This Working-Day
World. Women’s Lives and Culture(s) in Britain 19141945, London 1994, S. 123-132
Göpfert, Rebekka: Der jüdische Kindertransport von
Deutschland nach England 1938/39. Geschichte und
Erinnerung, Frankfurt/M. 1999
221
KINDER AUF DER FLUCHT
Keilson, Hans: „Sie werden von niemandem erwartet“.
Eine Untersuchung über verwaiste jüdische Kinder
und deren ‘sequentielle Traumatisierung’, in: Gesellschaft für Exilforschung (Hg.): Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch, Bd. 3, München 1985, S. 374395
London, Louise: British Immigration Control Procedures and Jewish Refugees, 1933-1939, in: Werner E.
Mosse u. a. (Hg.): Second Chance. Two Centuries of
German-Speaking Jews in the United Kingdom, Tübingen 1991 (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts, 48), S. 485-518
Rebekka Göpfert
222
GESETZLICHE GRUNDLAGEN
4.
Recht und Gesetz
Gesetzliche
Grundlagen1
In dem Beitrag werden die zentralen gesetzlichen Regelungen vorgestellt und kommentiert,
die sich nach dem Ausländergesetz, dem Kinder- und Jugendhilfegesetz und der UN-Kinderrechtskonvention für die Arbeit mit Kinderflüchtlingen ergeben.
1. Ausländergesetz2
1.1 Generelle Aufenthaltsgenehmigungspflicht und Befreiungen von der
Aufenthaltsgenehmigungspflicht
Nach § 3 I 1 AuslG bedürfen AusländerInnen für die Einreise und den Aufenthalt
im Bundesgebiet einer Aufenthaltsgenehmigung. Anders als nach der alten Regelung in § 2 II Nr. 1 AuslG 1965 unterliegen
nunmehr auch Kinder und Jugendliche
vor Vollendung des 16. Lebensjahres der
generellen
Aufenthaltsgenehmigungspflicht. § 3 I 2 AuslG räumt jedoch dem
Bundesminister des Innern die Befugnis
ein, zur Erleichterung des Aufenthalts von
AusländerInnen durch Rechtsverordnung
mit Zustimmung des Bundesrates Befreiungen vom Erfordernis der Aufenthaltsgenehmigung vorzunehmen.
§ 1 I DVAuslG vom 18.12.19903 befreit
Staatsangehörige der in der Anlage I zur
‘Verordnung zur Durchführung des Ausländergesetzes’ (DVAuslG) aufgeführten
Staaten für Aufenthalte bis zur Dauer von
drei Monaten von der Aufenthaltsgenehmigungspflicht sofern sie einen Paß(ersatz) besitzen und keine Erwerbstätigkeit
im Sinne des § 12 DVAuslG aufnehmen
wollen. In den zurückliegenden Jahren reisten in erster Linie Kinderflüchtlinge aus
Afghanistan, Äthiopien (Eritrea), dem
Iran, dem Libanon (Palästinenser), Sri
Lanka (Tamilen) und aus der Türkei ein4.
In jüngster Zeit, im Verlauf des Golf-Krieges, waren ferner Einreisen iranischer
Kinder und Jugendlicher aus dem Irak
festzustellen. Keines dieser Länder ist im
Länderkatalog der Anlage I zur DVAuslG
enthalten, so daß eine visumsfreie Einreise zunächst für einen Besuchsaufenthalt
für Kinder aus den genannten Herkunftsregionen nicht mehr möglich ist. De facto
heißt dies, daß Kinderflüchtlinge aus jenen Ländern regelmäßig keine Chance
mehr haben, in der BRDeutschland Zuflucht zu suchen. Fluggesellschaften etwa
werden sich wegen der in §§ 73 und 74
AuslG vorgesehenen Sanktionen (Rückbeförderungspflicht, Zwangsgeld) im Falle
der Beförderung von AusländerInnen, die
visumspflichtig sind, jedoch keinen Sichtvermerk besitzen, regelmäßig weigern,
unbegleitete minderjährige Flüchtlinge ins
Bundesgebiet zu transportieren. Ganz abgesehen davon, daß Mitarbeiter des Bundesgrenzschutzes bereits in den Hauptherkunftsländern von Asylbewerbern Paßund Sichtvermerkskontrollen vornehmen,
so offenbar beispielsweise in Sri Lanka.
223
RECHT UND GESETZ
Durch die Einführung der generellen Aufenthaltsgenehmigungspflicht schottet sich
demnach die Bundesrepublik Deutschland
u. a. gegenüber Kinderflüchtlingen ab.
kaum überwindbare Hürde. Im Gegensatz
zur früheren Rechtslage haben sich daher
die Gewichte nachhaltig zu Lasten der
Schutzsuchenden verschoben.
1.2 Zurückweisung an der Grenze
1.2.2 Ermessenszurückweisung
(§ 60 II AuslG)
1.2.1 Zwingende Zurückweisung bei unerlaubter Einreise (§ 60 I AuslG)
Nach § 60 I AuslG werden AusländerInnen, die unerlaubt einreisen wollen, an
der Grenze zurückgewiesen. Eine unerlaubte Einreise in diesem Sinne liegt gemäß § 58 I AuslG dann vor, wenn die AusländerInnen
– eine erforderliche Aufenthaltsgenehmigung nicht besitzen (Nr.1) oder
– einen erforderlichen Paß nicht besitzen
(Nr. 2) oder
– wegen einer vorangegangenen Ausweisung oder Abschiebung nicht einreisen
dürfen (Nr.3).
Kinderflüchtlinge, die aufenthaltsgenehmigungspflichtig sind, aber nicht über
die erforderlichen Dokumente verfügen,
sind daher an der Grenze zurückzuweisen. Auch hier wirkt sich die seit dem
1.1.1991 geltende generelle Aufenthaltsgenehmigungspflicht für Kinder und Jugendliche in gravierender Weise aus.
Diese den Grenzbehörden auferlegte
Verpflichtung wird zum einen durch die
Fälle des Verbots der Zurückschiebung bei
(möglicher) politischer Verfolgung bzw.
beim Vorliegen sonstiger Abschiebungshindernisse modifiziert (dazu unten Abschnitt 1.5), zum anderen beim Einreichen
eines Asylbegehrens bereits an der Grenze
im Sinne des § 18 I AsylVfG. Diese partielle
Ausnahme von der Pflicht zur Zurückweisung setzt jedoch zunächst entsprechende
Angaben bzw. einen entsprechenden Antrag des Flüchtlings voraus. Ihm obliegt
die Darlegungslast dafür, ob die Voraussetzungen für eine solche Ausnahme vorliegen. Dies ist eine für Kinderflüchtlinge
224
1.2.2.1 Ermessenszurückweisung nach
§ 60 II Nr. 1 AuslG
Nach § 60 II Nr. 1 AuslG kann die Grenzbehörde AusländerInnen an der Grenze
zurückweisen, wenn ein Ausweisungsgrund vorliegt. Den Gesetzgebungsmaterialien zufolge5 entspricht diese Bestimmung dem § 18 I 2 AuslG 1965. Nach dieser früheren Regelung konnte eine Zurückweisung ausgesprochen werden,
wenn die Voraussetzungen für eine Ausweisung im Sinne des § 10 AuslG 1965
vorlagen. Es ist daher auch für die jetzt
geltende Fassung davon auszugehen, daß
die Zurückweisung von AusländerInnen
unter Berufung auf § 60 II Nr.1 AuslG nur
erfolgen darf, sofern in der Person des
Ausländers/der Ausländerin Gründe vorliegen, die auch nach erfolgter Einreise
unter Berücksichtigung der Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalles die Ausweisung gemäß §§ 45 ff AuslG rechtfertigen
würde. Allein der Umstand, daß rein formal einer der Ausweisungsgründe der
§§ 45 I, 46 AuslG gegeben ist, berechtigt
somit noch nicht zur Zurückweisung6. Bei
Kinderflüchtlingen kommen in erster Linie zwei Ausweisungsgründe in Betracht:
– § 46 Nr. 6 AuslG: zu gewärtigende Inanspruchnahme von Sozialhilfe zur Bestreitung des Lebensunterhalts;
– § 46 Nr. 7 AuslG: Erhalt von Hilfe zur
Erziehung außerhalb der eigenen Familie oder Hilfe für junge Volljährige
nach dem Sozialgesetzbuch VIII, also
dem zum 1.1.1991 in Kraft getretenen
neuen Kinder- und Jugendhilfegesetz
(s. u. Kap. 2).
GESETZLICHE GRUNDLAGEN
Bei ihrer Entscheidung über die Zurückweisung eines Kinderflüchtlings wegen Vorliegens eines Ausweisungsgrundes
hat die zuständige Grenzbehörde die in §
45 II AuslG im einzelnen aufgeführten
Kriterien für die Ausübung des Ausweisungsermessens (Berücksichtigung der
bisherigen Aufenthaltsdauer im Bundesgebiet; Folgen der Ausweisung für hier lebende Familienangehörige, Duldungsgründe i.S.d. § 55 II AuslG) mitheranzuziehen. Die dortigen Regelungen sind also
auch für die Handhabung des Zurückweisungsermessens von Bedeutung, wobei
freilich bei Kinderflüchtlingen wegen eines fehlenden vorangegangenen Inlandsaufenthalts allein das Vorliegen von Duldungsgründen i.S.d. § 55 II AuslG relevant
werden dürfte.
1.2.2.2 Ermessenszurückweisung nach
§ 60 II Nr. 2 AuslG
AusländerInnen können nach § 60 II Nr. 2
AuslG an der Grenze zurückgewiesen
werden, wenn der begründete Verdacht
besteht, daß der Aufenthalt nicht dem angegebenen Zweck dient. Reist beispielsweise ein aufenthaltsgenehmigungspflichtiger Kinderflüchtling mit einem Touristenvisum ein und stellt sich z. B. im Rahmen einer Befragung bei der Einreisekontrolle heraus, daß tatsächlich ein längerfristiger Aufenthalt im Bundesgebiet
beabsichtigt ist, so kann eine Zurückweisung ausgesprochen werden. Erforderlich
sind jedoch begründete Verdachtsmomente. Vage Vermutungen reichen keinesfalls
zur Zurückweisung nach § 60 II Nr. 2
AuslG aus. Auf jeden Fall hat die Grenzbehörde von Amts wegen zunächst den
Sachverhalt umfassend aufzuklären, bevor eine Zurückweisungsentscheidung ergehen kann. Diese Sachverhaltsaufklärung hat nach den allgemeinen Bestimmungen des § 24 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) zu erfolgen. Die einem
Ausländer/einer Ausländerin in § 70 AuslG
auferlegten verschärften Mitwirkungspflichten kommen im Rahmen der Amtsermittlung der Grenzschutzbehörden nicht
zum Zuge, da § 70 AuslG ausweislich des
Gesetzeswortlauts ausschließlich für das
Verfahren vor der Ausländerbehörde gilt7.
Allerdings erfordert der Tatbestand des §
60 II Nr. 2 AuslG nicht, daß die Änderung
des Aufenthaltszwecks hundertprozentig
feststeht; eine hinreichende, durch tatsächliche Gegebenheiten und Unterlagen
schlüssig, nachvollziehbar und beweiskräftig belegte Gewißheit wird als ausreichend erachtet werden müssen. Im übrigen heißt es hierzu in der amtlichen Begründung: ,,Die Zurückweisung wegen eines anderen als des angegebenen Aufenthaltszwecks kommt nur in Betracht,
soweit es sich um eine für die Entscheidung über den Aufenthalt erhebliche
Zweckänderung handelt. Soweit der Ausländer ein Visum besitzt, muß zudem der
Verdacht auf Umständen beruhen, die von
der Auslandsvertretung nicht oder nicht
abschließend geprüft werden konnten.“8
Liegen die Tatbestandsvoraussetzungen
des § 60 II Nr. 2 AuslG vor, so ist im Rahmen der zu treffenden Ermessensentscheidung auch zu prüfen, ob u. U. einem
bei der Ausländerbehörde gegebenenfalls
zu stellenden Antrag auf Erteilung einer
Aufenthaltsgenehmigung zu dem tatsächlichen Aufenthaltszweck Erfolgsaussichten nicht von vornherein abzusprechen
sind (vgl. dazu unten, Abschnitt 1.3).
1.2.2.3 Ermessenszurückweisung nach
§ 60 III AuslG
AusländerInnen, die für einen vorübergehenden Aufenthalt vom Erfordernis einer
Aufenthaltsgenehmigung befreit sind,
können unter denselben Voraussetzungen
an der Grenze zurückgewiesen werden,
unter denen eine Aufenthaltsgenehmigung versagt werden darf (§ 60 III AuslG).
225
RECHT UND GESETZ
Da Kinderflüchtlingen i.d.R. kein Rechtsanspruch auf Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung nach den Vorschriften des
Ausländergesetzes, z. B. § 20 AuslG für
den Kindernachzug, zusteht, kommen die
allgemeinen Versagungsgründe des § 7 II
AuslG, die für die Ermessens-Aufenthaltsgenehmigung des § 7 I AuslG einschlägig
sind, in Betracht. Dies sind:
– Vorliegen eines Ausweisungsgrundes
(Nr. 1)
– fehlende Unterhaltssicherung und fehlender
Krankenversicherungsschutz
(Nr. 2) und
– Beeinträchtigung oder Gefährdung der
Interessen der BRDeutschland durch
den Aufenthalt eines Ausländers/einer
Ausländerin aus einem sonstigen
Grund (Nr. 3).
Von den Versagungstatbeständen des
§ 7 II AuslG werden im Grunde all die
Sachverhalte erfaßt, die nach altem Recht
unter den Begriff der „Belange der Bundesrepublik Deutschland“ also der Negativschranke, im Sinne des § 2 I 2 AuslG
1965 fielen. Die hierzu in der Rechtsprechung entwickelten Kriterien sind daher
auch im Rahmen des neuen § 7 II AuslG
i.V.m. § 60 III AuslG heranzuziehen. Es
muß somit also auch im Rahmen der Prüfung einer Zurückweisung nach § 60 III
AuslG zum einen eine zukunftsbezogene
Beurteilung erfolgen. Ausschließlich im
Hinblick auf den beabsichtigten zukünftigen Aufenthalt muß einer der in § 7 II
AuslG benannten Belange beeinträchtigt
werden; eine allerdings bei Kinderflüchtlingen i.d.R. nicht gegebene Beeinträchtigung entsprechender Belange in der
Vergangenheit reicht demgegenüber nicht
aus. Zum anderen muß die Beeinträchtigung von beachtlichem Gewicht sein, so
daß nicht jede entfernte Gefährdung eines
noch so geringen öffentlichen Belanges
oder Interesses die Annahme, es liege ein
Regelversagungsgrund nach § 7 II AuslG
vor, rechtfertigt9. Diese Begrenzung der
226
Reichweite der Versagungstatbestände
des § 7 II AuslG, bei deren Vorliegen die
Aufenthaltsgenehmigung regelmäßig zu
verweigern ist, ist geboten, da andernfalls
für die Ausübung des in § 7 I AuslG eingeräumten (Rest)Ermessens kein Raum bliebe. Auf die Zurückweisung bezogen heißt
dies, daß nicht schon jede geringfügige
Beeinträchtigung oder Gefährdung bundesrepublikanischer Interessen das Zurückweisungsermessen eröffnet.
1.2.3 Zurückweisungshindernisse
Eine Zurückweisung von Kinderflüchtlingen ist ausgeschlossen, sofern ein Abschiebungshindernis im Sinne der §§ 51 I,
IIIV, 52, 53 I, II und IV AuslG vorliegt (§ 60
V AuslG)10.
1.2.4 Rechtsschutz
Im Gegensatz zu § 18 AuslG 1965 sind die
Zurückweisungsmöglichkeiten in § 60
AuslG verschärft worden. Insbesondere
führt die unerlaubte Einreise, also der
fehlende Besitz einer Aufenthaltsgenehmigung oder eines Visums, zur Verpflichtung, zurückzuweisen. Zwar kann gegen
die Zurückweisung nach wie vor Widerspruch und anschließend Klage erhoben
werden. Die vorläufige Gestattung der
Einreise ist jedoch nur im Wege eines Antrags auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung gemäß § 123 VwGO bei dem zuständigen Verwaltungsgericht zu erlangen.
Kinderflüchtlinge sind jedoch regelmäßig
sowohl wegen ihres Alters als auch wegen
fehlender Sach- und Rechtskenntnisse
nicht in der Lage, auf dem Rechtsweg in
dem geschilderten Sinne vorzugehen. Sie
bleiben im Ergebnis rechtsschutzlos, zumal ihrer Zurückweisung oder -schiebung
ihre mangelnde Handlungsfähigkeit nach
neuem Recht gemäß § 68 II 1 AuslG nicht
entgegensteht. Dies erweist sich m.E. im
GESETZLICHE GRUNDLAGEN
Hinblick auf das Rechtsstaatsprinzip des
Art. 20 I, 28 I GG und die Rechtsschutzgarantie des Art.19 IV GG als verfassungsrechtlich nicht zulässig.
1.3 Aufenthaltsgenehmigung nach
erfolgter Einreise
Sofern ein Kinderflüchtling entweder mit
einem Besuchervisum oder aber unter Berufung auf die (durch Änderungsverordnung vom 2.4.1997 weitgehend abgeschaffte) Befreiung von der Aufenthaltsgenehmigungspflicht gemäß §§ 1 I, 2 II
Nr. 1 DVAuslG für einen vorübergehenden
Aufenthalt eingereist ist und die für einen
Besuchsaufenthalt in der Regel zulässige
Aufenthaltsdauer von drei Monaten abzulaufen droht, stellt sich die Frage, ob einem nunmehr zu stellenden Antrag auf
Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung
Erfolgsaussichten zukommen. War von
vornherein bei der Einreise ein Aufenthalt
auf unbestimmte Dauer, also nicht nur
vorübergehend, beabsichtigt, bestand die
sich aus § 3 III 1 AuslG ergebende Verpflichtung, die Aufenthaltsgenehmigung
vor der Einreise in der Form des Sichtvermerks (Visum) einzuholen, wobei zugleich
die Zustimmung der inländischen Ausländerbehörde, in deren Bezirk der Aufenthalt genommen werden sollte, erforderlich war (§ 11 I Nr. 1 DVAuslG). Für den
Fall der Einreise ohne das erforderliche
Visum bzw. mit einem auf maximal drei
Monate lautenden Touristenvisum, für das
die Zustimmung der Ausländerbehörde
nicht erforderlich war, bestimmt § 8 I Nr.
1 und 2 AuslG, daß selbst bei Vorliegen
der Voraussetzungen eines Rechtsanspruchs auf eine Aufenthaltsgenehmigung
diese zu versagen ist. Freilich sieht § 9 I
AuslG die Möglichkeit vor, gleichwohl im
Wege einer Ermessensentscheidung eine
Aufenthaltsgenehmigung zu erteilen. Und
zwar zum einen im Falle der Einreise ohne das erforderliche Visum, sofern die
Voraussetzungen eines Anspruchs auf
Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung
nach dem Ausländergesetz offensichtlich
erfüllt sind und der Ausländer/die Ausländerin nur wegen des Zwecks oder der
Dauer des beabsichtigten Aufenthalts visumspflichtig ist (§ 9 I Nr. 1 AuslG). Zum
anderen kann im Falle der Einreise mit einem Visum, das ohne die erforderliche
Zustimmung der Ausländerbehörde erteilt
worden ist, eine Aufenthaltsgenehmigung
erteilt werden, sofern die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung einer
Aufenthaltsgenehmigung
offensichtlich
erfüllt sind. Da jedoch Kinderflüchtlingen
kein Rechtsanspruch auf eine Aufenthaltsgenehmigung zusteht, greift jene Ausnahmemöglichkeit nicht ein. Ihnen gegenüber
verbleibt es daher zunächst bei der Duldung. Die spätere Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis ist freilich nicht ausgeschlossen (vgl. § 30 II – V AuslG).
1.4 Aufenthaltsgenehmigung zum
Verbleib bei hier lebenden
Familienangehörigen
Gelegentlich erfolgt die Einreise von Kinderflüchtlingen zu im Bundesgebiet lebenden Verwandten (z. B. Geschwister, Onkel/
Tante)11. Die Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung bestimmt sich in diesen Fällen nach § 22 AuslG, der den Nachzug
sonstiger Familienangehöriger regelt, sofern die Aufnahme des Kindes in den
Familienverband des sich hier bereits aufhaltenden entfernteren Verwandten und
ggf. sogar die Übertragung der Personensorge auf diesen beabsichtigt ist. § 22 I
AuslG setzt für die Erteilung einer solchen
Aufenthaltsgenehmigung, die im Ermessen der Ausländerbehörde steht, voraus,
daß dies „zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte erforderlich ist.“ Härteklauseln werden in der Verwaltungs- und
Rechtsprechungspraxis regelmäßig eng
ausgelegt. Die Voraussetzungen des § 22 I
227
RECHT UND GESETZ
1 AuslG sind jedoch auf jeden Fall gegeben, wenn aufgrund der Lage im Herkunftsland durch einen weiteren Verbleib
Leib oder Leben bedroht waren. Dies ist
insbesondere im Falle des Verlusts der
Eltern oder auch sonstiger nahestehender
Angehöriger durch Tod, Inhaftierung, Verschleppung oder Verschollenheit anzunehmen, aber regelmäßig auch in Gefährdungslagen, die durch Krieg, Bürgerkrieg
oder auch durch massive, nicht zwingend
politisch motivierte Angriffe privater Personen oder Organisationen (z. B. Zuhälterringe, Drogenkartelle, sonstige organisierte Kriminalität) hervorgerufen werden,
vor denen die staatlichen Organe aber keinen hinreichenden Schutz bieten können
oder wollen. Da die Entscheidung über die
Erteilung der Aufenthaltserlaubnis gemäß
§ 22 I 1 AuslG im Ermessen der Ausländerbehörde steht, ist ferner zu prüfen, ob
Versagungsgründe im Sinne des § 7 II
AuslG vorliegen (s. o.). § 7 II AuslG sieht
die Versagung der Aufenthaltsgenehmigung als Regelfall vor, so daß bei besonderen, atypischen Fallkonstellationen, wie
sie bei unbegleiteten minderjährigen
Flüchtlingen gegeben sind, die Versagungsgründe des § 7 II AuslG unberücksichtigt bleiben müssen. Ungeachtet dessen verbleibt der Ausländerbehörde bei
ihrer Entscheidung – dem Wortlaut des
§ 22 I 1 AuslG nach – noch ein Ermessensspielraum. Da jedoch bei den geschilderten Sachverhaltsvarianten ein einreisender minderjähriger Flüchtling regelmäßig
auf die Aufenthaltsnahme im Bundesgebiet angewiesen ist, verbleibt der Ausländerbehörde letzten Endes kein Ermessensspielraum, so daß als einzige Entscheidungsalternative die Erteilung einer
Aufenthaltsgenehmigung in Betracht
kommt (Ermessensreduzierung auf Null).
228
1.5 Ausweisung und Abschiebung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge
Als Ausweisungsgründe, von denen Kinderflüchtlinge insbesondere bedroht sind,
kommen vor allem § 46 Nr. 6 und Nr. 7
AuslG in Betracht. Nach § 46 Nr. 6 können
AusländerInnen u. a. ausgewiesen werden, wenn sie zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts Sozialhilfe in Anspruch
nehmen oder in Anspruch nehmen müssen. Da hier ausdrücklich von der Sicherung des Lebensunterhalts die Rede ist,
kann konsequenterweise allein die Inanspruchnahme von Hilfe zum Lebensunterhalt nach den §§ 11 ff BSHG, nicht aber
die (potentielle) Inanspruchnahme von
Hilfe in besonderen Lebenslagen gemäß
§§ 27 ff. BSHG zur Ausweisung führen.12
Nach § 46 Nr. 7 können AusländerInnen ausgewiesen werden, wenn sie Hilfe
zur Erziehung außerhalb der Familie oder
Hilfe für junge Volljährige nach dem 8.
Buch Sozialgesetzbuch (KJHG) erhalten;
dies gilt jedoch nicht für Minderjährige,
deren Eltern oder deren allein personensorgeberechtigte Elternteile sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten.
§ 45 AuslG benennt nun entscheidungserhebliche Gesichtspunkte, die bei der
Ausübung des Ausweisungsermessens
durch die Ausländerbehörde zu berücksichtigen sind. Nach § 45 II Nr. 1 AuslG
sind die Dauer des rechtmäßigen Aufenthalts und schutzwürdige persönliche,
wirtschaftliche und sonstige Bindungen
von AusländerInnen im Bundesgebiet zu
berücksichtigen. Diese Bestimmung zielt
im wesentlichen darauf ab, die durch einen bereits zurückgelegten, erlaubten
Aufenthalt im Bundesgebiet erfolgte Integration der Betroffenen angemessen zu
beachten. Da Kinderflüchtlinge in der Regel erstmalig ins Bundesgebiet einreisen,
kommt bei ihnen dem Aspekt eines vorangegangenen Aufenthalts grundsätzlich
keine Bedeutung zu. Etwas anderes kann
allein für den Fall gelten, daß sich bereits
GESETZLICHE GRUNDLAGEN
nahe Familienangehörige im Bundesgebiet aufhalten, zu denen ‘nachgezogen’
werden soll. Diese persönlichen Bindungen dürfen nicht außer Betracht bleiben.13
Nach § 45 II Nr. 2 AuslG sind die Folgen
der Ausweisung für die Familienangehörigen von AusländerInnen, die sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten und mit
ihnen in familiärer Lebensgemeinschaft
leben, zu beachten. Dieser Ermessensgesichtspunkt kommt im Falle von Kinderflüchtlingen nicht zum Tragen, da diese
sich ja bislang nicht in familiärer Lebensgemeinschaft im Inland aufgehalten hatten. Nach § 45 II Nr. 3 AuslG sind darüber
hinaus vorliegende Duldungsgründe im
Sinne des § 55 II AuslG von Bedeutung für
die Ausübung des Ausweisungsermessens. Diese Regelung des § 45 II Nr. 3
AuslG ist im Vergleich zur alten Rechtslage neu und soll den Gesetzgebungsmaterialien zufolge die in der Rechtsprechung
aufgetretene Streitfrage, inwieweit bei der
Ausübung des Ausweisungsermessens bereits Abschiebungshindernisse mit zu
berücksichtigen sind, einer abschließenden gesetzlichen Klärung zuführen.14
Nach § 55 II AuslG wird AusländerInnen eine Duldung erteilt, solange ihre
Abschiebung aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist oder
nach § 53 VI oder § 54 AuslG ausgesetzt
werden soll. Tatsächliche Gründe im Sinne des § 55 II AuslG liegen u. a. dann vor,
wenn die tatsächliche Herkunft eines Kinderflüchtlings unbekannt ist oder wenn
keine gültigen und für eine Ab- bzw. Zurückschiebung unerläßlichen Paß- (Ersatz)Papiere vorliegen. Von größerer Bedeutung dürften jedoch jene Umstände
sein, die aus rechtlichen Gründen einer
Abschiebung entgegenstehen. Dies sind
im einzelnen:
– Verbot der Abschiebung bei bereits
festgestellter politischer Verfolgung im
Sinne des § 51 AuslG oder bei möglicher politischer Verfolgung im Sinne
des § 52 AuslG. In dem letztgenannten
Fall liegt jedoch ein Asylantrag vor, der
gemäß § 18 I AsylVfG (vgl. aber auch §
18 II – IV AsylVfG), Art. 33 Genfer
Flüchtlingskonvention ohnehin einer
Abschiebung bzw. Zurückweisung entgegensteht.
– Abschiebungshindernisse nach § 53 IIII AuslG bei drohender Folter, drohender Todesstrafe oder bei Vorliegen eines förmlichen Auslieferungs- bzw.
Festnahmeersuchens.
– Abschiebungshindernisse, die sich aus
der Europäischen Menschenrechtskonvention ergeben (§ 53 IV AuslG). Dies
ist zum einen das in Art. 3 EMRK verankerte Verbot der Folter bzw. der unmenschlichen oder erniedrigenden
Strafe oder Behandlung. Als erniedrigende Behandlung können nach der
Spruchpraxis der Europäischen Kommission für Menschenrechte und des
Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte je nach den konkreten
Umständen des Einzelfalles u. a angesehen werden die gerichtlich verhängte
Prügelstrafe oder rassisch diskriminierende Handlungen.15
Als weiteres Abschiebungshindernis
kommt das in Art. 4 I EMRK enthaltene
Verbot der Sklaverei oder Leibeigenschaft
in Betracht. Die Übergabe von Kindern
oder Jugendlichen zur Arbeit in sklavereiähnlichen Einrichtungen oder unter sklavereiähnlichen Bedingungen (z. B. Zwang
zur Prostitution o. ä.) stellt eine Verletzung
des Verbots der Leibeigenschaft dar.16
Sofern Kinderflüchtlingen im Falle ihrer
Rückkehr in das Herkunftsland derlei gegen die Menschenwürde verstossende
Praktiken drohen, liegt ein Abschiebungshindernis vor.
Entsprechendes gilt, wenn von Staats
wegen Zwangs- oder Pflichtarbeit im
Sinne des Art. 4 II EMRK auferlegt wird.17
Unter Rückgriff auf die im Rahmen der
Internationalen Arbeitsorganisation ent229
RECHT UND GESETZ
standene Konvention über die Abschaffung von Zwangsarbeit vom 25.6.1957 ist
das Vorliegen von Zwangs- oder Pflichtarbeit zu bejahen, wenn diese als Mittel der
politischen Disziplinierung, als Methode
der wirtschaftlichen Entwicklung, als Mittel zur Arbeitsdisziplin, als Bestrafung für
die Teilnahme an Streiks oder zum Zwekke der rassischen, sozialen, nationalen
oder religiösen Diskriminierung angeordnet wird.18
Drohende Zwangsheirat kann sich
gleichfalls als eines der gemäß §§ 45 II
Nr. 3, 55 II, 53 IV AuslG beachtlichen
Ausweisungs- bzw. Abschiebungshindernisse herausstellen. Zwar enthält Art. 12
EMRK von seinem Wortlaut her kein ausdrückliches Verbot der Zwangsheirat und
fordert nicht explizit die freie Zustimmung
der Partner zur Eheschließung. Mit Frowein/Peukert (EMRK. Art. 12 Rdnr. 4) kann
jedoch nicht angenommen werden, daß
Art. 12 EMRK, der ein individuelles
Grundrecht garantiert, irgendeinen Zwang
zur Heirat zulassen könnte: „Die Freiheit
der Eheschließung ist ein Recht, das die
negative Freiheit mitenthalten muß, wenn
es Bedeutung haben soll“ (ebd.).19 Darüber
hinaus ist den genannten Autoren darin zu
folgen, daß ein Zwang zur Heirat eine klare Verletzung von Art. 8 EMRK wäre, weil
dieser einen in keiner Weise durch Art. 8 II
EMRK gerechtfertigten Eingriff in die
Privatsphäre beinhalte.20 Auch nach der
Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann beispielsweise die Entführung (christlicher) Frauen durch muslimische Männer, die Zwangsheirat sowie die
zwangsweise Eingliederung einer Entführten in den Haushalt des Entführers grundsätzlich als asylrechtlich relevante politische Verfolgung im Sinne des Art. 16 II 2
GG angesehen werden.21 Sofern in diesen
Fällen das Vorliegen politischer Verfolgung
verneint wird, weil jene Übergriffe dem
(türkischen) Staat nicht zugerechnet werden können,22 ist daher zumindest das
230
Vorliegen eines Abschiebungshindernisses
zu bejahen.
Gemäß §§ 45 II Nr. 3, 55 II AuslG scheidet eine Ausweisung ferner aus, sofern einer der Duldungsgründe nach § 53 VI
oder § 54 AuslG vorliegt. Nach § 53 VI 1
AuslG kann von der Abschiebung in einen
anderen Staat abgesehen werden, wenn
dort für diesen Ausländer/diese Ausländerin eine erhebliche konkrete Gefahr für
Leib, Leben oder Freiheit besteht. Dies
dürfte insbesondere für kriegsverletzte
ausländische Kinder von Bedeutung sein,
die im Ausland nicht zu erlangender ärztlicher Hilfe und Behandlung dringend bedürfen. Ebenso gilt dies, wenn ein Kinderflüchtling im Falle einer Rückkehr in
das Herkunftsland ohne familiären Beistand wäre und/oder in eine ausweglose,
existentielle Notlage geriete, wie z. B. zur
Zeit in Afghanistan. Gefahren in einem
Staat, denen die Bevölkerung oder die
Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer/
die Ausländerin angehört, allgemein ausgesetzt ist, werden hingegen bei Entscheidung der obersten Landesbehörde nach
§ 54 AuslG zur Aussetzung von Abschiebungen aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der BRDeutschland berücksichtigt (§ 53 VI 2 AuslG). Besteht für
bestimmte AusländerInnengruppen ein
Abschiebungsverbot, so ist dies auch im
Rahmen einer Ausweisungsentscheidung
zu beachten.
2. Kinder- und Jugendhilfegesetz
2.1 Allgemeine Grundsätze und
Leistungsarten
Anders als das alte Jugendwohlfahrtsgesetz, das ein ‘Recht auf Erziehung zur
leiblichen, seelischen. und gesellschaftlichen Tüchtigkeit’ auf deutsche Kinder beschränkte,23 gesteht das neue Kinder- und
Jugendhilfegesetz nunmehr jedem jungen
GESETZLICHE GRUNDLAGEN
Menschen „ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit“ zu (§ 1 I
KJHG). Nach § 6 I 1 KJHG werden Leistungen nach diesem Gesetz jungen Menschen, Müttern, Vätern und Personensorgeberechtigten von Kindern und Jugendlichen gewährt, die ihren tatsächlichen
Aufenthalt im Bundesgebiet haben. Freilich wird dieser Grundsatz für ausländische Staatsangehörige in § 6 II KJHG wieder eingeschränkt, da diese Leistungen
des Kinder- und Jugendhilfegesetzes nur
unter der Voraussetzung beanspruchen
können, daß sie rechtmäßig oder aufgrund
einer ausländerrechtlichen Duldung ihren
gewöhnlichen Aufenthalt in der BRDeutschland haben. Diese Einschränkung
wird in der Praxis Auswirkungen für den
Personenkreis der Kinderflüchtlinge haben.24 § 6 IV KJHG stellt schließlich klar,
daß Regelungen des über- und zwischenstaatlichen Rechts unberührt bleiben. Zu denken ist hier insbesondere an
das Haager Minderjährigenschutzabkommen und an das Europäische Fürsorgeabkommen.
Das Kinder- und Jugendhilfegesetz umschreibt in seinem zweiten Kapitel die einzelnen Leistungen der Jugendhilfe. Neben
der Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen; also Kindergärten; Horten
und anderen Einrichtungen; der Jugendund Jugendsozialarbeit sowie der Förderung der Erziehung in der Familie durch
entsprechende Bildungs- und Beratungsangebote, aber etwa auch die Angebote
von Vater- bzw. Mutter-Kind-Einrichtungen für Alleinerziehende, sieht das Gesetz
Leistungen vor, die sich im Einzelfall als
relativ kostenintensiv erweisen können.
Zu nennen sind u. a.:
– Die in § 23 III KJHG vorgesehene Übernahme der einer Tagespflegeperson
entstehenden
Aufwendungen
einschließlich der Kosten der Erziehung,
sofern die Tagespflege für das Kindeswohl geeignet und erforderlich ist.
– Der Anspruch auf Hilfe zur Erziehung
nach §§ 27 ff KJHG, wenn eine dem
Wohl des Kindes oder des Jugendlichen
entsprechende Erziehung nicht gewährleistet und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist.
Hierzu gehören zum einen die Erziehungsberatung, die soziale Gruppenarbeit, Erziehungsbeistandschaften sowie sozialpädagogische Familienhilfe.
Zum anderen fallen die Erziehung in einer Tagesgruppe (§ 32 KJHG), die insbesondere Kinderflüchtlinge betreffende Vollzeitpflege in einer anderen Familie (§ 33 K]HG) bzw. Heimerziehung
(§ 34 KJHG) sowie die intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung (§ 35
KJHG) hierunter. Wird eine dieser letztgenannten Hilfen zur Erziehung nach
den §§ 32 – 35 KJHG gewährt, so ist gemäß § 39 I KJHG auch der notwendige
Unterhalt des Kindes oder des Jugendlichen außerhalb des Elternhauses bzw.
bei Vollzeitpflege auch der gesamte Lebensbedarf einschließlich der Kosten
der Erziehung sicherzustellen bzw. vom
Jugendhilfeträger zu übernehmen; im
übrigen ist für diesen Personenkreis
auch Krankenhilfe zu leisten (§ 40
KJHG). § 41 I KJHG sieht schließlich
entsprechende Leistungen für junge
Volljährige vor, i.d.R. bis zur Vollendung
des 21. Lebensjahres, ggf. auch darüber
hinaus.
2.2 Rechtmäßiger oder geduldeter
gewöhnlicher Aufenthalt als
Anspruchsvoraussetzung
2.2.1 Maßgeblichkeit des Aufenthalts des
Sorgeberechtigten oder des Kindes
All diese Leistungen können unter den jeweiligen Voraussetzungen – wie bereits
eingangs gesagt – auch von AusländerIn231
RECHT UND GESETZ
nen beansprucht werden, sofern sie rechtmäßig oder aufgrund einer ausländerrechtlichen Duldung ihren gewöhnlichen
Aufenthalt im Bundesgebiet haben.25 Im
Zusammenhang mit der Inanspruchnahme von KJHG-Leistungen, die für Kinderflüchtlinge bestimmt sind, stellt sich aber
die Frage, ob § 6 II KJHG insoweit überhaupt einschlägig ist. Bei diesem Personenkreis kommen insbesondere die Hilfe
zur Erziehung in Vollzeitpflege (§ 33
KJHG) oder die Hilfe zur Erziehung als
Heimerziehung (§ 34 KJHG) in Betracht.
Ein darauf bezogener Anspruch steht jedoch wie § 27 I KJHG eindeutig festlegt,
dem Personensorgeberechtigten, nicht
aber dem Kind, zu. Sofern nicht ausnahmsweise einem bereits hier lebenden
ausländischen Familienangehörigen eines
Kinderflüchtlings die Personensorge übertragen ist, ist das Sorgerecht einer anderen Privatperson (etwa bei Unterbringung
in einer Pflegefamilie), einem Verein (§ 54
KJHG) oder dem Jugendamt als Amtsvormund übertragen ( Vormundschaft, Vereinsvormundschaft). Es ist mithin darauf
abzustellen, ob der Sorgeberechtigte die
Voraussetzungen des § 6 I und II KJHG erfüllt. Der aufenthaltsrechtliche Status des
Kindes ist hingegen in diesem Zusammenhang unbeachtlich. Dem steht auch nicht
die Verankerung eines Rechts auf Erziehung in § 1 I KJHG entgegen.
Dort heißt es: „Jeder junge Mensch hat
ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und: auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit.“ Insbesondere läßt
sich aus dieser Vorschrift nicht die Schlußfolgerung herleiten, die in § 27 I KJHG
dem Sorgeberechtigten zugesprochenen
Ansprüche auf Hilfe zur Erziehung seien
in Wahrheit mit Blick auf § 1 I KJHG originäre Ansprüche des minderjährigen
Kindes oder Jugendlichen. In den Gesetzgebungsmaterialien wird dieser Norm die
‘Funktion einer Generalklausel und Leit232
norm’ zugesprochen. Zugleich wird aber
klargestellt, daß aus ihr ein unmittelbarer
Anspruch auf ein Tätigwerden der öffentlichen Jugendhilfe nicht hergeleitet werden könne. Wörtlich lautet die Begründung hierzu: „Wegen der Zuweisung der
Erziehungsaufgabe an die Eltern wäre es
dem Gesetzgeber bereits aus verfassungsrechtlichen Gründen verwehrt, Kindern
und Jugendlichen ein subjektivöffentliches
Recht auf Erziehung (gegenüber der öffentlichen Jugendhilfe) einzuräumen. (...)
Für ein generelles subjektives Recht des
Kindes oder Jugendlichen auf Erziehung
gegenüber dem Staat ist deshalb nach der
Grundkonzeption von Art. 6 II GG kein
Raum.26
Folglich bleibt es dabei, daß es sich bei
dem Anspruch des § 27 I KJHG um den
des Personensorgeberechtigten handelt
und es mithin im Rahmen des § 6 I u. II
KJHG auf dessen Aufenthalt im Sinne dieser Vorschrift ankommt. Im Falle einer
bestehenden Vereins- oder Amtsvormundschaft bzw. einer Unterbringung des Kindes in einer deutschen Pflegefamilie sind
somit bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen generell die genannten Jugendhilfeleistungen zu erbringen, da es auf den
aufenthaltsrechtlichen Status des Kindes
nicht ankommt. Ist hingegen einem ausländischen Staatsangehörigen die Personensorge über einen Kinderflüchtling
übertragen worden, bestimmt sich die
Leistungsverpflichtung an den Sorgeberechtigten u. a. nach den Erfordernissen
des § 6 II KJHG.27
Stellt man hingegen entgegen dem eindeutigen Gesetzeswortlaut nicht auf den
Aufenthalt des Sorgeberechtigten als Anspruchsteller, sondern auf den des Kinderflüchtlings ab, ist gemäß § 6 II KJHG der
Frage nachzugehen, ob ein gewöhnlicher
Aufenthalt des Kindes im Bundesgebiet
vorliegt. Wann ein Aufenthalt im Bundesgebiet als gewöhnlich im Sinne dieser Vorschrift angesehen werden muß, bestimmt
GESETZLICHE GRUNDLAGEN
sich nach § 30 III SGB I. Hierzu hat das
BSG in inzwischen ständiger Rechtsprechung entschieden, daß beispielsweise
AsylbewerberInnen in der Regel keinen
gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben.28 Dieser
Grundsatz kommt freilich nicht zum Zuge,
wenn ein Asylbewerber auch bei erfolglosem Ausgang des Asylverfahrens nicht mit
der Abschiebung rechnen muß.29 In einem
weiteren Urteil vom 20.5.1987 kam das
BSG zu dem Ergebnis, daß der Aufenthalt
eines Ausländers/einer Ausländerin aufgrund einer befristeten Aufenthaltserlaubnis, die nur wegen der Erkrankung eines Familienangehörigen erteilt worden
war, als lediglich vorübergehend einzustufen ist.30 Wörtlich führt das BSG aus: „Der
tatsächliche Aufenthalt eines Ausländers
im Bundesgebiet wird erst dann zum gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne von § 30
III SGB I, wenn nach dem Ausländerrecht
und der Handhabung der einschlägigen
Ermessensvorschriften durch die Behörden davon auszugehen ist, daß der Ausländer nicht nur vorübergehend, sondern
auf Dauer im Bundesgebiet bleiben
kann“.31 Es ist also eine Prognose über den
künftigen Verbleib im Bundesgebiet anzustellen.32 Entscheidend käme es somit im
Rahmen der vorliegenden Fragestellung
auf den aufenthaltsrechtlichen Status des
Kinderflüchtlings an.
2.2.2 Aufenthaltsrechtliche Stellung des
Kinderflüchtlings 33
Soweit ein Kinderflüchtling selbst oder
durch einen Vormund einen Asylantrag
gestellt hat und somit im Besitze einer
Aufenthaltsgestattung nach § 55 AsylVfG
ist, stehen ihm bzw. dem Personensorgeberechtigten im Anschluß an die obigen
Ausführungen zur Rechtsprechung des
BSG Leistungen nach dem Kinder- und
Jugendhilfegesetz nicht zu. Eine Ausnahme ergibt sich jedoch für jene, die
auch nach einem erfolglosen Asylverfahren auf unbestimmte Zeit einem Abschiebungsverbot unterliegen.34 Entsprechendes wird man für den Personenkreis der
sog. ‘Bonafide-Flüchtlinge’35 annehmen
müssen.
Da Kinderflüchtlinge regelmäßig die
Voraussetzungen für die Erteilung einer
Aufenthaltserlaubnis nach §§ 15 ff AuslG36
oder einer Aufenthaltsbewilligung nach
§§ 28 f.37 nicht erfüllen, kommt für sie, sofern sie nicht zugleich AsylbewerberInnen
sind, lediglich eine Aufenthaltsbefugnis
oder Duldung in Betracht. Nach § 30 I
AuslG wird die Aufenthaltsgenehmigung
als Aufenthaltsbefugnis u.a. erteilt, „wenn
einem Ausländer aus völkerrechtlichen
oder dringenden humanitären Gründen
oder zur Wahrung politischer Interessen
der Bundesrepublik Deutschland Einreise
und Aufenthalt erlaubt werden soll.“ Von
dieser Regelung wird insbesondere der
Personenkreis der defacto-Flüchtlinge erfaßt. Zu ihm zählen AsylbewerberInnen,
die in ihrem Herkunftsland politische Verfolgung befürchten müssen, gleichwohl
aber nicht gemäß Art. 16 a I GG als Asylberechtigte anerkannt werden können,
weil sie beispielsweise in einem Drittland
(z. B. Äthiopier im Sudan, Afghanen in
Pakistan) vor Verfolgung sicher waren.38
Darüber hinaus kann die Ausländerbehörde eine Aufenthaltsbefugnis erteilen,
wenn sonstige Abschiebungshindernisse
(z. B. drohende Folter oder Todesstrafe;
Lebensgefahr im Herkunftsland) bestehen. Sie kann es aber auch bei einer Duldung, d. h. dem Aussetzen der Abschiebung gemäß § 55 AuslG, belassen. Sofern
nicht von vornherein absehbar ist, daß ein
nur vorübergehendes Abschiebungshindernis besteht, wird man im Zweifelsfall
davon ausgehen müssen, daß AusländerInnen, die eine Aufenthaltsbefugnis oder
Duldung39 besitzen, ihren gewöhnlichen
Aufenthalt im Bundesgebiet haben. Demnach können für sie Leistungen nach dem
233
RECHT UND GESETZ
KJHG beansprucht werden, da sie die
Voraussetzungen des § 6 II KIHG erfüllen.
AusländerInnen, bei denen die Flüchtlingseigenschaft nach der Genfer Flüchtlingskonvention festgestellt worden ist
und denen ein Anspruch auf eine Aufenthaltsbefugnis zusteht (§ 30 V AuslG), genießen schließlich gemäß Art. 23 GFK hinsichtlich der ‘öffentlichen Fürsorge’
InländerInnenbehandlung.
Herkömmlicherweise wurden Leistungen nach dem
Jugendwohlfahrtsgesetz unter dem Begriff ‘öffentliche Fürsorge’ im Sinne dieser
Norm subsumiert.40 Entsprechendes hat
für das Kinder- und Jugendhilfegesetz zu
gelten.
Aus vorstehenden Ausführungen ergibt
sich, daß auch als Asylberechtigte anerkannte Kinderflüchtlinge, die nach § 3 I
AsylVfG eine Rechtsstellung nach der
Genfer Flüchtlingskonvention genießen, in
vollem Umfang Leistungen des Kinderund Jugendhilfegesetzes beanspruchen
können. Ebenso verhält es sich mit Familienangehörigen von Asylberechtigten,
die nicht selbst als politische Verfolgte im
Sinne des Art. 16 a I anerkannt sind.41
2.3 Maßnahmen zum Schutz von Kinderflüchtlingen nach dem KJHG und BGB
2.3.1 Vorläufige Maßnahmen
§ 42 I 1 KJHG sieht die Inobhutnahme eines Kindes oder Jugendlichen als vorläufige Unterbringung bei einer geeigneten
Person (Nr. 1), in einer Einrichtung (Nr. 2)
oder in einer sonstigen betreuten Wohnform (Nr. 3) vor. Aus den Gesetzgebungsmaterialien ergibt sich, daß diese Regelung in erster Linie auf minderjährige
‘AusreißerInnen’ aus Familien und Heimen zielt.42 Sie ist zumindest auch dann
einschlägig, wenn Kinderflüchtlinge in die
Bundesrepublik Deutschland einreisen
und keine familiären Beziehungen zu hier
lebenden nahen oder ggf. auch entfernte234
ren Verwandten bestehen. In diesen Fällen ist das Jugendamt regelmäßig verpflichtet, einen Minderjährigen in seine
Obhut zu nehmen, sofern dieser um Obhut
bittet (§ 42 II 1 KJHG) oder sofern eine
dringende Gefahr für das Wohl des Kindes
oder des Jugendlichen die Inobhutnahme
erfordert (§ 42 III 1 KJHG). Mit der Inobhutnahme übt das Jugendamt das Recht
der Beaufsichtigung, Erziehung und Aufenthaltsbestimmung aus, wobei der mutmaßliche Wille des Personensorge- oder
Erziehungsberechigten angemessen zu
berücksichtigen ist (§ 42 I 2 u. 3 KJHG).
Da mit dem neuen Ausländergesetz die
generelle Aufenthaltsgenehmigungspflicht
auch für Kinder und Jugendliche unter
dem 16. Lebensjahr dem Grundsatz nach
eingeführt worden ist (s. o.) und Kinderflüchtlinge i.d.R. einen Aufenthalt auf zumindest zur Zeit der Einreise nicht absehbare Zeit anstreben, ist es bereits in dem
Stadium der vorläufigen Inobhutnahme
nach § 42 KJHG geboten, ggf. einen Asylantrag im Sinne des § 13 AsylVfG oder
aber einen Antrag auf Erteilung einer
Aufenthaltsgenehmigung, zumindest aber
Duldung, zu stellen. Für den letztgenannten Fall ergibt sich diese Verpflichtung zudem aus § 68 IV AuslG, wonach die gesetzlichen VertreterInnen und sonstige
Personen, die anstelle der gesetzlichen
VertreterInnen den Ausländer/die Ausländerin im Bundesgebiet betreuen, die erforderlichen aufenthaltsrechtlichen Anträge zu stellen haben.43 Diese Verpflichtung besteht nicht bzw. endet unter der
Voraussetzung, daß der Kinderflüchtling
das 16. Lebensjahr vollendet hat und somit bereits vor Eintritt der Volljährigkeit
zur Vornahme von Verfahrenshandlungen
nach dem Ausländergesetz oder dem Asylverfahrensgesetz fähig ist (§ 68 I AuslG,
§ 12 AsylVfG).
GESETZLICHE GRUNDLAGEN
2.3.2 Bestellte Amtsvormundschaft oder
-pflegschaft und Ausübung des
Aufenthaltsbestimmungsrechts
Bei Kinderflüchtlingen stellt sich i.d.R.
mangels eines familiären Bezugs in der
Bundesrepublik die Notwendigkeit, VormünderInnen oder PflegerInnen zu bestellen ( Vormundschaft). Mit den entsprechenden Aufgaben nach §§ 1793 ff
BGB bzw. § 1909 BGB kann das Vormundschaftsgericht eine Einzelperson, einen
Verein oder aber das Jugendamt bestellen. Hierbei hat die Bestellung von Personen oder Vereinen zu VormünderInnen
oder PflegerInnen Vorrang gegenüber der
Amtsvormundschaft oder -pflegschaft (
Vereinsvormundschaft).44 Mit dieser gerichtlichen Aufgabenübertragung geht
u. a. das Recht und die Pflicht zur Aufenthaltsbestimmung der Minderjährigen als
zentraler Bestandteil des Personensorgerechts im Sinne des § 1631 BGB einher.
Es obliegt den VormünderInnen oder PflegerInnen, darüber zu entscheiden, ob die
Mündel bei ihnen im Haushalt,45 bei
Familienangehörigen, in einer Pflegefamilie oder in einem Heim untergebracht
werden sollen. Ausschlaggebend sind
hierbei die Interessen der Mündel.46 Das
Jugendamt hat hierbei ggf. beratend und
unterstützend zu wirken (§ 53 II, III
KJHG). Dies gilt insbesondere, wenn zugleich andere Leistungen nach dem KJHG
erbracht werden. Zugleich muß die Aufenthaltsbestimmung im Rahmen der geltenden Gesetze erfolgen.47 Soweit für einen Kinderflüchtling ein Asylantrag gestellt worden ist ( Asylverfahren) und somit dem Grunde nach die Vorschriften des
Asylverfahrensgesetzes anwendbar werden, kann es zu einer Konfliktlage zwischen Aufenthaltsbestimmungs- und ggf.
damit einhergehendem Jugendhilferecht
auf der einen und den aufenthaltsrechtlichen Regelungen des Asylverfahrensgesetzes auf der anderen Seite kommen.
Konkret ist zu fragen, ob das Aufent-
haltsbestimmungsrecht von bestellten
VormünderInnen oder PflegerInnen gegenüber den asylrechtlichen Verteilungsund Zuweisungsentscheidungen zurücktreten muß. § 22 I AsylVfG bestimmt, daß
AsylbewerberInnen keinen Anspruch darauf haben, sich für die Dauer des Asylverfahrens in einem bestimmten Land oder
an einem bestimmten Ort aufzuhalten (so
auch – ohne dies ausdrücklich zu sagen –
jetzt §§ 50 und 51 AsylVfG). Sowohl im
Rahmen der länderübergreifenden Verteilungs- als auch der anschließenden landesinternen
Zuweisungsentscheidung
nach §§ 50, 51 AsylVfG, deren nähere
Ausgestaltung im Ermessen der jeweils
zuständigen Behörde steht, sind die Haushaltsgemeinschaft von Ehegatten und ihren Kindern unter 18 Jahren zu berücksichtigen (§ 22 VI 1 AsylVfG). Sinn und
Zweck dieser Regelung bestehen darin,
dem
verfassungsrechtlich
gebotenen
Schutz von Ehe und Familie im Sinne des
Art. 6 I GG Rechnung zu tragen. Es soll
verhindert werden, daß durch solche Entscheidungen Ehen und Familien auseinandergerissen werden. In der Rechtsprechung ist inzwischen allgemein anerkannt, daß auch andere persönliche Beziehungen im Rahmen jener Ermessensentscheidung Beachtung finden müssen,
sofern sie ähnliches Gewicht wie eine
Haushaltsgemeinschaft im Sinne der §§
50 IV, 51 I AsylVfG aufweisen, z. B. ein bestehendes ernsthaftes Verlöbnis, das Zusammenleben mit Geschwistern oder
auch ferneren Verwandten.48 Als erheblich
ist auch der Umstand angesehen worden,
daß AsylbewerberInnen aus psychischen
oder physischen Gründen auf das Zusammenleben mit bestimmten Personen besonders angewiesen sind.49 Ein solches besonderes Angewiesensein ist insbesondere
auch dann anzunehmen, wenn ein Kinderflüchtling im Rahmen der Jugendhilfe
in einer Pflegefamilie untergebracht ist.
Die Pflegefamilie steht nämlich nach stän235
RECHT UND GESETZ
diger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts50 gleichfalls unter dem
Schutz des Art. 6 I GG. Hinzu kommt zumindest bei einer längerfristigen Unterbringung des Kindes in der Pflegefamilie
auf nicht absehbare Dauer, wie es bei
Kinderflüchtlingen i.d.R. der Fall ist, und
der damit einhergehenden Übertragung
der Personensorge, daß Art. 6 II GG zu beachten ist.
Die genannten Grundsätze erlangen
auch im Rahmen von Verteilungs- und Zuweisungsentscheidungen, die gegenüber
asylbegehrenden Kinderflüchtlingen zu
ergehen haben, entscheidungserhebliches
Gewicht. Die Vormundschaft über Minderjährige ist Ersatz für die elterliche Sorge;
die Aufgaben von VormünderInnen sind
umfassend und entsprechen denen der
Eltern.51 Die Übertragung der Vormundschaft, die regelmäßig einen Eingriff in
das Elternrecht des Art. 6 II 1 GG beinhaltet, erfolgt in Ausübung des staatlichen
Wächteramtes über die Ausübung jenes
Elternrechts (Art. 6 II 2 GG), ist somit verfassungsrechtlich begründet. Sie kommt
insbesondere auch dann zum Tragen,
wenn die Erziehungsberechtigten selbst
nicht in der Lage sind, die ihnen an sich
zustehenden elterlichen Befugnisse auszuüben, wie dies im Falle von Kinderflüchtlingen regelmäßig der Fall ist. Die
Ausübung des Aufenthaltsbestimmungsrechts durch VormünderInnen steht somit
gleichfalls unter verfassungsrechtlichem
Schutz. Dies gilt erst recht, wenn mit der
Wahrnehmung jenes Rechts zugleich eine
den VormünderInnen gleichfalls obliegende Entscheidung für eine bestimmte erzieherische Maßnahme (z. B. Unterbringung
des Minderjährigen in einem bestimmten
Heim im Rahmen der Jugendhilfe, die ja
auch gegenüber AsylbewerberInnen nicht
ausgeschlossen ist; s. o.) getroffen wird.
Ein Eingriff in das sich aus der Vormundschaft herleitende Aufenthaltsbestimmungsrecht bedarf daher einer be236
sonderen verfassungsrechtlichen Rechtfertigung. Das mit den §§ 50, 51 AsylVfG
verfolgte Ziel einer gleichmäßigen Verteilung von AsylbewerberInnen auf das
gesamte Bundesgebiet bzw. innerhalb des
Bundeslandes ist für sich gesehen zwar
verfassungsrechtlich unbedenklich,52 genießt jedoch selbst keinen verfassungsrechtlichen Rang und vermag daher das
grundrechtlich abgesicherte Aufenthaltsbestimmungsrecht auch von bestellten
VormünderInnen nicht zu suspendieren.
Dies bedeutet zwar nicht zwingend, daß
unter Vormundschaft stehende asylsuchende Kinderflüchtlinge von vornherein
aus dem Anwendungsbereich der Verteilungs- und Zuweisungsbestimmungen der
§§ 50, 51 AsylVfG herauszunehmen sind.
Die in der Ausübung des Aufenthaltsbestimmungsrechts sich niederschlagende
Sorgerechtsentscheidung erlangt jedoch
ein solches Gewicht, daß sie im Rahmen
einer Verteilungs- und Zuweisungsentscheidung nach §§ 50 IV, 51 I AsylVfG
regelmäßig zu einer Ermessensreduzierung auf Null zugunsten des Aufenthaltsbestimmungsrechts führen muß. Aus den
vorgenannten Gründen darf darüber hinaus eine Unterbringung von Kinderflüchtlingen in einer Gemeinschaftsunterkunft
gemäß § 53 AsylVfG gegen den Willen der
VormünderInnen nicht erfolgen. Dies ergibt sich nicht nur aus den von ihnen zu
wahrenden persönlichen, erzieherischen
und privaten Belangen des Kinderflüchtlings selbst. § 53 I 2 AsylVfG hebt ausdrücklich das öffentliche Interesse hervor,
das zu berücksichtigen ist. Die Wahrnehmung des Aufenthaltsbestimmungsrechts
erfolgt jedoch gerade in Ausübung des
staatlichen Wächteramts über das
Elternrecht und ist somit zugleich nachhaltiger Ausdruck einer im öffentlichen
Interesse erfolgten Entscheidung.
GESETZLICHE GRUNDLAGEN
2.4, Kinder- und Jugendhilfegesetz
und Haager Minderjährigenschutzabkommen
§ 6 IV KJHG stellt für den Bereich des
KJHG klar, daß Regelungen des über- und
zwischenstaatlichen Rechts unberührt
bleiben. Somit ist das Haager Minderjährigenschutzabkommen (MSA) weiterhin
uneingeschränkt geltendes Recht. Da die
Bundesrepublik die Anwendung des Übereinkommens nicht im Sinne eines Vorbehaltes nach Art. 13 III MSA auf Minderjährige aus den Vertragsstaaten beschränkt hat, erstreckt sich seine Geltungskraft nach Maßgabe der weiteren
Regelungen auf alle ausländischen minderjährigen Kinder und Jugendlichen.
Art. 1 MSA bestimmt, daß Behörden und
Gerichte des Staates, in dem ein Minderjähriger seinen gewöhnlichen Aufenthalt
hat, grundsätzlich dafür zuständig sind,
Maßnahmen zum Schutz der Person und
des Vermögens des Minderjährigen zu
treffen. Den Materialien zum Minderjährigenschutzabkommen zufolge soll bei
der Bestimmung der sog. Aufenthaltszuständigkeit auf den tatsächlichen Mittelpunkt der Lebensführung abgestellt werden.53 Die Rechtsprechung ist dieser Vorgabe gefolgt. Es kommt somit nicht auf
den formalen Wohnsitz der Minderjährigen an, sondern auf den Schwerpunkt der
sozialen, insbesondere familiären Bindungen und wird bei der Einreise aus einem anderen Land bereits dann begründet, wenn aus den Umständen ersichtlich
wird, daß der Aufenthalt an diesem Ort
auf längere Zeitdauer angelegt ist und der
neue Aufenthaltsort künftig an die Stelle
des bisherigen Daseinsmittelpunkts treten
soll.54 Der Eintritt der Zuständigkeit nach
Art. 1 MSA erfordert daher nicht zwingend eine bestimmte Aufenthaltsdauer im
Inland. Vielmehr kann im Einzelfall bereits mit der Einreise der gewöhnliche
Aufenthalt im Sinne des Art. 1 MSA begründet werden, wenn sich aller Voraus-
sicht nach ein nicht nur kurzfristiger
Verbleib im Bundesgebiet abzeichnet.55 In
diesen Fällen bedarf es daher auch nicht
des Erfordernisses einer gewissen sozialen Eingliederung,56 die zwangsläufig im
Verlauf des weiteren Aufenthalts erfolgen
wird. Da Kinderflüchtlinge, wie die Erfahrung lehrt, regelmäßig wegen bestehender rechtlicher oder tatsächlicher Abschiebungshindernisse auf nicht absehbare Zeit im Bundesgebiet verweilen werden, begründen sie bereits mit ihrer Einreise ihren im Sinne des Art. 1 MSA gewöhnlichen Aufenthalt im Inland. Zwar
wird unter Bezugnahme auf eine Entscheidung des LG Berlin57 auch in der Literatur die Ansicht vertreten, daß ein illegal eingereister Minderjähriger, der in der
Bundesrepublik Deutschland um Asyl
nachsuchen will, noch keinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland besitzt.58 Demgegenüber ist zum einen festzustellen, daß
mit der Stellung eines Asylantrags der
Aufenthalt eines Ausländers gemäß § 55
AsylVfG gestattet, mithin rechtmäßig ist.59
Zum anderen erstrecken sich derzeit Asyl(gerichts)verfahren meist auf mehrere
Jahre, so daß bereits von daher eine Aufenthaltsdauer gegeben ist, die den Anforderungen des Art. 1 MSA entspricht. Im
übrigen vermag die vom LG Berlin vertretene Rechtsansicht auf jeden Fall auch
dann nicht zu greifen, wenn unabhängig
vom Ausgang eines Verfahrens auf Anerkennung als politisch Verfolgte(r) im
Sinne des Art. 16 a I GG oder § 51 I AuslG
mit einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet, sei es aufgrund einer Duldung oder
aber einer Aufenthaltsbefugnis, zu rechnen ist.
Haben somit i.d.R. Kinderflüchtlinge ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet, so besteht nach Art. 2 I MSA die
Verpflichtung der inländischen Behörden,
die nach innerstaatlichem Recht vorgesehenen Schutzmaßnahmen zu treffen. Welche Maßnahmen ergriffen werden, richtet
237
RECHT UND GESETZ
sich nach den Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalles. In Betracht kommen für
den Personenkreis der Kinderflüchtlinge
u. a.
– Einsetzung von PflegerInnen oder VormünderInnen;60
– Regelung des Aufenthaltsbestimmungsrechts;61
– Unterbringung der Minderjährigen bei
Pflegeeltern oder in einem Heim.62
Als Schutzmaßnahme anzusehen ist
aber auch die mit der Unterbringung in einer Pflegefamilie oder einem Heim zusammenhängende Bewilligung finanzieller Hilfen nach dem KJHG.63 Zwar richten
sich Art und Auswahl der Schutzmaßnahmen nach der sogenannten lex fori, also
dem inländischen Recht. § 6 IV KJHG
i.V.m. Art. 1 u. 2 MSA modifizieren jedoch
hinsichtlich des personalen Geltungsbereichs die Regelungen des § 6 IV KJHG.
Auch wenn man der von mir oben in Abschnitt 2.2 vertretenen Ansicht, daß für
Kinderflüchtlinge ohnehin aufgrund ihres
aufenthaltsrechtlichen Status im Sinne
des § 6 II KJHG Leistungen nach diesem
Gesetz zu erbringen sind, nicht folgt und
einen Leistungsausschluß annimmt, so bewirken hingegen Art. 1 u. 2 MSA eine
Verpflichtung, auch für Angehörige dieses
Personenkreises entsprechende Leistungen als Schutzmaßnahmen zu erbringen.64
Diese Verpflichtung ergibt sich darüber
hinaus regelmäßig aus Art. 9 I MSA, demzufolge in allen dringenden Fällen die erforderlichen, freilich meist vorläufigen
Schutzmaßnahmen auch dann zu treffen
sind, wenn kein gewöhnlicher Aufenthalt
im Sinne des Art. 1 MSA, sondern lediglich
ein sogenannter einfacher Aufenthalt gegeben ist.65 Fraglich ist, ob auch ausländerrechtliche Entscheidungen im Einzelfall als Schutzmaßnahme im Sinne des
Haager Minderjährigenschutzabkommens
erforderlich sein können. Der auslegungsbedürftige Begriff der Schutzmaßnahme
ist weit zu fassen. Er umfaßt alle Maß238
nahmen, die im Interesse eines Kindes erforderlich sind, seien sie privat- oder öffentlichrechtlicher Natur.66 Zwar wird die
Ansicht vertreten, Maßnahmen, die typischerweise nicht auf Minderjährige zugeschnitten sind, sondern allgemein ordnungspolitischen Interessen dienten und
seit eh und je dem öffentlichen Recht bzw.
dem sog. Eingriffsrecht zugeordnet werden, seien keine Schutzmaßnahmen im
Sinne des MSA. Dies gelte u. a. für Maßnahmen der Ausländerbehörden, etwa eine Ausweisung.67 Dieser Grundsatz mag
im allgemeinen mit Sinn und Zweck des
MSA im Einklang stehen, kann jedoch keine ausnahmslose Geltung beanspruchen.
Ausländerrechtliche Entscheidungen zu
Gunsten von AusländerInnen, z. B. die Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung
oder die vorläufige Duldung des Verbleibs
im Bundesgebiet gemäß § 55 I AuslG, sind
ausnahmsweise dann als Schutzmaßnahmen im Sinne des MSA zu begreifen, wenn
sie sich zugleich für die Einleitung weiterer Schutzmaßnahmen (z. B. PflegerInnenbestellung, Unterbringung etc.) als unerläßlich erweisen.
Zumindest für den Personenkreis der
Kinderflüchtlinge folgt aus dem Haager
Minderjährigenschutzabkommen auch die
Verpflichtung inländischer deutscher Behörden, in aufenthaltsrechtlicher Hinsicht
die Voraussetzungen für einen, wenn auch
gegebenenfalls nur vorläufigen, Verbleib
im Bundesgebiet als Schutzmaßnahme
des MSA zu schaffen.
3. Übereinkommen der Vereinten
Nationen vom 20. November 1989
über die Rechte des Kindes
(Kinderrechtskonvention)
Dem Deutschen Bundestag lag im Jahr
1991 der Entwurf eines Gesetzes zu dem
Übereinkommen vom 20. November 1989
über die Rechte des Kindes (Kinderrechtskonvention; im folg.: KK) zur Beratung
GESETZLICHE GRUNDLAGEN
und Verabschiedung vor ( Kinderflüchtlinge, Kinderrechte).68 Das Übereinkommen regelt u.a. auch Fragen mit ausländerrechtlichem Bezug. So etwa solche der
Staatsangehörigkeit (Art. 7 KK), der Ausweisung und Abschiebung (Art. 9 IV KK),
der Familienzusammenführung (Art. 10
KK) sowie der Rechtsstellung von Kinderflüchtlingen (Art. 22 KK). Die folgende
Darstellung beschränkt sich auf Art. 22
KK, während die in den anderen Bestimmungen der Konvention enthaltenen ausländerrechtlichen Fragen ausgeklammert
bleiben.
3.1 Status der Kinderrechtskonvention
in der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland
3.1.1 Qualität der Rechte des Kindes in
der Kinderrechtskonvention
In dem Übereinkommen der Vereinten
Nationen vom 20. November 1989 über
die Rechte des Kindes (KK) werden ‘Rechte des Kindes’ festgelegt. Zwar heißt es in
Art. 2 KK, daß die Vertragsstaaten diese
Rechte jedem ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Kind „gewährleisten“. Damit
werden jedoch, von Ausnahmen abgesehen (s.u.), unmittelbar aus dem Übereinkommen sich ergebende einklagbare Ansprüche nicht begründet. Art. 4 II KK bestimmt nämlich, daß die Signatarstaaten
„alle geeigneten Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und sonstigen Maßnahmen zur
Verwirklichung der in diesem Übereinkommen anerkannten Rechte“ treffen.
Der Aufbau und die Konzeption der Konvention sprechen für die Ansicht der Bundesregierung,69 daß aus ihr grundsätzlich
nur sogenannte Staatenverpflichtungen
zur Umsetzung der Vertragsinhalte in innerstaatliches Recht herzuleiten sind. Dieses nationale Recht bildet dann ggf. die
Grundlage für gerichtlich einklagbare
Rechtsansprüche. Ausnahmsweise ist es
jedoch bei einer eindeutigen und keiner
weiteren Umsetzung bedürftigen Regelung
möglich, unmittelbar aus einer völkerrechtlichen Vertragsbestimmung Rechtsansprüche herzuleiten (sog. selfexecutingWirkungen).70 Hiervon muß beispielsweise
im Falle des Art. 22 II 2 KK ausgegangen
werden (s. u.).
3.1.2 Staatsangehörigkeit als
Unterscheidungskriterium
Art. 2 I KK enthält eine Anti-Diskriminierungsregelung. Die im Übereinkommen
festgelegten Rechte werden danach von
den Vertragsstaaten „jedem ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Kind ohne jede
Diskriminierung unabhängig von der Rasse, der Hautfarbe, dem Geschlecht, der
Sprache, der Religion, der politischen
oder sonstigen Anschauung, der nationalen, ethnischen und sozialen Herkunft, des
Vermögens, einer Behinderung, der Geburt oder des sonstigen Status des Kindes,
seiner Eltern oder seines Vormunds“ gewährleistet. Diese Formulierung entspricht im wesentlichen den vergleichbaren Bestimmungen in Art. 2 I des Internationalen Paktes über bürgerliche und
politische Rechte vom 19.12.1966,71 Art. 2
II des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte
vom 19.12.196672 und Art. 14 EMRK. Zu
fragen ist, ob etwa das an die ‘nationale
Herkunft’ anknüpfende Benachteiligungsverbot des Art. 2 I KK auch eine unterschiedliche Behandlung von Kindern aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit ausschließt. Die Bundesregierung verneint
dies unter Verweis auf den Vertragswortlaut, „in dem zwar die ‘nationale Herkunft’ (‘national origin’) als eines der
Merkmale angeführt wird, die eine unterschiedliche Behandlung als diskriminierend erscheinen lassen, nicht aber auch
die ‘Staatsangehörigkeit’ (‘nationality’) als
solche“.73 Es entspricht noch immer den
239
RECHT UND GESETZ
allgemeinen Grundsätzen des Völkerrechts, den Begriff der Nationalität bzw.
der nationalen Herkunft nicht mit dem der
Staatsangehörigkeit gleichzusetzen und
eine unterschiedliche Behandlung von Inund Ausländern allein wegen der Staatsangehörigkeit nicht unter das Diskriminierungsverbot fallen zu lassen, sofern sich
diese Ungleichbehandlung nicht als willkürlich erweist.74
3.2 Die Rechte der Flüchtlingskinder nach
Art. 22 Kinderrechtskonvention
Art. 22 KK widmet sich dem Personenkreis der Flüchtlingskinder. Nach dessen
Absatz 1 treffen die Vertragsstaaten geeignete Maßnahmen, um sicherzustellen,
daß sowohl die Kinder, die erst die
Rechtsstellung eines Flüchtlings begehren, als auch jene, die bereits diesen
Status nach Völker- oder innerstaatlichem
Recht besitzen, „angemessenen Schutz
und humanitäre Hilfe“ bei der Wahrnehmung der Rechte erhalten, die in dem
Übereinkommen über die Rechte des Kindes oder in einem anderen völkerrechtlichen Vertrag über Menschenrechte oder
humanitäre Fragen enthalten sind. Die
damals amtierende Bundesregierung war
nun der Ansicht, daß sich aus dieser
Vertragsbestimmung keine Verpflichtung
herleiten läßt, „Kindern, die unbegleitet in
einen Vertragsstaat einreisen wollen, um
dort die Rechtsstellung eines Flüchtlings
zu begehren, die Einreise zu erleichtern
oder zu ermöglichen.“75 Diese Rechtsauffassung, die auch in anderem Zusammenhang herangezogen wird (s. u.), läßt sich
jedoch mit Sinn und Zweck jener Regelung nicht vereinbaren. Indem Art. 22 I
KK auch auf andere völkerrechtliche Verträge Bezug nimmt, wird u. a. die Genfer
Flüchtlingskonvention in den Anwendungsbereich der Kinderkonvention einbezogen. Aus Art. 33 GFK ergibt sich jedoch das die Bundesrepublik unmittelbar
240
bindende Verbot der Zurückweisung von
Flüchtlingen an der Grenze.76 Dementsprechend ist bereits nach geltender Rechtslage, die durch den Beitritt zur Kinderrechtskonvention nicht nachteilig beeinflußt wird bzw. werden darf, auch Kinderflüchtlingen die Einreise zu gestatten.
Es handelt sich hierbei um eine Verpflichtung, die sich, sofern das Stellen eines förmlichen Asylgesuchs beabsichtigt
ist, in verfassungsrechtlicher Hinsicht aus
dem aus Art. 16a I GG sich herleitenden
Recht auf Zugang zum Asylverfahren77
und einfachgesetzlich aus dem grundsätzlichen Zurückweisungsverbot des § 18 I
AsylVfG ergibt.
Bestätigt wird dies darüber hinaus
durch Art. 22 II 2 KK. Nach dieser Vorschrift ist einem Kinderflüchtling für den
Fall, daß seine Eltern oder anderen Familienangehörigen nicht ausfindig gemacht
werden können, entsprechend den Grundsätzen der Kinderrechtskonvention derselbe Schutz zu gewähren wie jedem anderen Kind, das aus irgendeinem Grund
dauernd oder vorübergehend aus seiner
familiären Umgebung herausgelöst ist.
Zum einen entspricht es Sinn und Zweck
der Regelung, sie nicht nur zur Anwendung kommen zu lassen, wenn Eltern
oder andere Familienangehörige unauffindbar sind, sondern auch dann, wenn eine Familienzusammenführung im Herkunftsland aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist. Zum anderen enthält diese Regelung eine dermaßen
bindende Verpflichtung zur Gleichbehandlung mit anderen von ihrer Familie getrennten Kindern, daß im Gegensatz zur
sonstigen Konzeption der Kinderrechtskonvention ausnahmsweise aus Art. 22 II
2 KK unmittelbare Rechte hergeleitet und
ggf. auch im Klagewege als individuelle
Ansprüche durchgesetzt werden können.78
Diese Vorschrift zielt u. a. auf geeignete
Schutz- und Betreuungsmaßnahmen für
ein Kind, wie sie in Art. 20 KK aufgeführt
GESETZLICHE GRUNDLAGEN
sind. Geboten ist demnach insbesondere
eine Gleichbehandlung im Rahmen der
Jugendhilfe, d. h. Aufnahme in eine Pflegefamilie oder Heimunterbringung und
Übernahme der dadurch entstehenden
Kosten durch den Jugendhilfeträger. Sofern man der hier nicht vertretenen (s. o.)
Ansicht folgt, daß Kinderflüchtlinge aufgrund eines (noch) fehlenden gewöhnlichen Aufenthalts im Bundesgebiet gemäß
§ 6 II KJHG vom Anspruch auf Jugendhilfe-Leistungen ausgeschlossen sind,
würde diese Rechtsauffassung in Anbetracht des Vorrangs der völkerrechtlichen
Vertragsregelung (§ 6 IV KJHG) in Art. 22
II 2 KK keinen Bestand mehr haben können.
Art. 22 II 2 KK beinhaltet jedoch nicht
nur eine Verpflichtung zur InländerInnenbehandlung etwa in jugendhilferechtlicher Hinsicht. Die effektive Wahrnehmung
der aus dieser Vorschrift sich ergebenden
Ansprüche setzt darüber hinaus geradezu
ein entsprechendes Einreise- und Aufenthaltsrecht voraus, das sich gleichfalls aus
dieser Vorschrift herleitet und ggf. durch
die Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung, unter Umständen aber auch einer
Duldung nach den Vorschriften des Ausländergesetzes oder aber im Falle eines
Asylantrags als Aufenthaltsgestattung zu
bestätigen ist. Auf diese Konsequenz zielt
jedoch die bereits angesprochene und im
folgenden Abschnitt näher zu erörternde
völkerrechtliche Erklärung, die die alte
Bundesregierung bei der Ratifizierung der
Konvention abgegeben hat.
3.3 Völkerrechtliche Erklärung der
Bundesregierung
Die alte Bundesregierung ging in ihrer
amtlichen Begründung zum Ratifikationsgesetz davon aus, daß das Übereinkommen Standards setze, die in der Bundesrepublik Deutschland bereits verwirklicht
seien, und sah daher auch keine Veran-
lassung, grundlegende Änderungen oder
Reformen des innerstaatlichen Rechts zu
betreiben.79 Gleichwohl hielt sie es für notwendig, bei Niederlegung der Ratifikationsurkunde eine ‘Völkerrechtliche Erklärung zum Auslegungsvorbehalt’ abzugeben.80 Der Wortlaut der u. a. zu den Artikeln 2 KK (Diskriminierungsverbot), Art.
7 II KK (Vermeidung von Staatenlosigkeit),
Art. 9 und 10 KK (Trennung von Eltern
und Kindern, Familienzusammenführung), Art. 22 KK (Flüchtlingskinder) und
Art. 28 KK (Recht auf Bildung; Schulpflicht) vorgesehenen Erklärung lautet:
„Nichts in dem Übereinkommen kann dahin ausgelegt werden, daß die widerrechtliche Einreise eines Ausländers in das
Gebiet der Bundesrepublik Deutschland
oder dessen widerrechtlicher Aufenthalt
dort erlaubt ist; auch kann keine Bestimmung dahin ausgelegt werden, daß sie das
Recht der Bundesrepublik Deutschland
beschränkt, Gesetze und Verordnungen
über die Einreise von Ausländern und die
Bedingungen ihres Aufenthalts zu erlassen oder Unterschiede zwischen Inländern und Ausländern zu machen.“81 Die
damalige Bundesregierung wollte sich damit die Möglichkeit offenhalten, Kinderflüchtlinge an der Einreise ins Bundesgebiet zu hindern und, soweit nur irgend
möglich, Zurückweisungen an der Grenze
vorzunehmen. In diesem Zusammenhang
stellt sich jedoch die Frage, ob sich die
Bundesrepublik Deutschland als Signatarstaat der Kinderrechtskonvention durch
die Abgabe jener ‘Völkerrechtlichen Erklärung’ der sich aus dem Übereinkommen ergebenden Verpflichtungen entziehen kann. Leitet man entsprechend den
obigen Ausführungen aus Art. 22 KK auch
ein Recht auf Einreise von Kinderflüchtlingen her, dann beinhaltet die Erklärung
der alten Bundesregierung ein Lossagen
von jener völkervertraglichen Verpflichtung. Es entspricht jedoch allgemeinem
völkerrechtlichem Gebrauch, einen aus241
RECHT UND GESETZ
drücklichen Vorbehalt anzubringen, wenn
man sich als Signatarstaat von bestimmten, aus einem völkerrechtlicher Vertrag
sich ergebenden Bindungen befreien will.
Für den Regelungsgegenstand der Kinderrechtskonvention selbst ist die Möglichkeit
zur Anbringung eines solchen Vorbehalts
ausdrücklich in Art. 5 1 I KK vorgesehen.
Im übrigen leitet sich eine solche Befugnis
grundsätzlich aus allgemeinem Völkervertragsrecht her, wie sich aus Art. 19 ff des
Wiener Übereinkommens über das Recht
der Verträge vom 23.5.1969 erkennen
läßt, das für die Bundesrepublik Deutschland am 20.8.1987 in Kraft getreten ist.
Da die damalige Bundesregierung jedoch
keinen förmlichen Vorbehalt im Sinne des
Art. 5 1 I KK angebracht hat, kann dem
Inhalt der Erklärung, die abgegeben wurde, keine den Regelungsgehalt des Art. 22
KK beschneidende Wirkung beigemessen
werden. Im übrigen wäre ein solcher Vorbehalt zumindest im Hinblick auf Art. 22
KK ohnehin nicht zulässig, da das mit ihm
verfolgte Recht, Kinderflüchtlingen die
Einreise verweigern zu dürfen, mit Ziel
und Zweck jener Vertragsnorm nicht zu
vereinbaren wäre. Unter derlei Umständen ist nämlich gemäß Art. 5 1 II KK das
Anbringen eines Vorbehalts nicht zulässig.
Somit kann und darf der abgegebenen
Erklärung der alten Bundesregierung keine rechtserhebliche Bedeutung beigemessen werden.82
4. Ausgewählte Ergebnisse
(1) Kinderflüchtlinge gehören zu den vom
neuen Ausländergesetz, das am 1.1.
1991 in Kraft getreten ist, am härtesten getroffenen AusländerInnengruppen. Während nach altem Recht ausländische Kinder und Jugendliche bis
zur Vollendung des 16. Lebensjahres
für die Einreise und den Aufenthalt im
Bundesgebiet keiner Aufenthaltserlaubnis bedurften, ist dieser Personen242
kreis dem neuen Gesetz zufolge grundsätzlich
aufenthaltsgenehmigungspflichtig. Sofern Kinderflüchtlinge nicht
im Besitz der erforderlichen Einreisevisa sind, werden sich Fluggesellschaften, Busunternehmen etc. weigern,
Kinderflüchtlinge in die Bundesrepublik zu transportieren. Ihnen obliegt
nämlich für den Fall der unerlaubten
Beförderung von AusländerInnen nicht
nur die Verpflichtung zu deren Rückbeförderung ins Herkunftsland. Vielmehr drohen ihnen zudem drastische
Geldbußen und Zwangsgelder sowie
der Entzug der Beförderungserlaubnis.
Auf diese Weise schottet sich die Bundesrepublik Deutschland u. a. gegenüber Kinderflüchtlingen in massiver
Weise ab. Eine Einreise von Kinderflüchtlingen ist aufgrund der geänderten Rechtslage so gut wie ausgeschlossen.
(2) Werden Kinderflüchtlinge ausnahmsweise trotz fehlender Visa von einem
Beförderungsunternehmen in die BRDeutschland verbracht, so besteht für
die Grenzbehörden anders als nach
der alten Rechtslage des Ausländergesetzes von 1965 nunmehr die Verpflichtung, eine Zurückweisung auszusprechen, d. h. die Einreise zu verweigern. Eine Zurückweisung oder -schiebung kann nach neuem Recht auch
dann ausgesprochen werden, wenn die
Betroffenen wegen ihres Alters im juristischen Sinne nicht handlungsfähig
sind; einer PflegerInnenbestellung bedarf es demnach nicht. Damit sind
zurückgewiesene oder zurückgeschobene Kinderflüchtlinge rechtsschutzlos. Dies verstößt sowohl gegen die
Rechtsschutzgarantie des Art. 19 IV
GG als auch gegen das Rechtsstaatsprinzip der Art. 20 I, 28 I GG.
(3) Die Ausweisung und Abschiebung von
im Bundesgebiet sich aufhaltenden
Kinderflüchtlingen ist nicht nur bei
GESETZLICHE GRUNDLAGEN
drohender Folter oder Todesstrafe verboten, sondern auch im Falle einer
drohenden sonstigen erniedrigenden
Behandlung im Herkunftsland, was
z. B. unter Umständen bei einer gerichtlich verhängten Prügelstrafe oder
bei rassisch diskriminierenden Handlungen gegeben sein kann, sowie bei
drohender Sklaverei oder drohenden
sklavereiähnlichen Lebensbedingungen wie beispielsweise Zwangsprostitution. Schließlich stellt auch eine zu
befürchtende Zwangsheirat ein Ausweisungs- und Abschiebungshindernis
dar.
(4) Leistungen nach dem neuen Kinderund Jugendhilfegesetz sind grundsätzlich auch für Kinderflüchtlinge zu gewähren.
(5) Das für asylbegehrende Kinderflüchtlinge von bestellten PflegerInnen oder
VormünderInnen auszuübende Aufenthaltsbestimmungsrecht ist im Rahmen
des asylrechtlichen Verteilungs- und
Zuweisungsverfahrens in demselben
Maße zu beachten wie eine bestehende
Haushaltsgemeinschaft zwischen Eltern und minderjährigen Kindern im
Sinne der §§ 50, 51 AsylVfG.
(6) Für den Personenkreis der Kinderflüchtlinge folgt aus dem Haager Minderjährigenschutzabkommen u. a. die
Verpflichtung inländischer deutscher
Behörden, in aufenthaltsrechtlicher
Hinsicht die Voraussetzungen für einen
wenn auch gegebenenfalls nur vorläufigen Verbleib im Bundesgebiet als
Schutzmaßnahme im Sinne des MSA
zu schaffen.
(7) Art. 22 der Kinderrechtskonvention,
der sich mit der Rechtsstellung von
Flüchtlingskindern befaßt, verpflichtet
die Bundesrepublik Deutschland unmittelbar dazu, Kinderflüchtlingen die
Einreise und den Aufenthalt zu gewähren und sie u. a. in jugendhilferechtlicher Hinsicht wie InländerInnen
zu behandeln. Es handelt sich hierbei
nicht nur um eine sog. Staatenverpflichtung, sondern um unmittelbar
anwendbare Rechtsansprüche der Kinder. Die von der alten Bundesregierung
durchgeführte Abgabe einer ‘Völkerrechtlichen Erklärung’ zur Kinderrechtskonvention, mit der sie sich von
ausländerrechtlichen Bindungen lossagen wollte, ist nicht zulässig und daher
unbeachtlich.
Anmerkungen
1 Aktualisierte Fassung der (mittlerweile vergriffenen) Terre des Hommes-Broschüre „Kinderflüchtlinge – Flüchtlingskinder“ von Bertold Huber aus
dem Jahr 1991.
2 Im folgenden werden lediglich Aspekte der Einreise und erstmaligen Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung sowie der Ausweisung und Abschiebung erörtert, nicht aber Fragen der Verlängerung einer einmal erteilten Aufenthaltsgenehmigung oder der Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis in einem späteren Stadium des Aufenthalts.
3 BGBl I, 2983.
4 Vgl. Jockenhövel-Schiecke, Unbegleitete ausländische Flüchtlingskinder – eine Aufgabe der Jugendhilfe, VlA-Magazin, August 1990, S. 23 ff.
5 Deutscher Bundestag, Drucks. 11/6321, S. 77.
6 Anders aber Ziff. 7.2.1 der Vorläufigen Anwendungshinweise des BMI zu dem vergleichbaren
§ 711 Nr. 1 AuslG sowie inzwischen auch die vorherrschende Meinung in Rechtsprechung und Literatur.
7 § 70 I 1 AusIG lautet: ,,Dem Ausländer obliegt es,
seine Belange und für ihn günstige Umstände, soweit sie nicht offenkundig oder bekannt sind, unter
Angabe nachprüfbarer Umstände unverzüglich
geltend zu machen und die erforderlichen Nachweise über seine persönlichen Verhältnisse, sonstige erforderliche Bescheinigungen und Erlaubnisse sowie sonstige erforderliche Nachweise, die
er erbringen kann, unverzüglich beizubringen.“
8 Deutscher Bundestag, Drucks. 11/6321, S. 77.
9 Vgl. zu § 2 I 2 AuslG 1965 nur BVerwGE 61, 105
(108 f).
243
RECHT UND GESETZ
10 Siehe dazu unten in Abschnitt 1.5 die Ausführungen zur Ausweisung und Abschiebung minderjähriger unbegleiteter Flüchtlinge.
11 Soweit die Eltern bereits im Bundesgebiet leben,
besteht unter den Voraussetzungen des § 20 AuslG
ein Rechtsanspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis;
bei Ausländern mit einer Aufenthaltsbefugnis ist
die Gestattung des Kindernachzugs gemäß § 31 I
AuslG in das Ermessen der Behörde gestellt. Solche Sachverhaltskonstellationen sind jedoch im
Falle der minderjährigen unbegleiteten Flüchtlinge
atypisch, so daß dieser Aspekt hier nicht weiter
erörtert wird.
24 Ausf. dazu Abschnitt 2.2
25 Im RegE (BT-Dr. 11/5948) waren geduldete Ausländer nicht aufgenommen. Die jetzige Fassung
beruht auf einem Änderungsvorschlag des BTAusschusses für Jugend, Familie, Frauen und
Gesundheit (BT-Dr. 11/6748).
26 Deutscher Bundestag, Drucksache 11/5948, S. 47.
27 Da es sich in den genannten Fällen um einen Anspruch des Personensorgeberechtigten handelt, ist
die Ausweisung eines minderjährigen Ausländers
wegen der für, nicht aber an ihn geleisteten KJHGMittel vom Wortlaut des § 46 Nr. 7 AuslG ausgeschlossen.
12 Vgl. Huber: Auswirkungen des Empfangs von Sozialhilfe auf den Aufenthaltsstatus von EG- und
Nicht-EG- Ausländern nach dem Gesetz zur Neuregelung des Ausländerrechts, In: Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und
private Fürsorge 1991, 30 ff (Die herrschende Meinung in Rechtsprechung und Literatur ist inzwischen
jedoch anderer Ansicht.)
28 BSG, 16.12.1987 – 11 a REg 3/87, In: InfAuslR 1988,
S. 112.
13 Zum Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung zum Verbleib bei bereits hier lebenden Familienangehörigen vgl. Abschnitt 1.4.
31 Ebd., S. 53.
14 Deutscher Bundestag, Drucks. 11/6321, S. 72.
15 Vgl. dazu Frowein/Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, 1985, Art. 3 Rdnr. 8 f.
16 Vgl. Frowein/Peukert, EMRK, Art. 4 Rdnr. 2; dasselbe gilt für Einrichtungen oder Praktiken des Frauenkaufes. Zu Kinderhandel vgl. auch VG Frankfurt
am Main, Beschluß vom 19.7. 1988 – V/2 H 1258,
88, NJW 1988, 3032.
17 Vgl. auch Art. 12 II GG als Abwehrrecht gegenüber
vom deutschen Staat auferlegtem Arbeitszwang.
18 Vgl. Frowein/Peukert, EMRK. Art. 4 Rdnr. 5. In der
Mehrzahl dieser Fälle dürfte jedoch bereits eine
politische Verfolgung im Sinne des Art. 16 II 2 GG
gegeben sein.
19 Vgl. auch die diesbezüglich eindeutige Regelung
in Art. 23 III des Internationalen Paktes über bürgerliche Rechte.
20 Ebd.
21 Vgl. BverwG. Urteil vom 6.3.1990 – 9 C 14/89,
NVWZ 1990, S. 1179.
22 So das BverwG. Ebd., im Gegensatz zur Vorinstanz,
VGH Kassel, InfAuslR 1989, S. 253.
23 Freilich waren dadurch JWG-Leistungen für Ausländer gesetzlich nicht ausgeschlossen. Vgl. Münder. In: neue praxis 1990, S. 341.
244
29 Ebd., ebenso BSG, 23.2.1988, BSGE 63, 47 (50) sowie BSG, 17.5.1989 – 10 RKg 19/88, NVWZ-RR
1989, S. 651.
30 BSG, 20.5. 1 987 – 10 RKg 18/85. In: InfAuslR 1988,
S. 52.
32 Zur Prognose vgl. BSG, 17.5.1989 – 10 RKg 19/88,
NVWZ-RR 1989, S. 651. – Vgl. nunmehr auch die
Neufassung des § 1 III BKGG und des § 1 I 2 Bundeserziehungsgeldgesetz durch das Gesetz zur
Neuregelung des Ausländerrechts vom 9.7.1990
(BGBl I, 1354). Zur neueren Rechtsprechung des
BSG zum Anspruch auf Erziehungsgeld vgl. BSG,
27.9.1990 – 4 REg 27/89 u. 4 REg 30/89. In InfAuslR
1991, S. 41 u. 43.
33 Bei der folgenden Darstellung wird entgegen der
im Abschnitt 2.2.1 vertretenen Ansicht im Interesse
einer erschöpfenden Behandlung der Thematik
hypothetisch davon ausgegangen, daß die aufenthaltsrechtliche Stellung des Minderjährigen ausschlaggebend ist.
34 S.o., Text zu Anm. 27.
35 Dies sind zum einen Asylbewerber, die zwar vom
Bundesamt für die Anerkennung ausländischer
Flüchtlinge als Asylberechtigte anerkannt worden
sind, deren Anerkennung aber noch nicht bestandskräftig geworden ist, weil entweder die Klagefrist noch läuft oder aber der Bundesbeauftragte
für Asylangelegenheiten gegen die stattgebende
Entscheidung geklagt hat. Zum anderen zählen jene Ausländer zu den Bonafide-Flüchtlingen, deren
Asylantrag vom Bundesamt abschlägig beschieden worden.
36 Mit der Aufenthaltserlaubnis wird einem Ausländer der Aufenthalt ohne Bindung an einen be-
GESETZLICHE GRUNDLAGEN
stimmten Aufenthaltszweck (§ 15 AuslG) oder zum
Zwecke des Familiennachzugs (§ 17 AuslG) erlaubt.
55 Vgl. Siehr (obige Anm. 54), Rdnr. 54; Palandt-Heldrich, BGB, Anhang zu Art. 24 EGBGB Rdnr. 11 f.
56 Vgl. dazu Siehr (obige Anm. 54), Rdnr. 25.
37 Mit der Aufenthaltsbewilligung wird einem Ausländer der Aufenthalt nur für einen bestimmten,
seiner Natur nach einen nur vorübergehenden
Aufenthalt erfordernden Zweck erlaubt (§ 28 I 1
AuslG), z. B. für einen Studien-, sonstigen Ausbildungs- oder längeren Besuchsaufenthalt.
57 Vgl. „Der Amtsvormund“ 1978, 679.
38 Hinsichtlich der Angehörigen dieses Personenkreises wird künftig im Rahmen des Asylverfahrens nach § 51 AuslG das Vorliegen eines Abschiebungsverbots festgestellt und ihnen ggf. der
Status eines Flüchtlings nach Art. 1 Genfer Flüchtlingskonvention zuerkannt werden.
60 Vgl. Siehr (obige Anm. 52), Rdnr. 77.
39 Nicht ohne Grund wird die Duldung in § 6 II KJHG
extra erwähnt.
64 Vgl. auch Jockenhövel-Schiecke, Asyl gesucht –
Zuflucht gefunden, ZAR 1987, 171 (173).
40 Vgl. Bachmann in: Beitz/Wollenschläger (Hg.):
Handbuch des Asylrechts, Bd. II, 1981, S. 703.
65 Vgl. auch Baer, in: Oberloskamp (obige Anm. 43),
§ 9 Rdnr. 32.
41 Vgl. jetzt auch den neu geschaffenen § 7a AsylVfG,
der die Möglichkeit des sog. Familienasyls für Ehegatten und minderjährige Kinder von Asylberechtigten vorsieht.
66 Vgl. Palandt-Heldrich, BGB, Anhang zu Art. 24
EGBGB Rdnr. 13.
42 Deutscher Bundestag Drucksache 11/5948 S. 79 ff.
43 Die Verletzung dieser Verpflichtung kann als Ordnungswidrigkeit verfolgt und mit einem Bußgeld
bis zu 1000,– DM geahndet werden (§ 93 III Nr. 5
Abs. 5 AuslG).
44 Vgl. auch Brüggemann in: Oberloskamp (Hg.) Vormundschaft bei Minderjährigen. München 1990, S.
411 ff.
58 Vgl. Siehr (obige Anm. 54), Rdnr. 24; Palandt-Heldrich, BGB; Anhang zu Art. 24 EGBGB, Rdnr. 11 f.
59 Vgl. auch Baer, in: Oberloskamp (obige Anm. 42),
§ 9 Rdnr. 30.
61 Vgl. Siehr (obige Anm. 52), Rdnr. 68.
62 Vgl. Siehr (obige Anm. 52), Rdnr. 69.
63 Vgl. Siehr (obige Anm. 54), Rdnr. 103; PalandtHeldrich, BGB, Anhang zu Art. 24 EGBGB Rdnr. 13.
67 Vgl. Siehr (obige Anm. 52), Rdnr. 103.
68 Bundesrats-Drucksache 769/90
69 Bundesrats-Drucksache 769/90, S. 32f.
70 Vgl. dazu Zuleeg, in: Alternativ-Kommentar zum
Grundgesetz, 1984, Bd.1, Art. 24 III/25 Rdnr. 50 ff.
71 BGBl 1973 II, 1534.
72 BGBl 1973 II, 1570.
73 Bundesrats-Drucksache 769/90, S. 34.
50 Vgl. nur BVerfG, Urteil v. 17.10.1984 – 1 DvR 284/84,
BVerfGE 68, 176 (187) = NJW 1985, S. 423.
74 Vgl. in diesem Zusammenhang Frowein/Peukert,
EMRK, Art. 14 Rdnr 36; Köfner/Nicolaus, Grundlagen des Asylrechts in der Bundesrepublik
Deutschland, Bd. II, 1986, S. 453 zur GFK. Vgl. als
Gegenbeispiel auch Art. 7 EWG-Vertrag, der
eindeutig eine Ungleichbehandlung wegen der
Staatsangehörigkeit ausschließt. Zum Teil wird Art.
7 EWGV jedoch lediglich als Willkürverbot begriffen, eine sachlich gebotene Ungleichbehandlung
von In- und EG-Ausländern also für zulässig erachtet. Vgl. Bleckmann, Europarecht, 5. Aufl. 1990,
Rdnr. 1222.
51 Vgl. Klinkhardt (obige Anm. 47), S. 109.
75 Bundesrats-Drucksache 769/90, S. 46.
52 Vgl. z. B. BVerwG, Urteil v. 5.6.1984 – 9 C 9/84,
BVerwGE 69, 295 = NVWZ 1984, 799 (801).
76 Vgl. Fritz, In: Gemeinschaftskommentar zum Asylverfahrensgesetz, Stand: März 1991, § 9 AsylVfG
Rdnr. 4 f; Köfner/Nicolaus (obige Anm. 73), Bd. l, S.
133 ff. Vgl. auch BverfGE 74, 51 ff = NVWZ 1987,
311 (313).
45 Dies scheidet freilich bei Amtsvormundschaft oder
-pflegschaft aus.
46 Vgl. Klinkhardt in: Oberloskamp (ebd., S. 127 f).
47 Vgl. ebd.
48 Vgl. z. B. die umfassenden Nachweise bei Molitor,
in: Gemeinschaftskommentar zum AsylVfG, Neuwied, Stand 1990, § 22 Rdnr. 51 ff.
49 Ebd., Rdnr. 53.
53 Vgl. Siehr, in: Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Bd. 7, Art. 19 Anhang Rdnr. 23.
54 So ausdrücklich BGHZ 78, 293 (295) = NJW 1981,
520; OLG Hamm, Urteil v. 29.4.1988 – 5 UF 57/88,
NJW 1989, 672.
77 Vgl. BVerfGE 76, 1 ff. = NJW 1988, 626; vgl. dazu
auch Huber, NJW 1988, 609.
245
RECHT UND GESETZ
78 Vgl. Text zu obiger Anm. 69.
79 Bundesrats-Drucksache 769/90, S. 32.
80 Ebd.
81 Bundesrats-Drucksache 769/90, S. 54; eine entsprechende Erklärung wurde bereits im Rahmen
der Entstehungsarbeiten an der Kinderrechtskonvention zu Protokoll gegeben; ebd., S. 41.
82 Bundesgesetzblatt 1987 II, S. 757.
Bertold Huber
Asylbewerberleistungsgesetz
Artikel über das Asylbewerberleistungsgesetz
(AsylbLG) sind kurzlebig. Kaum veröffentlicht,
sind sie schon wieder aufgrund einer gesetzlichen Neuregelung ergänzungs- bzw. korrekturbedürftig. Obwohl erst seit 1993 in Kraft, wurden bisher (Stand Dez. 98) bereits zwei Änderungsgesetze verabschiedet. Wenn auch in der
Koalititionsvereinbarung von SPD und Bündnis
90/Grüne keine Änderungen am AsylbLG vereinbart wurden, so ist im Laufe der Legislaturperiode wohl dennoch eine erneute Korrektur
dieses Gesetzes zu erwarten. Bevor im folgenden die Rechtslage nach dem Inkrafttreten des
2. Änderungsgesetzes des AsylbLG geschildert
wird, soll ein kurzer Überblick darüber gegeben
werden, wie sich die Gewährung von Sozialleistungen an AsylbewerberInnen und andere
Flüchtlinge in den vergangenen Jahren entwickelt hat, oder, präziser formuliert, in welchen Schritten die Sozialleistungen für Flüchtlinge über einen längeren Zeitraum – und verschiedene Bundesregierungen – hinweg, Stück
für Stück eingeschränkt wurden.
1. Vorgeschichte
Die Einschränkung der Leistungen für
asylsuchende AusländerInnen begann
1981. Bis dahin hatten alle AsylbewerberInnen und AusländerInnen gemäß § 120
246
Bundessozialhilfegesetz (BSHG) Anspruch
auf Hilfe zum Lebensunterhalt, Krankenhilfe, Hilfe für Wöchnerinnen und werdende Mütter, Tuberkulosehilfe und Hilfe zur
Pflege. Mit dem 2. Haushaltsstrukturgesetz
1982 wurde für asylsuchende AusländerInnen bis zum rechtskräftigen Abschluß
des Verfahrens der Anspruch auf Leistungen nach dem BSHG begrenzt auf Hilfe
zum Lebensunterhalt. Alle anderen Leistungen wurden zu Ermessensleistungen.
Ab dem 1.1.1984 galten die oben erwähnten Änderungen des BSHG auch für
zur Ausreise verpflichtete AusländerInnen, deren Aufenthalt aus völkerrechtlichen, politischen oder humanitären Gründen geduldet wurden, und für andere
AusländerInnen, die zur Ausreise verpflichtet waren. Ferner wurde geregelt,
daß die Hilfe soweit möglich als Sachleistung gewährt werden soll. Festgelegt
wurde darüber hinaus, daß die laufenden
Geldleistungen auf das ‚zum Lebensunterhalt Unerläßliche’ eingeschränkt werden
können. Pauschale Kürzungen waren seinerzeit im Gesetzeswortlaut noch nicht
vorgesehen, sondern nur Kürzungen in
begründeten Einzelfällen.
Nichtsdestotrotz gab es seither allerdings immer wieder Versuche einzelner
Kommunen und Landesbehörden, Leistungen pauschal abzusenken. Hier hat
sich insbesondere das Land Bayern hervorgetan, wo lange Zeit die pauschale
Kürzung der Sozialhilfe um 15 % praktiziert wurde. Aber auch in NordrheinWestfalen gab es in einzelnen Kommunen
den Versuch, den De-facto-Flüchtlingen
pauschal die Sozialhilfe zu streichen – mit
der Begründung, sie seien eingereist, um
Sozialhilfe zu beziehen. Denn nach § 120
BSHG hat derjenige , der in das Land einreist, um Sozialhilfe zu beziehen, keinen
Anspruch. Aus der Ablehnung ihres Asylantrages durch das ‚Bundesamt für die
Anerkennung ausländischer Flüchtlinge’
( Bundesbehörden) schlossen einige
ASYLBEWERBERLEISTUNGSGESETZ
Kommunen, die Flüchtlinge seien offensichtlich nur eingereist, um Sozialhilfe zu
beziehen.
Diese gravierenden Leistungseinschränkungen für asylsuchende AusländerInnen,
insbesondere die Möglichkeit der Reduzierung der Leistung auf das ‘zum Lebensunterhalt Unerläßliche’, stießen von Beginn an auf erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken, sah man hierin doch einen
Verstoß gegen das Sozialstaatsprinzip und
die Menschenwürde. Die Kürzung auf das
‘zum Lebensunterhalt Unerläßliche’, so
wurde argumentiert, unterschreite das
verfassungsrechtlich gebotene soziale Existenzminimum und verstoße somit gegen
Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG in Verbindung mit
dem Sozialstaatsprinzip.1
Da die pauschale Kürzung der Leistungen für Flüchtlinge im Rahmen des BSHG
allerdings kaum möglich war bzw. von
den Gerichten abgelehnt wurde, gab es
seit Mitte der 80iger Jahre Bestrebungen,
das Recht der Sozialhilfe für AsylbewerberInnen und andere Flüchtlingsgruppen
– außerhalb des Sozialgesetzbuches – in
einem eigenständigen Gesetz zu regeln.
Von vornherein verbanden sich damit die
Erwartungen, die Leistungen pauschal zu
reduzieren und als Sachleistungen zu gewähren.2 Dieses Vorhaben wurde Jahre
später mit der Verabschiedung des Asylbewerberleistungsgesetzes verwirklicht,
welches am 1.11.1993 in Kraft trat.
2. Das Asylbewerberleistungsgesetz
(AsylbLG)
Im Rahmen des ‘Asylkompromisses’ (
Asyl- und Flüchtlingspolitik BRD) hatte
man sich darauf verständigt, für asylsuchende AusländerInnen während der
Dauer des Verfahrens eine eigenständige
Regelung des Mindestunterhalts zu schaffen, die insbesondere eine Absenkung des
Leistungsniveaus und die weitgehende
Durchsetzung des Sachleistungsprinzips
beinhalten sollte. Mit Verabschiedung des
AsylbLG wurde erstmalig die Sozialleistungen für bestimmte Ausländergruppen
außerhalb des Sozialgesetzbuches geregelt. Betroffen von dieser Regelung waren
– entgegen der ursprünglichen Absicht –
nicht nur AsylbewerberInnen während
der ersten 12 Monate ihres Verfahrens,
sondern auch ‘vollziehbar’ zur Ausreise
Verpflichtete. Kernpunkte der Neuregelung war die pauschalierte Absenkung der
Leistungen um mindestens 25 bis 30 %
(gegenüber BSHG) und damit quasi eine
Neudefinition des Existenzminimums, die
weitgehende Umsetzung des Sachleistungsprinzips sowie die Einschränkung
der medizinischen Versorgung auf die Behandlung akuter Erkrankungen und
Schmerzzustände.3
Mit dem 1. und 2. Änderungsgesetz
zum AsylbLG wurde der eingeschlagene
Weg konsequent fortgesetzt. Weitere Personengruppen wurden damit den restriktiven Bestimmungen des AsylbLG unterworfen, die Dauer der Leistungseinschränkung erheblich ausgeweitet. So
wurden mit dem 1. Änderungsgesetz, welches am 1.6.1997 in Kraft trat, auch alle
InhaberInnen von Duldungen nach § 55
AuslG sowie Kriegsflüchtlinge mit Aufenthaltsbefugnis wegen des Krieges (§§ 32,
32 a AuslG) in den Kreis der Leistungsberechtigten nach dem AsylbLG aufgenommen ( Aufenthaltstitel) und festgelegt, daß diese ebenso wie AsylbewerberInnen für drei Jahre ab dem 1.6. 1997
nur abgesenkte Leistungen erhalten sollen. Abgemildert wurden dagegen die Regelungen bezüglich der zusätzlichen Leistungen, die in § 6 AsylbLG geregelt sind.
3. Die aktuelle Rechtslage
Kernpunkt des 2. Änderungsgesetzes des
AsylbLG , das am 1.9.98 in Kraft trat , ist
der neu eingefügte § 1 a, dessen Anwendung sich auf geduldete und ‘vollziehbar’
247
RECHT UND GESETZ
ausreisepflichtige AusländerInnen und
deren Familienangehörige, nicht aber
Asylbewerber bezieht.
Diesen Personengruppen können nun –
analog zu den Regelungen in § 120 BSHG
– Leistungen gekürzt werden, wenn sie
„sich in den Geltungsbereich des Gesetzes
begeben haben, um Leistungen nach diesem Gesetz zu erlangen“. Die gleichen
Personengruppen verlieren den Anspruch
auf Grundleistungen nach dem AsylbLG,
wenn aus „von Ihnen zu vertretenden
Gründen aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden können“. Die
genannten Personengruppen sollen Leistungen daher nur noch erhalten, „soweit
dies im Einzelfall unabweisbar geboten
ist“. Mit diesem Paragraphen wurden nun
gleich mehrere unbestimmte Begriffe eingeführt, die in den kommenden Jahren –
durch Erlasse und Rechtsprechung – zu
klären sein werden: Wann ist davon auszugehen, daß jemand eingereist ist, um
Sozialleistungen zu beziehen? Was ist unter den selbst zu vertretenden Gründen zu
verstehen, die dazu führen, daß aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden können? Wonach bestimmen
sich schließlich die im Einzelfall unabweisbaren Leistungen?
4. Die ‘Um-zu’-Regelung
In den wenigen Monaten nach Inkrafttreten der Neuregelung ist es insbesondere aufgrund der neu eingefügten ‘Um-zu’Regelungen in zahlreichen Fällen zu Leistungseinschränkungen bzw. zur völligen
Streichung von Leistungen gekommen. Einige Berliner Sozialbehörden und Verwaltungsgerichte sahen schon in der Tatsache, daß der Flüchtling bei seiner Flucht
aus Kosovo nicht in dem ‘sicheren Drittstaat’, den er durchquert hatte, geblieben
war, den Tatbestand der ‘Um-zu’-Regelung erfüllt.4 Bei der Interpretation der
‘Um-zu’-Regelung ist jedoch die Recht248
sprechung des BverwG zu § 120 Abs. 3
BSHG zu berücksichtigen. Danach ist die
‘Um-zu’-Regelung nur anwendbar, wenn
der Wunsch, hier von Sozialhilfe zu leben ,
prägendes Einreisemotiv war und nicht
nur neben anderen gleichgewichtigen
oder gar gewichtigeren Motiven mitverfolgt wurde.
5. Leistungsumfang bei Anspruchseinschränkung
Was bedeutet es konkret, wenn aufgrund
§1a AsylbLG die Leistungen nur noch gewährt werden, „soweit dies im Einzelfall
nach den Umständen unabweisbar geboten ist“? Auf welche Leistungen hat der/
die Betreffende noch Anspruch? Der Gesundheitsausschuß des Bundestages hat
hierzu mehrheitlich festgestellt, daß es
sich bei der unabweisbar gebotenen Hilfe
in der Regel um Sachleistungen im Sinne
von § 3 Abs. 1 Satz 1 – 3 AsylbLG handeln
werde und die in § 3 Abs. 1 Satz 4 genannten Geldleistungen bis auf besondere
Ausnahmen nicht unabweisbar geboten
seien.5 Unterkunftskosten, Heizung und
Haushaltsenergie, Hausrat, Kleidung, Hygiene- und Enährungsbedarf wären demzufolge regelmäßig zu leisten.6 Insbesondere, um auch den Mitwirkungspflichten
nachzukommen, kann die Zahlung eines –
möglicherweise reduzierten – Geldbetrages notwendig sein7. Zu berücksichtigen
ist ferner, daß sich die Leistungseinschränkungen nur auf den Betroffenen beschränken dürfen, der allein für sein Handeln
verantwortlich zu machen ist, nicht aber
auf dessen Familienangehörigen8.
Weitere Präzisierungen gibt es nicht,
und so ist es Sache der Sozialbehörden –
und der Gerichte – den Leistungsumfang
genauer festzulegen. In jedem Fall muß es
sich um einzelfallbezogene Entscheidungen handeln, bei denen der Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit zu beachten ist. Angesichts der Tatsache, daß aufgrund der
ASYLBEWERBERLEISTUNGSGESETZ
pauschalierten Leistungseinschränkungen
die Leistungen des AsylbLG ca. 25 % unterhalb der Leistungen des BSHG liegen und
somit bereits auf ‘das zum Lebensunterhalt Unerläßliche’ gekürzt wurden, ist
kaum vorstellbar, wie eine darüber hinausgehende Kürzung noch mit dem Sozialstaatsgebot und dem Gebot der Achtung
der Menschenwürde vereinbar sein kann.9
6. Leistungsberechtigte
Das zunächst positiv klingende Wort ‘Leistungsberchtigter’ beinhaltet – neben dem
Anspruch auf bestimmte Leistungen –
auch, daß die Betreffenden keinen Anspruch auf Leistungen nach dem BSHG
haben. Leistungsberechtigte (§ 1 AsylbLG)
nach dem AsylbLG sind AusländerInnen,
die eine Aufenthaltsgestattung besitzen
(AsylbewerberIn); die über einen Flughafen einreisen wollen und denen die Einreise nicht oder noch nicht gestattet wurde; die wegen des Krieges in ihrem Heimatland eine Aufenthaltsbefugnis nach
den §§ 32 oder 32 a AuslG besitzen; eine
Duldung nach § 55 AuslG besitzen; ‘vollziehbar ausreisepflichtig’ sind, auch wenn
eine Abschiebungsandrohung noch nicht
oder nicht mehr vollziehbar ist ( Abschiebung) oder Ehegatten oder minderjährige Kinder der genannten Personen.
Bei den leistungsberechtigten ‘unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen’ dürfte es
sich vor allem um AsylbewerberInnen,
‘vollziehbar ausreisepflichtige’ und InhaberInnen einer Duldung nach § 55 AuslG
handeln. Unklarheiten dürften dabei am
ehesten bei der Definition von ‘vollziehbar
ausreisepflichtig’ bestehen.10 Dies ist geregelt in § 42 AuslG. Danach ist die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht gegeben,
– nach einer unerlaubten Einreise;
– wenn nach Ablauf der Geltungsdauer
einer Aufenthaltsgenehmigung noch
nicht deren Verlängerung oder die Erteilung einer anderen Aufenthaltsge-
nehmigung beantragt wurde;
– wenn die erstmalige Erteilung einer
Aufenthaltsgenehmigung nicht beantragt und die Antragsfrist abgelaufen
ist oder
– wenn die Versagung einer Aufenthaltsgenehmigung bzw. der Verwaltungsakt,
durch den die Ausreisepflicht begründet wird, vollziehbar ist.
Die Darstellung der Personengruppen,
die Leistungsberechtigte nach dem Asylb
LG sind, macht deutlich, daß es sich dabei
keineswegs ausschließlich – wie der Name
suggeriert – um AsylbewerberInnen handelt, sondern auch andere Personengruppen umfaßt, die teilweise sogar im Besitz
einer Aufenthaltsgenehmigung sind.
7. Leistungen nach dem KJHG
oder AsylbLG
Bei Kinderflüchtlingen ist grundsätzlich
zu beachten, inwieweit Anspruch auf Leistungen nach dem KJHG besteht und in
welchem Verhältnis dies zu Ansprüchen
auf Leistungen nach dem AsylbLG steht (
Gesetzliche Grundlagen). Hier ist zwischen der Inanspruchnahme von ambulanten oder stationären Hilfen nach dem
KJHG zu unterscheiden. Bei Durchführung von stationären Hilfen nach SGB VIII
findet das AsylbLG keine Anwendung. Die
Aufwendungen für die Hilfe zum Lebensunterhalt und für die Unterbringung sind
durch den Pflegesatz abgedeckt. Bei
Durchführung von ambulanten Hilfen,
beispielsweise nach § 30 SGBVIII (Erziehungsbeistand) müssen Leistungen für
den Lebensunterhalt und Unterbringung
beim Sozialamt beantragt werden, hier
greift also das AsylbLG.
Kinderflüchtlinge in Gemeinschaftsunterkünften (16- bis 18jährige) erhalten Leistungen nach dem AsylbLG, wobei, wie
noch ausgeführt wird, ggf. ein Mehrbedarf
(§ 6 AsylbLG) geltend gemacht werden
kann.
249
RECHT UND GESETZ
8. ‘Privilegierte Leitungsberechtigte’
10. Sonstige Leistungen
In § 2 AsylbLG ist festgelegt, daß auf Leistungsberechtigte, die über eine Dauer
von 36 Monaten, frühestens beginnend
am 1.6.1997, Grundleistungen nach § 3
AsylbLG erhalten haben, das BSHG entsprechend anzuwenden ist, wenn ihre
Ausreise nicht erfolgen kann und aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden können, weil humanitäre,
rechtliche oder persönliche Gründe oder
das öffentliche Interesse dagegen stehen.
Da der 1.6.1997 als Stichtag – auch für
schon seit längerem hier lebende Leistungsberechtigte – festgelegt wurde, haben die Leistungsberechtigten folglich frühestens ab dem 1.6.2000 Anspruch auf
Leistungen analog BSHG.
Zusätzlich zu den erwähnten Grundleistungen besteht Anspruch auf „sonstige
Leistungen, die insbesondere geleistet
werden können, wenn sie im Einzelfall zur
Sicherung des Lebensunterhalts oder der
Gesundheit unerläßlich, zur Deckung besonderer Bedürfnisse von Kindern geboten oder zur Erfüllung einer verwaltungsrechtlichen Mitwirkungspflicht erforderlich sind“ (§ 6 AsylbLG). Wichtig in diesem
Zusammenhang sind natürlich insbesondere Leistungen, die „zur Deckung besonderer Bedürfnisse von Kindern“ geboten
sind. Zu nennen sind hier etwa die für den
Schulbesuch erforderlichen Materialen,
Fahrtkosten von und zur Schule, Besuch
des Kindergartens usw. Unter § 6 kann
aber auch ein spezifischer Mehrbedarf an
Bekleidung oder ein wachstumsbedingter
Mehrbedarf an Ernährung fallen. Zu nennen sind schließlich noch Kosten , die sich
aus der Mitwirkung am Asylverfahren, also z. B. Fahrtkosten zur Anhörung, Dolmetscherkosten etc. ergeben. Nicht darunter fallen allerdings Anwaltskosten.
Diesbezüglich wird vielmehr auf die Beratungshilfe bzw. – allerdings nur bei Aussicht auf Erfolg – auf die Prozeßkostenhilfe verwiesen ( Asylverfahren).
9. Umfang der Leistungen
Der Umfang der Grundleistungen ist in § 3
AsylbLG festgelegt. Der dort beschriebene
Leistungsumfang liegt – nach Altersgruppen differenziert – mindesten 25 % unter
den Sätzen des BSHG. So soll der Wert der
Sachleistungen für die Gruppe der 7- bis
13jährigen DM 310,– zuzüglich DM 40,–
Barleistung betragen, also DM 350,– zuzüglich der notwendigen Kosten für Unterkunft, Heizung und Hausrat. Bei der
Gruppe der 14- bis 18jährigen ist der
Betrag um DM 40,– Barleistung erhöht.
Dabei ist zu beachten, das lediglich bei
Unterbringung in den Aufnahmeeinrichtungen nach § 44 Asylverfahrensgesetz
das Sachleistungsprinzip zwingend vorgeschrieben ist. Bei einer Unterbringung
außerhalb von Aufnahmeeinrichtungen
können, soweit es nach den Umständen
erforderlich ist, anstelle von vorrangig zu
gewährenden Sachleistungen, Leistungen
in Form von Wertgutscheinen oder Geldleistungen in gleichem Wert gewährt werden ( Unterbringung).11
250
11. Medizinische Versorgung12
Besonders skandalös ist die im AsylbLG
festgeschriebene Einschränkung der medizinischen Leistungen, die zur Folge hat,
daß in zahlreichen Einzelfällen die notwendige Behandlung – insbesondere chronischer Krankheiten – verwehrt oder zumindest verzögert wurde. Maßgeblich ist
hier § 4 AsylbLG , in dem festgelegt ist,
daß die erforderliche ärztliche oder zahnärztliche Behandlung einschließlich der
Versorgung mit Arzneimitteln etc. lediglich zur Behandlung akuter Behandlungen
und Schmerzuständen sicherzustellen ist.
ASYLBEWERBERLEISTUNGSGESETZ
Eine Versorgung mit Zahnersatz soll nur
erfolgen, soweit dies im Einzelfall aus medizinischen Gründen unaufschiebbar ist.
Problematisch ist hier natürlich die Abgrenzung zwischen chronischen und akuten Krankheiten. Da die seit langem angekündigten konkretisierenden Empfehlungen, die in Zusammenarbeit mit der
Bundesärztekammer erarbeitet werden
sollten, bisher nicht vorliegen und auch
die Länderrichtlinien hierzu in der Regel
wenig konkret sind, müssen die ÄrztInnen
selbst den Umfang der notwendigen medizinischen Leistungen selbst festlegen – allerdings mit der Unsicherheit, ob die Kosten anschließend auch übernommen
werden. Wichtig ist in diesem Zusammenhang nochmals der Hinweis auf § 6 Asylb
LG, in dem die sonstigen Leistungen geregelt sind. Danach können sonstige Leistungen insbesondere gewährt werden,
wenn sie zur Sicherung der Gesundheit
‘unerläßlich’ sind. Wenn auch bei wohlwollender Interpretation dieses Paragraphen eine angemessene medizinische Versorgung sichergestellt sein könnte, so tauchen doch immer wieder Fälle auf, wo
Flüchtlingen die notwendige medizinische
Hilfe bzw. medizinischen Hilfsmittel versagt werden. Dies gilt insbesondere für
den Bereich der psychotherapeutischen
Behandlung. In mehreren Städten haben
sich daher in den vergangenen Jahren
Netzwerke gebildet, die versuchen, Hilfestellung bei der ärztliche Versorgung zu
bieten (vgl. Kontaktadressen).
12. Schlußbemerkung
Überblicksartig wurden hier die Geschichte, Rechtsgrundlagen und Probleme
des Asylbewerberleistungsgesetzes dargestellt. Hinsichtlich einzelner Aspekte muß
daher auf die einschlägigen Kommentare
verwiesen werden, die allerdings bisher
nicht umfassend auf die aktuelle Gesetzeslage und Rechtsprechung eingehen.13
Der politische Wille für eine grundlegende
Reform oder gar Abschaffung des Gesetzes ist auch nach dem Regierungswechsel
nicht vorhanden, was allerdings nicht erstaunt, wurden die bisherigen Regelungen
doch bereits mit Unterstützung bzw. auf
Betreiben der SPD-geführten Bundesländer umgesetzt. Auch die angestrebte europäische Harmonisierung der sozialen
Rechte der Flüchtlinge kann angesichts
der in vielen europäischen Ländern vorgenommen Einschnitte in die Sozialleistungen der Flüchtlinge keinen Anlaß zur
Hoffnung geben ( Asyl- und Flüchtlingspolitik Europa). Nichtsdestotrotz ist es
notwendig, immer wieder die soziale Ausgrenzung der Flüchtlinge zu thematisieren und für eine Politik einzutreten, die
den Flüchtlingen ein menschenwürdiges
und selbständiges Leben ermöglicht und
ihnen Entwicklungschancen eröffnet. Die
Abschaffung des AsylbLG bleibt hierzu eine notwendige Voraussetzung.
Anmerkungen
1 Vgl. Stolleis: „Ist die generelle Kürzung der Sozialhilfe (§ 120 BSHG) für eine gesamte Personengruppe mit dem Grundgesetz und dem System des
BSHG vereinbar?“, ZDWF Schriftenreihe, Januar
1985
2 Vgl. Zuleeg: Zur Ausgliederung der Sozialhilfeleistungen an Asylbewerber und andere Ausländergruppen aus dem Bundessozialhilfegesetz, ZDWF
Schriftenreihe Nr. 28, Juli 1988
3 Vgl. Classen: Menschenwürde mit Rabatt. Das
Asylbewerberleistungsgesetz und was man dagegen tun kann. Herausgegeben von Pro Asyl, Juni
1994 (Neuauflage in Vorbereitung)
4 Vgl. Berliner VG (AZ:VG 32 A 498.98)
5 BT-Drucksache 13/11172, S.7
6 Vgl. Hinweise des Inneministeriums SchleswigHolstein zur Umsetzung des 2. Gesetzes zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes
7 Vgl. VG Berlin (VG8 A 508.98)
251
RECHT UND GESETZ
8 Vgl.: Streit/Hübschmann: Das 2. Gesetz zur Änderung des AsylbLG, ZAR 6/98, S.271
9 Vgl. hierzu: Sybille Röseler/Dr. Bernd Schult: Gutachten zum Entwurf eines 2. Gesetzes zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes, hrsg.
von der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien
Wohlfahrtspflege, April 1998
10 Vgl. hierzu ausführlich: Röseler: Kommentierung
zum AsylbLG, in: Huber: Handbuch des Ausländerund Asylrechts, Januar 1995
11 Vgl.: §3 AsylbLG Abs. 2 Satz 1
12 Vgl. hierzu ausführlich: Gefesselte Medizin. Ärztliches Handeln – Abhängig von Aufenthaltsrechten? Hrsg. von Flüchtlingsrat Berlin, Ärztekammer
Berlin und Pro Asyl , Berlin 1998
13 Zu nennen sind hier u.a. Röseler und Classen, der
regelmäßig aktuelle Übersichten über die Rechtsprechung auf der homepage von Pro Asyl erstellt;
Birk: Kurzkommentierung des AsylbLG, in: LPKBSHG, 5. Aufl. 1998; Vormeier: Gemeinschaftskommentar zum AsylbLG
Harald Löhlein
Kinderrechte
Spätestens seit dem Internationalen Jahr des
Kindes (1979) sind ‘Kinderrechte’ auf verschiedenen Ebenen zum gesellschaftlichen Dauerthema geworden. Die 1989 von der Vollversammlung der Vereinten Nationen verabschiedete und nahezu universell ratifizierte Konvention über die Rechte des Kindes hat der Diskussion nochmals Schubkraft verliehen und nimmt
insbesondere auch die Regierungen in die
Pflicht. Der folgende Beitrag stellt die in der
Konvention liegenden Chancen und Grenzen
für die Gruppe der ‘unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge’ in der Bundesrepublik
Deutschland dar und informiert über den Überwachungsprozeß, der für die Umsetzung der
Konvention unabdingbar ist.
252
1. Entstehung und Bedeutung der
Kinderrechte
1.1 Schutz, Beteiligung und Förderung
von Kindern
Aus historischer Perspektive wurden Kinder mit Beginn des Zeitalters der Aufklärung als schützenswerte Personen betrachtet. Mit der Gewährleistung von
Schutzrechten, wie z. B. Schutz vor Kinderarbeit und Vernachlässigung, wurde
ein neues historisches Projekt – die Idee
der Kinderrechte – geboren. Die Ausgestaltung der Kinderrechte erfuhr in der
Verabschiedung der Kinderrechtskonvention durch die Vereinten Nationen im Jahr
1989 insofern einen vorläufigen Höhepunkt, als Kinder und Jugendliche (0 –18
Jahre) mit ihr erstmalig als Wesen mit eigenen Wünschen, Bedürfnissen und Rechten ausdrücklich anerkannt wurden. Sie
ist die einzige Konvention, die zivile und
politische sowie wirtschaftliche, soziale
und kulturelle (Menschen-)Rechte ausschließlich für Kinder in einem Dokument
zusammenfaßt. Diese Schutzrechte wurden erweitert um Beteiligungs- und Förderrechte, im Englischen oft als die ‘3 P’s’
zitiert (protection, provision, participation). Gruppiert man die Konvention konsequent in diese Bereiche, befinden sich die
Schutzrechte allerdings immer noch in
der Überzahl. Dennoch hat die Konvention
das Umdenken, daß Kinder nicht als Objekte, sondern als Subjekte zu behandeln
sind, weltweit befördert.
1.2 Kinder als Träger von Grundrechten
In der BRDeutschland sind Kinder von Geburt an Trägerinnen aller Grundrechte
wie Erwachsene. Auch wenn nirgendwo
ausdrücklich genannt, ist das ‘Kindeswohl’ ein maßgeblicher Leitgedanke, nach
dem die neueren Gesetze, zumindest im
Familien- Kinder- und Jugendhilferecht,
ausgerichtet werden. Da es sich sowohl
KINDERRECHTE
beim Begriff ‘Wohl des Kindes’ wie auch
beim Begriff ‘Kinderrechte’ um unbestimmte Rechtsbegriffe handelt, muß ihre
Konkretisierung auf politischer Ebene
ausgehandelt werden. Diese Konkretisierung strebt die ‘National Coalition’ (NC) in
der BRDeutschland mit verschiedenen
Instrumentarien an.
Der Staat hat gegenüber den Kindern
ein Wächteramt und trägt die Verantwortung dafür, kindgerechte Lebensbedingungen zu schaffen. In bezug auf Kinderflüchtlinge tut sich der deutsche Staat jedoch
sichtbar schwer, diese Rolle auszuüben. So
garantiert das Ausländergesetz zwar noch
einen zunehmenden Ausweisungsschutz
für Kinder und Jugendliche, die im Zuge
der
Familienzusammenführung
nach
Deutschland einreisen, verweigert diesen
Schutz jedoch unbegleiteten Minderjährigen, die ihn gerade am nötigsten hätten.
Die Bundesregierung bestätigt auch in ihrer Stellungnahme im gerade erschienenen 10. Kinder- und Jugendbericht, daß
die bei der Ratifizierung der Konvention
abgegebene Erklärung zu Art. 22 bekräftigen soll, daß eine widerrechtliche Einreise
oder ein widerrechtlicher Aufenthalt von
ausländischen Minderjährigen nicht als erlaubt angesehen werden kann.
1.3 Kinderrechte in Europa
Die UN-Kinderrechtskonvention bestimmt
ebenfalls die Leitlinien für die Politik der
Europäischen Union zum Schutz und zur
Verbesserung der Situation von Kindern
und Jugendlichen in Europa. Im Vertrag
von Maastricht, der im Amsterdamer
Vertrag fortgesetzt wird, wird zum ersten
Mal im Text des Vertrages selbst auf
Menschenrechte Bezug genommen. Die
Gemeinschaft hat einige Initiativen unternommen, um die Anerkennung von Kinderrechten durch die Behandlung verschiedener Themen (z. B. Kinderarbeit,
Jugendschutz in den Medien, Prostitu-
tionstourismus oder Straßenkinder) voranzubringen. Insbesondere in Abkommen
mit Drittstaaten werden Maßnahmen gegen Verstöße gegen Menschen- und Kinderrechte entwickelt. Die Union hat auch
verschiedene Förderprogramme aufgelegt, um die Entwicklung der Rechte von
Kindern zu ermöglichen und hat durch ein
1995 beschlossenes Rahmenabkommen
eine umfassende Zusammenarbeit mit
dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF) eingeleitet.
Diese Zusammenarbeit hat die ‘Europäische Strategie für Kinder’ hervorgebracht, ein umfassendes Programm für die
aktive Umsetzung der Konvention in Europa auf regionaler, nationaler und lokaler
Ebene. Die Europäische Strategie für Kinder ruft alle Staaten auf, den Rechten des
Kindes politische Priorität einzuräumen.
Diese Strategie wurde beim 2. Gipfel des
Europarats
von
den
Staatsund
Regierungschefs der Mitgliedsstaaten verabschiedet. In der Abschlußerklärung sowie in dem dazugehörigen Aktionsplan
forderten die Staats- und Regierungschefs:
– Ein Programm für Kinder mit dem Ziel
in Zusammenarbeit mit internationalen
und nichtstaatlichen Organisationen
die Interessen von Kindern zu verteidigen.
– Schutz der Kinder – das nationale
Recht soll überprüft werden mit dem
Ziel, einheitliche Richtlinien für den
Schutz von Kindern vor inhumaner Behandlung festzulegen.
In bezug auf Kinderflüchtlinge fordert
der Europarat (Punkt 37) die Mitgliedstaaten auf, die Empfehlungen des UNHochkommissars für Flüchtlinge und asylsuchende Kinder ohne Begleitung zu berücksichtigen sowie (Punkt 38) minderjährige Flüchtlinge ohne Begleitung zwecks
Familienzusammenführung auf ihr Territorium lassen und diesen eine den Kindern des Zufluchtstaates gleichwertige
Betreuung zu gewähren (vgl. Protokoll der
253
RECHT UND GESETZ
Sitzung des Europäischen Parlaments
vom 13. September 1996). Die in der folgenden Tabelle (vgl. Fesenfeld 1997) aufgezeichneten Grundlagen und Vereinbarungen für die Rechte des Kindes machen
deutlich, daß es eine sichtbare Evolution
der Rechte des Kindes gibt. In vielen Deklarationen und Erklärungen haben sich
die verantwortlichen PolitikerInnen dazu
bekannt. Sie an ihre Versprechen zu erinnern und diese Rechte politisch einzufordern und über ihre Umsetzung zu wachen, ist vorwiegend Aufgabe der Nichtregierungsorganisationen (NROen) und
anderer Teile der Zivilgesellschaft ( Interessenvertretungen).
chen Vorgaben aus der Kinderrechtskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) widerspricht.
Hier hat es inzwischen einige Richtervorlagen an das BVerfG gegeben.
Um die Umsetzung von der zwischenstaatliche Ebene auf die innerstaatliche
voranzubringen, hat sich im Zuge der Entstehung und Umsetzung der Konvention
auf weltweiter Ebene eine Kinderrechtelobby aus nichtstaatlichen Organisationen
(Nationale Koalitionen) gebildet, die sich
zum Ziel gesetz haben, die in der Konvention liegenden Chancen im Hinblick auf
die Konsequenzen einer Subjektstellung
von Kindern politisch zu nutzen.
2. Zum Verhältnis von Völkerrecht und
innerstaatlichem Recht
2.2 Die Konvention
2.1 Völkerrecht muß innerstaatlich
umgesetzt werden
Die UN-Konvention ist ein internationales
menschenrechtliches Instrument. Nach
Art. 59 Abs. 2 GG bedarf es eines entsprechenden Vertragsgesetzes, um in der nationalen Rechtsordnung überhaupt Geltung zu erlangen (Brötel 1997). Die bei
der Ratifizierung abgegebene Interpretationserklärung der Bundesregierung hat
unter VölkerrechtlerInnen einen regelrechten Streit darüber ausgelöst, ob es
sich dabei um einen – nach der Konvention nicht zulässigen – Vorbehalt handle
oder um eine Erklärung, die den Staat
nicht davon entbindet, die erforderliche
innerstaatliche Anwendung durchzuführen. Auf juristischer Ebene müßte daher
zunächst das Bundesverfassungsgericht
darüber befinden, ob in bezug auf Kinderflüchtlinge ein verfassungswidriges Verhalten vorliegt. Interessant ist diesbezüglich ein Blick auf das deutsche Familienund Kindschaftsrecht, das in der Regelung
des Sorgerechts für nichteheliche Kinder
sowie im Umgangsrecht den völkerrechtli254
Als problematisch erweist sich hier die relativ hohe Unverbindlichkeit aufgrund des
recht unpräzise gehaltenen Wortlauts der
Konvention- ein typisches Ergebnis völkerrechtlicher Verträge, die viele unterschiedliche Interessen unter einen Hut
bringen müssen. Erschwerend kommt
hinzu, daß die Artikel der Konvention unterschiedliche ‘Rechtsqualitäten’ besitzen
und sowohl die Schutzbedürftigkeit des
Kindes betonen als auch unmittelbare
Ansprüche des Kindes enthalten.
Die Einschätzungen darüber, was diese
Konvention bewirken kann, gehen weit
auseinander. Dennoch besteht eine große
Chance darin, daß die Konvention als Mobilisator für die Interessen von Kindern an
Momentum gewinnt. Weil die Idee, daß
Kinder Rechtssubjekte sind, noch sehr
jung ist, bedarf es großer Anstrengungen,
um sie ‘gesellschaftsfähig’ zu machen.
Verhellen (1997, S. 16) nennt fünf grundsätzliche Anforderungen, damit der legale
Schutz von Rechten mehr als nur ein gesetzliches Verfahren ist:
„1.Man muß Rechte haben
2. Man muß seine Rechte kennen
3. Man muß seine Rechte ausüben kön-
KINDERRECHTE
nen
4. Man muß seine Rechte, wenn nötig,
geltend machen können
5. Es muß eine Interessengemeinschaft
geben, die sich für die Rechte einsetzt“
In bezug auf die Situation von Kinderflüchtlingen in der BRDeutschland sind
nur noch sehr enge gesetzliche Spielräume vorhanden, die von engagierten RechtsanwältInnen genutzt werden können. Die
bestehende Interessengemeinschaft derjenigen, die sich um diese Kinder kümmert,
muß sich deshalb möglichst gut vernetzen, um den Kindern eine schnelle und
unbürokratische Unterstützung zukommen lassen zu können. Dabei können
auch die Nationalen Koalitionen eine stützende Rolle übernehmen, indem sie ihre
Kontakte zur UN-Ebene nutzen und die
Situation der Kinder bei dem Auschuß für
die Rechte des Kindes bekannt machen.
3. Zum Verhältnis von Recht und Politik
Die Behandlung von Kinderflüchtlingen in
der BRDeutschland wie auch vielen anderen europäischen Ländern ( Aufnahmeländer) bestätigt folgende Feststellung der
ExpertInnenkommission des 10. Jugendberichts: „Recht ist kein Ersatz für Politik:
Politik setzt Werte und hat die Aufgabe,
sie auszugestalten. Dafür kann Recht ein
Mittel sein. Es ist dabei von wirtschaftlichen und sozialpolitischen Interessen und
den daran gebundenen politischen Mehrheiten abhängig, aber auch von den bei
politischen Entscheidungen erforderlichen
Kompromissen. Recht kann daher auch
Widersprüchlich sein.“ (BMFSFJ, 1998, S.
158).
Ein solcher Widerspruch manifestiert
sich in der BRDeutschland – oft mit tragischen Auswirkungen für ihren Lebensweg
– bei allen Kindern, die einen ungesicherten rechtlichen Aufenthaltsstatus haben.
Nach Auffassung der NC findet damit bereits ein erster Vertragsbruch statt, denn
mit der Ratifizierung der Konvention haben sich die Staaten in Artikel 2 verpflichtet, die Rechte jedem ihrer Hoheitsgewalt
unterstehenden Kind zu gewährleisten.
Dazu gehören in jedem Fall die ‘unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge’ ( Kinderflüchtlinge).
Daß die Aushöhlung der Rechte von
Flüchtlingen und AsylbewerberInnen
trotz internationaler Übereinkommen
selbst vor Minderjährigen keinen Halt
macht, zeigt auf, daß für den notwendigen
Konkretisierungsprozeß nur eine sehr
starke Kinderrechtelobby Veränderungen
zu Gunsten von Kindern bewirken kann.
Gleichzeitig zeigt die Behandlung der ‘unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge’
wie auch generell aller Kinder, die einen
ungesicherten rechtlichen Aufenthaltsstatus haben, daß in der BRDeutschland für
die Rechte von Kindern mit zweierlei Maß
gemessen wird. So wird Privatrecht sowie
Familien-, Kinder- und Jugendhilferecht
in der Praxis nachrangig gegenüber dem
Ausländer- und Asylrecht behandelt. Möglicherweise besteht deshalb die einzige
Chance, dieses Verhältnis aufzubrechen,
darin, die Einbindung der Konvention in
die internationale Überwachungsebene
als strategisches und politisches Druckmittel stärker zu nutzen.
Die relevanten Rechtsbereiche für Kinderflüchtlinge (MSA, KJHG, BGB, AuslG,
AsylVfG, Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte, EMRK, KRK) werden in diesem Handbuch an verschiedenen Stellen
behandelt ( Asylverfahren, Gesetzliche Grundlagen, Kinderflüchtlinge).
Bis auf die internationalen Abkommen
sind sie dadurch gekennzeichnet, daß der
Schutz von Kinderflüchtlingen mit Beginn
des sog. Asylkompromisses immer stärkeren Einschränkungen unterworfen wurde.
Diese Politik schlägt sich in der Praxis nieder in der formalrechtlichen Abschiebung
von Kindern ( Abschiebung), selbst wenn
diese bereits in die deutsche Gesellschaft
255
RECHT UND GESETZ
integriert, eine neue Heimat und adoptionsbereite Familien gefunden haben (
Adoption).
Deshalb sollte nach Meinung der NC
der anstehende Zweitbericht der Bundesregierung an den UN-Ausschuß für die
Rechte des Kindes (fällig im April 1999)
genutzt werden, um die internationale Öffentlichkeit auf die Situation in der BR
Deutschland aufmerksam zu machen.
Zum besseren Verständnis soll dieser
Überwachungsmechanismus deshalb beschrieben werden.
4. Die Rolle der Nichtstaatlichen
Organisationen (Nationale
Koalitionen)
Allgemein betrachtet ist die Funktion der
Nationalen Koalitionen nur nachvollziehbar, wenn man den internationalen Kontext, in dem die UN-Konvention entstanden ist, berücksichtigt. Bemerkenswert ist
neben der schnellen nahezu universellen
Ratifizierung, daß es auch das einzige internationale Abkommen ist, das Nichtregierungsorganisationen (im folgenden
NROen) explizit eine wichtige Rolle für die
Überwachung und Kontrolle der Umsetzung zuspricht: Artikel 45 (a) „Der Ausschuß kann, wenn er dies für angebracht
hält, die Sonderorganisationen, das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen und
andere zuständige Stellen einladen, sachkundige Stellungnahmen zur Durchführung des Übereinkommens auf Gebieten
abzugeben, die in ihren jeweiligen Aufgabenbereich fallen.“
Eine Gruppe von ca. 40 international
tätigen NROen hat sowohl maßgeblich zur
Entstehung der Konvention beigetragen
als auch dafür gesorgt, daß die Überwachungsarbeit des Umsetzungsprozeßes
(‘Monitoring’) weiterhin vorangetrieben
und begleitend unterstützt wird. Es ist
vornehmlich dieser Gruppe zuzuschreiben, daß der UN-Ausschuß für die Rechte
256
des Kindes, der die Staatenberichte entgegennimmt und die Regierungen zum Gespräch einlädt, die NROen auch weiterhin
als wichtige Partner in den Dialog miteinbezieht. Eine Liaisonstelle in Genf sorgt
für den notwendigen Kommunikationsprozeß zwischen den NROen und dem UNAusschuß für die Rechte des Kindes. Weltweit gibt es in ca. 60 Ländern bereits
Nationale Koalitionen, die die Umsetzung
der Konvention vorantreiben. Diese haben
die Möglichkeit, sich zweimal jährlich in
Genf zu einem Erfahrungsaustausch zu
treffen. Im März 1998 hat die deutsche NC
das erste europäische Regionaltreffen ausgerichtet, auf dem sich eine Arbeitsgruppe
mit der Situation von Kinderflüchtlingen
und der Möglichkeit der transnationalen
Zusammenarbeit befaßte.
4.1 Monitoring
Die Nationalen Koalitionen, die in vielen
Ländern erst mit der Verabschiedung der
UN-Konvention entstanden sind, können
durchaus als ‘politische Kinder’ des Übereinkommens betrachtet werden. Einer
ihrer Hauptvorteile liegt darin, daß die beteiligten Organisationen durch Einbringen
ihrer spezifischen Fachexpertise für unterschiedliche Teilgebiete der in der
Konvention verbrieften Rechte einen umfassenderen Umsetzungsprozeß, als dieses für einen einzigen Verband möglich
wäre, bewerkstelligen können. Aus diesem Grund begrüßt es der UN-Ausschuß
sehr, wenn sich verschiedene Organisationen zusammenschließen.
Die derzeit bestehenden Nationalen
Koalitionen in der Welt sind zwar unterschiedlich strukturiert, aber alle arbeiten
intensiv an der Umsetzung der UN-Konvention. Dabei gehen sie unterschiedlichen Aktivitäten nach, wie z. B. der
– Durchführung von Kampagnen zur
Bewußtseinsbildung
– Beobachtung und Kontrolle der Regie-
KINDERRECHTE
rungen bei der Umsetzung der Konvention
– Sammlung von Daten zur Situation und
zum Status von Kindern in den Ländern
– Bereitstellung von Informationen für
die Regierung
– Erarbeitung und Verbreitung von Reformvorschläge im Sinne der UN-Konvention
4.2 Zur Rolle der deutschen ‘National
Coalition’
Die Entstehung und formelle Gründung
der deutschen ‘National Coalition’ im Rahmen ihres ersten Offenen Forums am 24.
Mai 1995 ist eher dem Vorbild auf internationaler Ebene gefolgt und letztendlich
nicht aus einem originären Bedürfnis
deutscher Kinder- und Jugend(hilfe)verbände entstanden. Zum heutigen Zeitpunkt haben sich ca. 90 bundesweit tätige
Organisationen aus einem sehr breiten
fachlichen Spektrum in der ‘National Coalition’ zusammengeschlossen, um ihren
Willen zur Umsetzung der UN-Konvention
in der BRDeutschland deutlich zu machen. Sie fungiert als Bindeglied zwischen
dem UN-Ausschuß für die Rechte des
Kindes, der NGO-Group (NRO-Gruppen)
und dem Bundesministerium für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ),
mit dem es sich in regelmäßigen Abständen über die Probleme und Fortschritte
bei der Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention austauscht.
Der ‘Ausschuß für die Rechte des Kindes’ empfiehlt bei der Behandlung der
Erst- und Zweitberichte der Vertragsstaaten in bezug auf Artikel 22, daß die vom
UNHCR erarbeiteten Richtlinien von 1994
(Guidelines on Protection and Care) und
1997 (Richtlinien über allgemeine Grundsätze und Verfahren zur Behandlung asylsuchender unbegleiteter Minderjähriger)
beachtet werden, da diese Richtlinien
konkrete Vorschläge enthalten. Der Aus-
schuß fragt in diesem Zusammenhang
auch ab, inwieweit die mit Art. 22 in enger
Verbindung stehenden Artikel 7 (Name
und Staatsangehörigkeit), Artikel 8 (Identität), Artikel 9 (Trennung von den Eltern,
persönlicher Umgang), Artikel 10 (Familienzusammenführung), Artikel 16 (Schutz
der Privatsphäre und Ehre), Artikel 20
(Von der Familie getrennt lebende Kinder), Artikel 30 (Minderheitenschutz),
Artikel 37 (Verbot der Folter, Todesstrafe,
lebenslanger Freiheitsstrafe), Artikel 38
(Schutz bei bewaffneten Konflikten) und
Artikel 39 (Genesung und Wiedereingliederung geschädigter Kinder) umgesetzt
werden.
Im Jahr 1999 steht der zweite Bericht
der Bundesregierung an den UN-Ausschuß an. Es ist bereits abzusehen, daß
viele der von dem UN-Ausschuß im Rahmen des Erstberichts aus den abschliessenden Beobachtungen resultierenden
Empfehlungen nicht erfüllt sein werden,
wenn die Bundesregierung bis dahin nicht
noch erhebliche Anstrengungen unternimmt.
5. Ausblick und Handlungsanregungen
Bereits in der sehr kurzen Zeit ihres Bestehens hat die Arbeit der NROen (Nationalen Koalitionen) in der ganzen Welt
und auch der deutschen NC deutlich gemacht, daß die aktive Umsetzung völkerrechtlicher Konventionen, eines ständigen
Motors und Überwachungsmechanismus
bedarf, um ihre Umwandlung in innerstaatliches Recht zu sichern. Soll die ‘National Coalition’ jedoch auch in Zukunft
mehr als nur ein Hoffnungsträger sein,
dem angesichts der sozialen Wirklichkeit
nur mehr bleibt, das Banner der Kinderrechte gegen den Wind ökonomisch gerechtfertigter (Spar-)zwänge hochzuhalten, sollte das vorhandene Instrumentarium dadurch genutzt werden, daß Berichte über die konkreten Probleme von
257
RECHT UND GESETZ
Kinderflüchtlingen und die Verletzung ihrer Rechte in der Stellungnahme der NC
zum Zweitbericht Eingang finden.
Darüber hinaus können folgende Aktivitäten dazu beitragen, um die Situation
von Kinderflüchtlingen zu verbessern:
– Positiv- und Negativbeispiele über die
Behandlung von ‘unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen’ in der BR
Deutschland
– Grenzüberschreitende Zusammenarbeit mit anderen NROen
– Kritische Überwachung der Umsetzung
– Einforderung von regelmäßigen Berichten über die Situation von Kinderflüchtlingen auf Länder- bzw. kommunaler Ebene
– Schulung von AnwältInnen, MitarbeiterInnen von Behördern, GrenzbeamtInnen über Menschen- und Kinderrechte
– Öffentlichkeitsarbeit der BetreuerInnen
von Kinderflüchtlingen
Literatur
Tips zum Weiterlesen:
Brötel, Achim: Kinderrechte – Staatenpflichten: Überlegungen zum Verhältnis von Völkerrecht und innerstaatlichem Recht in der aktuellen Reformdiskussion
in National Coalition 1997, Tagungsdokumentation
des Ersten Deutschen Kinderrechtetages: Das Recht
des Kindes auf Achtung, AGJ 1997, S. 19-30
BMFSFJ: 10. Kinder- und Jugendbericht, Bonn 1998
Massimo Toschi: Chronology of the Legal Evolution of
Children’s Rights. European Forum for Child Welfare,
1997
Fesenfeld, Bergit: Presse und Öffentlichkeitsarbeit für
Kinderrechte. Ein Praxisbuch, Verlag an der Ruhr,
1997
National Coalition: Ergebnisse des ersten Dialogs zwischen dem UN-Ausschuß für die Rechte des Kindes
und der Bundesregierung über den Erstbericht zur
Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention, AGJ
1996
UNICEF: Implementation Handbook for the Convention on the Rights of the Child, New York 1998
258
Verhellen, Eugen: Die Konvention über die Rechte des
Kindes – Internationale Perspektiven, in: Tagungsdokumentation des ersten Deutschen KinderrechteTages, a. a. O.
Beate Schmidt-Behlau
Minderjährigkeit /
Vorgezogene
Volljährigkeit
Die Regelungen der Volljährigkeit, die im BGB
und im KJHG festgelegt sind, werden sowohl
vom Asylverfahrensgesetz (AsylVfG), als auch
von zahlreichen Behörden unterlaufen. Es wird
dargestellt, warum in vielen Kommunen und
Ländern schon 16jährige Kinderflüchtlinge wie
Volljährige behandelt werden und welche Konsequenzen dieses Vorgehen für die Jugendlichen hat.
Als Minderjährige gelten in der Bundesrepublik Deutschland offiziell alle Kinder
und Jugendlichen, die das Alter der Volljährigkeit noch nicht erreicht haben. Gemäß § 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches
(BGB) tritt die Volljährigkeit mit der Vollendung des 18. Lebensjahres ein. Diese
vollzieht sich am 18. Geburtstag. Der Ausdruck ‘Minderjährige’ wird sowohl für
Kinder als auch für Jugendliche verwendet. Als Kinder gelten in der Bundesrepublik Deutschland nach § 7 des Kinder- und
Jugendhilfegesetzes diejenigen Minderjährigen, die noch nicht 14 Jahre alt sind,
d. h., die das 14. Lebensjahr noch nicht
vollendet haben. Als Jugendliche gelten
diejenigen Minderjährigen, die bereits 14
Jahre aber noch nicht 18 Jahre alt sind,
d. h., die das 14. Lebensjahr aber noch
nicht das 18. Lebensjahr vollendet haben.
Die Altersgrenze der Volljährigkeit in
der Bundesrepublik korrespondiert auf in-
M I N DE RJÄH R IG KE IT / VORG E ZOG E N E VOLLJÄH R IG KE IT
ternationaler Ebene zum einen mit der in
Artikel 12 des Haager Minderjährigenschutzabkommens niedergelegten Definition: „Als Minderjähriger [...] ist anzusehen, wer sowohl nach dem innerstaatlichen Recht des Staates, dem er angehört,
als auch nach dem innerstaatlichen Recht
des Staates seines gewöhnlichen Aufenthaltes minderjährig ist,“ und zum anderen mit der in Artikel 1 der ‘UN-Konvention über die Rechte des Kindes’ definierten Altersgrenze: „Kind im Sinne des Übereinkommens ist jeder Mensch, der das
achtzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet hat, soweit die Volljährigkeit nach dem
auf das Kind anzuwendende Recht nicht
früher eintritt.“ Für unbegleitete Flüchtlinge gelten in der Bundesrepublik jedoch
faktisch andere Altersgrenzen, die durch
die offensichtliche und bewußte Fehlinterpretation ihrer Handlungsfähigkeit im
Sinne des Asylverfahrensgesetzes entstanden sind. Diese Handlungsfähigkeit beschränkt sich eigentlich per Definition nur
auf ihre Fähigkeit im Sinne des § 12 Satz 1
des Asylverfahrensgesetzes, Asylverfahrenshandlungen selbst vorzunehmen:
„Fähig zur Vornahme von Asylverfahrenshandlungen nach diesem Gesetz ist
auch ein Ausländer, der das 16. Lebensjahr vollendet hat [...].“
Diese Handlungsfähigkeit bei Asylverfahrenshandlungen wird von den zuständigen Behörden (insbesondere auch von
Jugendämtern!) in vielen Bundesländern
jedoch als grundsätzliche Handlungsfähigkeit interpretiert. So erläutert z. B. das
Hamburger Amt für Jugend, unbegleitete
minderjährige Flüchtlinge seien junge
Menschen, die ausweislich ihrer Dokumente oder durch Festlegung der Ausländerbehörde bei ihrem Erstkontakt mit
dem für sie zuständigen Bezirksamt das
16. Lebensjahr noch nicht vollendet haben
(1995, S. 2). Auch die Berliner Senatsverwaltung für Jugend und Familie geht davon aus, daß es sich um „Personen unter
16 Jahren“ handelt (1994, S. 1). Das Hes-
sische Landesjugendamt schließt Minderjährige, die das 16. Lebensjahr vollendet
haben, nicht aus der Gruppe der Minderjährigen aus, weist aber darauf hin, daß
nur die Minderjährigen, die das 16. Lebensjahr nicht vollendet haben, in die
Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe
einbezogen werden (1996, S. 1). In Bayern
gilt die Regelvermutung, daß es sich bei
unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen um Kinder und Jugendliche unter 16
Jahren handelt (Stadtjugendamt München
1996, S. 1).
Faktisch gelten unbegleitete Flüchtlinge in der Bundesrepublik also nur bis zur
Vollendung des 16. Lebensjahres, d. h. bis
zu ihrem 16. Geburtstag als minderjährig.
Dieser Umstand kann für die für die 16und 17-jährigen zu weitreichenden Konsequenzen führen. Haben sie bei ihrer
Einreise in die Bundesrepublik das 16.
Lebensjahr schon vollendet:
– erhalten sie in den meisten Fällen keinen Vormund. Sie müssen zum einen
ihr Asylverfahren ohne Beistand betreiben und bleiben zum anderen auch in
ihren persönlichen Belangen (z. B.
Schulbesuch, Ausbildung, Vermögensverwaltung) auf sich allein gestellt,
– werden sie als handlungsfähige AsylantragstellerInnen gemäß § 47 AsylVfG
zum Aufenthalt in einer Aufnahmeeinrichtung und anschließend in einer
Gemeinschaftsunterkunft verpflichtet,
– werden sie gemäß § 46 AsylVfG in die
bundesweite Verteilung einbezogen.
Nur in Ausnahmefällen können die Jugendlichen einen individuellen Hilfe- oder
Betreuungsbedarf nachweisen und in einer Erstunterbringungseinrichtung oder
einer der wenigen spezifischen Einrichtungen für Kinderflüchtlinge ab dem 16. Lebensjahr betreut werden (vgl. Hamburger
Senat 1993, S. 3; Berliner Senatsverwaltung für Jugend und Familie 1991, S. 11;
Hessisches Landesjugendamt 1996, S. 1;
Stadtjugendamt München 1996, S. 16).
259
RECHT UND GESETZ
Aber auch jungen Flüchtlingen, die das
16. Lebensjahr nach der Einreise in die
Bundesrepublik vollenden, drohen Konsequenzen:
– sie können in einer weniger intensiven
Betreuungsform untergebracht werden,
– sie können aus einer Einrichtung der
Kinder- und Jugendhilfe herausgenommen und in Gemeinschaftsunterkünften
einquartiert werden.
Die Entscheidungen über die Gewährung bzw. den Entzug der minderjährigengerechten Behandlung sind in diesem
Fall nicht durch einheitliche schriftliche
Vorgaben reglementiert. Sie werden von
den zuständigen Jugendbehörden getroffen und liegen in deren Ermessen.
Aufgrund der vorliegenden Erkenntnisse kann festgehalten werden, daß trotz
der klaren Definition des Begriffes „Minderjährigkeit“ in manchen Bundesländern
eine Ungleichbehandlung Minderjähriger
vor und nach Vollendung des 16. Lebensjahres stattfindet. Motive für diese Benachteiligung werden zwar nicht öffentlich formuliert, sind jedoch in der Kostenersparnis zu suchen, die durch die bundesweite
Verteilung und die geringere Anzahl an zu
betreuenden Minderjährigen entsteht. Die
zuständigen Jugendbehörden sind aufgerufen, ihrer originären Aufgabe nachzukommen und im Sinne der Minderjährigen
tätig zu werden. Dieses gilt sowohl hinsichtlich grundsätzlicher Bestimmungen
als auch in der Ermessensregelung im
Einzelfall. In den Fällen, in denen Jugendbehörden die Benachteiligung Minderjähriger aufgrund ihres Alters unterstützen
bzw. nicht deutlich gegen diese Benachteiligung vorgehen, rückt das Wohl des
Kindes in den Hintergrund. Aus diesem
Grund sollte dringend überörtlich festgelegt werden, daß asyl- und ausländerrechtliche Bestimmungen nicht dazu verwendet werden dürfen, das Kinder- und
Jugendhilferecht massiv einzuschränken.
260
Literatur
Berliner Senat/Senatsverwaltung für Jugend und Familie: Beratung und Betreuung alleinstehender minderjähriger Asylbewerber/innen und unbegleiteter
minderjähriger Flüchtlinge in der Zuständigkeit des
Jugendamtes vom 15.4.1991. Berlin 1991
Berliner Senat/Senatsverwaltung für Jugend und Familie: Ausführungsvorschriften über die örtliche Zuständigkeit auf dem Gebiet der Jugendhilfe in Fällen,
in denen diese an den tatsächlichen Aufenthalt anknüpft vom 21.9.1994. Berlin 1994
Hamburger Senat: Dringlicher Antrag: Anpassung der
Unterbringungskapazitäten und der finanziellen und
personellen Ressourcen an die gestiegenen Zugangszahlen von Asylbewerbern, Aussiedlern, Bürgerkriegsflüchtlingen. Hamburg Dr. 14/3524 v. 9.2.
1993
Hamburger Senat/Behörde für Schule, Jugend und
Berufsbildung/Amt für Jugend: Fachliche Weisung:
Hilfen für junge Flüchtlinge unter 16 Jahren. Hamburg
2/1995
Hessisches Landesjugendamt: Standortbeschreibung. Betreuung von unbegleiteten Flüchtlingen/
Asylbewerbern in Hessen. Wiesbaden 10/1996
Stadtjugendamt München: Leitfaden zu pädagogischen Arbeit mit unbegleiteten Flüchtlingen im Stadtjugendamt München. München 1996
Silke Jordan
E I N WA N D E R U N G S G E S ETZ
Einwanderungsgesetz
Im folgenden werden Chancen und Grenzen einer Einwanderungsgesetzgebung erörtert.
Hierzu wird geklärt, welche Funktion Einwanderungsgesetze in einer geschlossenen Welt
der Nationalstaaten erfüllen, sodann wird am
Beispiel des klassischen Einwanderungslandes
Kanada die gängige Gestalt von Einwanderungsgesetzen dargelegt und schließlich die
Kontroverse um ein Einwanderungsgesetz für
das ‘Nicht-Einwanderungsland’ BRD skizziert.
Eine wesentliche Folgerung wird sein, daß es
vor dem Hintergrund der gegebenen Zuwanderungssituation in der BRD (a) notwendig erscheint, Fragen der Einwanderung und Fragen
des Asyls voneinander zu trennen, um (b) innerhalb des Einwanderungsgesetzes einen
Gestaltungsspielraum für die Aufnahme von
Flüchtlingen zu schaffen, die nicht der engen
Definition des Grundrechts auf Asyl entsprechen.
1. Einwanderungsgesetz und
Nationalstaat
1689 konnte John Locke in seinem berühmten Traktat ‘Über die Regierung’ allen Migrationswilligen noch den Rat geben, „fortzugehen und sich irgendeinem
anderen Staatswesen einzuverleiben, oder
mit anderen übereinzukommen, ein neues
zu begründen in vacuis locis, in irgendeinem Teil der Welt, den sie frei und herrenlos finden“ (Locke 1974, S. 94). In der modernen Welt jedoch treffen freiwillige ArbeitsmigrantInnen
und
unfreiwillige
Flüchtlinge, wohin sie sich auch wenden,
auf die Grenzen von Nationalstaaten. Diese Staaten beanspruchen ein klar abgegrenztes Territorium und definieren einen
bestimmten Personenkreis als ihre Mitglieder (‘Staatsbürger’), während sie den
Rest der Welt als ‘Nicht-Bürger’ bzw.
AusländerInnen ausgrenzen (vgl. Brubaker). Im Sinne nationalstaatlicher Ideologie obliegt es legitimerweise der souveränen Entscheidung der Staaten, wer Zugang zum Staatsgebiet erhält und in den
Personenverband aufgenommen wird.
Einwanderungs- und Staatsangehörigkeitsgesetze dienen dazu, diese formalrechtliche (zu unterscheiden von der sozialen) Integration zu regeln. Einwanderungsgesetze bestimmen über Zugang und
dauerhafte Niederlassung auf dem Territorium eines Staates. Das Staatsangehörigkeitsrecht entscheidet über die Aufnahme
als volles Mitglied mit allen bürgerlichen,
politischen und sozialen Rechten. Einwanderungsgesetze dienen deshalb in erster
Linie den innen- (Bevölkerungsentwicklung, Arbeitskräftebedarf usw.) und aussenpolitischen Eigeninteressen (internationale Reputation, Systemkonkurrenz im
Kalten Krieg usw.) eines Staates. Rein humanitäre Erwägungen spielen dagegen eine untergeordnete Rolle.
Einwanderungsgesetze erfüllen also die
Funktion, den Zuzug von AusländerInnen
zu steuern (anwerben, auswählen, begrenzen). Sie legen dazu i.d.R. Quoten fest,
welche die angestrebte Höchstzahl von
EinwandererInnen angeben, und definieren bestimmte Kriterien, um eine qualitative Auswahl unter den BewerberInnen
vorzunehmen. Das Staatsangehörigkeitsrecht legt fest, wer ‘Staatsbürger’ ist und
wie die Staatsbürgerschaft erworben wird.
Grundsätzlich gibt es hier drei Möglichkeiten: (1) die Abstammung von jemandem, der bereits Staatsbürger ist (ius sanguini), (2) die Geburt auf dem Territorium
des Staates (ius soli) und (3) die Einbürgerung. Um eine klare Integrationsperspektive zu eröffnen, müssen Einwanderungsgesetz und Staatsangehörigkeitsrecht aufeinander abgestimmt sein.
2. Einwanderungsgesetz – die internationale Perspektive
Kanada gilt – neben den USA und Australien – als klassisches Einwanderungsland.
Existenz und Gestalt dieser Staaten verdanken sich wesentlich Einwanderungs261
RECHT UND GESETZ
prozessen. Entsprechend verfügen diese
Staaten über eine lange Erfahrung staatlicher Einwanderungsregulierung. Im internationalen Vergleich gilt gerade das kanadische Einwanderungsgesetz (1976/78)
als ebenso vorbildlich wie richtungweisend. Dennoch ist zunächst festzustellen,
daß auch die kanadischen Einwanderungsrichtlinien bis in die frühen 1960er
Jahre rassistische Züge aufwiesen.
Einerseits wurde nämlich seit Ende des
19. Jahrhunderts durch Werbeagenturen
gezielt die Einwanderung aus Westeuropa
gefördert, andererseits wurde die Einwanderung unerwünschter, als ‘nicht assimilierbar’ geltender Volksgruppen (sog.
weniger wertvoller Rassen, lesser breeds)
behindert. Dies traf insbesondere chinesische MigrantInnen (vgl. Chinese Immigration Act 1923), aber auch für die vom Nationalsozialismus vertriebenen jüdischen
Flüchtlinge der 30er Jahre blieben die kanadischen Grenzen weitgehend geschlossen. Erst der Arbeitskräftemangel der
Nachkriegszeit öffnete in größerem Umfang die Grenzen für die vorher als ‘unerwünscht’ geltenden ArbeitsmigrantInnen
und Flüchtlinge aus Süd- und Osteuropa.
Es dauerte aber noch bis in die 1970er
Jahre, bis die reale Einwanderungssituation (illegale Einwanderung; Flüchtlinge
aus Südamerika, Afrika und Asien) ein gestiegenes öffentliches Bewußtsein für Rassendiskriminierung im Zusammenhang
der Bürgerrechtsbewegung der 60er Jahre und schließlich die Besorgnis um die internationale Reputation Kanadas zur
grundlegenden Reform des Einwanderungsgesetzes führten.
Das neue kanadische Einwanderungsgesetz von 1978 ist folgenden Grundsätzen verpflichtet: „Kanadische Einwanderungspolitik muß ... frei sein von rassischer, ethnischer oder religiöser Diskriminierung. Sie soll demographische, ...
ökonomische, soziale und kulturelle Ziele
unterstützen..., der Familienzusammen262
führung dienen und Kanadas internationalen Verpflichtungen hinsichtlich der
Flüchtlingspolitik gerecht werden“ (Vogelsang 1994, S. 201). Den in diesen Richtlinien bereits angedeuteten „Balanceakt
zwischen Humanität und nationalem Egoismus“ (ebd., S. 206) versucht die Einwanderungsgesetzgebung zu vollbringen,
indem jährlich eine Gesamtquote aufzunehmender EinwandererInnen festgelegt
wird, die nach bestimmten Einwanderungskategorien (ökonomisch, sozial oder
humanitär) in Teilquoten untergliedert
wird. Dies bedeutete beispielsweise für
das Jahr 1995, daß 45 % einer Gesamtzuwanderungsquote von 250.000 für ArbeitsmigrantInnen (ArbeitnehmerInnen
und Unternehmer-/InvestorInnen) und deren Angehörige, 34 % für Familienzusammenführung und 21 % für Flüchtlinge reserviert wurden. Die Festlegung der Gesamtquote und Differenzierung in Untergruppen obliegt der eigens dafür eingerichteten Canadian Employment and Immigration Commission, die ein Spiegelbild
aller gesellschaftlichen Interessengruppen
darstellen soll. Die Vorschläge der Kommission, die sich insbesondere an demographischen und arbeitsmarktpolitischen
Bedarfen orientiert, werden schließlich
dem Parlament vom zuständigen Minister
zur endgültigen Entscheidung vorgelegt.
Die Auswahl der ArbeitsmigrantInnen
erfolgt nach einem ausgeklügelten Punktesystem, daß Bildung, Berufserfahrung,
Alter, Sprachkenntnisse der BewerberInnen bzw. bei potentiellen UnternehmerInnen die Höhe des zu investierenden Kapitals und die Zahl zu schaffender Arbeitsplätze berücksichtigt. Die Familienzusammenführung ist großzügig geregelt.
Neben Ehepartnern und Kindern berücksichtigt sie auch Großeltern, Enkel, Geschwister, Neffen/Nichten usw. Schließlich
bindet das kanadische Einwanderungsgesetz auch die Flüchtlings- und Asylpolitik des Landes. Die Gesetzgebung ist da-
E I N WA N D E R U N G S G E S ETZ
bei einerseits auf die Grundsätze der
Genfer Flüchtlingskonvention (GFK; 1951)
verpflichtet, erlaubt jedoch darüber hinaus bei der Festlegung der sogenannten
designated persons Fluchtsituationen und
Fluchtgründe zu berücksichtigen, die über
die enge – in der Praxis unzureichende –
Definition der GFK hinausgehen. Die Möglichkeit, einem erweiterten Personenkreis
den Flüchtlingsstatus zuzuerkennen, ist
angesichts der Flüchtlingssituation Ende
des 20. Jahrhunderts von entscheidender
Bedeutung, denn einerseits muß auch das
Schicksal jener berücksichtigt werden, die
auf ihrer Flucht die Grenzen ihres Heimatlandes zunächst nicht überschreiten
(Binnenflüchtlinge), zum anderen muß der
Tatsache Rechnung getragen werden, daß
der Flüchtling der Gegenwart längst nicht
mehr dem klassischen politischen Flüchtling entspricht. Verfolgung und Unterdrückung sind nicht mehr ausschließlich
gezielten staatlichen Handlungen zuzurechnen, sondern gehen zunehmend von
konkurrierenden gesellschaftlichen Gruppen, z. B. anderer Ethnien, religiöser Fundamentalismus usw., aus ( Ursachen
und Dimensionen). Auch das Bewußtsein
für spezifische Formen der Unterdrükkung unterliegt einem steten Wandel. So
entstand in den letzen Jahren eine zunehmende Sensibilität für geschlechtsspezifische Verfolgungstatbestände ( Mädchen). Erwähnenswert ist ferner, daß das
kanadische Einwanderungsgesetz im Bereich Flucht/Asyl ausdrücklich ein refugee
sponsorship fördert, d. h. Privatpersonen
und
Nicht-Regierungsorganisationen
(NRO) wird ein großer Freiraum eingeräumt, sich an der Aufnahme und Betreuung von Flüchtlingen zu beteiligen.
In der Gesamtbewertung zeigt sich, daß
das neue kanadische Einwanderungsgesetz zu einer deutlichen Verlagerung der
ethnischen Struktur der Einwanderung
geführt hat. „Waren zu Beginn der 60er
Jahre 80 % aller Immigranten europäi-
scher Abstammung, so kommen derzeit
knapp 80 % aus der sog. Dritten Welt.“
(Vogelsang, S. 207) Wie kaum eine andere
Gesellschaft begreift sich die kanadische
als multikulturelle. Bei aller Weltoffenheit
und Liberalität des kanadischen Einwanderungsgesetzes ist aber auch festzustellen, daß mit der Zunahme der sogenannten visible minorities Überfremdungsängste, Diskriminierung und Rassismus erneut zugenommen haben, ebenso, wie auf
die seit den 80er Jahren steigende Zahl
der Asylsuchenden ähnlich wie in anderen
Industrieländern mit rechtlichen Restriktionen reagiert wurde: Der Gebrauch von
Rechtsmitteln wurde eingeschränkt, der
Instanzenweg verkürzt, die Abweisung
von Flüchtlingen aus ‘sicheren Drittstaaten’ erwogen.
3. Einwanderungsgesetz für ein
‘Nicht-Einwanderungsland’
Die Bundesrepublik Deutschland ist kein
Einwanderungsland – so kann man es in
regierungsamtlichen
Verlautbarungen
nachlesen. Gleichzeitig besteht in der Migrationsforschung Einigkeit darüber, daß
die Geschichte der Bundesrepublik wesentlich von großen Migrationsströmen
geprägt wurde (Vertriebene; Gastarbeiter), und daß der Zuwanderungsdruck der
letzen Jahre (Asylsuchende, ‘Spätaussiedler’, Familiennachzug) die Bundesrepublik – gemessen an der Zuwanderungsrate
– in eine Spitzenposition als Einwanderungsland gebracht hat. Der Widerspruch
zwischen real existierender Einwanderungssituation und deren Verkennung seitens der offiziellen Regierungspolitik (der
SPD/FDP in den 70er und 80er Jahren
ebenso wie der CDU/CSU/FDP-Koalition in
den 80er und 90er Jahren) spiegelt sich in
einer inkonsistenten, von aktuellen Krisenphänomenen und politischen Stimmungen mehr getriebenen als politisch
gestaltenden Zuwanderungs- und Integra263
RECHT UND GESETZ
tionspolitik ( Einwanderungspolitik). Die
Regelung der Zuwanderung erfolgt in einer unübersichtlichen, auf unterschiedliche Migrationsgruppen zugeschnittenen
Fülle von Gesetzen (Grundgesetz, Asylverfahrensgesetz, Bundesvertriebenen- und
-flüchtlingsgesetz, Ausländergesetz usw.).
Die Möglichkeit der Einbürgerung als
möglicher Abschluß des Einwanderungsprozesses wird weiterhin nach dem der
gegenwärtigen
Zuwanderungssituation
kaum noch angemessenen Reichs- und
Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913 bestimmt ( Asyl- und Flüchtlingspolitik
BRD).
Vor diesem Hintergrund wird seit Jahren eine ebenso kontroverse wie emotionale Debatte um die Notwendigkeit eines
Einwanderungsgesetzes und die Reform
des Staatsangehörigkeitsrechts geführt.
BefürworterInnen sind parteipolitisch
eher bei Bündnis90/Die Grünen, SPD und
F.D.P zu verorten, die GegnerInnen bei
der CDU und insbesondere der bayerischen CSU. Die BefürworterInnen gehen
davon aus, daß es
(1) gilt, die Tatsache anzuerkennen, daß
die BRD durch die Aussiedler- und
Gastarbeiterpolitik der letzten Jahrzehnte bereits ein Einwanderungsland
ist, daß
(2) aufgrund des globalen Sicherheits-,
Freiheits- und Wohlstandsgefälles zwischen West und Ost sowie Nord und
Süd der Zuwanderungsdruck auf die
BRD anhalten wird, und daß
(3) Zuwanderung aus ökonomischen, demographischen und kulturellen Gründen ebenso wünschenswert wie erforderlich ist.
Sie erwarten, daß sich mit Hilfe eines
Einwanderungsgesetzes die Zuwanderung
besser steuern und gegebenenfalls begrenzen läßt, daß es eine größere Rechtssicherheit für potentielle MigrantInnen
schafft, und daß es zusammen mit einem
Staatsbürgerrecht, das (a) die Einbürge264
rung erleichtert und (b) das bisherige, reine Abstammungsrecht durch Elemente
des ‘ius soli’ erweitert, die Integration der
MigrantInnen fördert ( Integration/Segregation).
Diskussionspapiere und Gesetzentwürfe für ein mögliches Einwanderungsgesetz
wurden von Bündnis90/Die Grünen, der
SPD und der FDP vorgelegt. Alle Vorschläge orientieren sich dabei deutlich an
der Einwanderungsgesetzgebung der klassischen Einwanderungsländer. Gemeinsames Ziel der Entwürfe ist die effektivere
Steuerung der bereits stattfindenden Zuwanderung. Dabei betonen SPD und FDP,
daß ein Einwanderungsgesetz insbesondere der Begrenzung der Zuwanderung
unter Wahrung der „legitimen eigenen
Interessen unseres Landes“ (FDP-Entwurf) dient, während der Entwurf von
Bündnis90/Die Grünen Einwanderung bewußt fördern will. SPD und FDP sind – mit
Rücksicht auf Teile ihrer Wählerklientel –
im Gegensatz zu den Grünen peinlich darauf bedacht, im Titel ihrer Entwürfe das
Wort Einwanderung zu vermeiden und
sprechen deshalb von einem Zuwanderungsgesetz.
Zentraler Gedanke des FDP-Entwurfs
ist die Festlegung einer Höchstquote, die
entsprechend dem oben angeführten kanadischen Modell in unterschiedliche Zuwanderergruppen zu untergliedern wäre
(ArbeitsmigrantInnen, Familiennachzug,
‘Spätaussiedlern’, humanitäre Flüchtlinge). Die Zahl der Asylberechtigten wäre
dann auf die Zuwanderungsquote anzurechnen. Der SPD-Vorschlag enthält ebenso eine jährlich festzulegende Gesamtquote. Diese Gesamtquote soll in eine „humanitär definierte“ und eine „wirtschaftlich definierte“ Quote aufgeteilt werden.
Sowohl der FDP- als auch der SPD-Entwurf beinhalten ähnliche Auswahlkriterien für ArbeitsmigrantInnen (Alter, Ausbildung, Sprachkenntnisse usw.). Dagegen
wollen die Grünen die ArbeitsmigrantIn-
E I N WA N D E R U N G S G E S ETZ
nen lediglich daran messen, ob sie einen
Arbeitsplatz nachweisen können. Insbesondere aber fordern Bündnis90/Die Grünen eine Gleichstellung von ‘Aussiedlern’
und anderen einwanderungswilligen AusländerInnen und lehnen darum Quotenregelungen und Aufnahmebeschränkungen
für AsylbewerberInnen und andere
Flüchtlinge dezidiert ab. Alle Entwürfe sehen vor, daß die von der Regierung festzulegenden Zuwanderungsquoten der Zustimmung von Bundestag und Bundesrat
bedürfen, und daß bei Festlegung der
Quoten eine zu gründende, sich aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen
zusammensetzende Einwanderungskommission (und evtl. eine Einwanderungsbeauftragte) anzuhören sind.
Einigkeit besteht unter den BefürworterInnen (und hier schließt sich auch ein
Teil der CDU an), daß das Staatsbürgerrecht über die bisherige Erweiterung der
Anspruchseinbürgerung im Ausländergesetz hinaus (Erwachsene mit mindestens
15 Jahren legalem Aufenthalt; Jugendliche (16 – 23) mit mindestens 8 Jahren (§§
85 und 86 AuslG)) durch (1) die Einführung von Elementen des ‘ius soli’, (2)
eine weitere Verringerung der notwendigen Aufenthaltsdauer und (3) eine großzügigere Zulassung von Doppelstaatsbürgerschaften reformiert werden muß.
Die Notwendigkeit eines Einwanderungsgesetzes wird von CDU/CSU bestritten. Sie glauben, den Begriff des Einwanderungslandes trotz enormer Zuwanderung ablehnen zu können. Sie nehmen die
‘deutschstämmigen’
ZuwandererInnen
nicht als EinwandererInnen wahr, weil
diese per definitionem bereits Volkszugehörige sind. Und sie betrachten den
Aufenthalt der ausländischen ZuwanderInnen, seien es Asylsuchende oder ArbeitsmigrantInnen, nach wie vor und wider besseres Wissen als vorübergehend.
Generell sehen sie keinen weiteren Zuwanderungsbedarf. Weitere Zuwanderung
würde Arbeitsmarkt und Sozialstaat zusätzlich belasten, darüber hinaus die
Identität der BRD als deutsche Kulturnation gefährden und vermeidbaren Konfliktstoff in die Gesellschaft hineintragen.
Sie halten die bestehenden Gesetze und
Regelungen, insbesondere seit der Einschränkung des Grundrechts auf Asyl von
1993 (sichere Herkunftsstaaten, Drittstaaten-Regelung, Flughafenverfahren), für
die Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung für ausreichend. Von der Einführung eines Einwanderungsgesetzes befürchten sie im Gegenteil eine Sogwirkung.
Die Fronten bleiben auch mit dem Regierungswechsel von 1998 weitgehend
unverändert. Mit einem ‘Gesetz zur Erleichterung des Erwerbs der deutschen
Staatsangehörigkeit’ strebt die rot-grüne
Koalition nun zunächst eine Teilreform
des veralteten, der gegenwärtigen Zuwanderungssituation unangemessenen Staatsangehörigkeitsrechts an. Die Einbürgerung von AusländerInnen soll (a) durch
die weitere Verkürzung des notwendigen
rechtmäßigen Aufenthalts auf 5 (Jugendliche) bzw. 8 Jahre (Erwachsene) und (b)
die regelmäßige ‘Hinnahme’ von Doppelstaatsbürgerschaften erleichtert werden.
Als einschränkende Bedingungen werden
genannt: (a) die Fähigkeit sich in deutscher Sprache zu verständigen, (b) Straffreiheit und Verfassungstreue sowie (c) die
Erfordernis, den eigenen Lebensunterhalt
ohne den Bezug von Arbeitslosen- bzw.
Sozialhilfe zu bestreiten. Die weitreichendste Änderung besteht jedoch darin,
daß das bisher ausschließlich geltende
Abstammungsrecht beim Erwerb der
Staatsbürgerschaft durch Geburt durch
Elemente des ‘ius soli’ ergänzt werden
soll. Alle im Inland geborenen Kinder mit
einem Elternteil, das selbst in der Bundesrepublik Deutschland geboren bzw. vor
Vollendung des 14. Lebensjahres zugezogen ist und eine Aufenthaltserlaubnis bzw.
265
RECHT UND GESETZ
Aufenthaltsberechtigung besitzt, sollen
automatisch deutsche StaatsbürgerInnen
werden.
Zweifellos ist dieses Reformvorhaben
ein wichtiger Beitrag zur Korrektur einer
jahrzehntelang verfehlten Ausländerpolitik und stellt einen wichtigen Schritt hin
zu einem republikanischen Staatsverständnis dar. Von diesen ersten Reformschritten zu einem einheitlichen Einwanderungs- und Staatsangehörigkeitsrecht
bleibt aber ein weiter Weg. Der Koalitionsvertrag von 1998 klammerte die Thematik
eines Einwanderungsgesetzes angesichts
der zu erwartenden Widerstände bewußt
aus, in bezug auf die Asylgewährung wurde lediglich eine Überprüfung der Dauer
der Abschiebehaft und des Flughafenverfahrens im Lichte des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, eine mögliche Beachtung geschlechtsspezifischer Verfolgungsgründe sowie eine Altfallregelung für bereits lange hier lebende De-facto-Flüchtlinge in Aussicht gestellt.
4. Einwanderungsgesetz und
Flüchtlingsproblematik
Gegner wie BefürworterInnen verbinden
mit der Einführung eines Einwanderungsgesetzes für die BRDeutschland teils unrealistische, teils falsche Erwartungen.
Weder wird ein Einwanderungsgesetz einen zusätzlichen Sog auf potentielle MigrantInnen ausüben – Migrationsbewegungen werden vielmehr wesentlich durch
Push-Faktoren ausgelöst (Bürgerkrieg,
politische Verfolgung, Armut, ökologische
Katastrophen) und durch extreme Wohlstandsgefälle gesteuert –, noch wird für
sich genommen ein Einwanderungsgesetz
zu einer Reduzierung der Zuwanderung
führen, eine reibungslose Integration sicherstellen oder gar eine zufriedenstellende Lösung für die vielfältigen Schicksale
von Asylsuchenden und Flüchtlingen bieten. „Quotensysteme sollten nicht in der
266
Hoffnung eingeführt werden, sie könnten
die Notwendigkeit harter Entscheidungen
in Asylfragen vermeiden“ (DAAK; S. 67).
Im übrigen trügt auch die Hoffnung, die
Probleme auf die Ebene der Europäischen
Union abschieben zu können ( Asylpolitik Europa). Dort werden sich dieselben
Grundprobleme stellen: ‘Insider’ (EU-BürgerInnen) werden sich gegen ‘Outsider’
(DrittstaaterInnen) abgrenzen. Kriterien
für Zulassung bzw. Ausschluß müssen gefunden werden (vgl. Rieger 1998).
Dennoch: ein Einwanderungsgesetz ist
notwendig, denn realistischerweise kann
erwartet werden, daß ein solches Gesetz
es erstens ermöglicht, die bisher disparaten, sich widersprechenden Regelungen
im Bereich der Zuwanderungs- und
Staatsbürgerschaftspolitik klar und konsistent zu gestalten und auf diese Weise die
für einen demokratischen Rechtsstaat angemessene Rechtssicherheit und Rechtsklarheit für MigrantInnen zu gewährleisten. Zweitens stellt der Erlaß eines Einwanderungsgesetzes einen nicht zu unterschätzenden Akt symbolischer Politik dar.
Von einem Einwanderungsgesetz würde
das Signal ausgehen, daß die Bundesrepublik die über Jahrzehnte gewachsene
Zuwanderungssituation anerkennt und
die zukünftige Zuwanderung wie das Zusammenleben in der entstehenden Einwanderungsgesellschaft aktiv bejahend
gestalten will.
Welche Bedeutung könnte ein Einwanderungsgesetz für die Flüchtlingspolitik
haben? Unter den gegenwärtigen gesetzlichen Bedingungen gibt es für ‘Spätaussiedler’, EU-Angehörige (Freizügigkeit der
Arbeitnehmer innerhalb der EU) sowie für
Ehegatten und minderjährige Kinder im
Rahmen des Familiennachzugs die Möglichkeit, in die BRD einzuwandern, für alle
anderen Ausländer aus sog. Drittstaaten
gilt – sieht man von den nur für einen
kurzfristigen Aufenthalt (Saisonarbeit
usw.) erteilten Aufenthaltsbewilligungen
E I N WA N D E R U N G S G E S ETZ
ab – weiterhin der 1973 erlassene Anwerbestop. Dies hat zur Folge, daß MigrantInnen aus Drittstaaten zwangsläufig ins
Asylverfahren drängen, ob sie nun die eng
gezogenen Kriterien als politisch Verfolgte
erfüllen oder nicht. Eine Tendenz die letztlich dem Institut des Asyls schadet, weil
der Öffentlichkeit von interessierter Seite
stets nachzuweisen ist, daß gemäß der
Definition des politischen Flüchtlings massenhaft ‘Asylmißbrauch’ stattfindet, ohne
daß in gleichem Maße deutlich wird, daß
i.d.R. auch bei abgelehnten AsylbewerberInnen dringende humanitäre Gründe
vorliegen. Hier könnte ein Einwanderungsgesetz ansetzen.
Notwendig wäre mit Einführung eines
Einwanderungsgesetzes die strikte Trennung zwischen Einwanderung und Asyl.
Das Grundrecht auf Asyl, dessen Definition der politisch Verfolgten an die Realität gegenwärtiger Verfolgungstatbestände anzupassen wäre (s. o.), könnte für die
politisch Verfolgten reserviert bleiben,
während andere Flüchtlingsgruppen, die
sich aus den unterschiedlichsten Gründen
gezwungen sehen, ihre Heimat zu verlassen, auf die humanitäre Quote des Einwanderungsgesetzes verwiesen werden
müßten. Damit würde die BRDeutschland
einerseits ihrer historischen, aus der Erfahrung mit dem Nationalsozialismus von
den Verfassungsvätern und -müttern im
GG verankerten besonderen Verpflichtung
gerecht werden, politisch Verfolgte in jedem Fall aufzunehmen, und erhielte
gleichzeitig Spielraum, um flexibel auf
spezifische internationale Notlagen zu reagieren. Für den konkreten Fall der Kinderflüchtlinge hieße das, daß diese Gruppe (unabhängig vom Alter) nicht mehr unbedingt ins Asylverfahren gedrängt werden müßte. Da sie schon aufgrund ihres
Lebensalters oft den Tatbestand der politischen Verfolgung nicht nachweisen können und sich gerade in ihrem Schicksal
die ganze Breite möglicher Fluchtgründe
spiegelt (Krieg, politische Unterdrückung,
Diskriminierung ethnischer und religiöser
Minderheiten, Armut und Perspektivlosigkeit), können sie im gegenwärtigen System oft keine ‘asylrelevanten’ Gründe
vorbringen. Sie wären i.d.S. typische Fälle
für eine humanitäre Quote innerhalb eines Einwanderungsgesetzes. Diese Quote
müßte je nach Lage der weltweiten Fluchtund Migrationsbewegungen flexibel anzupassen und gegebenenfalls zuungunsten
der Quoten für ArbeitsmigrantInnen und
‘Aussiedler’ auszudehnen sein. Den ‘minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingen’,
welche die Bedingungen für eine Aufnahme aus humanitären Gründen (bei uneingeschränkter Anerkennung des Art. 22
der UN-Kinderkonvention) erfüllen, könnte mit einem angemessenen Aufenthaltsstatus eine sichere Integrations- und
Lebensperspektive eröffnet werden. Eine
langfristige Planung in bezug auf Schule,
Ausbildung und Arbeit wäre möglich (
Kinderrechte).
Vor zuviel Optimismus sei allerdings
gewarnt. Ein nationales Einwanderungsgesetz kann nicht für globale Gerechtigkeit bürgen. In einer ungerechten Welt
wird die Zahl derjenigen, die in ein reiches und sicheres Land wie die BRDeutschland fliehen wollen, immer die
Zahl übersteigen, die dieses Land bereit,
vielleicht auch fähig ist aufzunehmen. Es
wird deshalb – und das ist in der Logik von
Einwanderungsgesetzen bereits enthalten
– notwendig sein, eine politisch festzulegende Auswahl unter den MigrantInnen
vorzunehmen. Davor, daß solche Entscheidungen nicht großzügig, sondern ängstlich
und engherzig ausfallen, kann auf lange
Sicht kein noch so gutes Einwanderungsgesetz schützen. Selbst Grundrechte lassen
sich, wie der Asylkompromiß zeigt, einschränken. Ohne eine Bevölkerung, welche die Notwendigkeit von Zuwanderung
sieht und ihre moralische Verpflichtung
ernst nimmt, wird es weder ein der inter267
RECHT UND GESETZ
nationalen Migrationssituation angemessenes Einwanderungsgesetz geben, noch
wird die Politik der Ausgrenzung und
Restriktionen gegen Flüchtlinge ein Ende
haben. Hier gilt es politisch und zivilgesellschaftlich Überzeugungsarbeit zu leisten.
Literatur
Angenendt, Steffen (Hrsg.): Migration und Flucht.
Aufgaben und Strategien für Deutschland, Europa
und die internationale Gemeinschaft, Bonn 1997
Brubaker, Rogers: Staats-Bürger. Frankreich und
Deutschland im historischen Vergleich, Hamburg
1994
Hawkins, Frida: Critical Years in Immigration. Canada
and Australia Compared, Kingston 1989
Rieger, Günter: Einwanderung und Gerechtigkeit.
Mitgliedschaftspolitik auf dem Prüfstand amerikanischer Gerechtigkeitstheorien der Gegenwart, Opladen 1998
Stiftung Deutsch-Amerikanisches Konzil (DAAK)
(Hrsg.): Deutsche und Amerikanische Migrationsund Flüchtlingspolitik. Empfehlungen eines gemeinsamen deutsch-amerikanischen Projekts der American Academy of Arts and Sciences und des DeutschAmerikanischen Konzils, Bonn/Washington 1997
Vogelsang, Roland: Einwanderung in ein Einwanderungsland. Die kanadische Erfahrung, in: Die Erde,
Bd. 123, 1994, S. 197-212
Günter Rieger
268
A S Y LV E R F A H R E N
5.
Aufnahmebedingungen
Asylverfahren
Die Durchführung eines Asylverfahrens ist
zwingende Voraussetzung, um in der Bundesrepublik Deutschland den Status als asylberechtigte Person im Sinne des Art. 16 a Abs. 1
GG und/oder als Flüchtling im Sinne des § 51
Abs. 1 AuslG zu erlangen. In der Regel wird
vom zuständigen Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge auch die Frage
geprüft, ob einer asylsuchenden Person Abschiebungsschutz gemäß § 53 AuslG zu gewähren ist. Die Einzelheiten des behördlichen und
gerichtlichen Asylverfahrens werden durch
spezielle Vorschriften insbesondere des Asylverfahrens- und Ausländergesetzes geregelt,
die sich teils erheblich von den Bestimmungen
für sogenannte klassische Verwaltungs(gerichts)verfahren unterscheiden. Dies gilt
u.a. für die Frage der Handlungsfähigkeit
Minderjähriger, die strengeren Mitwirkungspflichten, die besonderen Vorschriften über eine erleichterte Zustellung von behördlichen
und gerichtlichen Entscheidungen an Asylsuchende, die Entscheidungsvarianten des Bundesamtes sowie die Klage-, Antrags- und
Rechtsmittelfristen im asylrechtlichen Verwaltungsgerichtsprozeß.
1. Antragserfordernis
Ein Asylverfahren wird nur auf Antrag
eingeleitet (vgl. §§ 1 Abs. 1, 13 f AsylVfG).
Ein Asylantrag liegt vor, wenn sich dem
schriftlich, mündlich oder auf andere Weise geäußerten Willen der asylsuchenden
Person entnehmen läßt, daß diese in der
BRDeutschland Schutz vor politischer Verfolgung sucht oder Schutz vor Abschie-
bung oder einer sonstigen Rückführung in
einen Staat begehrt, in dem ihr die in § 51
Abs. 1 AuslG bezeichneten Gefahren drohen. Ein Asylantrag ist bei der Außenstelle
des Bundesamtes für die Anerkennung
ausländischer Flüchtlinge ( Bundesbehörden) zu stellen, die der für die Aufnahme der Person zuständigen Aufnahmeeinrichtung zugeordnet ist (§ 14 Abs. 1
AsylVfG). Wird bei einer Grenz-, Ausländer- oder Polizeibehörde um Asyl nachgesucht, ist die Person unverzüglich an die
zuständige Aufnahmeeinrichtung zur Meldung und Antragstellung weiterzuleiten (§
18 Abs. 1, § 19 Abs. 1 AsylVfG). Im Falle
einer unerlaubten Einreise aus einem sog.
‚sicheren Drittstaat’ i. S. d. § 26 a AsylVfG
(das sind sämtliche Anrainerstaaten der
BRD) kann die betroffene Person in den
Drittstaat zurückgeschoben werden und
eine Weiterleitung an eine Aufnahmeeinrichtung unterbleiben (§ 19 Abs. 3 S. 1
AsylVfG). Wird nach der Rücknahme oder
der unanfechtbaren Ablehnung eines früheren Asylantrags erneut ein Asylantrag
gestellt, so handelt es sich um einen Folgeantrag; dieser ist i. d. R. persönlich bei
der Außenstelle des Bundesamtes zu stellen, die das vorangegangene Verfahren
bearbeitet hatte (§ 71 Abs. 1 u. 2 AsylVfG).
2. Handlungsfähigkeit
Ein Asylantrag kann nur dann rechtswirksam gestellt werden, wenn die asylsuchende Person handlungs-, d. h. verfahrensfähig ist. Fähig zur Vornahme von
269
AUFNAHMEBEDINGUNGEN
Verfahrenshandlungen nach dem Asylverfahrensgesetz (AsylVfG) sind nicht nur
Volljährige, sondern bereits Minderjährige, die das 16. Lebensjahr vollendet haben
(§ 12 Abs. 1 AsylVfG). Nicht handlungfähig
sind demgegenüber jene Personen, die geschäftsunfähig oder als Volljährige unter
Betreuung zu stellen sind (§ 12 Abs. 2
AsylVfG). Ist ungeklärt, ob eine asylsuchende Person das 16. Lebensjahr bereits
vollendet hat, ist im Zweifel von einer fehlenden Handlungsfähigkeit auszugehen
( Alter). Im Asylverfahren ist grundsätzlich jeder Elternteil alleine zur Vertretung
eines Kindes unter 16 Jahren befugt,
wenn sich der andere Elternteil nicht im
Bundesgebiet aufhält oder sein Aufenthaltsort im Bundesgebiet unbekannt ist (§
12 Abs. 3 AsylVfG). Reist ein nicht handlungsfähiger minderjähriger Flüchtling
unbegleitet, also ohne einen vertretungsberechtigten Elternteil ins Bundesgebiet
ein, bedarf es der Bestellung eines Pflegers durch das Vormundschaftsgericht,
um wirksam einen Asylantrag stellen zu
können ( Vormundschaft). An minderjährige, im obigen Sinne aber handlungsfähige AsylbewerberInnen können u. a.
Bescheide des Bundesamtes wirksam zugestellt und damit die teils sehr kurzen gerichtlichen Klage- und Antragsfristen in
Gang gesetzt werden (vgl. Punkt 8.).
3. Mitwirkungspflichten
Gemäß § 15 Abs. 1 S. 1 AsylVfG ist eine
Asyl beantragende Person verpflichtet, bei
der Aufklärung des Sachverhalts mitzuwirken. Dies gilt auch dann, wenn sie
durch einen Bevollmächtigten vertreten
wird (§ 15 Abs. 1 S. 2 AsylVfG). Einzelne
Mitwirkungspflichten ergeben sich aus §
15 Abs. 2 u. 3 AsylVfG, u.a. die Verpflichtung, über alle für die Flucht und das Beantragen von Asyl erheblichen Umstände
Auskunft zu erteilen, Reisedokumente und
sonstige Unterlagen zu überlassen und ei270
ne erkennungsdienstliche Behandlung zu
dulden. Die Pflicht zur Mitwirkung besteht
auch dann, wenn ein Asylantrag zurückgenommen wird (§ 15 Abs. 5 AsylVfG). Besondere Bedeutung erlangen die Mitwirkungspflichten im Zusammenhang mit der
Anhörung der asylsuchenden Person
durch das Bundesamt (vgl. Punkt 5.).
4. Zustellungsvorschriften
Von zentraler Bedeutung sind die Zustellungsvorschriften des § 10 AsylVfG. Nach
Abs. 1 hat eine Asyl beantragende Person
während der Dauer des Asylverfahrens
vorzusorgen, daß sie Mitteilungen des
Bundesamtes, der zuständigen Ausländerbehörde ( Kommunale Behörden) und
der angerufenen Gerichte stets erreichen
können. Insbesondere ist jeder Wechsel
der Anschrift den genannten Stellen unverzüglich mitzuteilen. Dies ist deswegen
von besonderer Bedeutung, weil die Person Zustellungen und formlose Mitteilungen unter der letzten Anschrift, die der jeweiligen Stelle aufgrund des Asylantrags
oder einer sonstigen von ihr gemachten
Mitteilung bekannt ist, gegen sich gelten
lassen muß. Dasselbe gilt, wenn die letzte
bekannte Anschrift, unter der die antragstellende Person wohnt oder zu wohnen
verpflichtet ist, durch eine öffentliche
Stelle mitgeteilt worden ist (§ 10 Abs. 2
S. 1 u. 2 AsylVfG). All diese Pflichten bestehen uneingeschränkt auch für ‚unbegleitete minderjährige’, aber im Asylverfahren handlungsfähige (vgl. Punkt 2)
Flüchtlinge, so daß auf die Beachtung der
hier aufgezeigten Formalitäten besonderer Wert zu legen ist. Besteht eine Vertretung durch einen Bevollmächtigten und
liegt dem Bundesamt eine entsprechende
schriftliche Vollmacht vor, so ist der Bescheid dem Bevollmächtigten zuzustellen
(§ 8 Abs. 1 S. 2 Verwaltungszustellungsgesetz), andernfalls kann die Behörde
auswählen, ob sie der Asyl beantragenden
A S Y LV E R F A H R E N
Person selbst oder dem oder der Bevollmächtigten zustellen läßt.
Ist die um Asyl nachsuchende Person in
einer Aufnahmeeinrichtung untergebracht oder verpflichtet, dort zu wohnen,
so hat diese Einrichtung Zustellungen und
formlose Mitteilungen an den oder die
AsylbewerberIn nach Maßgabe des § 10
Abs. 4 S. 2 u. 3 AsylVfG vorzunehmen (§
10 Abs. 4 S. 1 AsylVfG). Sie gelten mit der
Aushändigung an die betroffene handlungsfähige Person, spätestens aber am
dritten Tag nach der Übergabe an die Aufnahmeeinrichtung als bewirkt (§ 10 Abs. 4
S. 4 AsylVfG). Beim Beantragen von Asyl
ist schriftlich und gegen Empfangsbestätigung auf diese besonderen Zustellungsvorschriften hinzuweisen (§ 10 Abs. 5
AsylVfG). Dies erfolgt regelmäßig schriftlich und erforderlichenfalls auch mündlich durch einen/eine DolmetscherIn in
der jeweiligen Landessprache des/der
Asylsuchenden, wobei sich auch ‚minderjährige unbegleitete’, aber im Asylverfahren handlungsfähige Flüchtlinge im
Zweifelsfall diese Belehrung entgegenhalten lassen müssen.
5. Anhörung durch das Bundesamt für
die Anerkennung ausländischer
Flüchtlinge
Gemäß § 24 Abs. 1 AsylVfG klärt das Bundesamt den Sachverhalt auf und erhebt
die erforderlichen Beweise. Hierbei hat es
i.d.R. den/die AusländerIn persönlich anzuhören. Dies gilt grundsätzlich auch bei
einem Asylantrag eines minderjährigen
und aufgrund seines Alters auskunftsfähigen Flüchtlings, sofern nicht ein Elternteil
oder eine zur Betreuung bestellte Person
zu den Einzelheiten des Asylbegehrens
befragt wird. Über die Anhörung ist eine
Niederschrift zu fertigen, die die wesentlichen Angaben zu den Asylgründen enthält
(§ 25 Abs. 7 AsylVfG). In der Anhörung
sind die Tatsachen vorzutragen, die die
geltend gemachte Furcht vor politischer
Verfolgung begründen. Darüber hinaus
sind die erforderlichen Angaben u. a. über
auswärtige Wohnsitze, den Reiseweg, den
Aufenthalt in anderen Staaten und ggf.
über die Durchführung eines Asylverfahrens in einem anderen Staat zu machen (§
25 Abs. 1 AsylVfG, Schengen). Neben
den Asylgründen im engeren Sinne sind
auch alle sonstigen Tatsachen und Umstände anzugeben, die generell einer Abschiebung der asylsuchenden Person oder
deren Abschiebung in einen bestimmten
Staat entgegenstehen (§ 25 Abs. 2
AsylVfG). Besondere Bedeutung kommt
der Präklusionsregelung des § 25 Abs. 3 S.
1 AsylVfG zu, auf die der/die AsylbewerberIn ausdrücklich hinzuweisen und über
deren Bedeutung zu belehren ist (§ 25
Abs. 3 S. 2 AsylVfG). Danach kann sogenanntes späteres Vorbringen unberücksichtigt bleiben, wenn andernfalls die Entscheidung des Bundesamtes über den
Asylantrag verzögert würde. Erfaßt werden von dieser Ausschlußregelung allerdings nicht solche Tatsachen und Umstände, die erst nach der Antragstellung
bzw. Anhörung eingetreten bzw. bekannt
geworden sind. Zudem begegnet die Anwendung jener Präklusionsregelung gegenüber Kinderflüchtlingen verfassungsrechtlichen Bedenken selbst dann, wenn
diese bereits asylverfahrensfähig (vgl.
Punkt 2) sind. Verspätetes Vorbringen
durch VormünderInnen oder sonstige zur
Betreuung bestellte Personen kann sich
jedoch, sofern eine entsprechende Belehrung erfolgt ist, zum Nachteil eines asylsuchenden Kinderflüchtlings auswirken, indem dieses nach Maßgabe des § 25 Abs. 3
S. 1 AsylVfG unter Umständen nicht mehr
berücksichtigt zu werden braucht.
6. Sonderfall Flughafenverfahren
Die Einzelheiten des sog. Flughafenverfahrens sind in § 18 a AsylVfG geregelt.
271
AUFNAHMEBEDINGUNGEN
Will ein/eine AusländerIn über einen
Flughafen in die Bundesrepublik Deutschland einreisen und sucht bei der Grenzbehörde am Flughafen um Asyl nach, so ist,
vorbehaltlich
entsprechender
Unterkunftskapazität, das Asylverfahren vor
der Einreise durchzuführen, sofern der
oder die AsylbewerberIn aus einem sog.
‘sicheren Herkunftsstaat’ i.S.d. § 28 a
AsylVfG stammt – dies sind z. Z. Bulgarien,
Ghana, Polen, Rumänien, Senegal, Slowakische Republik, Tschechische Republik,
Ungarn – oder er/sie sich nicht mit einem
gültigen Paß oder Paßersatz ausweisen
kann (§ 18 a Abs. 1 S. 1 u. 2 AsylVfG). Der
asylsuchenden Person ist unverzüglich
Gelegenheit zu geben, bei der Außenstelle
des Bundesamtes für die Anerkennung
ausländischer Flüchtlinge, die der Grenzkontrollstelle des Flughafens zugeordnet
ist, ihren Asylantrag zu stellen (§ 18 a Abs.
1 S. 1 AsylVfG). Das Bundesamt hat unverzüglich eine Anhörung durchzuführen (§
18 a Abs. 1 S. 4 AsylVfG). Vermag das
Bundesamt innerhalb von zwei Tagen,
nachdem der Asylantrag bei ihm gestellt
worden ist, nicht zu entscheiden, ist die
Einreise zu gestatten (§ 18 a Abs. 6 Nr. 2
AsylVfG). Lehnt hingegen das Bundesamt
innerhalb dieser Zweitagesfrist den Asylantrag als offensichtlich unbegründet ab,
ist der betroffenen Person seitens der
Grenzbehörde von Gesetzes wegen zwingend die Einreise zu verweigern (§ 18 a
Abs. 3 S. 1 AsylVfG). Als Rechtsschutzmöglichkeit ist in diesen Fällen ein bei
dem zuständigen Verwaltungsgericht gegen die Grenzbehörde gerichteter Antrag
auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung
gegeben mit dem Ziel, vorläufig die Einreise gestattet zu bekommen. Im Rahmen
dieses Verfahrens prüft das Verwaltungsgericht summarisch, ob das Bundesamt
den Asylantrag zu recht als offensichtlich
unbegründet abgelehnt hat. Auch wenn es
den Asylantrag lediglich als (schlicht) unbegründet erachtet, ist daher die Grenz272
behörde zur Gestattung der Einreise zu
verpflichten ( Flughafenverfahren).
Vom Flughafenverfahren sind unbegleitete minderjährige Flüchtlinge grundsätzlich nicht ausgeschlossen. Ist asylrechtliche Verfahrensfähigkeit nicht gegeben
(vgl. Punkt 2), muß die Grenzbehörde
zunächst bei dem zuständigen Vormundschaftsgericht beantragen, einen/eine VormünderIn oder BetreuerIn zu bestellen.
Dieser ist an dem gesamten Verfahren als
gesetzliche/r VertreterIn zu beteiligen.
Ihm/Ihr sind auch die zu treffenden Entscheidungen zuzustellen.
7. Entscheidung durch das Bundesamt
für die Anerkennung ausländischer
Flüchtlinge
Das Asylverfahrensgesetz sieht mehrere
Entscheidungsvarianten vor:
a) Gibt das Bundesamt einem Asylantrag
ganz oder teilweise statt, ist eine Feststellung von Abschiebungshindernissen
i.S.d. § 53 AuslG nicht zwingend vorgeschrieben (§ 31 Abs. 2 S. 1, Abs. 3
AsylVfG).
b) Wird ein/eine AsylbewerberIn wegen
Familienasyls i.S.d. § 26 AsylVfG als
asylberechtigt anerkannt, soll von einer
Feststellung, daß der/die Anerkannte
zugleich politisch verfolgt i.S.d. § 51
Abs. 1 AuslG ist, sowie von vorliegenden Abschiebungshindernissen i.S.d. §
53 AuslG abgesehen werden (§ 31 Abs.
5 AsylVfG).
c) Lehnt das Bundesamt einen Asylantrag
ganz oder teilweise als (schlicht) unbegründet ab, so ist zugleich festzustellen,
ob Abschiebungshindernisse i.S.d. § 53
AuslG vorliegen (§ 31 Abs. 3 S. 1
AsylVfG).
d) Lehnt das Bundesamt einen Asylantrag
als unbeachtlich ab, z. B. wegen offensichtlich anderweitigen Verfolgungsschutzes in einem ‘sonstigen Drittstaat’,
also ein Staat, der nicht zu den soge-
A S Y LV E R F A H R E N
nannten ‘sicheren Drittstaaten’ i.S.d.
Art. 16 a Abs. 2 GG bzw. § 26 a AsylVfG
zählt, ist gleichfalls über die Frage zu
befinden, ob Abschiebungshindernisse
i.S.d. § 53 AuslG vorliegen.
e) Lehnt das Bundesamt einen Asylantrag
als offensichtlich unbegründet i.S.d. §
30 AsylVfG ab, z. B. Einreise und Aufenthalt im Bundesgebiet „nur aus wirtschaftlichen Gründen oder um einer
allgemeinen Notsituation oder einer
kriegerischen Auseinandersetzung zu
entgehen“; grob widersprüchliches oder
nicht substantiiertes Asylvorbringen;
Täuschung über Identität oder Staatsangehörigkeit; weiteres Asylbegehren
unter anderer Identität; Asylantrag wegen drohender aufenthaltsbeendender
Maßnahmen; gröbliche Verletzung von
asylverfahrensrechtlichen
Mitwirkungspflichten, ist gleichfalls über das
Vorliegen von Abschiebungshindernissen i.S.d. § 53 AuslG zu entscheiden.
f) Wird das Asylverfahren wegen ausdrücklicher oder fiktiver Rücknahme
eines Asylantrags eingestellt, ist
schließlich ebenfalls zu entscheiden, ob
Abschiebungshindernisse i.S.d. § 53
AuslG gegeben sind.
Lehnt das Bundesamt einen Asylantrag
als unbeachtlich oder offensichtlich unbegründet ab, beträgt die der abgelehnten
Person zu setzende Ausreisefrist eine Woche (§ 36 Abs. 1 AsylVfG). Dasselbe gilt bei
Rücknahme eines Asylantrags vor der
Entscheidung des Bundesamtes (§38 Abs.
2 AsylVfG). In den sonstigen Fällen, in denen ein Asylantrag abgelehnt wird, beträgt die Ausreisefrist einen Monat; wird
Klage erhoben, endet sie einen Monat
nach unanfechtbarem Abschluß des Asylverfahrens (§ 38 Abs. 1 AsylVfG). Für den
Fall der nicht fristgerechten freiwilligen
Ausreise wird die zwangsweise Abschiebung angedroht (§34 AsylVfG, Abschiebung).
Das Bundesamt prüft im Rahmen sei-
ner Zuständigkeit, ob der asylsuchenden
Person im Falle einer Rückkehr im sogenannten Zielstaat, i.d.R. das Herkunftsland, politische Verfolgung oder eine sonstige menschenrechtswidrige Behandlung, die die Voraussetzungen für die Annahme eines Abschiebungshindernisses
i.S.d. § 53 AuslG erfüllt, droht. Verneint
dies das Bundesamt, so können gleichwohl inlandsbezogene Abschiebungshindernisse gegeben sein (z. B. enge familiäre
Bindungen im Bundesgebiet oder die Aufnahme in eine Pflegefamilie, gesundheitliche Gründe, medizinische Behandlungsbedürftigkeit etc.), die es der Ausländerbehörde verbieten, aufenthaltsbeendende
Maßnahmen durchzuführen.
8. Rechtsschutz
Gegen ablehnende Entscheidungen des
Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge ist Klage zum Verwaltungsgericht möglich. Diese ist, sofern
ein Asylantrag als (schlicht) unbegründet
abgelehnt worden ist, innerhalb von zwei
Wochen nach Zustellung der Entscheidung
(vgl. Punkt 4) zu erheben. Sie hat aufschiebende Wirkung, so daß die grundsätzlich mit der Ablehnung verfügte
Pflicht, die BRDeutschland zu verlassen,
erst mit dem unanfechtbaren negativen
Abschluß des Asylgerichtsverfahrens eintritt. Ist hingegen ein Asylantrag als unbeachtlich oder offensichtlich unbegründet
abgelehnt worden (vgl. Punkt 7), beträgt
die Klagefrist eine Woche. Da zugleich in
diesen Fällen – anders als bei einer Ablehnung als (schlicht) unbegründet – die
abgelehnte Person von Gesetzes wegen
zur sofortigen Ausreise verpflichtet ist, bedarf es eines gleichfalls innerhalb einer
Woche an das Verwaltungsgericht zu richtenden Antrages, die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die der Ablehnungsentscheidung des Bundesamtes beigefügten Abschiebungsandrohung anzu273
AUFNAHMEBEDINGUNGEN
ordnen, um im Falle der Stattgabe jenes
Antrags vorläufig die auferlegte Ausreisepflicht nicht beachten zu müssen (§ 36
Abs. 3 S. 1 AsylVfG).
Der/die KlägerIn hat die zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel binnen einer Frist von einem Monat
nach Zustellung der Entscheidung – nicht
nach Klageerhebung – anzugeben (§ 74
Abs. 2 S. 1 AsylVfG). Im Falle nicht fristgerechter Klagebegründung kann das Gericht verspätet eingereichte Erklärungen
und Beweismittel gemäß § 74 Abs. 2 S. 2
AsylVfG zurückweisen und ohne weitere
Ermittlungen entscheiden, sofern die klagende Person auf diese Ausschlußwirkung
(vgl. Punkt 5.) und die Folgen einer Fristversäumnis hingewiesen worden ist (§ 74
Abs.2 S. 3 AsylVfG). Neue Tatsachen und
Beweismittel können auch nach Ablauf
der Begründungsfrist in das gerichtliche
Verfahren eingeführt werden (§ 74 Abs. 2
S. 4 AsylVfG).
Maßgeblicher Zeitpunkt für die gerichtliche Beurteilung, ob eine Asylklage begründet, teilweise begründet oder unbegründet ist, ist die Sach- und Rechtslage
zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder, sofern eine mündliche Verhandlung nicht stattfindet, zum Zeitpunkt
der gerichtlichen Entscheidung (§ 74 Abs.
1 S. 1 AsylVfG). Dies kann zum einen zur
Folge haben, daß z. B. eine positive Anerkennungsentscheidung des Bundesamtes
wegen einer nach Klageerhebung eingetretenen Änderung der politischen Lage im
Herkunftsland aufgehoben wird. Zum anderen vermag eine solche Änderung aber
auch dazu zu führen, daß ein den Asylantrag ablehnender Bescheid vom Verwaltungsgericht für rechtswidrig erklärt und
das Bundesamt verpflichtet wird, den/die
KlägerIn als asylberechtigt i..S.d. Art. 16 a
Abs. 1 GG anzuerkennen und/ oder festzustellen, daß die Voraussetzungen für die
Annahme eines Abschiebungsverbots i.S.d.
§ 51 Abs. 1 AuslG vorliegen und/oder fest274
zustellen, daß Abschiebungshindernisse
i.S.d. § 53 AuslG vorliegen.
Gegen ein erstinstanzliches Urteil eines
Verwaltungsgerichts in einem Asylstreitverfahren steht als Rechtsmittel, sofern die
Klage nicht als offensichtlich unzulässig
oder offensichtlich unbegründet abgelehnt
worden ist, ein Antrag auf Zulassung der
Berufung zur Verfügung (§ 78 Abs. 1
AsylVfG). Dieser ist innerhalb von zwei
Wochen nach Zustellung des Urteils bei
dem Verwaltungsgericht zu stellen, das
den Antrag an das zuständige Oberverwaltungsgericht weiterleitet (§ 78 Abs. 4 u.
5 AsylVfG). Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn die Rechtssache grundsätzliche
Bedeutung hat oder das Urteil von einer
Entscheidung des angerufenen Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der
obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des
Bundesverfassungsgerichts abweicht oder
an einem schwerwiegenden Verfahrensmangel leidet (§ 78 Abs. 3 AsylVfG).
Erstinstanzliche Beschlüsse eines Verwaltungsgerichts (z. B. in einem Verfahren
auf einstweiligen Rechtsschutz gegen drohende aufenthaltsbeendende Maßnahmen
nach Ablehnen eines Asylantrags als offensichtlich unbegründet) sind unanfechtbar (§ 80 AsylVfG).
9. Der Bundesbeauftragte für
Asylangelegenheiten
Gemäß § 6 Abs. 2 AsylVfG kann sich der
Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten sowohl am Verfahren vor dem Bundesamt als auch an Klagen vor den Verwaltungsgerichten beteiligen. Er kann
selbst gegen Entscheidungen des Bundesamtes klagen oder einen Antrag auf Zulassung eines Rechtsmittels gegen ein verwaltungsgerichtliches Urteil gemäß § 78
AsylVfG stellen. Dem Vernehmen nach hat
der Bundesbeauftragte bislang lediglich
Klage erhoben oder die Zulassung eines
A LT E R S F E S T S T E L L U N G
Rechtsmittels beantragt, sofern eine für
eine asylsuchende Person positive Entscheidung vorangegangen war ( Bundesbehörden).
Anmerkung
1 Beschluß vom 10.1.1994 – 20 W 477/93, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht – Beilage Neueste
Rechtsprechung zum Asylrecht 1994, S. 24
10. Abschiebungshaft
§ 57 AuslG enthält kein Verbot, ausreisepflichtige minderjährige AusländerInnen
in Haft zu nehmen, um eine beabsichtigte
Ausweisung und/oder Abschiebung vorzubereiten bzw. zu sichern. Hiervon geht
auch die einschlägige Rechtsprechung zur
Abschiebungshaft aus. Diese betont jedoch zugleich, daß die Ausländerbehörden aufenthaltsbeendende Maßnahmen,
die gegenüber in Abschiebungshaft genommenen minderjährigen AusländerInnen angeordnet wurden, besonders
schnell zu vollziehen haben, um die
Haftdauer auf ein mit dem Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit noch verträgliches
Maß zu reduzieren. Das OLG Frankfurt/
Main hat es abgelehnt, die gegenüber einem 16-jährigen ausreisepflichtigen Ausländer angeordnete Abschiebungshaft
über drei Monate hinaus zu verlängern,
da sich der Betroffene weder strafbar gemacht noch seine Abschiebung durch unterlassende Mitwirkung, etwa beim Beschaffen von Reisedokumenten, verhindert hatte.1
Die BRDeutschland hat sich mit Ratifizierung der UN-Kinderrechts-Konvention ( Kinderflüchtlinge) verpflichtet, sicherzustellen, daß eine Freiheitsentziehung – dies ist die Anordnung von Abschiebungshaft – bei einem Kind „nur als
letztes Mittel und für die kürzeste angemessene“ Zeit angewendet werden darf
und die Unterbringung eines inhaftierten
Kindes grundsätzlich getrennt von Erwachsenen zu erfolgen hat (Art. 37).
Literatur
Göbel-Zimmermann, R. , Asyl- und Flüchtlingsrecht,
1999, Verlag C.H. Beck, München
Huber, B. (Hrsg.), Handbuch des Ausländer- und
Asylrechts, Stand: 11. Ergänzungslieferung, München
1999
Bertold Huber
Altersfeststellung
Unterbringung und Handlungsfähigkeit von jugendlichen Flüchtlingen hängen u. a. von deren
Alter ab, wichtigste Grenze ist die Vollendung
des 16. Lebensjahrs. Wenn keine unbestrittenen Identitätspapiere vorhanden sind, wird bei
unbegleiteten Minderjährigen oft eine behördliche Altersbestimmung durchgeführt und damit
ggf. die Altersangabe der Betroffenen korrigiert. Dazu wird heute meist die Inaugenscheinnahme, vereinzelt auch die Handwurzelund die Kieferuntersuchung angewandt. Das
Ergebnis wird als fiktives Geburtsdatum dem
Verfahren zugrunde gelegt; gegen eine falsche
Festsetzung muß der junge Flüchtling sich gegebenenfalls gerichtlich wehren.
1. Allgemeines
In vielen Verfahren, auch im Asylverfahren, sind rechtliche und andere Entscheidungen vom Alter der Betroffenen abhängig. Kindern und Jugendlichen wird im
nationalen und im internationalen Recht
eine besondere Schutzbedürftigkeit zugesprochen. Mit zunehmendem Alter errei275
AUFNAHMEBEDINGUNGEN
chen junge Menschen größere Handlungsfähigkeit und Verantwortung.
Bei jungen Flüchtlingen gehören je
nach den einzelnen Umständen zu den altersabhängigen Entscheidungen u. a.:
– Die Handlungsfähigkeit im Asylverfahren mit 16 Jahren (§ 12 AsylVfG),
– die Handlungsfähigkeit nach dem Ausländergesetz mit 16 Jahren (§ 68
AuslG),
– die Aufenthaltserlaubnis für Familienangehörige (§§ 17, 20 AuslG)
– ein Ausweisungsschutz für Minderjährige (§§ 47 [3], 48 [1] AuslG),
– allgemein die Fähigkeit zu verschiedenen Rechtsgeschäften (§ 104 – 113
BGB),
– die Schuldfähigkeit (§ 19 StGB), die
Anwendung des Jugendstrafrechts (§ 1
JGG),
– die Zahlung und die Höhe von Taschengeld (§ 3 [1] AsylbLG) oder von sozialhilfeähnlichen Leistungen nach § 3 (2)
AsylbLG oder evtl. von Kindergeld,
– bei unbegleiteten Kindern und Jugendlichen die Unterbringung in einer Aufnahmeeinrichtung (§ 47 [1] AsylVfG)
oder einer Jugendhilfeeinrichtung (§ 42
ff SGB VIII [KJHG]),
– unter Umständen die Entscheidung
über eine mögliche Abschiebung (unterschiedliche Handhabungen, ohne sichere Rechtsgrundlage, evtl. § 53 [6] S.
1 AuslG).
Internationale Abkommen, die Aussagen über bestimmte Altersgruppen machen, sind u. a. die UN-Konvention über
die Rechte des Kindes (nach Art. 1 gültig
für Menschen unter 18 Jahren) und das
Haager Minderjährigenschutzabkommen
(nach Art. 12 normalerweise für alle Menschen unter 18 Jahren gültig). Die Bundesrepublik Deutschland ist diesen Abkommen beigetreten; allerdings hat die
Bundesregierung 1992 durch eine (juristisch fragwürdige) Vorbehaltserklärung
u. a. ausgeschlossen, daß die UN-Kinder276
konvention als innerstaatliches Recht für
Deutschland angewandt werden kann,
und sie hat sich vorbehalten, Unterschiede
zwischen inländischen und ausländischen
Kindern zu machen ( Gesetzliche Grundlagen).
Für Kinderflüchtlinge ist die Vollendung des 16. Lebensjahrs nach dem derzeit in Deutschland zumeist üblichen Verfahren die in mehrfacher Hinsicht entscheidende Altersgrenze: Jüngere werden
nach ihrer Meldung bei den Behörden in
Obhut des zuständigen Jugendamtes genommen, bekommen einen Vormund, der
u.a. für sie den Asylantrag stellt, sie sind
in kindgerechten Einrichtungen unterzubringen und entsprechend zu betreuen
und zu beraten; in landes- oder bundesweite Verteilungen werden sie derzeit
nicht einbezogen. Jugendliche ab dem
vollendeten 16. Lebensjahr werden wie
Erwachsene in Aufnahmeeinrichtungen
oder anderen Sammelunterkünften untergebracht und stellen selbst ihren Asylantrag, besondere Beratung oder Betreuung erhalten sie i.d.R. nicht. Vielen
Jugendlichen zwischen 16 und 18 Jahren
wird damit der Schutz vorenthalten, der
ihnen nach KJHG und internationalen Abkommen zustehen sollte ( Kinderflüchtlinge, Kinderrechte).
Die frühere Bundesregierung sah einen
Mißbrauch durch falsche Altersangaben
junger Flüchtlinge, die sich dadurch einen
„Wunschaufenthalt“ und andere „erhebliche Vorteile“ erstreben und „Kosten von
bis zu 7.000 DM pro Person und Monat“
verursachen würden; „Bund und Länder
haben sich daher bereits im Jahre 1993 ...
darauf verständigt, daß bei offenkundigen
Zweifeln an der Richtigkeit einer Altersangabe von unter 16 Jahren der Ausländer die Beweislast dafür trägt, daß er
tatsächlich unter 16 Jahre alt ist. Ihm
wird anheimgestellt, die Richtigkeit seiner
Angabe durch geeignete Dokumente oder
ggf. durch eine medizinische Untersu-
A LT E R S F E S T S T E L L U N G
chung nachzuweisen. Bis zum Nachweis
... wird der weiteren Bearbeitung seines
Asylersuchens ein fiktives Geburtsdatum
zugrunde gelegt, wonach er mindestens
16 Jahre alt ist“ (alles zit. aus: Deutscher
Bundestag 1995 b, S. 2.) Klagen über mißbräuchliche Altersangaben werden übrigens auch von anderen Regierungen westlicher Länder geäußert (IGC 1997).
Sofern also die Behörden die im Verfahren vorgesehenen Entscheidungen
nicht ohne weiteres aufgrund des Geburtsdatums in vorhandenen Identitätspapieren treffen können – weil Papiere
nicht vorhanden sind oder von den Behörden nicht anerkannt werden –, dann
wird eine Altersbestimmung angeordnet.
Sie wird im wesentlichen zur Klärung der
Verteilung und Unterbringung sowie der
Handlungsfähigkeit im Asylverfahren eingesetzt. Objekte der Altersbestimmungen
sind in aller Regel unbegleitete minderjährige Flüchtlinge; daß minderjährige
Kinder von Asylsuchenden davon betroffen wären, ist mir nicht bekannt, mag
aber in Einzelfällen vorkommen. Minderjährige Kinder von Asylsuchenden werden
nach § 46 (3), § 47 (2) und § 50 (4) Asyl
VfG auch mit den Eltern verteilt und untergebracht.
Ein anderes Gebiet für Altersfeststellungen sind Strafverfahren; hier besteht
eine Grundlage in § 81 StPO. In letzter Zeit
wird mancherorts beobachtet, daß im
Zusammenhang mit einer tatsächlichen
oder unterstellten Straffälligkeit Altersbestimmungen angeordnet werden, deren
Ergebnisse dann auch im Asylverfahren
weiter verwendet werden.
Zur Schätzung des tatsächlichen Alters
wird im Asylverfahren derzeit hauptsächlich die ‘Inaugenscheinnahme’ angewandt; daneben ist auch die ‘Handwurzeluntersuchung’ zu nennen.
2. Handwurzeluntersuchung (HWU)
Bei dieser bis 1995 verbreiteten Methode
wird eine Röntgenaufnahme des linken
Handgelenks gemacht; aus dem Verknöcherungszustand der Handwurzelknochen
wird aufgrund von Vergleichsuntersuchungen auf das tatsächliche, aktuelle
Alter des bzw. der Betroffenen geschlossen. Zum genauen Verfahren muß hier auf
die medizinische Literatur verwiesen werden (Untersuchungen u. a. von Tanner/
Whitehouse, Bailey/Pinneau und Greulich/
Pyle). Der Arzt oder die Ärztin gibt ein
mittleres Alter mit einer möglichen Abweichung nach oben oder unten an (z. B.
13,0 ± 1,0 Jahre, also: 12 bis 14 Jahre).
Das Verfahren ist eine Umkehrung des
medizinischen Zwecks der HWU, die bei
bekanntem Alter Fehler in der Skelettentwicklung eines Kindes aufdecken soll.
Die Auswertung der Röntgenaufnahmen
kann zudem nicht für alle Populationen
gleichermaßen korrekte Ergebnisse liefern. Die grundlegenden Untersuchungsreihen wurden an US-amerikanischen
und britischen Mittelstandskindern gemacht; von vergleichsweise detaillierten
Untersuchungen an allen anderen ethnischen Gruppen ist die Wissenschaft weit
entfernt. Es bleibt auch offen, ob Mangeloder Fehlernährung, radioaktive oder
chemische Grundbelastungen, die bei
Hunger-, Kriegs- und Krisengebieten u. U.
anzunehmen sind, einen zusätzlichen
Einfluß auf die Skelettentwicklung haben.
Das Verfahren ist auch relativ ungenau.
Das sich aus der Röntgenaufnahme ergebende Alter ist immer nur ein Mittelwert
mit einer möglichen Abweichung nach
oben oder unten. Die von den ÄrztInnen
genannten Abweichungen stellen in der
Regel die Standardabweichung dar; sie
umfaßt statistisch aber nur 68 % der beobachtbaren Fälle, d. h. die o. g. Angabe,
ein Kind sei 12 bis 14 Jahre alt, trifft nur
mit einer Wahrscheinlichkeit von rund
zwei Dritteln zu. Ein Drittel der so ein277
AUFNAHMEBEDINGUNGEN
gestuften Kinder wird in Wahrheit jünger
als 12 oder älter als 14 Jahre sein. Will
der Arzt bzw. die Ärztin wenigstens eine
zu 95 % zutreffende Aussage machen, so
muß er bzw. sie eine etwa doppelt so
große Abweichung angeben, z. B. 13,0 ±
2,0 Jahre (Alter also zwischen 11 und 15
Jahren). Trotzdem würde noch eins von
20 Kindern falsch eingestuft sein. Diese
Ungenauigkeit teilt das Verfahren im übrigen mit anderen Verfahren der Altersbestimmung. „Auch die gründlichsten medizinischen Untersuchungen oder Tests
zur Ermittlung des Alters eines jungen
Menschen haben einen Fehlerspielraum
von mindestens zwei Jahren nach oben
und unten“ (IGC 1997, S. 356).
Problematisch ist die oft beobachtete
Praxis der Behörden, die obere Grenze als
fiktives Alter festzusetzen und damit das
Untersuchungsergebnis in der Regel zu
Ungunsten des Kindes auszulegen.
3. Inaugenscheinnahme (IAN)
Diese derzeit am meisten verbreitete Methode der Altersschätzung besteht grundsätzlich darin, den jungen Menschen in
Augenschein zu nehmen und dann ein
mögliches Alter zu schätzen. Damit endet
aber bereits die Gemeinsamkeit der heute
angewandten Verfahren. Weit auseinander gehen die Möglichkeiten, wer wie in
Augenschein nimmt und wie das Ergebnis
festgestellt wird.
Der medizinischen Literatur nach wird
sich ein Kinderarzt oder eine Kinderärztin
das Kind ansehen und mit ihm sprechen
und sich einen Eindruck vom körperlichen
und geistigen Entwicklungsstand machen;
zur körperlichen Untersuchung gehört wissenschaftlich gesehen auch die Inspektion
zumindest der sekundären Geschlechtsmerkmale. (Allerdings stellt sich die Frage, ob der Zweck des Verfahrens das hier
rechtfertigt.) Arzt bzw. Ärztin werden darauf ein wahrscheinliches Alter feststellen.
278
In der derzeitigen Praxis wird die IAN
häufig nicht von MedizinerInnen, sondern
von MitarbeiterInnen der Jugendämter,
der Ausländerbehörden oder des Bundesgrenzschutzes ausgeführt. Eine Inspektion
der Geschlechtsteile dürfte dabei vermutlich nicht zulässig sein. Teil der IAN ist
meist auch die Befragung nach der Vorgeschichte des Jugendlichen und nach
Gegebenheiten im Herkunftsland. Teilweise werden von mehreren MitarbeiterInnen Schätzungen des Alters abgegeben.
Die Behörden handeln bei der Altersbestimmung nach IAN gemäß dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung. Rechtsgrundlagen sind § 24 (1), § 26 (1) S. 4 und
§ 69 (1) VwVfG (Jockenhövel-Schiecke
1998, S. 166).
Es liegt auf der Hand, wie ungenau solche Schätzungen sein müssen; wer als ehrenamtlicher Berater mit ausländischen
Flüchtlingen zu tun hat, weiß, wie überraschend deren Altersangaben oft wirken.
Die Altersbestimmung, „in vielen Fällen
intuitiv vor sich gehend, verlangt eine reiche Erfahrung und zum Teil langjährige
Praxis“ (Wagenknecht 1979, S. 5). Ob die
heute mit der Altersbestimmung junger
Flüchtlinge betrauten Personen diese
Kenntnisse besitzen, wäre im Einzelfall sicher kritisch zu prüfen. Aus keiner der offiziellen Stellungnahmen ergibt sich ein
Hinweis auf eine Einsicht in die Schwierigkeit der Altersschätzung, auf eine spezielle Ausbildung der Beteiligten oder
auch nur auf Vergleichsuntersuchungen,
mit denen die Einordnung von Jugendlichen verschiedenster ethnischer und
kultureller Herkunft in eine Altersstufe
möglich wäre.
Die für die HWU aufgestellten statistischen Erwägungen gelten sicher verstärkt
noch für die IAN, d. h. die Einstufung kann
korrekt nur mit einem Spielraum von
mehreren Jahren nach oben oder unten
erfolgen. Zugute zu halten ist der Methode, daß sie – wenn vorurteilsfrei und mit
der erforderlichen Kenntnis angewendet –
A LT E R S F E S T S T E L L U N G
näher an den wesentlichen Merkmalen
arbeitet: Für die Schutzbedürftigkeit und
Handlungsfähigkeit ist eher wesentlich,
wie kindlich oder wie erwachsen die Person ist, und weniger, welches Skelettalter
seine Handwurzelknochen erreicht haben.
Nach derzeitiger Praxis wird als Ergebnis der IAN nicht ein möglicher Altersspielraum festgesetzt, sondern ein ganz
konkretes Alter oder auch nur, ob die Person älter oder jünger als 16 Jahre ist.
4. Andere Methoden
Die medizinische Literatur nennt einige
andere Verfahren der Altersschätzung. Zu
erwähnen ist hier vor allem die Untersuchung der Zähne und des Kiefers durch
ZahnärztInnen, KieferorthopädInnen oder
-chirurgInnen – äußerlich oder durch
Röntgenaufnahmen –, die Aufschluß über
den körperlichen Entwicklungsstand und
damit ein mögliches Alter des Betroffenen
geben kann. Dabei wird ausgenutzt, daß
die Milchzähne und die bleibenden Zähne
sich meist in einer bestimmten und alterstypischen Reihenfolge herausbilden. Allerdings sind auch hier weite Streuungen
möglich; vergleichende Untersuchungen,
die das ganze ethnische Spektrum der in
Deutschland betroffenen Kinderflüchtlinge abdecken, liegen meines Wissens nicht
vor.
5. Das weitere Verfahren
Aufgrund der Altersfeststellung wird in
der Regel ein fiktives Geburtsdatum (immer der 1.1.) festgesetzt, damit ggf. eine
Alterskorrektur gegenüber den Angaben
des Flüchtlings durchgeführt und dem
weiteren Verfahren zugrunde gelegt. Das
festgesetzte Alter gilt auch für das BAFl.
Jedoch „um den Rechtsschein der Richtigkeit des angenommenen Geburtsda-
tums zu vermeiden“, wird in den Papieren
vermerkt: „Fiktives Geburtsdatum auf
Grund äußeren Anscheins“; so lautet die
Standardregelung zumindest in mehreren
Bundesländern.
Entsprechend dem fiktiven Alter wird
über die Form der Unterbringung und
Betreuung entschieden. Jugendliche über
16 Jahren werden zumeist wie Erwachsene bundes- und landesweit verteilt und
untergebracht, mit allen Auflagen und Beschränkungen, die sich aus den §§ 46 – 60
AsylVfG ergeben.
Wenn der junge Flüchtling mit dem
Ergebnis nicht einverstanden ist, hat er
zumindest theoretisch die allgemeinen
Rechtsmittel, sich gegen diesen Verwaltungsakt zu wehren. Eventuell lassen sich
aus dem Herkunftsland bessere Identitätspapiere beschaffen. Ansonsten sieht sich
der junge Flüchtling in einer verzwickten
Situation. Er kann selbst ein Gegengutachten anfertigen lassen; praktisch wird
ihm das jedoch in der Regel schon durch
finanzielle Beschränkung unmöglich sein.
Unsinnig erscheint auch, daß sich der
Flüchtling ausgerechnet durch eine HWU
(s. o.) im eigenen Auftrag Gerechtigkeit
verschaffen können sollte. Bei der Beauftragung eines Rechtsanwalts bzw. einer
Rechtsanwältin sowie bei der Aufstellung
und Einreichung einer Klage beim Verwaltungsgericht wird unter Umständen
die Mitwirkung des Vormunds erforderlich; da das zu Interessenkonflikten zwischen dem Jugendamt und anderen
Behörden führen kann, ist nach allgemeiner Lebenserfahrung zu erwarten, daß
nicht immer im Sinne des minderjährigen
Flüchtlings gehandelt werden wird (
Vormundschaft, Vereinsvormundschaft).
Das deutsche Verfahren der Altersfeststellung wird wohl künftig auch in Europa
Norm sein: Eine Entschließung des Rates
der EU vom 26.6.1997 zu unbegleiteten
minderjährigen Staatsangehörigen dritter
Länder sagt in Art. 4 (3) aus: „a) Grund279
AUFNAHMEBEDINGUNGEN
sätzlich müssen unbegleitete Asylbewerber, die behaupten, minderjährig zu sein,
ihr Alter nachweisen. b) Ist dieser Nachweis nicht möglich oder bestehen ernste
Zweifel, so können die Mitgliedstaaten das
Alter des Asylbewerbers schätzen. Die
Schätzung des Alters sollte objektiv vor
sich gehen. Zu diesem Zweck können die
Mitgliedstaaten mit Zustimmung des Minderjährigen, des bestellten Vertreters oder
der bestellten Einrichtung einen medizinischen Altersbestimmungstest durch geschultes medizinisches Personal durchführen lassen.“ (Zit. nach Grenz 1998, S.
20.)
6. Anwendung in den Bundesländern
Generell wird die HWU seit 1995, von Einzelfällen abgesehen, nicht mehr angewandt und durch die IAN ersetzt. Allerdings werden immer wieder Hinweise auf
HWU und Kieferröntgenuntersuchungen
gegeben, teils im Zusammenhang mit
Verfahren, die nicht direkt mit dem Asylantrag zusammenhängen, teils bei Untersuchungen ‘auf eigenen Wunsch’ oder ‘mit
Zustimmung’ der Kinder bzw. Jugendlichen. Das muß sicher kritisch geprüft
werden.
Im einzelnen sind hier einige exemplarische Anmerkungen zu Verfahrensbesonderheiten zu machen. Die Details werden
sich im Laufe der Zeit, orientiert an der
Effektivität des Verfahrens, eventuell auch
am Wohl der Kinder, weiter verändern.
In Baden-Württemberg wurde bis 1995
regelmäßig die HWU durch OrthopädInnen im Auftrag des Jugendamtes der
Stadt Karlsruhe durchgeführt. Seit 1995
wird die IAN durch MitarbeiterInnen der
Landesaufnahmestelle und des Jugendamtes angewandt.
Aus Bayern wurden von mehreren Stellen Hinweise auf noch stattfindende HWU
und andere Röntgenuntersuchungen gegeben. Ansonsten wird auch die IAN prak280
tiziert. Nach Mitteilung des Bayerischen
Innenministeriums wird verfahren, wie
mit der Bundesregierung vereinbart (s. o.
Nr. 1.). Das heißt, danach veranlassen die
bayerischen Behörden zumindest selbst
keine medizinischen Untersuchungen.
Nach Kenntnis des Bayerischen Flüchtlingsrats werden jugendliche Flüchtlinge
in München nach der Inobhutnahme einige Zeit beobachtet; bei Auffälligkeiten
ordnet das Vormundschaftsgericht mit Zustimmung der Vormünder in jedem Fall
eine HWU und andere medizinische Untersuchungen in örtlichen Kliniken an.
Auch in Nürnberg/Erlangen und Bayreuth
werden danach noch HWU durchgeführt.
In Zirndorf/Nürnberg wird eine kieferorthopädische Untersuchung auf Antrag des
Kreisjugendamts Fürth durchgeführt.
„Der Flüchtling wird in entsprechender
Weise aufgeklärt und gibt durch Unterschrift sein Einverständnis zur Untersuchung. Da zum Zeitpunkt der Untersuchung ein Vormund noch nicht bestellt ist,
kann eine Zustimmung nicht eingeholt
werden. Darüber hinaus ist bei der Art
der Altersfeststellung nach geltendem
Recht die Zustimmung des Vormundschaftsgerichtes entbehrlich“ (Mitteilung
der ZAE Zirndorf 9.9.1998). Nach Auskunft der Arztpraxis, die die Untersuchungen durchführt, wird dabei der gesamte
Kiefer geröntgt. Auch die Kieferorthopädische Abteilung der Universitätsklinik
Erlangen/Nürnberg führt auf Veranlassung des Kreisjugendamts HWU und Kieferröntgenuntersuchungen zur Altersüberprüfung durch (telefonische Mitteilung 25.9.1998). In Bayreuth veranlaßt
das städtische Jugendamt Kieferröntgenuntersuchungen durch einen Radiologen,
wenn Jugendamt oder ZAE Zweifel an der
Altersangabe haben. „In der Regel gibt es
zu diesem Zeitpunkt keinen Vormund. Der
Vormundschaftsrichter fühlt sich nicht zuständig.“ (Mitteilung des Jugendamts Bayreuth 9.6.1998)
A LT E R S F E S T S T E L L U N G
Die bayerische Landesregierung hat
am 7.12.1998 verfügt, Röntgenuntersuchungen zur Altersbestimmung nicht
mehr anzuwenden.
Berlin: Das fiktive Alter wird vom Landesjugendamt durch IAN festgestellt.
Neue Entwicklung ist, daß jede Stelle, die
mit den Jugendlichen befaßt ist, eine neuerliche Altersfeststellung veranlaßt.
In Brandenburg werden derzeit keine
medizinischen oder sonstigen Untersuchungen ausgeführt. Das Landesjugendamt hält diese für rechtswidrig. Es gelten
die Angaben der Betroffenen.
Bremen: Ebenso wie in Hamburg wird
aus Bremen über Anklagen wegen Betrugs und mittelbarer bzw. schwerer mittelbarer Falschbeurkundung gegen jugendliche Flüchtlinge berichtet, die ein
falsches Alter angegeben hätten. Die Anklagen seien zurückgewiesen worden, jedoch eine Kriminalisierung damit zumindest versucht worden und der Glaubhaftigkeit der Jugendlichen im Asylverfahren
geschadet worden (vgl. Grenz 1998, S. 19).
Hamburg: Das fiktive Alter wird von der
Ausländerbehörde (durch IAN) festgestellt. Seit 1997 werden viele Alterskorrekturen vorgenommen. „Neu ist außerdem seit Herbst 1997, daß die SachbearbeiterInnen der Ausländerbehörde bei
Zweifeln am Alter von Flüchtlingen sofort
zwei LKA-Beamte dazu rufen. Sind diese
auch davon überzeugt, daß der Betroffene
älter ist, als er angibt, nehmen sie ihn vorläufig fest und erstatten Anzeige wegen
‘Verdacht der mittelbaren Falschbeurkundung’. Der Jugendliche ... wird außerdem
zur ED-Behandlung zur Polizei gebracht.
... Die gesamte Prozedur, die mit menschenunwürdigen ‘Begutachtungen’ und
Fotos im nackten Zustand verbunden ist,
dauerte in mehreren Fällen bis spät in die
Nacht ... Bisher ist noch nicht bekannt,
daß es gegen Betroffene zur Anklage
kam“ (Grenz 1998, S. 19). Bei Vorwürfen
im Zusammenhang mit Betäubungsmit-
teln werden HWU am Hamburger Universitätskrankenhaus durchgeführt, dazu
wird theoretisch das Einverständnis der
Betroffenen erforderlich. Es gibt jetzt auch
eine Liste mit ÄrztInnen, die auf Wunsch
von Betroffenen eine medizinische IAN
(jedoch derzeit offenbar keine HWU)
durchführen; dabei wird in der Regel nur
festgestellt, ob das geschätzte Alter unter
oder über 16 Jahre beträgt.
Hessen: Auf dem Frankfurter Flughafen wird die Altersfeststellung im Flughafenverfahren mittels IAN durch je fünf
Beamte des Bundesgrenzschutzes durchgeführt. Nach Angabe der Bundesregierung wird das Alter durch Dokumente,
Angaben des Minderjährigen und Schätzung „durch lebens- und berufserfahrene
Polizeivollzugsbeamte und ggf. durch Dolmetscher aus dem jeweiligen Heimatstaat“ festgestellt (Dt. Bundestag 1996, S.
19). In Frankfurt wird die IAN durch das
Jugendamt durchgeführt. Das hessische
Verfahren ist in einem Erlaß des Innenministerium vom 13.1.1994 geregelt.
Mecklenburg-Vorpommern: Nach Mitteilung der Schweriner Ausländerbeauftragten wird bei allen minderjährigen unbegleiteten Asylsuchenden eine Altersbestimmung mittels IAN durchgeführt, auch
wenn das anderswo schon einmal gemacht wurde. (Wird ein zugewiesener
Flüchtling dann wieder für jünger als 16
Jahre gehalten, so wird er wieder in das
zuweisende Bundesland zurückgeschickt.
[vgl. Jockenhövel-Schiecke 1998, S. 166.])
Die IAN wird durch eine Kommission
durchgeführt: Dolmetscher, Ärztin, drei
Mitarbeiter des Landesamtes für Asylund Flüchtlingsangelegenheiten, evtl. ein
Berater der Betreiberfirma.
Rheinland-Pfalz: Das Verfahren ist zwischen verschiedenen Behörden am 19.9.
1997 vereinbart worden: Das Alter von
unbegleiteten Minderjährigen ohne Papiere wird durch das Jugendamt der Kreisverwaltung Mainz-Bingen mittels IAN
281
AUFNAHMEBEDINGUNGEN
festgestellt. Liegen Papiere vor, werden
aber nicht anerkannt, so sind das BAFl
und die Aufnahmeeinrichtung Ingelheim
zu beteiligen. Werden zugewiesene Flüchtlinge für jünger als 16 Jahre gehalten, so
werden sie zurückgeschickt. In Rheinland-Pfalz werden Mädchen auch von 16
bis 18 Jahren in Jugendhilfeeinrichtungen
untergebracht.
Sachsen-Anhalt: Das Verfahren ist
durch einen Erlaß vom 10.4.1996 geregelt.
Unterschiede zwischen männlichen und
weiblichen Jugendlichen erfolgen danach
nicht. Eine IAN wird nach Angabe der
Clearingstelle durch das BAFl oder durch
das Jugendamt Halberstadt durchgeführt.
Thüringen: Das Verfahren ist durch einen Erlaß die Sozialministeriums vom
19.2.1997 geregelt: Weibliche unbegleitete Minderjährige von 16 bis 18 Jahren
werden danach in Jugendhilfeeinrichtungen untergebracht. „Ausweislose männliche Asylsuchende, die ein Alter unter 16
angeben, ihrem äußeren Erscheinungsbild aber offenkundig älter sind, sind deshalb als mindestens 16jährige zu behandeln und ... an die EAE zu verweisen, soweit nicht im Einzelfall ... die Unterbringung in einer Einrichtung der Jugendhilfe
geboten ist.“
7. Stellungnahmen
Der Förderverein Pro Asyl veröffentlichte
im März 1995 ein Gutachten über die
Handwurzeluntersuchung
(Laier/Beck
1995). Es wurde ermittelt, ob für die Untersuchung eine gesetzliche Ermächtigungsgrundlage besteht. Über die medizinischen Aspekte, insbesondere die Zuverlässigkeit der Altersbestimmung, wurden
ärztliche Stellungnahmen beigezogen. Das
Gutachten kam zu dem Ergebnis, daß die
HWU jedenfalls bei außereuropäischen
Minderjährigen ungeeignet ist und eine
ausreichende Rechtsgrundlage fehlt. Die
Untersuchung sei daher rechtswidrig und
282
erfülle den Tatbestand einer Körperverletzung. ÄrztInnen und BeamtInnen, die
sie durchführen bzw. anordnen, machen
sich dem Gutachten zufolge strafbar und
zivilrechtlich haftbar. Auch ein Vormund
oder Pfleger dürfe die Untersuchung nicht
veranlassen oder ihr zustimmen; eine
eventuelle Einwilligung des Jugendlichen
kann die fehlende rechtliche Grundlage
nicht ersetzen. (Hier ist anzumerken, daß
dies genauso für die Kiefernröntgenuntersuchung gelten dürfte.) Die Veröffentlichung des Pro Asyl-Gutachtens fand bundesweites Medienecho und führte dazu,
daß die HWU als Regelverfahren abgeschafft wurde.
Der UNHCR fordert zur Schätzung des
Alters, daß die „benutzten Verfahren präzise sind und die Fehlergrenzen berücksichtigt werden. Zudem dürfen nur solche
technischen Verfahren zum Einsatz kommen, die die Menschenwürde nicht verletzen. ... Wenn das genaue Alter nicht bekannt ist, sollte auch in diesem Fall zugunsten des Kindes entschieden werden“
(UNHCR 1994, S. 120). „Wo immer möglich, sollten die rechtlichen Folgen bzw.
die Bedeutung des Alterskriteriums so gering wie möglich sein oder nur wenig ins
Gewicht fallen. ... Ausschlaggebend muß
sein, ob der Betreffende eine ‘Unreife’ und
Hilflosigkeit zeigt, die eine sensiblere Behandlung erfordern könnten“ (UNHCR
1997, S. 5).
Die AG MUF (minderjährige unbegleitete Flüchtlinge) des Hamburger Flüchtlingsrats hat gegen die Praxis der Altersfeststellungen insgesamt protestiert und
gefordert, allen Flüchtlingen eine menschenwürdige Unterbringung, ausreichende Beratung und Betreuung zu gewährleisten, so daß die Angabe eines falschen Alters unnötig bleibt (AG MUF
1997). Von anderen Flüchtlingsräten wird
vielfach die Forderung erhoben, Altersfeststellungen – soweit überhaupt nötig –
nicht durch Einzelpersonen, sondern
A U F E N T H A LT S T I T E L
durch Gremien unter Beteiligung von PsychologInnen, FachärztInnen und Personen aus der Ethnie des Jugendlichen ausführen zu lassen. Von mehreren Organisationen werden zudem private Vormundschaften empfohlen, um Interessenkonflikten zwischen Jugendämtern und Ausländerbehörden auszuweichen und eine
optimale Betreuung und Beratung der
Kinderflüchtlinge zu erreichen.
Literatur
AG MUF des Hamburger Flüchtlingsrats: Alters’feststellungen’ bei Flüchtlingen. In: off limits – Antirassistische Zeitschrift (Hamburg). Nr. 18, Mai/Juni 1997, S.
38
Dt. Bundestag: Verhandlungen des Deutschen Bundestags, 13. Wahlperiode. Antwort der Bundesregierung auf die Kl. Anfrage der Abg. Monika Knoche und
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Drucksache
13/1165 vom 24.4.1995 b
Dt. Bundestag: Verhandlungen des Deutschen Bundestags, 13. Wahlperiode. Antwort der Bundesregierung auf die Gr. Anfrage der Abg. Christa Nickels u. a.
und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Drucksache
13/4861 vom 12.6.1996
IGC (Secretariat of the Inter-Governmental Consultations on Asylum, Refugee and Migration Policies in
Europe, North America and Australia): Report on Unaccompanied Minors. Overview of Policies and Practices in IGC Participating States. Genf 1997
Grenz, Conni: Behördliche Altersfeststeller produzieren Kriminelle. In: off limits – Antirassistische Zeitschrift (Hamburg). Nr. 21, Februar/März 1997, S. 18-21
Jockenhövel-Schiecke, Helga: Schutz für unbegleitete
Flüchtlingskinder: Rechtsgrundlagen und gegenwärtige Praxis. In: ZAR –Zeitschrift für Ausländerrecht
und Ausländerpolitik, Nr. 4/1998, S. 165-175.
Laier, Tanja/Beck, Winfried: Aus der Hand gelesen.
Die Zulässigkeit von Röntgenaufnahmen der Hand
zum Zweck der Altersfeststellung bei unbegleiteten
minderjährigen Flüchtlingen. Gutachten im Auftrag
des Fördervereins Pro Asyl e.V. und des Vereins Demokratischer Ärztinnen und Ärzte. Frankfurt/M. 1995
UNHCR: Flüchtlingskinder. Richtlinien zu ihrem
Schutz und ihrer Betreuung. Bonn 1994
UNHCR: Richtlinien über allgemeine Grundsätze und
Verfahren zur Behandlung asylsuchender unbegleiteter Minderjähriger. Bonn 1997
UNHCR: Flüchtlinge – Kinder. [Sonderausgabe der
Zeitschrift ‘Flüchtlinge’.] Bonn o.J.
Wagenknecht, Egon (Hg.): Altersbestimmung. Melsungen/Berlin 1979
Gerhard Schulz-Ehlbeck
Aufenthaltstitel
Die Aufenthaltstitel kennzeichnen die unterschiedlichsten Möglichkeiten des Aufenthalts
von MigrantInnen. In dem folgenden Text werden die Bezeichnungen der einzelnen Aufenthaltstitel nach dem Ausländergesetz dargestellt und deren Bedeutung erläutert. Es werden auch solche Aufenthaltstitel und deren
Bedeutung beschrieben, die letztendlich keine
Aufenthaltsgenehmigung darstellen. Um die
Konsequenzen eines Aufenthaltstitels für die
MigrantInnen jedoch richtig einschätzen und
differenziert damit umgehen zu können, ist es
für alle Beteiligten unbedingt notwendig, die
grundlegenden Formen zu kennen.
1. Aufenthaltsgenehmigungen
Die Aufenthaltsgenehmigung ist gem. § 3
Abs. 3 AuslG grundsätzlich vor der Einreise in Form des Sichtvermerks (Visum)
einzuholen (Ausnahmen z. B. EU-, EFTAund US-Staatsangehörige), sonst besteht
ein zwingender Versagungsgrund ( Asylverfahren). Für Nicht-EU-Staatsangehörige ist die Einreise i.d.R. nur noch im
Familiennachzug möglich.
1.1 Aufenthaltserlaubnis §§ 15 – 26 AuslG
(AE)
Ohne Bindung an einen bestimmten Aufenthaltszweck kann aber mit Auflagen
(z. B. Einschränkung der Erwerbstätig283
AUFNAHMEBEDINGUNGEN
keit) und Bedingungen versehen werden:
– AE zur Familienzusammenführung §§
17 – 23 AuslG betrifft den Nachzug zu
Ehegatten oder Eltern. Der Nachzug zu
sonstigen Familienangehörigen ist nur
bei Vorliegen einer außergewöhnlichen
Härte möglich. Der Bezug von Sozialhilfe für sich oder Familienangehörige,
denen der/die AusländerIn zum Unterhalt verpflichtet ist, gilt i.d.R. als Ablehnungsgrund für einen Familiennachzug.
– AE zur Aufnahme einer unselbständigen Erwerbstätigkeit § 10 AuslG und
Arbeitsaufenthalte VO (AAV). Grundsätzlich gilt seit 1974 ‘Anwerbestop’.
AE für Erwerbstätigkeit von mehr als 3
Monaten nur, wenn der Ausnahmebestand der AAV erfüllt und die Arbeitserlaubnis zugesichert ist.
1.1.1 Befristete AE § 12 Abs. 2 AuslG
AE wird i.d.R. zunächst und solange befristet erteilt und verlängert, bis die unbefristete Erteilung möglich ist. Bei Verlängerung müssen die gleichen Voraussetzungen erfüllt werden wie bei der erstmaligen
Beantragung (§ 7 Abs. 2 AuslG). Sozialhilfebezug ist ein Ausweisungsgrund (§ 46
Abs.6) und insofern Regelversagungsgrund. Das Einkommen muß aus eigener
Erwerbstätigkeit, eigenem Vermögen oder
sonstigen eigenen Mitteln gesichert sein.
Es besteht kein Anspruch auf automatische Verlängerung. Der Verlängerungsantrag muß rechtzeitig, d. h. spätestens am
letzten Tag der Gültigkeit der AE gestellt
werden. Befristung erfolgt i.d.R. im Rhythmus von 1 + 2 + 2 Jahren. Längere Fristen
z. B. 3 Jahre bei deutsch Verheirateten
sind möglich.
1.1.2 Unbefristete AE §§ 24 ff AuslG (uAE)
Sie kennzeichnet die erste Stufe der Aufenthaltsverfestigung (eigenständiges Auf284
enthaltsrecht).
Erteilungsvoraussetzungen sind:
– 5jähriger Besitz der AE
– besondere Arbeitserlaubnis/Arbeitsberechtigung
– gesicherter Lebensunterhalt aus eigener Erwerbstätigkeit/Vermögen
– einfache mündliche Sprachkenntnisse
– ausreichender Wohnraum
– kein Ausweisungsgrund, wie z. B. Anspruch auf Sozialhilfe, Straftaten, längerfristige Obdachlosigkeit usw.
1.1.2.1 uAE für Ehegatten und nachgezogene Kinder §§ 25 + 26 AuslG
– das Einkommen und die Arbeitserlaubnis können auch von der bzw. dem/der
EhepartnerIn gesichert sein
– uAE nach 3 Jahren für mit Deutschen
Verheiratete, wenn die eheliche Lebensgemeinschaft weiterbesteht
– uAE ab dem 16. Geburtstag für minderjährig Eingereiste nach 8jährigem Aufenthalt
1.1.2.2 uAE für Asylberechtigte § 68
AsylVerfG
– wird ohne weitere Voraussetzungen
nach der Anerkennung als Asylberechtigte/r erteilt.
1.1.2.3 uAE für BefugnisinhaberInnen
§ 35 AuslG
– nach 8 Jahren Befugnis, wenn die Voraussetzungen für uAE vorliegen
2. Aufenthaltsberechtigung § 27 AuslG
Diese Aufenthaltsberechtigung kennzeichnet die höchste Stufe der Aufenthaltsverfestigung. Sie kann nicht mit Auflagen
und Bedingung versehen werden, insbesondere keine Einschränkung der Erwerbstätigkeit, z.B. Selbständigkeit. Erteilungsvoraussetzungen sind gegeben bei:
A U F E N T H A LT S T I T E L
– 8 Jahre Besitz der AE oder
– 5 Jahre Besitz der AE bei deutsch Verheirateten und Asylberechtigten oder
ehemaligen Deutschen 3 Jahre uAE bei
vorherigen BefugnisinhaberInnen
– Lebensunterhalt aus eigener Erwerbstätigkeit, eigenem Vermögen oder sonstigen eigenen Mitteln gesichert ist
– 60 Monate Beiträge zur gesetzlichen
oder privaten Rentenversicherung gezahlt wurden. Ausnahmen sind bei hier
aufgewachsenen Jugendlichen und jungen Erwachsenen möglich, die sich in
einer Ausbildung, Schule oder im Studium befinden
– Wenn keine Verurteilung in den letzten
3 Jahren wegen einer vorsätzlichen
Straftat zu einer Strafe von mind. 6 Monaten/180 Tagessätzen vorliegt
– Vorliegen der uAE-Voraussetzungen (s.
1.2)
3. Aufenthaltsbewilligung § 28 und
29 AuslG
Gilt nur für einen bestimmten vorübergehenden Zweck (z. B. Besuch, Studium,
Praktikum, Kinderbetreuung), d. h.
– keine unbefristete Verlängerung, keine
Aufenthaltsverfestigung
– grundsätzlich kein Wechsel des Aufenthaltszwecks ohne vorherige Ausreise
– grundsätzlich kein unmittelbarer Übergang zur AE ohne vorherige Ausreise
(Ausnahme: Eheschließung)
– Sozialhilfebezug ist nicht möglich
4. Aufenthaltsbefugnis §§ 30 – 35 AuslG
Die Aufenthaltsbefugnis ist ein subsidiärer
Aufenthaltstitel, der die Funktion einer
Härteklausel hat und vorübergehend oder
auf unbestimmte Zeit erteilt wird. Sie ist
eine Vorstufe für einen Daueraufenthalt
und deshalb für Flüchtlinge außerordentlich wichtig. Es sollte daher in jedem Fall
mit RechtsanwältInnen geklärt werden,
ob eine Aufenthaltsbefugnis möglich ist.
Sie wird unter anderem erteilt:
– aus völkerrechtlichen Gründen, aufgrund einer Aufnahmeverpflichtung der
Bundesrepublik Deutschland;
– aus dringenden humanitären Gründen
im außergewöhnlichen Härtefall zur
Wahrung politischer Interessen der
BRD, wenn die Erteilung einer AE aus
rechtlichen Gründen ausgeschlossen ist
(z. B. an abgelehnte AsylbewerberInnen, die aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen nicht abgeschoben werden sollen oder können bzw. Personen,
die aus diesen Gründen über einen längeren Zeitraum geduldet waren;
– bei AusländerInnen, die unanfechtbar
ausreisepflichtig sind und eine Duldung
erteilt wird, weil eine freiwillige Ausreise oder Abschiebung unmöglich ist
z. B. wegen Fehlen des Passes oder
Transportunfähigigkeit;
– AusländerInnen, die seit 2 Jahren unanfechtbar ausreisepflichtig sind und
mindestens seit zwei Jahren eine Duldung haben.
Eine unbefristete AE und damit Aufenthaltsverfestigung ist nach 8 Jahren möglich, wenn alle Voraussetzungen für eine
unbefristete AE erfüllt sind (s. 1.2).
5. Aufenthaltserlaubnis – EG
Aufenthaltsgesetz/EWG
Für freizügigkeitsberechtigte Angehörige
der EU und Gleichgestellte (EWR-Staatsangehörige), dies sind:
– ArbeitnehmerInnen
– Selbständige
– ErbringerInnen bzw. EmpfängerInnen
von Dienstleistungen
– Verbleibeberechtigte
– Familienangehörige ungeachtet ihrer
Staatsangehörigkeit
285
AUFNAHMEBEDINGUNGEN
5.1 Befristete AE-EG nach europäischem
Gemeinschaftsrecht oder Unbefristete
AE-EG nach nationalem Recht, § 7 a,
AufenthG/EWG
Ergänzende Sozialhilfe wegen Teilzeitbeschäftigung ist kein Hinderungsgrund für
die Erteilung und Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis-EG. Die Freizügigkeit/
EG ermöglicht bei nachgwiesenem gesichertem Lebensunterhalt auch StudentInnen, RentnerInnen mit Rente aus anderen
Mitgliedstaaten und sonstigen wirtschaftlich abgesicherten Personen eine befristete Aufenthaltserlaubnis/EG.
6.2 Fiktive Aufenthaltserlaubnis
§ 69 AuslG
Die Antragstellung im Inland bewirkt, daß
der weitere Aufenthalt bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde als erlaubt
gilt (Fiktionswirkung), wenn der/die AusländerIn
– mit einem mit Zustimmung der Ausländerbehörde erteilten Visum eingereist ist (kein Besuchervisum);
– er/sie von der Aufenthaltsgenehmigungspflicht befreit war und gem. § 9
DVAuslG den Antrag nach Einreise unter Fristwahrung stellen kann oder
– er/sie sich seit mehr als 6 Monaten
rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält.
6. Sonstiger rechtmäßiger Aufenthalt
6.1 Befreiungstatbestände
Befreiungstatbestände ergeben sich für:
– AusländerInnen, die nicht der deutschen Gerichtsbarkeit unterliegen oder
aufgrund völkerrechtlicher Verträge
von der Aufenthaltsgenehmigungspflicht befreit sind (§§ 2 + 96 AuslG);
– Kurzaufenthalte bis zu 3 Monaten bei
sog. ‚Positivstaatlern’, die keine Erwerbstätigkeit aufnehmen, z. B. Polen,
Tschechien, Brasilien, USA, Schweiz
und eine Reihe weiterer Länder (vgl.
Anlage 1 DV AuslG);
– AusländerInnen unter 16 Jahren, wenn
sie die Staatsangehörigkeit eines EGoder EFTA-Staates oder einen Paß
Ecuadors besitzen: Seit 15.1.97 benötigen Staatsangehörige aus Jugoslawien,
Marokko, Türkei und Tunesien auch
für einen Besuch ein Visum und eine
Aufenthaltserlaubnis;
– EU-Staatsangehörige auf Arbeitsuche
für die ersten 3 Monate § 8 AufenthG/
EWG.
286
6.3 Aufenthaltsgestattung § 55 AsylVerfG
Vor bestandskräftigem Abschluß des Asylverfahrens kann – außer im Falle eines
gesetzlichen Anspruchs – keine Aufenthaltsgenehmigung erteilt werden. Aus
diesem Grund erhalten AsybewerberInnen eine befristete Aufenthaltsgestattung.
Materielle Hilfen sind nur noch nach dem
Asylbewerberleistungsgesetz möglich.
Wichtig: Bei unter 16-jährigen ‚unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen’ haben die VomüderInnen oder PflegerInnen
für das Kind einen Asylantrag zu stellen.
Solange das Asylverfahren läuft, erhält
das Kind eine Aufenthaltsgestattung (
Gesetzliche Grundlagen). Wenn der Asylantrag abgelehnt wird, erlischt die Aufenthaltsgestattung automatisch und der/die
Betroffene wird ausreisepflichtig. In diesem Fall sollte sofort eine Duldung beantragt werden, denn wenn der/die Betroffene der Ausreisepflicht nicht nachkommt,
kann er/sie abgeschoben werden ( Abschiebung).
A U F E N T H A LT S T I T E L
7. Weitere Aufenthaltsformen
Diese vermitteln keinen rechtmäßigen
Aufenthalt im ausländerrechtlichen Sinne
oder Aufenthaltsgenehmigungen.
7.1 Ausreisepflicht/Abschiebung
§ 42 AuslG
Bestehen Abschiebehindernisse oder werden sie von dem Ausreisepflichtigen geltend gemacht, ist zu prüfen, ob die Voraussetzung zur Erteilung einer Duldung
vorliegt (§ 55 AuslG). Ein/e AusländerIn,
der/die keine Aufenthaltsgenehmigung
(mehr) besitzt, ist zur Ausreise verpflichtet. Reist er/sie nicht freiwillig aus oder ist
nicht sicher, ob er/sie freiwillig ausreist, ist
der/die AusländerIn abzuschieben (§ 49
AuslG). Die Abschiebung soll schriftlich
angedroht und eine Ausreisefrist bestimmt werden (§ 50 AuslG).
7.2 Duldung § 51 ff AuslG
7.2.1 Abschiebehindernisse/Duldungsgründe §§ 51, 53 AuslG
Politisch Verfolgte (Asylberechtigte) sowie
AusländerInnen, die die Rechtsstellung eines ausländischen Flüchtlings besitzen
(z. B. im Rahmen der Genfer Flüchtlingskonvention oder der humanitärer Hilfsaktionen Aufgenommene), dürfen nicht in
Verfolgerstaaten abgeschoben werden.
Das gleiche gilt für AusländerInnen, die in
einen Staat abgeschoben werden sollen, in
dem die konkrete Gefahr der Folter oder
die Todesstrafe droht.
Eine Abschiebung in einen Staat, in
dem der/dieAusländerIn eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung (z. B.
absichtliche Zufügung schwerer psychischer und physischer Leiden, Verursachung von Gefühlen von Furcht, Todesangst, Minderwertigkeit) droht, ist ebenfalls unzulässig (Europ. Menschenrechtskonvention). Allgemeine Gefahrenlagen
im Krieg oder Bürgerkrieg begründen
noch keinen zwingenden Abschiebeschutz. Nur wenn eine extreme allgemeine Gefahrenlage besteht und der/die AusländerIn durch die Abschiebung gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod
oder anderen schwersten Rechtsgutverletzungen ausgeliefert würde, ist ein Abschiebeschutz geboten.
Ob die Voraussetzungen des § 51 (Abschiebeverbot) vorliegen, wird im Rahmen
des Asylverfahrens geprüft. Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer
Flüchtlinge ist nach Stellung eines Asylantrags ebenfalls zuständig für die Überprüfung von Abschiebehindernissen nach
§ 53, §§ 5, 13 II, 24 II AsylVerfG.
Für die Überprüfung der Abschiebehindernisse nach § 53 AuslG ist nur dann die
Ausländerbehörde zuständig, wenn kein
Asylantrag gestellt wurde und der Ausländer keine politische Verfolgung i.S.v.
§ 51 Abs. 1 AuslG geltend macht. Liegen
die oben beschriebenen Duldungsgründe
vor, besteht ein rechtliches Abschiebehindernis. Der/die AusländerIn besitzt einen
Anspruch auf eine Duldung, der ggf.
durch eine einstweilige Anordnung nach
§ 123 VwGO durchgesetzt werden kann.
Ein rechtliches Abschiebehindernis besteht auch, wenn z.B. eine ausländische
Staatsangehörige in der Bundesrepublik
Deutschland ein Kind mit deutscher
Staatsangehörigkeit geboren hat, das auf
die dauernde Anwesenheit der Mutter angewiesen ist.
Ein Anspruch auf eine Duldung besteht
auch, wenn die Abschiebung aus tatsächlichen Gründen unmöglich ist, z. B. wenn
der/die AusländerIn aus gesundheitlichen
Gründen nicht reisefähig ist oder weil z. B.
die Abschiebung in die Bundesrepublik
Jugoslawien wegen des EU-weiten Landeverbots für jugoslawische Luftfahrtgesellschaften nicht möglich ist.
Der Anspruch auf Duldung besteht
außerdem, wenn zwar eine freiwillige
Ausreise, aber keine Abschiebung möglich
287
AUFNAHMEBEDINGUNGEN
ist. Im Rahmen des Ermessens der Ausländerbehörde kann eine Duldung erteilt
werden,
– solange der/die AusländerIn nicht unanfechtbar ausreisepflichtig ist,
– wenn eine weitere Anwesenheit im
Bundesgebiet aus dringenden persönlichen Gründen (z. B. unmittelbar bevorstehende Eheschließung) unmittelbar
erforderlich ist,
– aus dringenden humanitären Gründen,
– bei erheblichen öffentlichen Interessen.
Ist rechtskräftig entschieden, daß die
Abschiebung zulässig ist, darf keine Duldung aus Ermessensgründen erteilt werden (§ 55 III AuslG).
7.2.2 Wirkung der Duldung
Bei der Duldung besteht weiterhin Ausreisepflicht. Sie ist lediglich die befristete
Aussetzung der Abschiebung.
Eine Duldung besagt, daß sich der/die
Geduldete trotz bestehender Ausreisepflicht noch vorübergehend im Bundesgebiet aufhalten kann, bis das Abschiebehindernis entfallen ist. Die Duldung
wird schriftlich bescheinigt. Sie wird nicht
länger als für ein Jahr erteilt. Eine Verlängerung ist möglich. Wenn die Ausländerbehörde die Duldung nicht verlängert,
darf die Person ohne Vorankündigung abgeschoben werden, es sei denn, die Duldung ist bereits verlängert worden und
der/die AusländerIn ist insgesamt schon
länger als ein Jahr geduldet. Dann wird
schriftlich zur Ausreise aufgefordert.
Die Duldung ist räumlich auf ein Bundesland beschränkt. Das bedeutet, daß eine Reise in ein anderes Bundesland ohne
Genehmigung der Ausländerbehörde eine
Ordnungswidrigkeit darstellt, die mit einer Geldbuße bestraft werden kann. Die
Duldung erlischt automatisch bei der Ausreise aus der Bundesrepublik, auch wenn
sie noch längere Zeit gültig war.
288
7.3 Duldungsfiktion § 69 Abs. 2 AuslG
Der Aufenthalt gilt bei Antragserteilung
im Inland beschränkt auf das Gebiet der
Ausländerbehörde bis zur Entscheidung
der Ausländerbehörde als geduldet (Fiktionswirkung), wenn der/die AusländerIn:
– mit einem Visum eingereist ist, das ohne Zustimmung der Ausländerbehörde
erteilt wurde oder
– von der Visumspflicht befreit war und
der rechtmäßige Aufenthalt noch nicht
6 Monate gedauert hat.
7.4 Grenzübertrittsbescheinigung
Sie dokumentiert nur die von der Ausländerbehörde gesetzte Frist zur freiwilligen Ausreise und ermöglicht eine Ausreise, ohne daß die Grenzbehörden eine
Anzeige wegen illegalem Aufenthalts erstatten. Sie muß als Nachweis für die Ausreise an der Grenze vorgelegt werden.
Wird die Grenzübertrittsbescheinigung
nicht innerhalb einer angemessenen Frist
von den Grenzbehörden an die Ausländerbehörde zurückgeschickt, wird der/die Betroffene zur Fahndung ausgeschrieben.
7.5 Betretenserlaubnis § 9 AuslG
Sie wird für ausgewiesene oder abgeschobene AusländerInnen bei Vorliegen besonderer Härtegründe erteilt.
Literatur
Kugler, Roland: Asylrecht , Göttingen.
Wagner, Harry/Maier, Friedburg (Hg.): Recht und Rat
– Handbuch zur Sozialen Arbeit mit MigrantInnen,
Freiburg i. Br.
Friedburg Maier
F L U G H A F E N V E R FA H R E N
Flughafenverfahren
Unter Umgehung des Haager Minderjährigenschutzabkommens und offensiver Verletzung
der UN-Kinderrechtskonvention werden ‚unbegleitete minderjährige Flüchtlinge’ seit Mitte
1994 in das sogenannte Flughafenasylverfahren gemäß § 18 a Asylverfahrensgesetz hineingezwungen. Weder Unterbringung noch Verfahren tragen dem Schutzbedürfnis dieser
Kinder Rechnung.
Seit dem 1. Juli 1993 gilt das sog. Flughafenverfahren gemäß § 18 a Asylverfahrensgesetz (AsylVfG) für neu eintreffende
Asylsuchende, die auf deutschen Flughäfen ankommen. Dabei werden die Asylverfahren von AusländerInnen, die aus einem ‘sicheren Herkunftsstaat’ (§ 29 a Asyl
VfG) oder ohne gültigen Paß bzw. Paßersatz einreisen wollen, noch vor der Entscheidung über die Einreise im Transitbereich der Flughäfen durchgeführt. Zu diesem Zweck wurden Außenstellen des
‘Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge’ auf den Flughäfen
sowie Unterbringungseinrichtungen für
Asylsuchende im Transit geschaffen (
Bundesbehörden). Einrichtungen für das
Flughafenverfahren existieren auf den
Flughäfen Frankfurt, Düsseldorf, Hamburg, München und Berlin-Schönefeld.
Asylbegehrende werden zunächst einer
erkennungsdienstlichen Behandlung durch
den Bundesgrenzschutz unterzogen. Danach erfolgt eine erste Befragung durch
Beamte des BGS mit dem Schwerpunkt
des Reisewegs, den benutzten Dokumenten, eventuell eingeschalteten ‘Schleppern’ ( Fluchthilfe) und einigen Fragen
zu den Gründen der Flucht. Im Regelfall
findet dann zeitnah die persönliche Anhörung der Asylantragstellenden durch
das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge statt. Lehnt dieses
den Asylantrag als ‘offensichtlich unbegründet’ ab, wird die Einreise verweigert.
Die Entscheidung des Bundesamtes und
die Einreiseverweigerung werden den Betroffenen durch den BGS zugestellt.
Gleichzeitig werden dem zuständigen Verwaltungsgericht die Akten übermittelt.
Der notwendige Antrag auf Gewährung
vorläufigen Rechtsschutzes muß innerhalb von 3 Tagen nach Zustellung der Entscheidung beim Verwaltungsgericht gestellt werden. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Grundsatzentscheidung
zum Flughafenverfahren vom 14. Mai
1996 diese 3-Tages-Frist um eine Frist
von weiteren 4 Tagen zur Antragsbegründung verlängert.
Asylsuchenden muß die Einreise gestattet werden, wenn das Bundesamt das
Asylverfahren nicht innerhalb von 2 Tagen nach Stellung des Asylantrages entscheiden kann oder will.
Stellt die/der Asylsuchende nach der
Ablehnung ihres/seines Asylantrags als
‘offensichtlich unbegründet’ einen Eilantrag beim Verwaltungsgericht, so muß
dieses binnen 14 Tagen prüfen, ob der
Asylantrag tatsächlich ‘offensichtlich unbegründet’ ist oder ob Zweifel an dieser
Einschätzung des Bundesamtes bestehen.
Entscheidet das Verwaltungsgericht nicht
innerhalb der 14-Tages-Frist oder gibt das
Gericht dem Eilantrag statt, so darf
die/der Betroffene zur Durchführung des
Asylverfahrens im Inland einreisen. Wird
der Eilantrag abgelehnt, so wird umgehend – ggf. nachdem Passersatzpapiere
besorgt wurden – ‘zurückgeschoben’, in
der Regel in das zuletzt durchreiste Land
oder ins Herkunftsland. Rechtsmittel gegen den Vollzug gibt es nicht. Lediglich die
Verfassungsbeschwerde ist möglich.
Die Kritik von RechtsanwältInnen und
Nichtregierungsorganisationen
richtet
sich insbesondere auf die im deutschen
Rechtssystem einmalige Drei-Tages-Frist
zur Einlegung des Rechtsmittels beim VG.
Auch innerhalb der durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes
289
AUFNAHMEBEDINGUNGEN
nun insgesamt 7 Tage umfassenden Frist
zur Begründung können Informationen
z. B. zur Situation im Herkunftsland nur
schwer beschafft und komplizierte Sachverhalte kaum geklärt werden. Ebenso in
der Kritik steht die Qualität der Entscheidungen der Verwaltungsgerichte. Die im
Regelfall tätigen EinzelrichterInnen sind
offenbar von den Anforderungen des Flughafenverfahrens oftmals ebenso überfordert wie die RechtsanwältInnen und die
Asylantragstellenden selbst. Über die
Glaubhaftigkeit der Angaben der Betroffenen wird im Regelfall ohne mündliche
Anhörung entschieden. Durch den Wegfall
der gerichtlichen Beschwerdeinstanz gibt
es eine Korrektur von Fehlentscheidungen
nur noch dann, wenn sich das Bundesverfassungsgericht zuständig fühlt. Dies
war in den letzten Jahren nur noch selten
der Fall.
Kritisch gesehen werden ebenso die
Unterbringungsbedingungen während des
Flughafenverfahrens. Die entscheidende
Anhörung zum Verfolgungsschicksal findet unter Rahmenbedingungen statt, die
für den geforderten widerspruchsfreien
und umfassenden Vortrag ungeeignet
sind. Es handelt sich um eine belastende
haftähnliche Situation. Psychische Grenzzustände sind häufig. Besonders belastend ist die Situation auch für diejenigen,
bei denen die Einreiseverweigerung ‘vollstreckbar’ ist, bei denen aber praktische
Hindernisse für die Zurückschiebung bestehen ( Abschiebung). Hier kommt es
zum Teil zu monatelangen Transitaufenthalten. Die Betroffenen können lediglich
wählen, ob sie ihr Dasein weiterhin in den
Flüchtlingsgebäuden im Flughafentransit
oder in einer Haftanstalt (Zurückweisungshaft) fristen wollen.
Erst nach mehr als 2 Jahre nach der
Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichtes zum Flughafenverfahren wurde die dort geforderte asylrechtskundige Beratung durch RechtsanwältIn-
290
nen durch einen Rahmenvertrag mit dem
Deutschen Anwaltsverein sichergestellt.
Das Beratungsangebot richtet sich allerdings nur an diejenigen, denen die Ablehnung als ‘offensichtlich unbegründet’ bereits zugestellt wurde. Zunächst wurde
mit der Umsetzung der Rechtsberatung
auf dem Rhein-Main-Flughafen Frankfurt
begonnen, der durch die große Zahl internationaler Flugankünfte naturgemäß
auch beim Thema Asyl im Mittelpunkt
steht.
Kinderflüchtlinge im Frankfurter
Flughafenverfahren
Im gesamten Zeitraum seit Inkrafttreten
der Flughafenregelung im AsylVfG machte
die Zahl der ‘unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge’, die im Verfahren gemäß
§ 18 a AsylVfG auf dem Frankfurter Flughafen registriert wurden, ein Vielfaches
der entsprechenden Zahlen aller anderen
Flughäfen zusammengenommen aus. Die
vom Bundesamt erstellten monatlichen
Einreisestatistiken für AsylbewerberInnen
enthalten keine Angaben zu Geschlecht,
Alter oder dem Kriterium ‘unbegleitete
minderjährige Flüchtlinge’. Die für Kinderflüchtlinge in den meisten Bundesländern geführte Zählstatistik zur Inobhutnahme ist durch die Zugrundelegung verschiedener Kriterien unpräzise, eine bundesweite Statistik zur Einreise unbegleiteter Kinder unter 16 Jahren gibt es nicht
(Jockenhövel-Schiecke 1998, S. 166). Für
den Flughafen Frankfurt gibt der BGS folgende Zahlen an:
F L U G H A F E N V E R FA H R E N
Jahr
1995
1996
1997
Ankünfte
Minderjährige
Erwachsene
Einreisegestattungen
Minderjährige Erwachsene
359
528
146
5.036
4.130
2.243
252
454
109
4.687
3.609
1.768
(Quelle: 1995 und 1996: Jockenhövel-Schiecke a.a.O., 1997: telefonische Angaben des
BGS gegenüber PRO ASYL.)
Aufgrund der sich überwiegend auf
Frankfurt konzentrierenden Ankünfte ‘unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge’ beziehen sich die Ausführungen im folgenden überwiegend auf die Frankfurter Situation. Wurden diese Minderjährigen bis
Mitte 1994 im Regelfall dem Jugendamt
der Stadt Frankfurt im Rahmen einer Inobhutnahme nach § 42 KJHG übergeben
und zur Durchführung eines sogenannten
Clearingverfahrens zunächst in einer hierauf spezialisierten Unterkunft aufgenommen ( Unterbringung), so brachte ein
Erlaß des Bundesinnenministers vom 6.
Juli 1994 drastische Veränderungen bei
der grenzpolizeilichen Behandlung von
Kinderflüchtlingen. Unabhängig von ihrer
asylverfahrensrechtlichen Handlungsfähigkeit sind sie seither der Flughafenregelung gemäß § 18 a Asyl VfG unterworfen. Lediglich dann, wenn es in besonders
gelagerten Fällen aus humanitären Gründen nicht vertretbar erscheint, Minderjährige im Rahmen der Flughafenregelung unterzubringen, soll Weisung eingeholt werden, ob eine Ausnahme möglich
ist.
Der Erlaß geht also offensichtlich davon aus, daß die Unterbringung der Kinderflüchtlinge auf den Flughäfen im Regelfall möglich ist. Eine kindgerechte Unterbringung am Frankfurter Flughafen ist
allerdings nicht möglich, wie dies auch die
3. Kammer des VG Frankfurt in einer Entscheidung vom 27. März 1995 (AZ.: 3 G
50094/95.A(2)) festgestellt hat. Das Gericht begründet die Entscheidung, mit der
einem Minderjährigen die Einreise in die
Bundesrepublik Deutschland gewährt
wurde, unter anderem damit, daß die
beim BGS vorhandenen Räume zur Unterbringung von Kindern nicht geeignet sind.
Auch für die Unterbringung von Jugendlichen seien sie nur in Ausnahmefällen
und nur für eine maximale Dauer von 2
Übernachtungen geeignet. Dies folge nicht
nur aus der Ausstattung der Räume, sondern auch aus dem Umfeld und der hierdurch hervorgerufenen Belastung. Es
handele sich um eine Dienststelle mit dem
Betrieb einer größeren Polizeiwache, die
Betroffenen seien von Gleichaltrigen isoliert, es gebe Verständigungsschwierigkeiten usw. Das Land Hessen hat es abgelehnt, eine Genehmigung für die Unterbringung von Minderjährigen auf dem
Flughafengelände gemäß KJHG zu erteilen. Dies gilt auch, nachdem der Bundesgrenzschutz im neuen Terminal 2 zwei
Betreuungsräume für die Verwahrung von
Kindern eingerichtet hat.
Im Zusammenhang mit der Einbeziehung von Minderjährigen in das Flughafenasylverfahren vertritt das BMI unter
Hinweis auf § 68 Abs. 2 AuslG die Auffassung, einer Einschaltung des Jugendamtes oder des Vormundschaftsgerichtes bedürfe es bei der Entscheidung über die
Überstellung solcher Kinder in Herkunftsstaaten nicht. Nach dem Wortlaut von § 68
Abs. 2 AuslG steht die mangelnde rechtliche Handlungsfähigkeit einer/eines Minderjährigen der Zurückweisung oder Zurückschiebung nicht entgegen. § 68 Abs. 2
291
AUFNAHMEBEDINGUNGEN
AuslG wird vielerseits für verfassungswidrig gehalten. In der Gesetzesbegründung
(BT-Drucksache 11/6321) wird lapidar darauf hingewiesen, daß es für diese Regelung ein praktisches Bedürfnis gebe, weil
in den letzten Jahren zunehmend ‘unbegleitete minderjährige Flüchtlinge’ eingereist seien.
Handlungsunfähige Kinderflüchtlinge
bis zum 16. Lebensjahr befinden sich nach
dieser Konstruktion bei ihrer Ankunft am
Flughafen in einer gefährlichen Grauzone,
in der grenzbehördliches Handeln vollendete Tatsachen schaffen kann. BeamtInnen des BGS wird die Entscheidung übertragen, anhand der Aussagen der Kinder
zu überprüfen, ob eine Zurückweisung
ohne Einschaltung einer gesetzlichen Vertretung erfolgen soll oder ob ein Asylbegehren vorliegt. Eine Altersgrenze nach
unten gibt es nicht. Geregelt ist deshalb
auch nicht, wie etwa dem Verhalten von
Kleinkindern ein Asylbegehren entnommen werden sollte. Den bizarren Fall der
Anhörung eines zweijährigen hat es im
Jahr 1995 bereits gegeben.
Nicht weniger problematisch ist, daß
16- bis 18-jährige im Asylverfahren, so
auch auf den Flughäfen, behandelt werden wie Erwachsene. Gemäß §12 AsylVfG
sind Minderjährige, die das 16. Lebensjahr vollendet haben, fähig zur Vornahme
aller Verfahrenshandlungen im Zusammenhang mit dem Asylantrag. Der Gesetzgeber hat die besondere Schutzbedürftigkeit der noch nicht Volljährigen damit
weitgehend ignoriert. Weder gibt es ein
herabgestuftes Anforderungsprofil für die
Anhörung dieser Personengruppe, das der
Tatsache Rechnung trägt, daß Jugendliche in den meisten Fällen komplexe Sachverhalte nicht so wahrnehmen und darstellen können wie Erwachsene, noch
wird auf die besonderen Bedürfnisse dieser Jugendlichen bei der Unterbringung
Rücksicht genommen. Dies betrifft sowohl
das spannungsgeladene Zusammenleben
292
mit Erwachsenen aus vielen verschiedenen Nationen im Flughafentransit, wie
auch – nach erlaubter Einreise – die Unterbringung in den Erstaufnahmeeinrichtungen, in denen zumeist keine adäquaten
Betreuungsmöglichkeiten existieren und
die Probleme der Kinderflüchtlinge kaum
wahrgenommen werden ( Erstversorgungseinrichtungen).
Das Bundesinnenministerium vertritt
hingegen die Auffassung, weder aus dem
Haager Minderjährigenschutzabkommen
noch aus der UN-Kinderrechtskonvention
lasse sich eine Pflicht zur Einleitung von
Schutzmaßnahmen ableiten. Das Übereinkommen überlasse es dem nationalen Gesetzgeber, welche Schutzmaßnahmen zu
treffen sind. Gegen die UN-Kinderrechtskonvention habe die Bundesrepublik
Deutschland bei der Hinterlegung der
Ratifikationsurkunde einen Vorbehalt eingelegt ( Kinderrechte). Dieser Vorbehalt
besage, daß die Konvention innerstaatlich
keine unmittelbare Anwendung finde und
sie nicht dahin ausgelegt werden könne,
daß sie das Recht beschränkt, ausländerrechtliche Regelungen zu erlassen.
Entgegen dieser Rechtsauffassung muß
daran festgehalten werden, daß Art. 9
Abs. 1 des Haager Minderjährigenschutzabkommens eine Verpflichtung der bundesdeutschen Behörden zum Tätigwerden
und zur Einleitung notwendiger Schutzmaßnahmen konstituiert. Selbst wenn nur
von einem vorübergehenden Aufenthalt
der Kinderflüchtlinge auszugehen wäre, so
greift zumindest die Eilzuständigkeit nach
Art. 1 des Haager Minderjährigenschutzabkommens. Bei Kinderflüchtlingen ist jedoch davon auszugehen, daß der Aufenthalt auf längere Dauer hin angelegt ist.
Hinsichtlich der Anwendung der Kinderrechtskonvention ist festzuhalten, daß
die Bundesrepublik Deutschland das Übereinkommen ohne einen förmlichen Vorbehalt ratifiziert hat. Andere Vorbehalte
der Nichtanwendung, die dem Wohl des
F L U G H A F E N V E R FA H R E N
Kindes widersprechen können, sind nach
Sinn und Zweck des Übereinkommens mit
diesem unvereinbar und daher unzulässig
(Art. 51 Abs. 2 KRK). Nach Art. 22 Abs. 1
der Kinderrechtskonvention haben die
Vertragsstaaten geeignete Maßnahmen zu
treffen „um sicherzustellen, daß ein Kind,
daß die Rechtsstellung eines Flüchtlings
begehrt (...), angemessenen Schutz und
humanitäre Hilfe bei der Wahrnehmung
der Rechte erhält, die in diesem Übereinkommen (...) festgelegt sind...“ Genannt
werden als Ziel der geforderten staatlichen Handlungen Schutz, Hilfe und Familienzusammenführung. Nach Art. 22 Abs.
2 S. 2 der Konvention ist entwurzelten
Kindern derselbe Schutz zu gewähren wie
inländischen Kindern, die aus irgendeinem Grund aus der familiären Umgebung
herausfallen.
Hinsichtlich des asyl- und ausländerrechtlichen Verfahrens ist insbesondere
Art. 12 Abs. 2 der Kinderrechtskonvention
zu beachten. Demnach muß das Kind Gelegenheit haben, in allen es berührenden
Gerichts- oder Verwaltungsverfahren unmittelbar oder durch einen/eine VertreterIn gehört zu werden.
Die oben zitierte Dienstanweisung des
Bundesinnenministers regelt einen weiteren Sachverhalt zu Ungunsten von ‘unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen’.
Ihnen wird theoretisch ein längerer Aufenthalt als die in §18 a AsylVfG vorgesehene maximale Aufenthaltsdauer im Flughafenbereich zugemutet, indem bei deren
Bemessung die Frist bis zur Bestellung einer PflegerIn (soweit erforderlich) außer
Acht bleibt. Damit erhöht sich die zulässige Höchstdauer des Flughafenverfahrens,
die durch die Grundsatzentscheidung des
Bundesverfassungsgerichtes bereits auf
23 Tage ausgedehnt wurde, nochmals um
mehrere Tage, die bis zur Bestellung eines/einer PflegerIn vergehen. Wie die Praxis auf dem Frankfurter Flughafen zeigt,
ergehen die Einreiseentscheidungen im
Regelfall jedoch wesentlich früher. Auch
Minderjährige unter 16 Jahren müssen
sich allerdings ohne adäquate Betreuung
mindestens mehrere Tage, während derer
eine Pflegschaft bestellt und das Asylverfahren durchgeführt wird, im Transit
aufhalten ( Asylverfahren).
Inzwischen hat sich in Frankfurt ein
Verfahren nach dem sogenannten ‘Tandemmodell’ herausgebildet. Das Vormundschaftsgericht bestellt in den meisten
Fällen zwei Pflegepersonen mit unterschiedlichen Wirkungskreisen, einen/eine
RechtsanwältIn für den Wirkungskreis
der asyl- und ausländerrechtlichen Vertretung und das örtliche Jugendamt für
den Bereich der Unterkunft und Aufenthaltsbestimmung, der medizinischen Versorgung, der wirksamen Vertretung gegenüber Behörden, Schulen, Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern, zur Klärung der
sozialen und familiären Verhältnisse, wie
sie bislang im zentralisierten Clearingverfahren durchgeführt wurde ( Jugendamt/ASD) sowie für den Wirkungsbereich
der Herbeiführung einer Vormundschaft.
Dieses im Prinzip sinnvolle arbeitsteilige Modell ermöglicht eine adäquate und
dringend notwendige rechtliche Vertretung. Problematisch, insbesondere, soweit
16- bis 18-jährige betroffen sind, ist die
Tatsache, daß sich das Jugendamt Frankfurt im Regelfall nicht gefordert sieht, die
Minderjährigen zu kontaktieren und zu
prüfen, welche Unterstützung nötig ist.
Bedienstete des Jugendamtes tauchen im
Transitbereich nur höchst selten auf, da
man offensichtlich vor dem Hintergrund
der asylrechtlichen Handlungsfähigkeit
der Jugendlichen keine Lücke für ein eigenes Tätigwerden erkennt. Damit sind die
Betroffenen weitgehend der Konfrontation mit dem BGS überlassen.
Nach der Zuweisung des Kindes im
Rahmen des Quotenverteilungsverfahrens
stellt das Jugendamt Frankfurt einen
Antrag auf Vormundschaft ( Vormund293
AUFNAHMEBEDINGUNGEN
schaft). Im Regelfall wird dann das inzwischen örtlich zuständig gewordene Jugendamt zum Amtsvormund bestellt. Die
örtlichen Jugendämter können dann entscheiden, ob sie die vormundschaftlichen
Aufgaben in vollem Umfang selbst übernehmen oder den ausländer- und asylrechtlichen Wirkungsbereich weiterhin
durch eine anwaltliche Vertretung betreuen lassen. Aus ausländerpolitischen Erwägungen und Kostengründen heraus ist
meist leider Ersteres der Fall.
Altersfeststellungen im Rahmen des
Flughafenverfahrens werden gegenwärtig
mit der Methode der ‘Inaugenscheinnahme’ vorgenommen ( Altersfeststellung).
Nach Angaben der Bundesregierung (BTDrucksache 13/4861) geschieht dies durch
„lebens- und berufserfahrene Polizeivollzugsbeamte“ und ggf. durch Dolmetscher
aus dem jeweiligen Heimatstaat der Minderjährigen. Als Kriterien gelten das äussere Erscheinungsbild und der durch Befragung festgestellte Reife- und Wissensstand.“ Zumindest in den Fällen, in denen
angeblich zwischen dem vom Minderjährigen genannten Alter und dem ersten
Augenschein der Behörden eine erhebliche Diskrepanz besteht, wird das Alter auf
diese Weise geschätzt. Mindestens 5 Personen sind an einer solchen Schätzung zu
beteiligen. Auf wundersame Weise liegen
die gewonnenen Schätzwerte zumeist eng
beieinander – bis hin zur völligen Übereinstimmung. Die Bundesregierung ist erklärtermaßen der Ansicht, daß BGS-BeamtInnen die für eine solche Schätzung
geeigneten Personen sind. Die Prozedur
sei im übrigen Ausdruck des Grundsatzes
der freien Beweiswürdigung. Ergebnis
dieser Altersschätzung per Inaugenscheinnahme ist die Festlegung eines fiktiven Geburtsdatums. Über 16-jährige werden wie erwachsene Asylantragstellende
behandelt, durchlaufen die Erstaufnahmeeinrichtung, wenn sie den Flughafen
verlassen dürfen und kommen auch in das
294
bundesweite Verteilungsverfahren nach
§ 46 AsylVfG ( Umverteilung).
Es bestehen allerdings erhebliche Bedenken gegen die Befähigung von BeamtInnen des Bundesgrenzschutzes, von MitarbeiterInnen der Jugendämter (beteiligt
waren im Einzelfall auch bereits Bedienstete des ‘Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge’), qualifizierte Altersschätzungen bei Kindern und
Jugendlichen vorzunehmen, insbesondere,
wenn die Betroffenen aus nichteuropäischen Herkunftsländern stammen. Die allgemeine Lebenserfahrung genügt hier keinesfalls. Wie groß die Streubreite selbst bei
Altersbestimmungen ist, die nach medizinisch objektivierenden Methoden vorgenommen werden, hat die Auseinandersetzung um die Altersbestimmung durch das
Röntgen der Handwurzelknochen gezeigt
( Altersbestimmung).
Zur Situation auf anderen Flughäfen
Der Flughafen München verfügt über keine speziellen Kinderräume. Über die Ankunft ‘unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge’ informiert der BGS das Jugendamt.
In der Regel erfolgt eine Weiterleitung an
die zuständige Clearingstelle in Hallbergmoos (Träger: Jugendwerk Birkeneck),
gelegentlich auch direkt in andere Jugendhilfeeinrichtungen. Zuständig für die
vorläufige Inobhutnahme ist das Jugendamt Erding als örtlich zuständiger Träger.
16- bis 18-jährige werden erst nach ihrer
Weiterleitung an die Erstaufnahmeeinrichtung München als Minderjährige erfaßt. Das zuständige Vormundschaftsgericht München bestellt dann VormünderInnen. Die für den Frankfurter Flughafen
geschilderte Praxis der ‘gesplitteten Pflegschaften’ (mit RechtsanwältInnen für den
Wirkungskreis Ausländer- und Asylrecht)
ist in Bayern nicht üblich.
Die Flughäfen Berlin, Düsseldorf, Hamburg, Berlin-Schönefeld: Hier ist die Zahl
UMVERTEILUNG
der Ankünfte ‘unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge’ extrem gering, so daß
sich keine spezielle Praxis herausgebildet
hat.
nießen, bekommen die 16- bis 18-jährigen
Asylsuchenden auf dem Flughafen bereits
jetzt zu spüren.
Fazit
Literatur
Die Einführung der Visumspflicht für Minderjährige aus den Staaten Marokko, Türkei, Tunesien und den Nachfolgestaaten
des ehemaligen Jugoslawien ab 15. Januar 1997 hat wesentlich dazu beigetragen, daß die Zahl der Minderjährigen, die
einen deutschen Flughafen erreichen und
ein Schutzbegehren äußern können, drastisch gesunken ist. Insbesondere betroffen hiervon waren kurdische Kinderflüchtlinge, von denen zuvor viele zwar
‘unbegleitet’ eingereist waren, jedoch von
Verwandten in Obhut genommen wurden.
Die besonderen Härten des Flughafenverfahrens haben in Verbindung mit den
relativ geringen Zahlen von Asylantragstellenden auf den Flughäfen (1996:
5,09 %, 1997: 3,03 % aller Asylsuchenden)
KritikerInnen daher bewogen, seine Abschaffung zu fordern. Um so mehr gilt die
Kritik der unter Gesichtspunkten des Kinderschutzes inakzeptablen Einbeziehung
‘unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge’
in dieses Verfahren.
Da es bislang offensichtlich eine Schamgrenze beim Bundesamt, beim Bundesgrenzschutz und bei den Verwaltungsgerichten gibt, die dazu geführt hat, daß
sich die Zahl der Zurückweisungen unter
16-jähriger noch in engen Grenzen hält,
darf nicht darüber hinweg täuschen, daß
der Gesetzgeber bereits jetzt das Verfahren so ausgestaltet hat, daß der Kinderschutz dem Interesse an einem reibungslosen Verfahrensablauf untergeordnet
wird. Weitere Verschärfungen in der Praxis bedürfen keiner weiteren Aktivitäten
des Gesetzgebers. Welchen Stellenwert
Kinderschutz und Kinderrechte im Rahmen des deutschen Ausländerrechts ge-
Jockenhövel-Schiecke, Helga: Schutz für unbegleitete
Flüchtlingskinder: Rechtsgrundlagen und gegenwärtige Praxis. In: ZAR Zeitschrift für Ausländerrecht und
Ausländerpolitik Nr. 4/1998, S. 165-175
Bernd Mesovic
Umverteilung
‚Minderjährige unbegleitete Flüchtlinge’ ab 16
Jahren, die (noch) nicht in einer Jugendhilfeeinrichtung untergebracht sind, werden ebenso
wie erwachsene AsylbewerberInnen nach festgelegten Quoten auf die einzelnen Bundesländer verteilt. Dies geschieht mit Hilfe eines
Computerprogramms, in dem jugendgerechte
Kriterien keine Rolle spielen. Bundesländer, in
denen sich viele Kinderflüchtlinge melden (z. B.
Hamburg), möchten auch unter 16jährige umverteilen, scheiterten aber bisher damit. Statt
dessen wird das Alter vieler neu angekommener Kinderflüchtlinge willkürlich auf über 16
festgesetzt. Widerstand gegen diese Umverteilung ist schwierig, da das Ausländerrecht
Vorrang vor dem KJHG und dem Aufenthaltsbestimmungsrecht des/der VormünderIn hat.
Folge der rigiden Umverteilungspraxis ist die
zunehmende Illegalisierung auch junger
Flüchtlinge.
1. Gesetzliche Grundlagen der
Umverteilung
Laut § 12 Asylverfahrensgesetz (AsylVfG)
„ist auch ein Ausländer, der das 16. Lebensjahr vollendet hat“, fähig zur „Vornahme von Verfahrenshandlungen nach
295
AUFNAHMEBEDINGUNGEN
diesem Gesetz“, d. h. vor allem zur eigenständigen Asylanstragstellung ( Rechtliche Grundlagen). Er/sie unterliegt damit
auch den in §§ 44 – 55 festgelegten Verfahren zur Unterbringung und Verteilung.
§ 14 AsylVfG schreibt vor: „(1) Der Asylantrag ist bei der Außenstelle des Bundesamtes zu stellen, die der für die Aufnahme
des Ausländers zuständigen Aufnahmeeinrichtung zugeordnet ist“. § 14 (2) regelt
die Ausnahmen von dieser Vorschrift, darunter auch die für ‚unbegleitete Minderjährige’ geltenden Bestimmungen: „Der
Asylantrag ist beim Bundesamt zu stellen,
wenn der Ausländer
1. (...)
2. sich in Haft oder sonstigem öffentlichem Gewahrsam, in einem Krankenhaus, einer Heil- und Pflegeanstalt oder
in einer Jugendhilfeeinrichtung befindet, oder
3. noch nicht das 16. Lebensjahr vollendet
hat und sein gesetzlicher Vertreter
nicht verpflichtet ist, in einer Aufnahmeeinrichtung zu wohnen.“
Das bedeutet: Unter 16jährige unbegleitete Flüchtlinge, aber auch über 16jährige, die in einer Jugendhilfeeinrichtung untergebracht sind, unterliegen nicht
dem bundesweiten Verteilverfahren. In
den meisten Bundesländern werden neu
angekommene Kinderflüchtlinge daher
zunächst in einer Clearingstelle (die z. T.
nicht unter das KJHG fällt) oder in einer
Erstversorgungseinrichtung nach § 42
KJHG in Obhut genommen ( Erstaufnahme). Die Verfügung zur Inobhutnahme
wird z. B. in Hamburg durch das Amt für
Soziale Dienste (ASD) ( Jugendamt/ASD)
erteilt. In den letzten Jahren gab es Auseinandersetzungen darum, zu welchem
Zeitpunkt die Inobhutnahme verfügt werden darf: direkt nach der Ankunft eines/einer Minderjährigen oder erst, nachdem
sie/er ihren/seinen Aufenthalt bei der Ausländerbehörde legalisiert hat ( Unterbringung)?
296
Hintergrund des Streits ist der oben zitierte § 14(2) AsylVfG: Ein Minderjähriger,
der bereits in einer Jugendeinrichtung untergebracht wurde, darf nicht mehr umverteilt werden, auch wenn ihn die Ausländerbehörde für älter als 16 hält ( Alter). Beispielhaft seien hier die Verfahrensweisen in Hamburg dargestellt. Laut
Fachlicher Weisung 1/95 „Hilfen für junge
Flüchtlinge unter 16 Jahren“ sind Zielgruppe der Jugendhilfe nur junge Flüchtlinge ohne Begleitung von Personensorgeberechtigten, die sich „auf Grund einer
Entscheidung
der
Ausländerbehörde
rechtmäßig in Hamburg aufhalten oder
geduldet werden“, was so interpretiert
wird, daß ‘Neuangekommene’ zuerst zur
Ausländerbehörde müssen (und evtl. bereits dort ‘älter gemacht’ werden). Ausnahmen regelt jedoch Ziffer 3.2 Satz 3 der
Fachlichen Weisung: „Eine Inobhutnahme
ist bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen bis zum Ablauf des übernächsten
Werktages auch ohne einen rechtmäßigen
Aufenthalt oder eine Duldung möglich,
wenn sie nach Dienstschluß der für die
Aufenthaltsgestattungen und Duldungen
zuständigen Behörde erfolgt.“ Die Erteilung von Verfügungen vor Ausstellung einer Duldung ( Aufenthaltstitel) stieß jedoch in den letzten Monaten auf heftigen
Widerstand der Ausländerbehörde und
wurde inzwischen weitgehend unterbunden.
Relevanz für die Umverteilung einer/eines Minderjährigen sollte eigentlich auch
das Aufenthaltsbestimmungsrecht des gesetzlichen Vormunds nach dem BGB haben. Die herrschende Behörden- und
Rechtsprechungspraxis räumt jedoch dem
Ausländerrecht Vorrang ein gegenüber
den Rechten des Vormunds, d. h. auch eine/ein gesetzlich zugeteilte/r VertreterIn
kann die Umverteilung ihres/seines Mündels im Regelfall nicht verhindern.
UMVERTEILUNG
2. Technisch-organisatorisches
Verfahren der Umverteilung
In § 45 AsylVfG sind die Aufnahmequoten
(Sollanteil in Prozent der ankommenden
Flüchtlinge entsprechend dem Bevölkerungsanteil des jeweiligen Bundeslands)
für die einzelnen Bundesländer festgelegt.
Die Bestimmung der zuständigen Aufnahmeeinrichtung geschieht nach den Vorschriften von § 46 AsylVfG:
„(1) Zuständig für die Aufnahme des
Ausländers ist die Aufnahmeeinrichtung,
in der er sich gemeldet hat, wenn sie über
einen freien Unterbringungsplatz im
Rahmen der Quote nach § 45 verfügt und
die ihr zugeordnete Außenstelle des Bundesamts Asylanträge aus dem Herkunftsland des Ausländers bearbeitet. Liegen
diese Voraussetzungen nicht vor, ist die
nach Absatz 2 bestimmte Aufnahmeeinrichtung für die Aufnahme des Ausländers
zuständig.
(2) Eine vom Bundesministerium des
Innern bestimmte zentrale Verteilungsstelle benennt auf Veranlassung einer
Aufnahmeeinrichtung dieser die für die
Aufnahme des Ausländers zuständige
Aufnahmeeinrichtung. Maßgebend dafür
sind die Aufnahmequoten nach § 45, in
diesem Rahmen die vorhandenen freien
Unterbringungsplätze und sodann die Bearbeitungsmöglichkeiten der jeweiligen
Außenstelle des Bundesamtes in bezug
auf die Herkunftsländer der Ausländer.
Von mehreren danach in Betracht kommenden Aufnahmeeinrichtungen wird die
nächstgelegene als zuständig benannt.“
Technisch geschieht diese Verteilung
über ein Computerprogramm namens EASY (Erstaufnahmesystem). Ein neu angekommener Flüchtling in einem Stadtstaat
wie Hamburg, wo die Zahl der Asylsuchenden regelmäßig höher ist als die dem
Land zugeteilte Quote, erhält bei der Aufnahmeabteilung der Ausländerbehörde
einen Computerausdruck namens BÜMA
(Bescheinigung über die Meldung als Asyl-
bewerber) mit seinen Daten und der
Adresse der Erstaufnahmeeinrichtung des
Bundeslands, in das er verteilt wurde. Für
Minderjährige, die umverteilt werden, gelten die gleichen Kriterien. Das AsylVfG
verteilt lediglich Ehegatten sowie Eltern
minderjähriger Kinder, sofern sie gemeinsam ankommen, an denselben Ort. Ein in
der Stadt wohnender Onkel oder ein guter
Freund des unbegleiteten Minderjährigen
spielt keine Rolle, genauso wenig wie das
Vorhandensein von Jugendhilfeeinrichtungen oder für aus bestimmten Ländern
kommende Menschen wichtige Infrastruktur (z. B. Vereine, Clubs, Läden, Beratungsstellen, spezialisierte RechtsanwältInnen).
Um an den Verteil-Ort zu gelangen,
müssen Jugendliche sich genauso wie Erwachsene in der Ausländerbehörde eine
Fahrkarte abholen, die – im Gegensatz zu
der eine Woche bzw. in Hamburg bei denjenigen, die eine ärztliche Altersuntersuchung machen lassen wollen, 10 Tage
gültigen BÜMA – nur am selben und an
den beiden folgenden Tagen benutzt werden kann. Ein IC- oder gar ICE-Zuschlag
wird von der Behörde nicht bezahlt. Das
heißt, wenn der Flüchtling kein eigenes
Geld hat, muß er versuchen, mit Bummelzügen sein Ziel zu erreichen. Auch unter 18jährige werden bei dieser Reise
nicht begleitet. Sie müssen sich selbständig nach einer Zugverbindung erkundigen
und allein zu den oft sehr abgelegenen
Zentralen Aufnahmestellen (ZASt) in den
anderen Bundesländern fahren. Wegbeschreibungen oder Telefonnummern erhalten sie nicht, lediglich die Adresse der
ZASt, bei der sie sich melden müssen. Ob
sie dort ankommen und was dann mit ihnen geschieht, interessiert die verteilenden Stellen nicht mehr. In einigen Bundesländern kam es vor, daß z.B. von der
Hamburger Ausländerbehörde ‘ältergemachte’ Flüchtlinge dort wieder für unter
16 erklärt und zurückgeschickt wurden.
297
AUFNAHMEBEDINGUNGEN
Hamburg weigerte sich aber, sie wieder
aufzunehmen, und für einige Jugendliche
begann eine monatelange Odyssee. In
eher seltenen Fällen werden 16- bis 18jährige Flüchtlinge von der ZASt in eine
Jugendeinrichtung verteilt, sofern ihnen
erzieherischer Bedarf zuerkannt wird. In
den meisten Fällen kümmert sich aber
niemand darum, das auch nur zu überprüfen, sondern sie werden wie Erwachsene behandelt.
Arbeitsmöglichkeiten sowie Möglichkeiten, zur Schule zu gehen. All diese Gründe
werden bei der gesetzlich festgelegten
Umverteilung in Deutschland ignoriert.
Und nicht nur das: Durch die Residenzpflicht sind Asylsuchende verpflichtet, sich
in der ihnen zugeteilten Aufnahmeeinrichtung aufzuhalten (§ 47 AsylVfG) und
dürfen den Landkreis nicht ohne Erlaubnis verlassen. Das heißt: ihr Recht auf
Freizügigkeit ist massiv eingeschränkt,
und bei Übertretung machen sie sich
strafbar. Dies gilt auch für Minderjährige.
3. Residenzpflicht
In Stadtstaaten wie Berlin, Hamburg und
Bremen kommen normalerweise mehr
Flüchtlinge an als ihrer Quote entspricht.
Insbesondere Hamburg beklagt sich darüber, daß sich hier überprortional viele
Kinderflüchtlinge melden. Im Jahresdurchschnitt 1996 betrug der Anteil Minderjähriger ca. 28 % aller Asylsuchenden
in Hamburg. PolitikerInnen, Behörden
und Medien behaupten, wesentlicher
Grund dafür sei der Drogenmarkt, auf
dem insbesondere junge Flüchtlinge ungestraft kriminellen Aktivitäten nachgingen
und deshalb von geldgierigen Schleppern
gezielt nach Hamburg geschleust würden.
Die wahren Gründe sind jedoch vielfältig:
In einer großen Hafenstadt wie Hamburg
leben Verwandte und Freunde junger
Flüchtlinge und insgesamt Menschen aus
vielen Ländern, die zunächst als Anlaufstelle dienen. Es gibt eine Infrastruktur,
die eine gewisse Orientierung und evtl.
auch eine Zeitlang ein Überleben ohne
Papiere möglich macht. Viele Flüchtlinge
haben Angst vor der Verteilung aufs Land,
in kleine Dörfer ohne Menschen aus anderen Ländern oder in Lager mitten im
Wald. Insbesondere Schwarze befürchten
rassistische Übergriffe, von denen (auch
wenn es nicht generell stimmt) in den östlichen Bundsländern mehr bekannt ist,
und wollen deshalb auf keinen Fall dorthin. Eine Großstadt verspricht auch eher
298
4. Umverteilung der unter 16jährigen
Flüchtlinge
Die Regelung, daß unter 16jährige unbegleitete Flüchtlinge nicht der Verteilung
unterliegen, wurde schon 1993 bei den
Beratungen des Asylverfahrensgesetzes
von einigen Bundesländern, die nach ihrer Ansicht zu sehr durch Minderjährige
‘belastet’ sind, kritisiert. Hamburg unternahm mehrere Vorstöße auf der Innenministerkonferenz und im Bundesrat mit
dem Ziel, eine Umverteilung auch der unter 16jähriger durchzusetzen. Die anderen Bundesländer weigerten sich jedoch,
überwiegend wohl aus Eigeninteressen:
Auch sie wollen sich nicht mehr als unbedingt nötig um Unterbringung und Betreuung junger Flüchtlinge kümmern.
Trotzdem hat die Hamburger Rot-GrünRegierung das Ziel der Umverteilung auch
unter 16jähriger im Koalitionsvertrag
festgeschrieben, verbrämt mit dem ebenso schwammigen wie nichtssagenden
Satz, daß Hamburg „dabei Belange des
Kindeswohls berücksichtigen“ wird. Solange die anderen Bundesländer sich jedoch weigern, werden andere Methoden
angewandt, um Minderjährige umzuverteilen: Schon seit Jahren, verstärkt jedoch
seit der grundsätzlichen Zustimmung der
Grünen zu dem Verfahren, werden neu
angekommene Flüchtlinge, die ihr Alter
UMVERTEILUNG
als unter 16 angeben, in der Ausländerbehörde durch Inaugenscheinnahme ‘älter gemacht’ ( Altersbestimmung).
5. Umverteilung der Kosten
Hauptargument bei der Forderung nach
Umverteilung auch unter 16jähriger ist
die
Kostenbelastung:
Minderjährige
Flüchtlinge müssen in teuren Einrichtungen der Jugendhilfe untergebracht und
betreut werden statt in den üblichen
Lagern. Sie haben das Recht oder gar die
Pflicht, zur Schule zu gehen ( Schule),
und sie können (oder müssen sogar) sonstige Leistungen der Jugendhilfe (z. B. Jugendgerichtshilfe, Kinder- und Jugendnotdienst, Kinder- und Jugendpsychiatrie Dienst) in Anspruch nehmen. In der
öffentlichen Diskussion wird jedoch meistens verschwiegen, daß der größte Teil
dieser Kosten nach geltendem Recht (insbes. KJHG § 89 d) zwischen den verschiedenen Bundesländern verteilt werden
kann. Das heißt: Die Jugendämter einer
besonders ‘belasteten’ Stadt können sich
die Kosten für einige der von ihnen betreuten Flüchtlinge von einem bestimmten
Jugendamt eines anderen Bundeslandes
erstatten lassen. Statt dafür funktionierende Verwaltungsverfahren einzurichten, versuchen die Behörden lieber, die
Kinderflüchtlinge loszuwerden und argumentieren zeitweilig sogar mit den hohen
Kosten für Polizei und Justiz aufgrund der
angeblich besonders ausgeprägten Kriminalität der Minderjährigen.
6. Möglichkeiten der Verhinderung
einer Umverteilung von Minderjährigen
Die rechtlichen Möglichkeiten, die Verteilung über 16jähriger unbegleiteter Flüchtlinge zu verhindern, wurden in den letzten
Jahren immer mehr eingeschränkt. In we-
nigen Ausnahmefällen gelang es, für einzelne, besonders betreuungsbedürftige
oder für kranke Jugendliche eine Inobhutnahme in einer Jugendeinrichtung durchzusetzen, bevor sie durch die Ausländerbehörde umverteilt wurden. Durch den
zunehmenden Druck auf den ASD, solche
Verfügungen nicht mehr auszustellen, bevor der Jugendliche bei der Ausländerbehörde war, sind solche Fälle inzwischen
jedoch äußerst selten. Nach einer über
EASY erfolgten Verteilung eine Verfügung
zur Inobhutnahme auszustellen, nützt wenig, da die herrschende Argumentation
lautet, der/die Betroffene könne ja an dem
ihm/ihr zugeteilten Ort um Jugendhilfe
nachsuchen.
Der zweite Weg ist der über die Beantragung einer Vormundschaft, was entweder durch den Jugendlichen selbst oder
über den ASD erfolgen muß ( Vormundschaft). Sollte das Vormundschaftsgericht
dem Antrag stattgeben und eine/einen
VormünderIn zuteilen, kann dieser versuchen, eine Umverteilung seines Mündels
zu verhindern. Die Berufung auf das Aufenthaltsbestimmungsrecht der/des gesetzlichen VertreterIn wurde in den uns bekannten Fällen allerdings von Behörden
und Gerichten nicht akzeptiert. Es kann
aber vorkommen, daß die Aufnahmeeinrichtung, in die der Jugendliche verteilt
wurde, sich mit Verweis auf eine bestehende Vormundschaft weigert, ihn aufzunehmen und an den Wohnort des Vormunds zurückschickt. Erfolgversprechender ist es aber, wenn eine gültige Verfügung zur Inobhutnahme vorliegt – zu den
Problemen siehe oben.
Ansonsten ist die Umverteilung Minderjähriger in der letzten Zeit zunehmend eine Folge der ‘Altersbestimmungen’ durch
Ausländerbehörden und Polizei, und der
Widerstand dagegen muß die medizinische, juristische und ethische Unhaltbarkeit dieser Verfahren thematisieren.
299
AUFNAHMEBEDINGUNGEN
7. Unterstützungsmöglichkeiten für
umverteilte Minderjährige
Auf der individuellen Ebene ist es sehr
schwierig, umverteilte Jugendliche zu unterstützen. Viele kommen gar nicht in
Kontakt mit Jugendhilfeeinrichtungen
oder Beratungsstellen und wissen nichts
über ihre Rechte. Selbst wenn BetreuerInnen oder BeraterInnen erfahren, wohin eine/ein Jugendliche/r verteilt wurde,
ist es für sie schwierig, ihnen Ratschläge
zu geben. Die Bedingungen für jugendliche Flüchtlinge sind in den verschiedenen
Bundesländern sehr verschieden. In manchen Orten werden auch die über 16jährigen in Jugendhilfeeinrichtungen untergebracht. In den meisten Ländern werden
sie aber gemeinsam mit Erwachsenen in
die ZAST (Zentrale Aufnahmestelle) gesteckt, d. h. in große Lager fast ohne soziale Betreuung.
Wichtig wäre ein Informationsaustausch zwischen Flüchtlingsräten und Arbeitskreisen für minderjährige Flüchtlinge
der verschiedenen Bundesländer über die
jeweiligen Bedingungen, damit Informationen und Hilfestellungen gezielt weitergegeben werden können ( Interessenvertretung).
8. Folgen der zwangsweisen
Umverteilung
Minderjährige Flüchtlinge, die sich allein
oder zusammen mit Gleichaltrigen bis in
die Bundesrepublik Deutschland durchgeschlagen haben, haben in den meisten
Fällen bereits Erfahrungen damit, sich ohne Papiere und behördliche Erlaubnis
fortzubewegen und sich an verschiedenen
Orten aufzuhalten. Oft geraten sie dabei
an Landsleute oder andere Erwachsene,
die ihnen eher fragwürdige Ratschläge geben. Nicht wenige begeben sich, nicht zuletzt aufgrund von fehlender Orientierung,
Unkenntnis von Gesetzen und Geldman300
gel, in Abhängigkeiten oder kriminelle
Kreise. Wenn ihnen Jugendhilfe verwehrt
wird und sie gezwungen werden, sich an
andere Orte zu begeben, werden solche
Abhängigkeiten eher noch vergrößert.
Nur wenige Jugendliche sind bereit und
bei weitem nicht alle in der Lage, in einem
Lager in einer völlig fremden Gegend, ohne ihre FreundInnen oder Verwandte und
ohne soziale Betreuung zu leben.
Viele entziehen sich deshalb der Umverteilung und halten sich lieber illegal in
verschiedenen Großstädten auf, fahren
z. T. auf riskanten Wegen von einer Stadt
zur andern, schlafen bei Landsleuten unerlaubt in Asylheimen, in Discos oder auf
der Straße. Um zu überleben, fangen einige an, Drogen zu verkaufen, andere versuchen sich durch Diebstahl über Wasser
zu halten ( Kriminalität/Kriminalisierung). Ihr Ernährungs- und Gesundheitszustand verschlechtert sich, ganz zu
schweigen von ihrer psychischen Situation. ‘Streetworker’, Notunterkünfte und
Beratungsstellen gibt es für solche Jugendlichen kaum ( Streetwork). Werden
sie ohne gültige Papiere erwischt, werden
sie bestenfalls in das ihnen zugeteilte
Lager zurückgeschickt, schlimmstenfalls
landen sie im Gefängnis oder in Abschiebehaft ( Illegalität). Die Institutionen der
Jugendhilfe schließen die Augen und leugnen ihre Verantwortung für diese
Jugendlichen – sie sind ja umverteilt!
Wenn niemand etwas entgegensetzt, wird
sich diese Situation in der nächsten Zeit
wohl noch zuspitzen und genau das zur
Folge haben, was Politiker und Behörden
als Begründung für die Umverteilung anführen: eine zunehmende Zahl illegalisierter, verwahrloster und in kriminelle Kreise abrutschender Jugendlicher insbesondere in den Großstädten.
PERSPEKTIVEN
Literatur
Deutsches Ausländerrecht, 12., völlig neubearbeitete
Auflage, Stand: 1. November 1997 (Beck-Texte im dtv)
Grenz, Conni: Minderjährige Flüchtlinge – Verwahrung statt Pädagogik, in: off limits – Antirassistische
Zeitschrift Nr. 17, Februar/März 1997, S. 11-13
Grenz, Conni: Minderjährige Flüchtlinge – Behördliche Altersfeststeller produzieren Kriminelle, in: off limits – Antirassistische Zeitschrift Nr. 21, Februar/
März 1998, S. 18-21
Münder, Johannes u.a.: Frankfurter Lehr- und Praxiskommentar zum KJHG, 3. Auflage, Münster 1998
Cornelia Gunßer
Perspektiven
Seit 20 Jahren suchen Kinderflüchtlinge aus
Kriegs- und Krisenländern Schutz in der Bundesrepublik. Nach internationaler Definition
sind es Minderjährige unter 18 Jahren, die ohne ihre Eltern oder Personensorgeberechtigten
ihr Herkunftsland verlassen, um Zuflucht in einem anderen Land zu finden. In der Bundesrepublik ist diese Definition seit 1993 – unter
Zugrundelegung von § 12 Abs. 1 AsylVfG, nach
dem Minderjährige ab 16 Jahren ihren Asylantrag selbst stellen – auf diejenigen Kinder
eingeschränkt, die bei der Einreise noch keine
16 Jahre alt sind. In den 90er Jahren kamen
jedes Jahr mehrere Tausend unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in die Bundesrepublik
(Jockenhövel-Schiecke 1998, S. 166). Gleichzeitig verschlechterte sich im Zufluchtsland
fortlaufend die Situation für die Kinder, und
zwar in beiden für sie relevanten Rechtsbereichen, der Kinder- und Jugendhilfe und dem
Ausländer- und Asylrecht, so daß 1999 die
Frage nach den ‘Perspektiven’ unbegleiteter
Flüchtlingskinder beinahe zynisch klingt, wenn
wir ‘Perspektiven’ verstehen als Zukunftsaussichten, die auch vom Kind individuell beeinflußbar sind. An dieser Stelle kann allerdings
für Tausende von Jungen und Mädchen unterschiedlichen Alters, aus mehr als 50 Her-
kunftsländern mit jeweils individueller Familiengeschichte und Flucht- und Verlusterlebnissen, nur eine verallgemeinernde Darstellung ihrer ‘Perspektiven’ gegeben werden.
1. Jugendliche Flüchtlinge zwischen
16 und 18 Jahren
Jugendliche Flüchtlinge von 16 bis 18 Jahren werden wie Erwachsene behandelt,
auf der Rechtsgrundlage des Art. 12 Abs.
1 AsylVfG, der ihnen eine eigene Handlungsfähigkeit im Asylverfahren gibt. Sie
erhalten keinen jugendgemäßen Schutz
entsprechend dem Haager Minderjährigen Schutzabkommen und dem Kinderund Jugendhilferecht, obwohl dieser in
beiden für alle Minderjährige bis zur Erreichung der Volljährigkeit mit 18 Jahren
vorgesehen ist. Jugendliche Flüchtlinge
können bundesweit verteilt werden (§ 46
Abs. 2 AsylVfG), sie erhalten in der Regel
keinen Vormund – was auf Antrag möglich
wäre – und werden in den Aufnahmeeinrichtungen der Länder (§ 47 AsylVfG) und
anschließend in Sammelunterkünften untergebracht, ohne eine jugendgerechte
Betreuung. Ausnahmen werden für Mädchen im Alter von 16 bis 18 Jahren in
Rheinland-Pfalz und in Thüringen gemacht, wo sie regelmäßig in einer Jugendhilfeeinrichtung in Obhut genommen werden (§ 42 KJHG). Jugendliche Flüchtlinge
erhalten Unterhalt nach dem Asylbewerberleistungsgesetz ( Asylbewerberleistungsgesetz). Von ihrem Taschengeld
können sie meist keinen Rechtsanwalt für
eine Klage beim Verwaltungsgericht bezahlen, sondern müssen auf Unterstützung durch Verwandte in der Bundesrepublik hoffen. Ist ein/e Jugendliche/r
rechtskräftig im Asylverfahren abgelehnt,
wird er/sie eine Ausreiseaufforderung erhalten und bei Nichtbefolgung abgeschoben werden, oft ohne eine jugendgemäße
Abklärung der Rückkehr in das Herkunftsland, die bis zur Volljährigkeit not301
AUFNAHMEBEDINGUNGEN
wendig wäre (Entschließung des Rates der
EU, Art. 1 u. Art. 5). Eine Perspektive
müssen abgeschobene Jugendliche dann
wieder in ihrem Herkunftsland suchen.
In eine ganze Reihe von Herkunftsländern sind Abschiebungen nicht möglich, weil Krieg und Bürgerkrieg im Herkunftsland herrschen, es keine Verkehrsverbindungen nach dort gibt, oder die
Botschaft sich weigert, Reisepapiere für
die RückkehrerInnen auszustellen. Diese
Flüchtlinge erhalten eine Duldung nach §
55 Abs. 2 AuslG, also nur die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung. Sie
können nach einer Wartefrist, die gegenwärtig fünf Jahre beträgt (§ 285 Abs. 4
SGB III), versuchen, eine Arbeitserlaubnis
zu erhalten und einen Arbeitsplatz zu finden. Anzumerken ist hier, daß sich die
Zahl der jugendlichen Flüchtlinge in Sammelunterkünften dadurch erhöht, daß bei
Erreichen des 16. Lebensjahres in vielen
Kommunen kein Erziehungsbedarf mehr
gesehen wird und die Unterbringung in
der Jugendhilfe mit dieser Begründung –
häufig aber aus Kostengründen – abgebrochen wird. Anzumerken ist auch, daß
jugendliche Flüchtlinge im Falle ihrer Anerkennung nach deutschem Personalstatut behandelt werden und damit Rechte
und Perspektiven wie deutsche Jugendliche erhalten, was aber nur selten der
Fall ist.
2. Kinderflüchtlinge unter 16 Jahren
Für Kinderflüchtlinge unter 16 Jahren
sind die gesetzlichen Regelungen zweier
Rechtsbereiche relevant. Der erste basiert
auf dem Haager Minderjährigen Schutzabkommen (MSA), er umfaßt das Kinderund Jugendhilferecht (KJHG) und das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB), letzteres für
die Interessensvertretung eines Kindes.
Diese Regelungen werden jedoch nur angewandt, wenn die Kinder bei der Einreise
jünger als 16 Jahre sind und entfalten ihre
302
rechtliche Wirkung unmittelbar nach Ankunft eines Kindes, wenn es in Obhut genommen wird (§ 42 KJHG) und ein Antrag
auf Vormundschaft zu stellen ist (§ 1773 ff
BGB). Der zweite Rechtsbereich setzt sich
zusammen aus dem Ausländergesetz
(AuslG) und dem Asylverfahrensgesetz
(AsylVfG), der Entscheidungspraxis des
Bundesamtes und der Rechtsprechung der
Verwaltungsgerichte. In diesem Rechtsbereich wird später geprüft, ob ein Kind einen aufenthaltsrechtlichen Schutz erhalten kann, nachdem der gesetzliche Vertreter einen entsprechenden Antrag für
sein Mündel gestellt hat (§ 14 Abs. 2 S. 2 +
3 AsylVfG; § 68 Abs. 4 AuslG).
3. Unterbringung und Erziehung in der
Jugendhilfe
Die Perspektiven, die ein Kinderflüchtling
in der Bundesrepublik hat, basieren auf
dem Schutz und der Erziehung, die es im
Rahmen der Jugendhilfe erhält sowie insbesondere auf dem Ergebnis der aufenthaltsrechtlichen Anträge des Vormundes.
Eine dem Kindeswohl entsprechende Erziehung beginnt für Kinderflüchtlinge mit
der Inobhutnahme (§ 42 KHJG) in einer
Jugendhilfeeinrichtung. Während der Inobhutnahme wird der Clearingprozeß
durchgeführt, in dem die Fluchtgründe,
entsprechende ausländer- und asylrechtliche Anträge, der Erziehungsbedarf und
die weitere Unterbringung in der Jugendhilfe abgeklärt werden. Grundsätzlich definiert sich der Erziehungsbedarf bei Kinderflüchtlingen durch ihren Wechsel aus
der Herkunftskultur in das kulturelle Wertesystem des Exillandes. Die mittel- und
längerfristige Unterbringung wird in einer
Jugendhilfeeinrichtung
vorgenommen
(§ 34 KJHG), in der das Kind eine seinem
Erziehungsbedarf angemessene Erziehung erhält, die halbjährig unter Mitwirkung des Kindes, des Vormundes und der
ErzieherInnen in der Hilfeplanung, fort-
PERSPEKTIVEN
geschrieben wird (§ 36 KJHG; Hilfeplanung).
Für Kinderflüchtlinge beginnt die
Orientierung auf die deutsche Sprache und
hier übliche Verhaltensweisen während
der Inobhutnahme. Die Erziehung in der
Jugendhilfeeinrichtung knüpft daran an
und vermittelt weitere Inhalte für die
Orientierung und eine Integration, insbesondere mit dem Schulbesuch und der
Förderung deutscher Sprachkenntnisse.
Gleichzeitig ist der Erhalt der Muttersprache und der Herkunftskultur das zweite
wichtige Erziehungsziel, das durch die
Unterbringung mehrerer Kinder aus dem
gleichen Herkunftsland in einer Jugendhilfeeinrichtung erreicht werden kann
(Jockenhövel-Schiecke 1997, S. 404 ff).
Rechtsgrundlagen für die Bewahrung der
Muttersprache und der Herkunftsidentität
sind in der Kinderrechtskonvention (Art. 8
Abs. 1) und dem KJHG (§ 9 S. 2) vorgegeben.
Die Hilfe zur Erziehung und die Unterbringung der Kinderflüchtlinge sind
rechtlich im Kinder- und Jugendhilfegesetz begründet, das bis zur Volljährigkeit gilt und darüber hinaus bis zum Alter
von 27 Jahren, wenn Jugendliche noch eine weitere Unterstützung in ihrem Verselbständigungsprozeß benötigen (§ 41
KJHG). Die Herausnahme eines Kinderflüchtlings aus der Jugendhilfe bei Erreichen des 16. Lebensjahres ist im KJHG
nicht vorgesehen und die Begründung mit
der ab dem 16. Lebensjahr beginnenden
Handlungsfähigkeit im Asylverfahren
(§ 12 AsylVfG) ist weder rechtlich noch
tatsächlich gerechtfertigt.
4. Bleiben oder Rückkehr?
Die entscheidende Frage im Hinblick auf
die Perspektiven eines Kinderflüchtlings
ist die Klärung seines ausländerrechtlichen Status. Dies ist die dringlichste Aufgabe des Vormundes, wofür er den aus-
länderrechtlichen Antrag oder den Asylantrag mit den Fluchtgründen des Kindes,
der politischen Situation im Herkunftsland
und dem Kindeswohl abstimmt.
In der Bundesrepublik wird eine Anerkennung als Asylberechtigter nur dann
ausgesprochen, wenn der Flüchtling seine
direkte politische Verfolgung durch die
Organe des Staates glaubhaft machen
kann. Erfahrungsgemäß erfolgt eine Anerkennung der Fluchtgründe der Kinder
bzw. der Gründe, die die Eltern hatten, ihre Kinder auf die Flucht zu schicken, in
ganz seltenen Fällen. Gleiches gilt für die
Feststellung von Abschiebehindernissen
nach § 51 AuslG, die ebenfalls eine politische Verfolgung voraussetzt. Eine Anerkennung als Asylberechtigter aufgrund
Art. 16 a GG oder das sog. ’kleine Asyl’
aufgrund § 51 AuslG würden ein eindeutiges Bleiberecht zur Folge haben und dem
Kinderflüchtling klare Perspektiven eröffnen.
4.1 Zuflucht auf Widerruf
(§ 53 Abs. 6, S. 1 AuslG)
Bei der Asylantragstellung werden vom
Bundesamt auch Abschiebehindernisse
nach § 53 AuslG geprüft. Bei der Feststellung von Abschiebehindernissen nach
§ 53 AuslG muß es sich um konkrete Gefahren im Zielland handeln, die einem
Kinderflüchtling bei Rückkehr drohen.
Nach § 53 Abs. 4 können sich diese aus
den in der Europäischen Menschenrechtskonvention geschützten Menschenrechten
ergeben, so eine drohende Folter und unmenschliche oder erniedrigende Behandlung (Art. 3 EMRK). Bei schweren Krankheiten und fehlenden Therapiemöglichkeiten im Herkunftsland, z. B. bei Niereninsuffizienz oder Aids, können ebenfalls
Abschiebehindernisse nach § 53 Abs. 4
AuslG in Verbindung mit Art. 3 EMRK festgestellt werden (vgl. Jockenhövel-Schiekke 1998, S. 165 ff).
303
AUFNAHMEBEDINGUNGEN
Die häufigste Feststellung von Abschiebehindernissen bei Kinderflüchtlingen basiert auf § 53 Abs. 6, S. 1 AuslG, wonach
niemand in einen Staat abgeschoben werden darf, wenn dort für ihn „eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder
Freiheit“ besteht. Für alleinstehende junge Flüchtlinge besteht diese erhebliche
konkrete Gefahr für Leib, Leben oder
Freiheit immer dann, wenn das Kind bei
seiner Rückkehr ohne Betreuung im Herkunftsland wäre, weil die Eltern tot, inhaftiert oder unbekannten Aufenthaltes sind
und es dort keine weiteren Verwandten
gibt, die die Betreuung des Kindes übernehmen könnten. Wenn die Unterbringung des Kindes in einem Kinderheim im
Herkunftsland auch nicht möglich ist, weil
es Kinderheime entweder nicht gibt oder
dort keine altersgemäße oder menschenwürdige Betreuung angeboten wird, sind
Abschiebehindernisse nach § 53 Abs. 6, S.
1 AuslG festzustellen. Darüber hinaus
muß die konkrete Unterbringung im
Herkunftsland vor Rückkehr des Kindes
abgeklärt werden, und zwar für Minderjährige bis zum 18. Lebensjahr, wie in der
Entschließung des Rates der Europäischen Union im Juni 1997 festgelegt wurde. Erfolgt eine Anerkennung von Abschiebehindernissen, weil keine Betreuung im Herkunftsland für das Kind gewährleistet ist, gilt dies als Abschiebehindernis bis zum Erreichen der Volljährigkeit, denn für den jungen Erwachsenen ist
eine Betreuung nicht mehr notwendig. Die
Feststellung von Abschiebehindernissen
nach § 53 Abs. 6, S. 1 AuslG ist also lediglich eine Zuflucht auf Widerruf, für die
darüber hinaus nur eine Duldung nach §
55 Abs. 2 AuslG erteilt wird.
Für den Asylantrag bedeutet dies, daß
auch Angaben zur Familiensituation zu
geben sind, wenn diese als Abschiebehindernisse wegen mangelnder Betreuung
bei Rückkehr gewertet werden können.
Darüber hinaus ist bei Vorhandensein solcher Gründe für ein Abschiebehindernis
304
die Überprüfung einer negativen Entscheidung des Bundesamtes durch ein
Verwaltungsgericht anzuraten.
4.2. Vorübergehendes Bleiben und Angst
vor Abschiebung (§ 55 Abs. 2 AuslG)
Die weitaus meisten Kinderflüchtlinge erhalten nach rechtskräftiger Ablehnung ihres Asylverfahrens lediglich eine Duldung
nach § 55 Abs. 2 AuslG, also nur die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung
( Aufenthaltstitel). Eine Duldung wird
immer dann erteilt, wenn die Abschiebung (noch) nicht vollzogen werden kann,
sie ist eine vorübergehende Möglichkeit
des Bleibens, die dem Kind jederzeit entzogen werden kann. Die Folge sind große
Ängste und Unsicherheiten bei den Kinderflüchtlingen, mit allen vorstellbaren
Folgen, wie Konzentrationsschwierigkeiten beim Lernen und häufige Bauch- oder
Kopfschmerzen. Auch für die PädagogInnen ist das Ziel ihrer Erziehung und die
mögliche Perspektive des Kindes unklar
und bestimmt von der Frage „Wie lange
wird das Kind bleiben können?“.
Gerade für Kinder, die aufgrund der
Situation in ihrem Herkunftsland mitteloder längerfristig bleiben werden, ist eine
rasche Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis nach § 30 AuslG zu fordern oder wenigstens längerfristige Duldungen, damit
die Kinder zumindest eine zeitlich begrenzte Perspektive entwickeln können.
4.3. Rückkehr
Die Perspektive einer Rückkehr ergibt
sich für Kinderflüchtlinge, wenn alle Anträge zur Erlangung eines Bleiberechtes
rechtskräftig abgelehnt sind und die Duldung abläuft. Voraussetzung für eine
Rückkehr ist, daß das Herkunftsland politisch sicher und ohne Krieg oder Bürgerkrieg ist. Vor der Rückkehr ist für jeden unbegleiteten Minderjährigen die Be-
ABSCHIEBUNG
treuung im Herkunftsland abzuklären.
Dies kann durch Kontaktaufnahme zu den
Personensorgeberechtigten oder anderen
Verwandten geschehen, sofern das Kind
diese noch im Herkunftsland hat und sich
an deren Adressen erinnert. Gibt es keine
aktuelle Adresse der Eltern und der Verwandten, so wird der Vormund eine Suche
nach den Angehörigen über den Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes in
München einleiten. Ist die Adresse von
Angehörigen bekannt, kann die Abklärung der Betreuung des Minderjährigen
bei diesen Verwandten über den Internationalen Sozialdienst in Frankfurt erfolgen, der einen Sozialbericht über die Lebensverhältnisse und die Aufnahmebereitschaft der Verwandten von seinen Korrespondenten in den Herkunftsländern
beschafft. Gibt es keine Verwandten mehr
im Herkunftsland, kann versucht werden,
die Betreuung des Kindes in einem Kinderheim im Herkunftsland abzuklären,
vorausgesetzt es gibt dort Kinderheime.
Ist eine freiwillige Rückkehr auf die geschilderte Weise in der vorgegebenen
Ausreisefrist nicht abzuklären, sind für
die dann fällige Abschiebung bei unbegleiteten Minderjährigen jedoch die gleichen
Voraussetzungen zu erfüllen, d. h. die Betreuung im Herkunftsland muß auch bei
einer Abschiebung vorher sichergestellt
werden, wie dies in der Entschließung des
Rates der EU festgeschrieben ist (Art. 5).
Literatur
Entschließung des Rates der EU v. 26. Juni 1997 betr.
unbegl. minderj. Staatsangehörige dritter Länder
(97/C 201/03). In: Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaft Nr. C 221/23 v. 19.07.1997
Jockenhövel-Schiecke, Helga: Migranten- und
Flüchtlingskinder in Einrichtungen der Jugendhilfe.
Entwicklungen, Erfahrungen, aktuelle Fragen. In:
Zentralblatt für Jugendrecht, Nr. 11, 1997, S. 404-415
Jockenhövel-Schiecke, Helga: Schutz für unbegleitete
Flüchtlingskinder: Rechtsgrundlagen und gegenwärtige Praxis. In: Zeitschrift für Ausländerrecht u.
Ausländerpolitik, Nr. 4, 1998, S. 165-175
Helga Jockenhövel-Schiecke
Abschiebung
Paragraph 49 des Ausländergesetzes (AuslG)
bestimmt, daß ein ausreisepflichtiger Ausländer abzuschieben ist, wenn, wie es heißt,
die Ausreisepflicht vollziehbar, die freiwillige
Ausreise nicht gesichert oder die Überwachung
der Ausreise aus Gründen der öffentlichen
Sicherheit und Ordnung erforderlich erscheint.
Diese Formulierung macht deutlich, daß sich
das Gebot der Abschiebung an die Ausländerbehörde richtet: Sie hat gegebenenfalls die
Ausreisepflicht zwangsweise durchzusetzen.
Damit ist bereits aufgezeigt, worin die wesentliche Aufgabe sozialer Betreuung von Kinderflüchtlingen liegt: in der Verhinderung einer
Abschiebung.
1. Verhinderung der Abschiebung
Dieses Ziel kann dadurch erreicht werden, daß entweder ein Bleiberecht erreicht wird, oder, falls dies nicht möglich
ist und eine Ausreise unausweichlich erscheint, eine freiwillige Ausreise unter
kindgerechten Bedingungen sichergestellt
wird. Dies kann entweder dadurch geschehen, daß die BetreuerInnen die Ausreise selbst organisieren oder, soweit dies
nicht möglich ist, versuchen, in Kooperation mit der Ausländerbehörde auf eine
solche freiwillige Ausreise hinzuwirken (
Kommunale Behörden). Zu beachten ist
nämlich, daß eine freiwillige Ausreise
stets Vorrang gegenüber einer Abschiebung hat. Dies gilt auch dann, wenn die
freiwillige Ausreise nicht selbst organisiert werden kann, sei es, weil die Mittel
305
AUFNAHMEBEDINGUNGEN
dazu fehlen, sei es, weil die/der Betroffene
hierzu nicht imstande ist (etwa aufgrund
des Alters).
2. Juristisches zur Abschiebung
Eine Abschiebung setzt eine vollziehbare
Ausreisepflicht voraus. Nach § 42 Abs. 1
AuslG ist ein/e AusländerIn zur Ausreise
verpflichtet, wenn er/sie eine erforderliche Aufenthaltsgenehmigung nicht oder
nicht mehr besitzt. Einer Aufenthaltsgenehmigung ( Aufenthaltstitel) steht eine
Aufenthaltsgestattung nach dem Asylverfahrensgesetz gemäß § 55 AsylVfG gleich.
2.1 Die Ausreisepflicht ist vollziehbar,
wenn der/die AusländerIn unerlaubt eingereist ist (§ 42 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 AuslG)
und kein Aufenthaltsrecht (z.B. durch die
Stellung eines Asylantrages) erworben
oder den Erstantrag auf Erteilung einer
Aufenthaltsgenehmigung oder den Verlängerungsantrag nicht oder verspätet gestellt hat (§ 42 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 und 3
AuslG) bzw., was der Regelfall ist, der Verwaltungsakt, durch den der/die AusländerIn ausreisepflichtig wird, vollziehbar
ist (§ 42 Abs. 2 S. 2 AuslG).
Für Kinderflüchtlinge wird meist ein
Asylantrag gestellt, so daß die Ausreisepflicht durch die Ausreiseaufforderung
und Abschiebungsandrohung, die das
Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge im negativen Fall erläßt, begründet wird. Lehnt das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer
Flüchtlinge ( Bundesbehörden) das Asylbegehren als ‘unbeachtlich’, ‘offensichtlich unzulässig’ oder als ‘offensichtlich unbegründet’ ab, beträgt die Ausreisefrist eine Woche ab Zustellung der Bundesamtsentscheidung. In diesem Falle ist die Vollziehbarkeit nach Ablauf der Wochenfrist
gegeben. Wird innerhalb dieser Wochenfrist jedoch eine Klage und ein erforderli306
cher Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO auf
Anordnung der aufschiebenden Wirkung
gestellt, wird die Vollziehbarkeit bis zur
gerichtlichen Entscheidung über den Eilantrag hinausgeschoben. Im Falle einer
negativen Entscheidung ist die Ausreiseverpflichtung mit der Verkündung dieser
Entscheidung vollziehbar (weil die gesetzte Ausreisefrist von einer Woche in diesem
Fall bereits abgelaufen sein wird). Wird
dem Antrag hingegen stattgegeben, ist der
Sofortvollzug beseitigt; die Ausreisefrist
endet erst einen Monat nach dem unanfechtbaren (negativen) Abschluß des Asylverfahrens (vgl. § 37 AsylVfG).
Im Normalfall einer (einfach-) ‘unbegründet’-Entscheidung entsteht die Vollziehbarkeit mit dem Ablauf der gesetzten
Ausreisefrist. Die Ausreisefrist von regelmäßig einem Monat beginnt mit der
Rechtskraft der Entscheidung, d. h. wenn
keine Klage gegen den Bundesamtsbescheid eingereicht wird, sechs Wochen
nach der Zustellung des Bundesamtsbescheides oder, wenn Rechtsmittel ergriffen
werden, einen Monat ab der Rechtskraft
der letzten (negativen) gerichtlichen Entscheidung. Das Ganze erscheint komplizierter, als es ist. Eine sorgfältige Lektüre
der Rechtsbehelfsbelehrung ist zu empfehlen, damit die unterschiedlichen Fristen beachtet werden. Diese sind unbedingt einzuhalten!
Ist ein Asylantrag nicht gestellt, wird
für Kinderflüchtlinge meist eine Aufenthaltsbefugnis oder eine Duldung beantragt. Es entspricht verbreiteter Praxis,
diesen Antrag förmlich zu verbescheiden
und eine Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung zu erlassen. Zu beachten ist jedoch, daß Widerspruch und
Klage keine aufschiebende Wirkung haben (§§ 71 Abs. 3, 72 Abs. 1 AuslG), so daß
auch hier ein gerichtlicher Eilantrag gemäß § 80 Abs. 5 VwGO erforderlich ist,
damit die Vollziehbarkeit bis zu dieser gerichtlichen Entscheidung hinausgescho-
ABSCHIEBUNG
ben wird. Eine gesetzliche Frist für den
Eilantrag gibt es in diesem Falle nicht.
Wenn eine Abschiebung konkret noch
nicht im Raum steht, etwa, weil erst noch
Papiere zu beschaffen sind und dies noch
längere Zeit in Anspruch nimmt, ist ein
solcher Antrag nicht nur entbehrlich, sondern sogar unzulässig. Ihm fehlt zu diesem Zeitpunkt das Rechtsschutzbedürfnis,
weil ja eine Abschiebung noch nicht droht.
Sind jedoch Dokumente vorhanden oder
können die Dokumente aus dem Heimatstaat erfahrungsgemäß innerhalb kürzester Zeit beschafft werden, muß ein solcher Antrag umgehend gestellt werden,
damit nicht durch eine Abschiebung vollendete Tatsachen geschaffen werden.
Zu beachten ist, daß in vielen Fällen
keine Verpflichtung der Ausländerbehörde existiert, den Antrag auf Duldung oder
Aufenthaltsbefugnis förmlich zu verbescheiden. Im Falle einer illegalen Einreise
– und dies ist bei Kinderflüchtlingen die
Regel – ist nämlich die Ausreiseverpflichtung kraft Gesetzes vollziehbar, wenn ein
Asylantrag nicht gestellt wird oder ein
sonstiges Aufenthaltsrecht nicht besteht.
Trotz der Beantragung einer Duldung
oder einer Aufenthaltsbefugnis kann die
Ausländerbehörde also eine Abschiebung
vornehmen, ohne daß sie verpflichtet wäre, eine Abschiebungsandrohung zu erlassen.
Um vor unliebsamen Überraschungen
geschützt zu sein, muß dies, vor allem bei
nicht-kooperativen Ausländerbehörden,
stets bedacht werden. Wird ein Asylantrag
nicht gestellt, sollten die BetreuerInnen in
Kontakt zur Ausländerbehörde treten, um
deren Absichten zu erfahren. Plant sie eine Abschiebung, kann eine einstweilige
Anordnung gemäß § 123 VwGO auf Unterlassung der Abschiebung beim Verwaltungsgericht beantragt werden. Dies setzt
voraus, daß entweder Abschiebungshindernisse im Sinne von § 53 AuslG oder
Duldungsgründe im Sinne von § 55 AuslG
vorliegen. Wenn kein Asylantrag gestellt
wird, muß die Ausländerbehörde beides
prüfen. Sie darf hinsichtlich der Prüfung
von Abschiebungshindernissen nicht auf
das Bundesamt verweisen. In diesem Eilantrag müssen dann die Abschiebungshindernisse oder Duldungsgründe dargelegt und soweit wie möglich glaubhaft gemacht werden.
2.2 Eine Abschiebung setzt weiter voraus, daß 1. die freiwillige Erfüllung der
Ausreisepflicht nicht gesichert ist oder 2.
eine Überwachung aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung erforderlich erscheint.
2.2.1 Ob dies der Fall ist, ist eine Frage
des Einzelfalles. Die Berufung des ‘unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings’ auf
Asylgründe oder Abschiebungshindernisse rechtfertigt einen solchen Schluß noch
nicht, wohl aber die Erklärung, nicht freiwillig auszureisen oder die Weigerung, erforderliche Mitwirkungshandlungen (z. B.
Reisedokumente zu beschaffen, Botschaften) vorzunehmen. In der Praxis verlangt dies oft ein Lavieren, da nicht der
Eindruck erweckt werden darf, als sei
man nicht kooperativ und sperre sich einer Rückkehr, andererseits aber unter
Umständen im Sinne des Kindeswohles
noch Abklärungen erforderlich sind, die
Zurückhaltung verlangen.
Da die Rückkehr in jedem Fall kindgerecht gestaltet und vorbereitet sein muß,
sollte eine offensive Strategie verfolgt und
die Abklärung wichtiger Fragen verlangt
werden, etwa: Wer soll das Kind in Empfang nehmen? Wo soll es dort leben? Gibt
es Verwandte, sind sie verständigt? Ist eine erforderliche Betreuung/Behandlung
sichergestellt? Wenn verlangte Mitwirkungshandlungen an derartige Forderungen gekoppelt sind, kann den VormünderInnen/BetreuerInnen nicht vorgewor307
AUFNAHMEBEDINGUNGEN
fen werden, das Kind verweigere sich einer freiwilligen Rückkehr.
2.2.2 Überwachungsbedürftig ist eine
Ausreise vor allem dann, wenn sich der/
die AusländerIn in Haft oder sonstigem öffentlichen Gewahrsam befindet, innerhalb
einer Ausreisefrist nicht ausgereist ist,
nach § 47 AuslG (Regel- oder Ist-Ausweisung) ausgewiesen wurde, mittellos ist,
keinen Paß besitzt oder gegenüber der
Ausländerbehörde Angaben verweigert
oder unrichtige Angaben gemacht hat sowie sonst zu erkennen gegeben hat, daß er
seiner Ausreisepflicht nicht nachkommen
wird (§ 49 Abs. 2 AuslG). Da Kinderflüchtlinge meist mittellos sind, müßte
nach dem Wortlaut die Abschiebung die
Regel sein. Dies entspricht jedoch nicht der
Praxis. Das eröffnete ausländerrechtliche
Ermessen wird (bis auf die Fälle der Haft)
von den Behörden (trotz Mittellosigkeit)
meist dahingehend gebraucht, daß bei kooperativem Verhalten des Vormundes die
freiwillige Ausreise ermöglicht wird.
2.3 Auch wenn die formellen Voraussetzungen einer Abschiebung gegeben
sind, ist weitere Voraussetzung, daß weder Abschiebungshindernisse noch Duldungsgründe vorliegen. Die wesentlichen
Abschiebungshindernisse sind in § 53
AuslG geregelt. Für Kinderflüchtlinge relevant sind vor allem das Abschiebungshindernis gemäß § 53 Abs. 4 AuslG i.V.m.
Art. 3 EMRK (Verbot einer unmenschlichen Behandlung) und § 53 Abs. 6 S. 1
AuslG. Nach der Rechtsprechung greift §
53 Abs. 4 AuslG dann ein, wenn die Gefahr vom Staat oder staatsähnlichen Organisationen ausgeht, während § 53 Abs.
6 S. 1 AuslG keine Staatlichkeit der Verfolgung verlangt. Auch eine rein private
Verfolgung stellt dann ein Abschiebungshindernis im Sinne von § 53 Abs. 6 S. 1
AuslG dar, wenn es sich um eine extreme
308
Gefahrenlage handelt und durch staatliche Organe kein ausreichender Schutz erlangt werden kann. Insbesondere bei Bürgerkriegssituationen ist dies zu bejahen.
Aber auch grassierende Krankheiten oder
andere schwerwiegende Eingriffe in die
körperliche Unversehrtheit, z. B. Zwangsbeschneidungen, können Abschiebungshindernisse in diesem Sinne darstellen.
Wenn ein ‘unbegleiteter minderjähriger
Flüchtling’ in seiner Heimat keine Familienangehörigen mehr hat und eine ausreichende staatliche Versorgung und Betreuung nicht existiert, ihm also ein Dahinvegetieren am Rande des Existenzminimums droht, ihn vielleicht das Schicksal
eines Straßenkindes erwartet, kann ebenfalls ein Abschiebungshindernis im Sinne
von § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG zu bejahen sein.
Das Vorliegen eines Abschiebungshindernisses muß von den Kinderflüchtlingen
selbst geltend gemacht werden. Ist ein
Asylantrag gestellt, hat das Bundesamt
hierüber mitzubefinden. Wird jedoch ein
Asylantrag nicht gestellt, ist die Ausländerbehörde auch zur Prüfung dieser zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernisse verpflichtet. Neben § 53 AuslG können
sich – wenn auch nur im Ausnahmefall –
Abschiebungshindernisse auch unmittelbar aus der Verfassung (z. B. Gebot der
Achtung der Menschenwürde: Art. 1, 2
Abs. 1 GG oder Schutz der Ehe und Familie: Art. 6 GG) oder aus internationalen
Regelungen ergeben (insbesondere aus
der Europäischen Menschenrechtskonvention). Die Konvention der Vereinten
Nationen für die Rechte des Kindes hingegen soll nach der überwiegenden Meinung
der Rechtsprechung wegen des deutschen
Vorbehaltes keine unmittelbaren Abschiebungshindernisse begründen. Dies ist jedoch strittig, so daß eine Berufung auf die
Kinderrechtskonvention durchaus sinnvoll ist ( Kinderflüchtlinge). Darüber hinaus hat die Kinderrechtskonvention jedenfalls Gewicht bei der Auslegung der
ABSCHIEBUNG
nationalen Regelungen ( Kinderrechte).
Von diesen ‘zielstaatsbezogenen’ Abschiebungshindernissen zu unterscheiden
sind ‘inlandsbezogene’ Abschiebungshindernisse, die als Duldungsgründe im Sinne
von § 55 AuslG eine Abschiebung verhindern können. Dies sind z. B. eine akute
Erkrankung, die zu einer Reiseunfähigkeit
führt oder die Fortsetzung einer angefangenen Behandlung verlangt, familiäre Beziehungen in der BR Deutschland, die
nicht unterbrochen werden dürfen oder
sonstige schwerwiegende Umstände, die in
der BRDeutschland auftreten. Diese inlandsbezogenen Duldungsgründe sind stets
von den Ausländerbehörden zu beachten.
2.4 Technisch unterscheidet sich eine
Abschiebung nicht notwendig von einer
freiwilligen Ausreise. Der betroffene
Flüchtling kann zu einem bestimmten Termin zum Ausländeramt oder Flughafen
bestellt werden, damit er/sie abgeschoben
werde. Denkbar ist aber auch die kurzfristige Ingewahrsamnahme oder die vorherige Anordnung der Abschiebungshaft.
Wenn keine polizeiliche Begleitung angeordnet ist (etwa bei Suizidgefahr oder
Fremdgefährdung) erfolgt die Abschiebung durch die Übergabe an die Behörden
des Nachbarlandes (bei der Landabschiebung) oder dadurch, daß der Flüchtling in
das Flugzeug gesetzt wird.
2.5 Die entscheidende juristische Wirkung der Abschiebung besteht darin, daß
damit ein Betretensverbot und das Verbot
der Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung für die BRDeutschland verbunden
ist (§ 8 Abs. 2 AuslG). Das Betretensverbot
gilt im Falle einer Abschiebung zunächst
unbefristet. Auf Antrag kann und muß
diese Wirkung befristet werden. Die Dauer der Frist richtet sich nach dem Einzelfall, wird aber bei Kinderflüchtlingen
fünf Jahre, beginnend von der Ausreise,
nicht übersteigen dürfen. Wenn nicht weitere Aspekte – wie etwa eine Straftat –
hinzutreten, dürfte im Regelfall eine zweibis dreijährige Frist sachgerecht sein; bei
Vorliegen besonderer Umstände – etwa einer nachträglichen Adoption oder einer
Eheschließung, die einen Aufenthalt in
der BRDeutschland nahelegen – kann
auch eine kürzere Frist geboten sein.
3. Abschiebungshaft
Auch gegenüber Kinderflüchtlingen ist
Abschiebungshaft grundsätzlich möglich.
Abschiebungshaft gibt es in den Formen
der Vorbereitungshaft und der Sicherungshaft.
3.1 Von Vorbereitungshaft spricht man,
wenn eine Ausweisung in Vorbereitung
ist, über diese aber noch nicht sofort entschieden werden kann und die Abschiebung ohne eine Inhaftnahme wesentlich
erschwert werden würde. Die Vorbereitungshaft setzt also voraus, daß eine förmliche Ausweisung (nicht nur der Erlaß einer Abschiebungsandrohung oder -anordnung), etwa wegen Straftaten, beabsichtigt ist. Wenn dies nicht im Raum steht,
kommt nur Sicherungshaft in Betracht.
Nach § 57 Abs. 1 AuslG setzt die Vorbereitungshaft neben der beabsichtigten Ausweisung voraus, daß diese nicht sofort ergehen kann, daß eine Abschiebung erforderlich, möglich und zulässig ist und ohne
eine Haftanordnung vereitelt oder wesentlich erschwert würde. Die regelmäßige
Höchstdauer der Vorbereitungshaft beträgt sechs Wochen und darf nur in
außergewöhnlichen Fällen überschritten
werden.
3.2 Von Sicherungshaft spricht man,
wenn eine bestehende Ausreisepflicht
durch eine Abschiebung durchgesetzt
309
AUFNAHMEBEDINGUNGEN
werden soll und die Gefahr besteht, daß
sich der/die Betreffende der Abschiebung
entziehen wird. Die Sicherungshaft setzt
eine bestehende und vollziehbare Ausreisepflicht voraus sowie, daß eine Abschiebung durchführbar und zulässig ist und
ohne Inhaftnahme vereitelt würde.
3.2.1 Nach § 57 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 AuslG
ist ein/e ausreisepflichtige/r AusländerIn
in Sicherungshaft zu nehmen, wenn er/sie
„aufgrund einer unerlaubten Einreise
vollziehbar ausreisepflichtig ist“. Ist zwischenzeitlich ein Aufenthaltsrecht entstanden (etwa aufgrund eines Erst-Asylantrags gemäß § 55 AsylVfG oder nach
§ 69 AuslG), ist Nr. 1 nicht mehr einschlägig. Die aufgrund der illegalen Einreise
bestehende Vermutung, der/die AusländerIn werde sich der Abschiebung entziehen, kann nach § 57 Abs. 2 S. 3 AuslG widerlegt werden. Dies wird regelmäßig anzunehmen sein, wenn ein nachvollziehbares Fluchtschicksal dargetan ist.
Nach § 57 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 AuslG ist Sicherungshaft anzuordnen, wenn eine Ausreisefrist abgelaufen ist und der/die AusländerIn seinen/ihren Aufenthaltsort gewechselt hat, ohne der Ausländerbehörde
die neue Anschrift mitgeteilt zu haben, also ‘untergetaucht’ ist. § 57 Abs. 2 S. 1 Nr. 3
AuslG regelt den Fall der bewußten Vereitelung einer angekündigten Abschiebung.
§ 57 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 und 5 AuslG sind
Generalklauseln. Voraussetzung ist, daß
der/die Ausländer/in sich einer Abschiebung bereits entzogen hat oder der auf
Tatsachen gegründete Verdacht besteht,
daß er/sie sich ihr künftig entziehen wird.
Die bloße Weigerung, freiwillig auszureisen, begründet ebensowenig wie das Unterlassen notwendiger Mitwirkungshandlungen für die Ausstellung von erforderlichen Heimreisedokumenten für sich allein
diesen Verdacht. Allein die Erfüllung der
tatbestandlichen Merkmale der Nummern
1 bis 5 des § 57 Abs. 2 AuslG rechtfertigen
310
also noch nicht die Anordnung von Sicherungshaft. Vielmehr muß stets das Merkmal der Notwendigkeit gegeben sein, also
eine Haft als erforderlich angesehen werden (vgl. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts).
3.2.2 Eine spezielle Form der Sicherungshaft enthält § 57 Abs. 2 S. 2 AuslG.
Voraussetzung ist nach dem Wortlaut nur,
daß die Ausreisefrist abgelaufen ist und
feststeht, daß die Abschiebung innerhalb
der nächsten zwei Wochen durchgeführt
werden kann. Diese Bestimmung, die insbesondere bei Sammelabschiebungen oder
in sonstigen Fällen, in denen die Abschiebung einen erheblichen organisatorischen Aufwand erfordert, zur Anwendung
kommt, ist verfassungsrechtlich bedenklich. Sie ist daher einengend auszulegen.
Das Kriterium der Erforderlichkeit der
Haft ist hier ebenso zu beachten wie der
Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.
3.2.3 Nach § 57 Abs. 2 S. 4 AuslG ist
die Sicherungshaft unzulässig, wenn feststeht, daß die Abschiebung aus vom/von
der AusländerIn nicht zu vertretenden
Gründen innerhalb der nächsten drei Monate nicht durchgeführt werden kann.
Insbesondere dann, wenn der vermeintliche Herkunftsstaat sich weigert, Papiere
(generell oder im Einzelfall) auszustellen,
wird diese Bestimmung einschlägig.
3.2.4 Nach § 57 Abs. 3 AuslG ist die
Sicherungshaft im Regelfall auf 6 Monate
begrenzt. Sie kann um höchstens zwölf
Monate – also auf 18 Monate – verlängert
werden, wenn der/die AusländerIn seine/
ihre Abschiebung verhindert (§ 57 Abs. 3
S. 2 AuslG). Eine 6 Monate übersteigende
Abschiebungshaft ist verfassungsrechtlich
bedenklich. Stets ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten!
ABSCHIEBUNG
4. Verhinderung der Abschiebung
Ziel der sozialen Betreuung von Kinderflüchtlingen muß es sein, eine Abschiebung – und erst recht die Abschiebungshaft – zu vermeiden, hat doch die Abschiebung weitreichende Folgen und stellt
die Abschiebungshaft einen schwerwiegenden und dem Kindeswohl nicht gerecht werdenden Eingriff dar.
Die maßgeblichen Aspekte des Falls
sollten daher schon im Vorfeld offen diskutiert und gegebenenfalls mit Hilfe der
Gerichte vertreten werden. Die wichtigste
Aufgabe dabei ist, daß Abschiebungshindernisse bzw. Duldungsgründe umfassend,
vollständig und überzeugend dargestellt
werden. Dies setzt im Regelfall eine Kooperation mit den Ausländerbehörden voraus. Die maßgeblichen Aspekte des Falles
sollten daher schon im Vorfeld offen diskutiert und gegebenenfalls hart, notfalls auch
mit Hilfe der Gerichte, vertreten werden.
4.1 Wenn ein Asylantrag gestellt wird,
werden zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse bereits im Rahmen des Asylverfahrens vom Bundesamt und den Gerichten geprüft. Über das Vorliegen solcher Abschiebungshindernisse kann später mit der Ausländerbehörde nicht mehr
diskutiert werden: Die Entscheidung des
Bundesamtes ist insoweit bindend. Wenn
zwischenzeitlich neue Umstände vorliegen, berechtigt dies die Ausländerbehörde
zur vorübergehenden Aussetzung der Abschiebung, was notfalls durch einen Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung erzwungen werden kann. Prinzipiell
aber müssen diese neuen Umstände gegenüber dem Bundesamt in einem Asylfolgeverfahren bzw. einem Verfahren auf
Wiederaufnahme der Prüfung von Abschiebungshindernissen geltend gemacht
werden.
Ist ein Asylantrag nicht gestellt worden,
müssen auch zielstaatsbezogene Abschie-
bungshindernisse von der Ausländerbehörde geprüft und ggf. berücksichtigt werden.
4.2 Die Abgrenzung zwischen ‘zielstaatsbezogenen’ und ‘inlandsbezogenen’
Abschiebungshindernissen ist im Einzelfall
schwierig. Eine in der BRDeutschland
mögliche und erforderliche ärztliche Behandlung kann als inlandsbezogenes Abschiebungshindernis diskutiert werden,
wird aber meist unter dem Aspekt der fehlenden Behandlungsmöglichkeit im Zielstaat als auslandsbezogenes Abschiebungshindernis aufgefaßt. Da Krankheit
oft auch eine starke seelisch-psychische
Komponente besitzt, vorhandene Beziehungen oder eine Betreuung von entscheidendem Einfluß ist, sind die Grenzen fliessend. Suizidalität jedenfalls wird als inlandsbezogener Duldungsgrund verstanden, ebenso wie in der BRDeutschland vorhandene familiäre Bindungen. Ein Kind,
dessen Eltern tot sind oder verschollen
und dessen einzig vorhandene Geschwister in der BRDeutschland aufhältlich sind
und sich um dieses Kind kümmern, kann
sich unter dem Aspekt von Art. 6 GG gegen
eine Abschiebung wenden.
Dies gilt selbstverständlich auch bei einer Adoption ( Adoption) und unter Umständen auch bei einer Aufnahme in die
Pflegefamilie ( Pflegefamilie). Hier wird
es jedoch auf die Umstände des Einzelfalles ankommen: Nur, wenn diese Beziehung einer Eltern-Kind-Beziehung ähnelt
(wobei dann regelmäßig die Frage zu beantworten wäre, warum eine Adoption
nicht erfolgt ist) oder akute Ereignisse dazwischengetreten oder eine relevante Veränderung der Verhältnisse zu erwarten
sind und die Beziehung sich grundsätzlich
als sog. ‘Beistandsgemeinschaft’ darstellt,
kann hieraus ein Abschiebungshindernis
resultieren.
Ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis kann jedoch auch aus dem all311
AUFNAHMEBEDINGUNGEN
gemeinen Persönlichkeitsrecht eines Menschen abgeleitet werden. Wenn ein Kind
aus einer fremden Kultur stammt und
über Jahre in unserer Kultur aufgewachsen und dadurch geprägt wurde, können
Art. 1, 2 Abs. 1 GG eine Abschiebung verhindern, wenn und weil dieses Kind im
Fall seiner Rückkehr möglicherweise wegen seiner westlich liberalistischen Prägung in seiner Heimat nicht (mehr) akzeptiert würde und in schwerwiegende, nicht
auflösbare Konflikte geriete. Es ist meines
Erachtens mit der Menschenwürde nicht
zu vereinbaren, ein 16jähriges Mädchen,
das seit seinem sechsten