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Fabrikzeitung Nr. 293 — Separatismus
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independence
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justice
justice
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liberty
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nation
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The national Mottos of 70 Countries, recognised as a member of the international community.
Cut to Words, sorted in alphabetical order.
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Unity
unum
upward
we
work
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Work
Work
world
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freedom
god
work
justice
strength
Liberty
The seven most used Terms (in National Mottos of 70 Countries,
recognised as a member of the international community.)
3
Editorial
«Die Zeit für mehr Autonomie ist gekommen!
Wir sind es leid uns von der Stadt vorschreiben
zu lassen, was für unser Quartier gut ist.» So
Christine Berger, Gemeinderatskandidatin der
Liste «Freie Gemeinde Höngg» im Januar 1994
im «Höngger». Was heute nach einem Aprilscherz klingt, war zu Beginn der 90er durchaus
ernst gemeint: Die Idee einer (von der Stadt Zürich) unabhängigen Gemeinde Höngg. Die
Gruppierung «Freie Gemeinde Höngg» plante
die Abspaltung von Zürich, weil eine kleinere
Gemeinde «mehr Übersicht und Kontrolle» biete und «man nicht mit der Stadt Zürich Konkurs gehen wolle».
Was sich in Höngg als sezessionistisches StrohFeuerchen erwies, lodert heute wie ein Waldbrand durch den krisengeplagten EU-Raum: Von
Norditalien über Katalonien bis nach Flandern
fordern immer mehr Menschen mehr Unabhängigkeit. Thomas Konicz nennt das in seinem
Text «Separatismus und Krise» einen typischen
Reflex kapitalistischer Globalisierung: «In diesen wenigen Regionen, die zu den vorläufigen
«Gewinnern» dieses Krisenprozesses gehören,
nimmt somit das Bestreben überhand, diese
kostspieligen Zusammenbruchsgebiete ökonomisch «verbrannter Erde» möglichst kostengünstig mittels einer Abspaltung loszuwerden.»
FGH-Spitzenkandidat Heinz Fischer, Spieler der
1. Mannschaft des SV Höngg, könnte darauf
Einsitz in der Schulpflege Waidberg nehmen.
Welche Ortstafeln?
Ja, wegen des guten Wahlresultates bei den Gemeinderatswahlen wurde uns ein Sitz zugeteilt.
Das kam von der Stadt. Warum er aufgehört hat,
weiss ich nicht. Ich glaube, da hat irgendetwas
Geschäftliches mit hineingespielt.
In der heutigen Welt kann man sich kaum mehr
«entziehen» Alles ist vernetzt, verbunden, kontrolliert, überwacht. Alle realen und sprichwörtlichen Inseln sind belegt, kartografiert und haben
meistes bereits WIFI. Es ist deshalb kaum verwunderlich, dass der Wunsch nach Unabhängigkeit — auch aus weniger ökonomisch motivierten
Beweggründen — immer stärker wird. Die Sommerausgabe der Fabrikzeitung widmet sich dem
Separatismus und macht sich auf die Reise
nach Höngg, Sealand, ins Fürstentum Hutt River,
ins Westberlin der 80er Jahre und in die Nische des Wohnzimmers.
Höngg ist ein schönes, ruhiges, mittelständisches
Wohnquartier am Rand von Zürich. Ein höchstens halburbaner Ausläufer der Stadt, der bis
1934 noch eine selbstständige Gemeinde war.
Der Dorfcharakter ist dem Quartier bis heute
teilweise geblieben, und manch einer liebäugelt
insgeheim noch immer mit der Unabhängigkeit.
Anscheinend jedenfalls: 1993 formierte sich
um verschiedene Exponenten des lokalen Gewerbes und des Fussballvereins eine Bewegung, welche die Hauptschlagader aus Richtung
Stadt kappen wollte. Die Interessensgemeinschaft Freie Gemeinde Höngg (kurz IG FGH)
zog mit einer vollbesetzten Liste in den Gemeinderatswahlkampf von 1994 ein. Georg Sibler, ehemaliger Gemeindenotar und Verfasser
verschiedener Publikationen zur Höngger Ortsgeschichte, war damals Vorstandsmitglied.
Herr Sibler, 1993 formierte sich in Höngg die Interessensgemeinschaft Freie Gemeinde Höngg.
Ihr Ziel: Die Abspaltung von der Stadt Zürich.
Was war ausschlaggebend für ihre Gründung?
Warum dies gerade ausgerechnet in den Neunziger Jahren passierte, weiss ich nicht. Das Lustige ist ja, dass sich zwei Gruppen unabhängig
voneinander ähnliche Gedanken machten. Nur
wussten diese beiden Gruppen erst gar nichts
voneinander. Erst als beide in der Quartierzeitung
«Höngger» etwas publizieren wollten stellte
der dortige Redaktor den Kontakt her. Schliesslich schlossen sich die beiden Gruppen dann
zusammen.
Was war Ihr Grund um bei den Separatisten
mitzumachen?
Ich bin in Dättlikon bei Winterthur aufgewachsen. Der Ort hatte damals 350 Einwohner und
100 Stimmberechtigte. An der Gemeindeversammlung hat der Gemeindeschreiber ohne auf
die Liste zu schauen gewusst, wer alles fehlte.
Man hat einander gekannt, war in allen Belangen in direktem persönlichem Kontakt miteinander. Als ich dann in die Stadt Zürich übersiedel-
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te, nahm ich die Behörden oft als unprofessionell
wahr. Niemand fühlte sich zuständig, niemand
stand für Fehler gerade.
Sie waren jahrzehntelang Gemeindenotar von
Höngg und hatten beruflich viel mit den städtischen Behörden zu tun gehabt.
Ja, aber sobald ich mit anderen Gemeinden zu
tun hatte, ging in den meisten Fällen alles reibungslos. Den Gemeinderat von Weiningen oder
Regensdorf konnte man direkt anrufen und alles besprechen. Bei der Stadt endete alles immer
in einem Hin und Her und am Schluss kam ein
anonymer Entscheid dabei raus, päng.
War das auch ein Grund, der die anderen Mitglieder der IG FGH zum Mitmachen bewogen hat?
Wahrscheinlich waren es ähnliche Gründe. Vieles läuft in einem kleinen Kreis einfach besser
und geordneter ab. Ich würde das mit dem Begriff Bürgernähe zusammenfassen. Und mit
einem gewissen Misstrauen gegenüber der Leistungsfähigkeit des städtischen Apparats. Aber
eben: Es war wohl mehr ein latentes Unbehagen,
als ein wirklich starkes Gefühl. Viele fanden die
Abspaltung von Zürich eine gute Idee, aber es
wollte oder konnte sich niemand wirklich stark
engagieren.
Nach der Auflösung der IG FGH im Jahr 1996
haben sie mehrere Texte über die kurze Geschichte des Vereins verfasst. Sie nehmen dort
immer wieder die historische Perspektive ein.
Wieso?
Ich habe mich intensiv mit der Geschichte von
Höngg beschäftigt. Die Eigenständigkeit hat
hier eine lange Geschichte. Auch als Höngg anfangs 1934 schliesslich eingemeindet wurde,
waren viele Leute dagegen. Das Ganze stand
auf der Kippe. Auch während der folgenden
Jahrzehnte hielten die Skepsis und der Unmut
bei vielen an. Der Tenor war oft: Zum Zahlen
sind wir ihnen recht, aber sonst für nicht viel.
Wer waren die Separatisten, die gemeinsam mit
ihnen kämpften?
(überlegt) Man kann wohl schon sagen, dass die
Vereinsmitglieder eher im oberen Mittelstand
anzusiedeln waren. Ingenieure, PR-Berater, Ma-
lermeister, Leute aus dem Umfeld des SV
Höngg. Keine wirklichen Prominenten, aber alles
Leute, die schon eine Weile in Höngg wohnen.
Leute, denen Höngg wirklich am Herzen liegt.
Der Verein erreichte eine maximale Mitgliederzahl von 141 Mitgliedern. Haben Sie diese Leute
alle gekannt?
Nein, und das obwohl ich als Notar ziemlich viele Gesichter gespeichert hatte. Ich würde meinen, mindestens die Hälfte der Leute waren solche, die man noch nie gesehen hatte.
Wie sind diese Vereinsmitglieder rekrutiert
worden?
Das waren alles Leute, die sich von den Texten,
die wir von der IG FGH veröffentlicht haben, in
irgendeiner Form angesprochen gefühlt haben.
Leute, die sich dachten: «Gute Idee! Das sollte
man wirklich machen.»
Worum ging es in den ersten Sitzungen?
Die allerersten Sitzungen, an denen es um die
grundsätzliche Idee gegangen ist, habe ich
nicht erlebt. Ich bin ja erst später hinzugestossen.
Irgendjemand ist dann auf die Idee gekommen,
an den Gemeinderatswahlen von 1994 teilzunehmen. Es war nicht die Idee, dass wir einen
Sitz im Gemeinderat bekommen. So unrealistisch haben wir nicht gedacht. Wir wollten einfach etwas Aufmerksamkeit erregen und die
Diskussion ankurbeln. Das hat sehr gut funktioniert. Wir haben dann symbolisch die ganze
Liste gefüllt und insgesamt 12 Kandidaten gestellt. Zwei Frauen und zehn Männer. Eigentlich
hätten wir gerne noch mehr Frauen gehabt.
Und Sie selber waren auch auf der Liste?
Ja. Ich wollte im Voraus eigentlich gar nicht.
Aber die anderen haben gesagt: «Doch, doch,
dich kennt man doch.»
Wie genau hat man sich überlegt, was im Falle
einer Abspaltung zu tun wäre?
Zu wenig genau. Wir hatten vor, Arbeitsgruppen
zu bilden, welche sich den verschiedenen Themen widmen sollten. Ausserdem war die Idee,
dass sich jeder der zwölf Kandidaten mit einem
In der Nacht auf den 1. April 1994 haben wir alle
an den Zufahrtsstrassen liegenden Ortstafeln
mit Schildern mit der Aufschrift «Freie Gemeinde Höngg» versehen. Sie waren am Morgen
schon wieder weg.
Wie hat sich der Verein finanziert?
Jeder, der auf der Gemeinderatsliste war, musste
ein paar hundert Franken zahlen. Dazu kamen
ziemlich viele Spenden. Ein Schreinermeister hat
uns immer wieder mit Beträgen von bis zu 1000
Franken unterstützt. Allerdings mit der Bedingung, dass sein Name nirgends auftaucht. Er hatte Angst um seine Aufträge von der Stadt. Der
Präsident arbeitete in einem Möbelgeschäft und
hatte schlussendlich ähnliche Probleme: Er bekam ziemlich deutlich von der Stadt zu hören,
dass sie keine Aufträge mehr bekäme, wenn
das so weiterginge. Separatisten wolle man nicht
unterstützen.
Haben Sie eine Ahnung, wer das gewesen sein
könnte?
Ich glaube, ich war der Einzige aus dem Verein,
dem aufgefallen ist, dass das Ganze nicht wirklich aufgeht. Eines meiner Hobbies ist Heraldik.
Aber gesagt hab ich nichts. Ich wollte die anderen in ihrem Tatendrang nicht ausbremsen.
Woran ist das ganze Unternehmen Freie Gemeinde Höngg schlussendlich gescheitert?
Eben genau daran: am fehlenden Engagement
der Vereinsmitglieder. Was am Schluss der Auslöser für die Vereinsauflösung war, weiss ich
nicht. Das wollte mir niemand sagen. Auf einmal
war Schluss.
Keine Ahnung. Wirklich nicht.
Haben Sie noch weitere ungewöhnliche Aktionen durchgeführt?
Im Vorfeld der Gemeinderatswahlen haben wir
uns zweimal ein paar Stunden auf die Strasse
gestellt und den Kontakt zu den Passanten gesucht. Wir haben ihnen ein Hufeisen mit einer
Etikette in die Hand gedrückt – als Glückssymbol.
Sind Sie auch mit negativen Reaktionen konfrontiert worden?
Stimmt, davon hatte ich gelesen: Ihnen ist erst
später aufgegangen, dass das Hofeisen im
Wappen von Wipkingen vorkommt...
Nur ganz Wenige waren vehement dagegen –
zumindest aus meiner Wahrnehmung. Irgendeiner hat in einem Leserbrief geschrieben das
Ganze sei eine «Furzidee». Und die Leute, welche die Ortstafeln wieder abmontiert und weg-
Irgendeiner hat gesagt, er habe einen Bekannten,
der in seinem Pferdestall eine Kiste mit alten
Hufeisen habe, die er uns gratis geben könne.
Die haben wir dann nach einer Sitzung während
ein paar Stunden mit Glaspapier abgeschliffen.
Das heisst, die Auflösung kam für Sie völlig
überraschend?
Ja. Ich weiss noch, wie wir an einer Sitzung einen Termin für die nächste gesucht haben.
Da hiess es: Vielleicht nicht in einer, aber sicher
in zwei oder drei Wochen. Dann hab ich nichts
mehr gehört. Nach einem Vierteljahr schrieb ich
dann einen Brief an alle Vorstandsmitglieder
und bestand auf einer Sitzung. Als diese schliesslich zustande kam, wurde als einziges Traktandum über die Auflösung beschlossen.
Seltsam.
Freiheit
für höngg!
In den Neunziger Jahren kämpfte die Interessensgemeinschaft Freie Gemeinde Höngg für
die Abspaltung von Zürich. Aufgetaucht war sie
aus dem Nichts – und dort verschwand sie gut
drei Jahre später auch wieder. Doch was stand
hinter dem kurzen separatistischen Strohfeuer?
geschmissen haben, waren wohl auch vehement
dagegen.
Artikel im «Höngger» vorstellt und dabei ein
Thema vertieft behandelt. Schlussendlich habe
ich neun Artikel geschrieben und die anderen
keinen einzigen. Es hiess nur immer: «Ich bin
noch nicht dazugekommen.» – Dabei hatte ich
selbst auch nicht sonderlich viel Zeit. Ich hatte
mich zwar als Notar frühpensionieren lassen,
arbeitete aber damals gerade im Auftrag der
Ortsgeschichtlichen Kommission an einem
Buch über Höngg.
Wenn man nicht mehr ans grosse Zürich angeschlossen ist, muss man sich ja als Gemeinde
plötzlich wieder Gedanken über Wasser- und
Stromversorgung, öffentlichen Verkehr, Forstamt,
Polizei, Feuerwehr und vieles Weitere machen.
Ja. Es wäre sicher blödsinnig gewesen zu sagen, man betreibe jetzt ein eigenes Höngger
Tram. Aber die VBZ hat ja verschiedene Linien,
die über die Stadtgrenze hinausgehen. Das hätte man einfach aushandeln müssen. Und auch
die Wasserleitungen auseinanderzurupfen hätte
sicher keinen Sinn gemacht. Als Ausgleich für
gewisse Leistungen, hätte man der Stadt zum
Beispiel anbieten können, das gesamte Forstgebiet Höngg, das auch Teile von Wipkingen und
Affoltern umfasst, von hier aus zu verwalten.
Warum ging es nicht vorwärts? Waren das
mehrheitlich Stammtisch-Gespräche?
Man hatte mit dem Gemeinderatswahlkampf
ziemlich viel Zeit verloren. Danach hätte man
sich sofort Gedanken zur konkreten Umsetzung
machen sollen. Man hat dann immer nur geplant und geplant. Die Arbeitsgruppen haben
ihre Tätigkeit gar nie aufgenommen.
Bei den bei den Gemeinderatswahlen von 1994
erreichte die IG FGH im Kreis 10 einen Stimmenanteil von 4 Prozent. Sie schätzen, dass dies
etwa 7 Prozent der Stimmberechtigten von
Höngg entspricht. War das ein Erfolg oder hätten Sie sich mehr erhofft?
Das werteten wir schon als Erfolg! Wir waren
sehr überrascht, dass wir als unbekannte
Gruppierung so viele Stimmen erzielen konnten.
Und Zulauf hatten wir danach auch.
Sie waren voll engagiert, während bei den Anderen das ganze Engagement verpufft war?
Ja. Am Anfang hatte man noch das Gefühl, es
hätten alle das gleiche Interesse. Aber es hat
am Einsatz gefehlt.
Wäre die Abspaltung von Höngg denn Ihrer Ansicht nach immer noch sinnvoll?
Ja. Ich bin heute noch nicht überzeugt, ob eine
Zentralverwaltung in allen Bereichen besser ist
als eine überblickbare Organisation. Je grösser
eine Verwaltung, desto grösser ist die Gefahr,
dass nicht richtig motivierte Beamte darin Unterschlupf finden. Da herrscht einfach zu wenig
Kontrolle.
Wie nehmen Sie Höngg heute wahr?
Ich glaube, Höngg hat immer noch von allen
Stadtquartieren das intensivste Dorfleben.
Höngg hat Charakter.
Interview von Adrian Schräder
Georg Sibler, Freie Gemeinde Höngg. Lösung von der
Stadt Zürich! Erinnerungen an eine Idee von 1993 und ihr
Scheitern 1996, in: Zürcher Taschenbuch 2008, S. 304-331
Ja. Wahrscheinlich haben die sich vorher abgesprochen, fanden aber: «Mit dem ‚Gschpinnsiech’ reden wir gar nicht mehr. Der glaubt ja
noch dran...»
separatismus
und krise
Angefacht von der nicht endenwollenden Eurokrise scheinen separatistische Bewegungen in
vielen Regionen der Europäischen Union Morgenluft zu wittern. Die Landkarte der Alten Welt
könnte mittelfristig um ein eigenständiges
Schottland, um Katalonien, Wallonien, Flandern,
Südtirol und ein in Norditalien zu errichtendes
«Padanien» ergänzt werden. Zunehmende Autonomiebestrebungen erfassen inzwischen
auch die industriell geprägte südpolnische Region Schlesien. Selbst im wirtschaftlich avancierten Bayern mehren sich die einflussreichen
Stimmen, die ein «bayerisches Aufbegehren»
(Wilfried Scharnagl) oder zumindest ein Ende
der Finanztransfers an ökonomisch rückständige Regionen der Bundesrepublik fordern. Mitte
2012 verlieh der CSU-Funktionär Scharnagl, der
als langjähriger Chefredakteur des Parteiorgans ‹Bayernkurier› tätig war und im Vorstand
der CSU-nahen Hanns-Seidel-Stiftung sitzt, in
einem Interview mit der Wochenzeitung ‹Focus›
diesen schwelenden Absetzbemühungen südlich des Weißwurstäquators öffentlich Ausdruck:
«Die Bayern müssen das Recht der demokratischen Entscheidung über ihr Land behalten und
dort, wo es verloren gegangen ist, wiedergewinnen.» Der bayrische Freistaat müsse für die
volle «politische und staatliche Freiheit kämpfen», die dessen Gründergeneration anstrebte,
«als sie die Bayerische Verfassung als Verfassung eines Vollstaates formuliert habe», so
Scharnagl.
Wie bei den meisten regionalen Konflikten geht
es auch bei diesem «bayerischen Aufbegehren»
vornehmlich ums Geld. Monatelang stritten sich
2012 Spitzenpolitiker aus Bayern und Nordrhein Westfalen über die Beiträge zum deutschen
Länderfinanzausgleich, bei dem die ökonomisch
führenden Bundesländer Ausgleichszahlungen
an wirtschaftsschwache Regionen zu leisten
haben. Der Münchener Finanzminister Markus
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Söder sah bei dem Streit die bayrische
«Schmerzgrenze überschritten» und forderte
ein «Einfrieren» der Zahlungen an den Ausgleichsfonds – wobei er die deutschen Empfängerregionen des Finanzausgleichs mit den südeuropäischen Schuldenstaaten verglich. Selbstverständlich können diese Streitigkeiten über
den deutschen Länderfinanzausgleich – noch –
nicht mit den ausgewachsenen separatistischen
Bewegungen in Italien, Spanien oder Belgien
gleichgesetzt werden, aber die Abspaltungstendenzen verbleiben in Bayern nur deswegen zumeist in einem Stadium der Latenz, weil die
BRD sich noch zu den Gewinnern der Eurokrise
zählen kann. In Spanien, Italien oder Belgien –
wo Schuldenkrisen und Rezessionen massive
Pauperisierungsschübe befördern – können die
zunehmenden Zentrifugalkräfte hingegen
nicht mehr unter den Teppich gekehrt werden.
Es sind dabei fast immer die «wohlhabenden»,
wirtschaftlich am meisten entwickelten Regionen, in denen sich Unabhängigkeitsbestrebungen
rühren.
In Spanien ist es Katalonien, in dem die Bestrebungen zunehmen, sich aus dem krisengeplagten und hoch verschuldeten Staatsverbund zu
lösen, um die Transferzahlungen an die südspanischen Armutsregionen künftig zu umgehen. In
Italien sind separatistische Bewegungen im
wohlhabenden Südtirol und in der als industrielles Kernland geltende Poebene aktiv – auch
hier verschmelzen alte nationalistische und regionalistische Ressentiments mit dem kriegsbedingt zunehmenden Unwillen, Transferzahlungen an die Zentralregierung und die ökonomisch abgeschlagenen Regionen im traditionell
sozioökonomisch zwischen Nord und Süd gespaltenen Italien zu leisten. In Belgien wiederum
haben Separatisten in der wirtschaftlich dominanten Region Flandern Zulauf, die den überschuldeten belgischen Staatsverband mitsamt
der ökonomisch verwüsteten Region Wallonien
verlassen wollen. Einzig in Schottland scheinen
solch eindeutige ökonomische Vorteile der im
September 2014 zur Abstimmung stehenden Unabhängigkeit nicht offensichtlich zu sein – und
gerade deswegen bleiben die Sezessionsbefürworter bei allen Umfragen bislang in der Minderheit.
Obwohl sie auf mitunter uralten, historisch grundierten regionalen Differenzen und Animositäten
gründen, sind die gegenwärtigen sezessionistischen Debatten vor allem durch eine ökonomistische Wirtschaftsstandortideologie determiniert.
Durch die Abtrennung vom krisengeschüttelten
Staatsverbund möchten die Separatisten eine
Verbesserung ihrer sozioökonomischen Lage erreichen. Es ist dieselbe Krisenlogik, die auch bei
den eingangs skizzierten Auseinandersetzungen
in der föderal geprägten Bundesrepublik greift:
Die ökonomisch abgeschlagenen Regionen werden von den avancierten Regionen als «Schmarotzer» wahrgenommen, die in der Krise zu einer
unzumutbaren Belastung würden. Diese Sichtweise – die in einer allgemeinen Tendenz zur Exklusion der Krisenverlierer aufgeht – gewinnt in
Katalonien, Flandern und Norditalien an Boden.
Der europäische Krisenseparatismus wird somit
maßgeblich von einem ressentimentgeladenen
Standort-Nationalismus und einem ökonomistischen Konkurrenzdenken befeuert. Die Abspaltung wird als eine Maßnahme begriffen, mit der
die Krisenfolgen für die eigene Region gemildert und die Krisenlast auf den restlichen Staatsverband abgewälzt werden könnte. Auch in
Schottland finden sich übrigens bei der gegenwärtigen öffentlichen Diskussion diese Argumentationsmuster, nur gewinnen sie nicht dieselbe
Überzeugungskraft wie in den oben genannten,
wirtschaftlich tatsächlich avancierten Regionen.
Eigentlich stellt diese neue separatistische Welle
in Europa somit nur eine weitere Stufe der be-
reits etablierten Konkurrenz um Investitionen
zwischen den Regionen dar, die in Gefolge der
neoliberalen Revolution zu bloßen «Wirtschaftsstandorten» zugerichtet wurden.
Dabei hat ironischerweise gerade der «europäische Einigungsprozess» diesen europäischen Regionalismus befördert. Die wirtschaftlichen Vorteile einer Abspaltung können nur
deswegen so stark in den Vordergrund der besagten Sezessionsdebatten rücken, weil ein
wesentlicher Nachteil nicht mehr gegeben zu
sein scheint: Der im Sezessionsfall drohende
Wegfall der gemeinsamen nationalen Märkte,
der vor allem die Industrie dieser separatismusfreudigen Regionen hart treffen würde,
scheint angesichts des europäischen Binnenmarktes seinen Schrecken verloren zu haben.
Da die Warenströme nun EU-weit frei fließen
können, scheint dem Zentralstaat sein wichtigstes ökonomisches Druckmittel bei einer Sezession – die Schließung der Märkte und die
Kappung aller ökonomischen Verbindungen –
abhandengekommen zu sein. Die ökonomische
Tendenz zur eines supranationalen Marktes
mitsamt den korrespondierenden supraststaatlichen Institutionen der EU scheint somit eine
Gegenbewegung zum Regionalismus, zur verstärkten regionalen Konkurrenz zu befördern.
Die letzte wirksame Drohung des Zentralstaates
gegenüber separatistischen Bewegungen bildet nur noch der Verweis auf die Regelungen der
EU, denen zufolge die Aufnahme neuer Beitrittsländer der Zustimmung aller EU-Staaten
bedarf. Genau diese Karte spielte übrigens die
spanische Zentralregierung gegenüber den
katalonischen Separatisten aus, als sie andeutete, die Aufnahme eines unabhängigen Kataloniens in die EU zu blockieren.
Die EU ist somit dabei, den Nationalstaat als den
dominanten institutionellen Rahmen kapitalisti-
scher Wirtschaftsweise zu verdrängen, was wiederum die separatistischen Tendenzen befördert.
Doch sind diese europaweiten Umwälzungen –
die Entstehung europäischer Institutionen bei
gleichzeitiger Renaissance des Regionalismus –
selber nur Ausdruck einer beschleunigten krisenbedingten Auflösung der alten nationalen Volkswirtschaften. Die Krise der Nation, die sich immer
stärker abzeichnet, ist vor allem der Auflösung
der nationalen Ökonomie in der krisenhaften Globalisierung geschuldet. Der zunehmende Regionalismus und letztendlich auch Separatismus resultiert somit auch daraus, dass die nationalen
Volkswirtschaften in Auflösung übergehen.
Zum einen äußert sich das in den zunehmenden
sozioökonomischen Disparitäten in den meisten
Staaten der EU. Die wirtschaftlichen Abgründe,
die sozialen Ungleichheiten nehmen innerhalb
vieler Regionen in den gegebenen Staaten immer
stärker zu. Die Krise beschleunigt somit eine
längerfristige Tendenz des regionalen Auseinanderdriftens, bei der einige wirtschaftlich erfolgreiche Regionen Landstrichen gegenüberstehen,
die von Deindustrialisierung und Massenarbeitslosigkeit geprägt sind. Die sozioökonomischen
Unterschiede zwischen Südtirol und Sizilien, zwischen Katalonien und Andalusien oder zwischen
der erfolgreichen Region Bayern und den postindustriellen Brachlandschaften des Ruhrgebiets
sind bereits jetzt gewaltig.
Die Krise der Nation ist aber auch Ausdruck einer
fundamentalen Krise des Kapitalismus, der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft, die aufgrund beständiger Produktivitätsfortschritte spätestens
seit der Dritten Industriellen Revolution der ITTechnologien an ihrer eigenen Hyperproduktivi-
tät erstickt – und nur noch vermittels kreditgenerierter Nachfrage eine Art Zombieleben «auf
Pump» führen kann. Dieser Krisenprozess brachte nicht nur die gigantischen Schuldenberge hervor, unter denen weite Teile Europas gerade zusammenbrechen, er führte auch zur Zuspitzung
der gegebenen regionalen Ungleichgewichte in
vielen Staaten. Die gegenwärtige kapitalistische
Systemkrise geht nämlich mit einem regionalen,
flächenmäßigen «Abschmelzen» der hochproduktiven warenproduzierenden Industrie einher,
die zu einer konzentrierten Clusterbildung auf
relativ kleiner räumlicher Fläche übergeht. Diese
Anballungen von hochproduktiver Industrie, die
sich im gnadenlosen Verdrängungswettbewerb
etabliert haben, sind in globale Wertschöpfungsketten eingebunden und sie produzieren hauptsächlich für den Weltmarkt. Die ökonomische
Verflechtung mit den ökonomisch abgehängten
und deindustrialisierten Regionen innerhalb derselben Nation nimmt hingegen immer weiter ab.
Bayern und Baden-Württemberg bilden mit ihrer
avancierten sozioökonomische Struktur somit
eher einen Teil der Clusterbildung rund um den
Alpenraum, wo in Norditalien, Teilen Österreichs
und der Schweiz wirtschaftliche Konzentrationsprozesse ablaufen – bei gleichzeitiger Deindustrialisierung in weiten Teilen Europas.
Der grundlegende Widerspruch kapitalistischer
Warenproduktion, bei dem das Kapital mit der
Lohnarbeit seine eigene Substanz aus dem Produktionsprozess wegrationalisiert, produziert
auf globaler Ebene somit immer größere Massen
buchstäblich ökonomisch «überflüssiger» Menschen, ebenso wie postindustrielle Brachlandschafen wie das Ruhrgebiet oder die Wallonie.
Dem kontrastiert – wie ausgeführt – die Bildung
von Clustern, die in globale Produktionsketten
eingebettet sind und für den Weltmarkt produzieren. In diesen wenigen Regionen, die zu den
vorläufigen «Gewinnern» dieses Krisenprozesses
gehören, nimmt somit das Bestreben überhand,
diese kostspieligen Zusammenbruchsgebiete
ökonomisch «verbrannter Erde» möglichst kostengünstig vermittels einer Abspaltung loszuwerden.
Selbstverständlich befördert die kapitalistische
Globalisierung – die selber eine «Flucht nach
vorn», einen Reflex auf den genannten Krisenprozess darstellt – ebenfalls den neuen europäischen «Krisenseparatismus», indem sie vermittels
der Internationalisierung der Investitions- und
Warenströme der Auflösung der Nationalökonomie weiteren Vorschub leistet. Der nationale Binnenmarkt spielt für viele der Regionen, die noch
von der Warenproduktion für den Weltmarkt leben können, nur noch eine untergeordnete Rolle.
Wenn etwa BMW viel mehr Autos in China als
in Ostdeutschland absetzt, formt dies auch entsprechende politische Prioritäten an seinem
«Wirtschaftsstandort». Diese Ablösungstendenzen von Nationalstaaten werden noch weiter
dadurch beschleunigt, dass die EU inzwischen dabei ist, viele der staatlichen Funktionen und Aufgabenfelder zu übernehmen, die exportorientierte
Unternehmen und Konzerne an Staatsapparaten
zu schätzen gelernt haben. Falls die Eurozone den
gegenwärtigen Krisenschub noch einmal überstehen sollte, so wird sie dies tatsächlich in der
Gestalt eines «Europas der Regionen» tun, in
dem eine gnadenlose Standortkonkurrenz mit zunehmenden sozioökonomischen Abgründen
zwischen den Regionen und ausartenden regionalistischen Ressentiments einhergehen werden.
Doch ist ein Fortbestehen der EU längst nicht
sicher. Schließlich finden sich in der jüngsten Geschichte genügen historische Parallelen, die die
Wechselwirkung von Systemkrise, Systemkollaps
und Separatismus veranschaulichen. Auch bei
der Implosion des autoritären Staatssozialismus
waren es vor allem die ökonomisch am weitesten
entwickelten Regionen, die frühzeitig auf ihre
Unabhängigkeit vom zerfallenden Staatsverband
setzten. In der Sowjetunion drängten etwa die
baltischen Staaten auf die Loslösung, in Jugoslawien war es das wirtschaftlich avancierte Slowenien, das zuerst die Sezession betrieb.
Schließlich lässt der gegenwärtige Separatismus
den europäischen Nationalismus als das erscheinen, was er schon immer war: Als eine im
Grunde genommen willkürliche und – historisch
betrachtet – relativ junge Ideologie, die erst im
19. Jahrhundert parallel zur Ausbildung von nationalen Volkswirtschaften zur Massenwirksamkeit
gelangte. Die Leichtigkeit, mit der neue nationale
Identitäten derzeit regelrecht gezüchtet werden,
die einem Modephänomen gleich auftauchen
und wieder verschwinden, deutet auf deren baldigen Zerfall hin. Der Nationalismus ist zum ideologischen Speiball beim eskalierenden Wirtschaftsstandortkrieg geworden. Mit der langsamen
Auflösung und Zerfaserung der nationalen Volkswirtschaft in der krisenhaften Globalisierung
verliert somit auch die nationale Identität ihr Fundament – und deswegen wird sie so wandlungsfähig, instabil und potenziell bösartig.
Von Thomasz Konicz
freizeitinsel
berlin
Der Künstler Wolfgang Müller, Gründer der
Band «Die Tödliche Doris», Herausgeber von
‹Geniale Dilettanten› und Roman-Autor u.a.
der Satire ‹Kosmas› veröffentlichte vor kurzem
eine Anthologie mit dem Titel ‹Subkultur Westberlin 1979-1989, Freizeit›. In der Einleitung
schreibt er: «Die Geschichte der Mauer ist immer auch die Geschichte ihrer Überwindung.
Jede Trennung stellt zugleich Verbindungen her.
Dadurch, dass Westberlin von der Mauer umschlossen war, wurde diese Stadthälfte zu einer
Insel, mit spezifischen Auswirkungen auf ihre
Kultur und deren Produktion.»
Maximilian Linz: In deinen Schilderungen erscheint Westberlin als eine historische Option
auf einen quasi passiven Individual-Separatismus, da die Alliierten die Grenzen praktischerweise schon gezogen hatten.
Wolfgang Müller: Auch in Westberlin wurde man
gewissermaßen von der Mauer geschützt. Offiziell wollte ja die DDR ihre Bürger vor dem kapitalistischen System schützen. In Wirklichkeit
ging es natürlich darum, sich als Land davor zu
schützen, dass ständig Leute weglaufen, weil
es offenbar doch für viele ziemlich attraktiv war,
abzuhauen, um im Westen ein Mehrfaches zu
verdienen. Umgekehrt ist von Westdeutschland
kaum ein Mensch nach Westberlin gezogen, um
dort Karriere zu machen – außer ein paar abgehalfterten Politikern. Man konnte hier «nichts
werden», karrieremäßig gesehen. Für mich war
das genau die Möglichkeit, ohne diesen klassischen Anpassungs- und Konkurrenzdruck im
Sinne einer seltsam vorangenommenen Realität
zu leben. Insofern war die Atmosphäre im Westberlin jener Zeit extrem unrealistisch.
6
Heiner Müller beschreibt den Grenzübergang
von Ost- nach Westberlin an der Friedrichstraße
als eine Zeitreise. Ich stelle mir den Transit von
Westdeutschland nach Westberlin so ähnlich vor.
Der ganze polizeiliche Aufwand richtete sich
also nach außen, auf die äußeren Grenzen, und
was die von diesen Grenzen Subjektivierten so
getrieben haben, war eigentlich egal...
Das stimmt. Als erstes kamen die Grenzer, die
Grenzsoldaten in grüngrauen Uniformen. Du
dachtest, der Krieg sei noch gar nicht zu Ende,
weil überall Wachtürme standen. Du musstest
deinen Pass abgeben, sie stempelten ihn ab, du
wurdest scharf angeguckt und durftest bei der
Fahrt nicht von der Transitstrecke abweichen.
...weil die für die Autoritäten sowieso keine
ernstzunehmenden Leute waren. Eine Haltung,
die sich auch in der Rezeption unserer Arbeiten
fortgesetzt hat, in unserer Kunst. Als ich 1984
«Die unsichtbare Platte» konzipiert habe, hielt
ich das für eine geniale Idee: Zwei Alben aufzunehmen und eine dem DDR-Label Amiga anzubieten und eine dem BRD-Label Atatak –
die Musik für den Osten klingt nach E-Musik
und die im Westen nach U-Musik – und dann
nach ein paar Monaten erst bekannt zu geben,
dass beide Versionen exakt zusammengehören, auf zwei Plattenspielern gleichzeitig zusammengespielt werden müssen, um die erste
entmaterialisierte Vinyl-LP zu ergeben. Nach
der Bekanntgabe des Konzepts folgte in der
Spex ein winziger Artikel. Als die Journalistin
Fatima Ingranham Mitte der 80er einen Artikel
vom Auftritt «Die Tödliche Doris» in New York
mit Fotos von Nan Goldin anbot, hieß es bei
SPEX bloß: «Nö, kein Interesse.»
Unter mikropolitischen Separatismen stelle ich
mir eher Bewegungen vor, die dahin gehen,
wo keine Staatsgewalt mehr waltet, ihr dagegen
seid in diesen äußerst militarisierten Bereich
gezogen.
Offiziell galt in Westberlin nicht einmal die Todesstrafe als abgeschafft. Gleichzeitig fühlte man
sich total frei, weil sich kaum jemand um die Zuzügler kümmerte. Ich habe aus dieser Zeit Situationen im Kopf, die ich mir für heute schwer
vorstellen kann. Beispielsweise ein korpulenter,
extrem spießig gekleideter Transvestit, der mit
Bauarbeitern in Arbeitsklamotten an einer CurryBude am U-Bahnhof Yorckstraße steht und
mit ihnen Bratwurst isst. Ein Mann mit Bartstoppeln, angezogen wie eine vollkommen normale,
bürgerliche Frau. Oder war es doch eine Frau?
Heute müsste er mindestens eine schrille Fernseh-Drag-Queen sein, um nicht besonders aufzufallen. Damals war das kein Thema, es wäre
auch kein Kamerateam in der Nähe gewesen, um
diese Situation zu vermarkten. Weil niemand
etwas Bestimmtes erwartete, herrschte in Westberlin eine Gleichmut, eine große Ruhe, kaum
Aggression.
Konnten die in Köln damit nichts anfangen?
Westberlin wurde nicht ernstgenommen. Von
nirgendwo eigentlich. Außerdem waren die
Spex-Redakteure mit dem Aufbau ihrer eigenen
Karrieren vollkommen ausgelastet.
Wie fand man in die Subkultur, wenn man als
Einzelner und Individualist nach Westberlin kam?
Erst einmal war es fast unmöglich, eine Wohnung
zu kriegen. 1979 wohnte ich zunächst in einem
Durchgangszimmer bei einem Typen, der mich
nervte. Dann bekam ich einen der begehrten
Jobs im Café «Anderes Ufer». Da brauchte man
dem Publikum keine gelungene Konstruktion
des eigenen Lebens vorzuspielen. Ich merkte
aber auch schnell, dass Machtstrukturen im alternativen Bereich ebenso vorhanden sind; sie
haben nur eine andere Gestalt und wirken sich
anders aus. In der Basisdemokratie sind alle
unschuldig – es regiert das subjektlose Mobbing. Gerade in Kollektiven sind die Hierarchien
versteckter und schwerer zu orten, aber sie
existieren.
Wie bildete sich denn die Szene um eure Band
«Die Tödliche Doris»?
Viele von den Punk-Kneipen – übrigens auch in
England, wo im Lesbenclub «Louisis» die Sex
Pistols ihre ersten Auftritte hatten – bildeten sich
im proto-queeren Milieu. Mitte der 70er Jahre
waren Lesben, Schwule und Trans noch ganz klar
Außenseiter der Gesellschaft; Homosexualität
war gerade mal ein paar Jahre entkriminalisiert.
Bis 1969 konnte Sex zwischen Männern in der
BRD mit bis zu drei Jahren Gefängnis bestraft
werden. In die ersten offen schwulen und lesbischen Berliner Kneipen wie «Anderes Ufer»
oder «Risiko» zog es dann auch straighte Aussenseiter. Dass es beispielsweise auch einen
heterosexuellen Transvestiten geben könnte, der
außerdem Vater von drei Kindern ist, war in der
allgemeinen Vorstellung damals kaum vorhanden. Während Läden wie das «Andere Ufer» in
Berlin eröffneten, wurden identitäre Grenzziehungen oder Behauptungen ganz allgemein irritiert. Einige Frauen machten auch darauf auf-
merksam, wie unglaublich machohaft, wie «normal» der 68er-Mann letztlich war. Obwohl viele
wichtige Punkte formuliert wurden, galten sie
dennoch bloß als Nebensache oder Nebenwiderspruch. Ich interessiere mich für Nebenwidersprüche. Wenn in dem Moment der Kampf zu
Ende sein soll, wenn die Rudi-Dutschke-Straße
auf die Axel-Springer-Straße trifft, dann ist für
mich ein toter Punkt erreicht. Es zeigt, man hat
längst aufgegeben, irgendwie anders denken
zu wollen – vielleicht konnte man es nie. Im Grunde glauben alle an dasselbe: Die gleichen Rituale, die gleiche Ästhetik, die gleiche Macht; man
möchte dazugehören. Die linksalternative Autorin Iris Hanika schrieb einmal sinngemäß: «Früher
kämpften wir gegen die Faschisten, heute ärgern wir uns über Hundescheiße auf dem Gehweg.» Der Weg der Anpassung wird wie ein
Selbsterkenntnisprozess geschildert, wie ein Reifungsprozess. Und die poetische Beschreibung
dieser Läuterung wird mit einem Ticket im Mainstream belohnt. Mit einer solchen neo-individualliberalen Haltung können sich heute viele Altlinke und Ex-Hausbesetzer identifizieren und
Karriere machen. Vielleicht hatte ich das Glück,
schon immer genug Spießer gewesen zu sein,
um mich schon damals über Hundescheiße auf
dem Gehweg ärgern zu können. Ich fand‘s tatsächlich auch immer nett, Leute anständig zu
behandeln, Verabredungen einzuhalten, pünktlich zu sein, gutes Essen zu kochen – wobei die
Gastronomie in Westberlin katastrophal war.
Ich habe jedes Mal aufgeatmet, wenn ich nach
Hamburg, Süddeutschland, Österreich oder
in die Schweiz kam, weil die da so gutes Essen
hinkriegten. Ich fand das toll und keineswegs
dekadent, dass die Schweizer Bäcker wunderbaren Kuchen oder Brot backen können. Und
ich habe mich gefragt: Warum gelingt das kaum
in Berlin? Warum knallen die Bäcker hier auf
alles zentimeterdicken Zuckerguss? Um guten
Kuchen zu bekommen, musste man entweder
selbst backen oder ins KaDeWe – dem einzigen
Ort, an dem die Kunden in den 80ern in Westberlin sogar angelächelt wurden.
Das utopische Moment an Westberlin ist ja
die Vorstellung, dass man irgendwie aussteigen
konnte.
Ich glaube, dass es möglich war, eben im Bewusstsein der Abhängigkeit von den jeweiligen
politischen und räumlichen Anordnungen. Die
waren spezifisch und brachten unterschiedliche
Lebensweisen hervor. Ich fand es faszinierend,
dass sich die Menschen in West- und Ostberlin
unterschiedlich bewegten: Im Osten waren die
Bewegungen ruhiger, runder, weniger hektisch
und eckig. Die Vorstellung, dass die Menschen
etwas gemeinsam gehabt hätten, weil auf beiden
Stadthälften irgendwie «Deutsche» gewesen
seien, ist grotesk. Nach ‚89 wurde deutlich, dass
diese neue Einigkeit, der sogenannte fröhliche,
unbeschwerte Nationalismus vorallem auch ein
Nährboden für neuen Rassismus ist. Viele der
türkischen oder arabischen Einwanderer waren
ja längst «drin», mitten in der Gesellschaft verwurzelt, als SPD-Finanzsenator Thilo Sarrazin
und sein Parteifreund Buschkowsky mit ihren
rassistischen Vorstellungen auftauchten und diese auch noch dreist als überfälligen Tabubruch
verkauften. Dass Hobby-Eugeniker Sarrazin für
seine rassistischen Gedanken nicht nur in der
Bild werben durfte, sondern auch die Titelseite
vom Spiegel zur Verfügung gestellt bekam, ist
wirklich Wahnsinn.
Ein etwa durch Sven Regeners Roman ‹Herr
Lehmann› und der dazugehörigen Verfilmung
vermitteltes Klischee ist, dass man nach Westberlin zog, um sich dem Zugriff der staatlichen
Institutionen zu entziehen, beispielsweise dem
Wehrdienst zu entgehen.
Dieser Aspekt hat durch den Erfolg des Lehmann-Buches eine Riesenbedeutung bekommen.
Dieses Bohemien-Dasein, sich den Tag irgendwie zu vertreiben, herumzutrödeln. Ich betone
in Interviews gern, ich sei sehr fleißig gewesen.
Es war nämlich möglich ohne ökonomischen
Druck, ohne Stress und Angst etwas zu entwickeln. Das war die eigentliche Qualität.
Eure Band «Die Tödliche Doris» war konzeptuell
auch separiert – sie kommunizierte selbstständig als Person, erteilte Absagen, zwang ihre Mitglieder zu bestimmten Handlungen. Sie hatte
ein ausgeprägtes Sensorium für die Bedingungen, unter denen ihr ein Auftritt möglich war.
Seit ein paar Jahren wird bei Anfragen, ob zu
Lesungen oder Auftritten, oft zuerst formuliert,
ob ich «Lust» habe. Von Honorar ist dagegen
keine Rede. Ist das ein Zeichen, dass es kein
Geld gibt oder wird angenommen, dass ich erstrangig einem Bedürfnis folge? Die «Lust» wird
ins Künstlersubjekt hinein projiziert. Es gibt ein
paar mehr Umstände, auf die ich dann hinweisen muss: «...da ich als freischaffender Künstler
darauf angewiesen bin, meine Zeit gut einzuteilen, um auch weiter freischaffend tätig sein zu
können, muss ich das Angebot entsprechend
abwägen, vom Zeitaufwand und vom Ökonomischen her...» Das ist eine Mühe, die ich mir von
Doris abnehmen lassen konnte. Doris war einfach die Verantwortliche für alles. Sie war sozusagen an allem Schuld. Für den Erfolg genauso wie für den Misserfolg. Das hat sie ja auch
in einem Song thematisiert: «Ich bin schuld / Du
bist schuld / Schuldstruktur...»
War «Die Tödliche Doris» Separatistin?
Ja und nein. Sie hat sich einerseits total entzogen und steckte andererseits in allem und allen
drin. Einmal bekamen wir einen Button zugesandt, auf dem stand «Gesellschaft Normaler
Leute». Das war eine Punk-Combo aus Kassel,
abgekürzt: GNL. Nikolaus Utermöhlen hat sich
den Button an die Brust geheftet und sich damit in einem Fotofix-Automaten abgelichtet – jedoch so, dass man von seinem Kopf nur noch
das Kinn sah. Das Foto klebte er dann auf ein
A4-Blatt und tippte mit der Schreibmaschine
darunter: «In Überschätzung ihrer eigenen Größe hat Doris den Drehhocker im Fotofix-Automaten zu hoch geschraubt.» Doris war überall
und nirgendwo zugleich. Das Doris-Konzept
spielte damit, die Projektionen und Signifikationen, die von außen an ein Kunstwerk herangetragen werden, als eigene Gestalt sichtbar zu
machen. Das Kunstwerk selbst, also der Körper
von Doris, war nie präsent. So wurde deutlich,
dass die Zuschreibungen – ob zutreffend oder
nicht konnte durch die körperliche Abwesenheit
eh nicht geklärt werden – ganz stark an der
Bedeutungskonstruktion und an der Gestalt mitwirken. Das hatte auch etwas Archäologisches.
Als wir 1980 einen Film aus weggeworfenen
Passbildern machten, haben wir bereits vorhandenes Material aufgegriffen und dessen Bedeutung ein Stück weit verändert. Von den Leuten, die sich da von einer Maschine hatten fotografieren lassen, wusste ja niemand, dass das
Bild mal in einem Film landen würde, der in jeweils vier Portraits den vergangenen Bewegungsablauf im Fotofix-Automaten rekonstruiert.
Solche Bewegungsrekonstruktionen fanden
wir wesentlich spannender, als die Wilde Male-
rei und ihr Anknüpfen an die Tradition des deutschen Expressionismus. Interdisziplinär wirkende
Künstler wie Dieter Roth, Joseph Beuys, Valeska
Gert, Meret Oppenheim oder Andy Warhol
waren für uns viel anregender.
Was ist die «Ästhetik der Absage»?
Bei der «Ästhetik der Absage» geht es darum,
deutlich zu machen, dass man noch lange kein
Opfer ist, weil man bei etwas nicht mitmacht
und eine sogenannte Chance nicht ergreift. Was
in den Medien nicht vermittelt wird, sind die Erfolge von Absagen. Es werden immer nur Zusagen und deren Erfolge gebracht. Die Absagen
aber sind es, die längerfristig dazu führen können, dass jemand unabhängiger von Trends seine Kunst realisieren kann und damit Erfolg hat.
Es sollte einem egal sein, wenn man eine Zeit
lang eher out ist, wie «Die Tödliche Doris» in den
ersten Jahren nach der Wende. Wenn das Konzept eine bestimmte Qualität hat, geht diese ja
nicht deshalb flöten, weil die Umstände ungünstig sind oder weil die Rezeption bestimmten
Schwankungen unterworfen ist.
Wieso hat Doris die Teilnahme an der documenta
7 im Jahr 1982 abgesagt?
Doris hatte keine Lust mit ihrer Live-Präsenz
kostenlos die wild gemalten Punks vor der Berliner Mauer von zum Beispiel Rainer Fetting zu
legitimieren. Ihre Selbsteinschätzung war einfach
höher, als jene, die ihr durch die documenta 7
vermittelt wurde.
Wie wurde das damals wahrgenommen?
Die Leute dachten: Diese Gruppe ist extrem
schwierig und zickig. Das muss eine Sekte sein.
Interview von Maximilian Linz
‹Subkultur Westberlin 1979-1989› ist in der Reihe Fundus
Bücher bei Philo Fine Arts erschienen.
ganz klein
ganz gross
Viele Menschen haben die Nase voll vom Leben
im Status quo. Stress – wozu?, Plackerei – für
wen?, endlose Ausbildungen für noch düsterere
Aussichten, meine Güte. Manche versuchen deshalb, den Zustand der Welt wie wir sie kennen,
zu ändern, ihn zu verbessern. Mit den gegebenen Mitteln zur gegebenen Zeit. Anderen reicht
das bei weitem nicht. Sie klinken sich aus und
fangen von vorne an: In einem selbstgegründeten
Staat, der unabhängig und nach ihren eigenen
Regeln funktioniert. Paul Poet hat viele der mittlerweile 193 verbrieften Mikronationen in aller
Welt besucht und stellt sechs davon in seinem
Dokumentarfilm «Empire Me» vor.
Nino Kühnis: Paul Poet, in deinem Film «Empire
Me!» machst du dich auf die Suche nach Gegenwelten und D.I.Y.-Staaten. Was hast du gefunden?
Paul Poet: Meine Suche hat mit dem Weltkongress der Mikronationen 2003 in Helsinki angefangen. Von 60 eingeladenen Mikronationen
kamen fünf, vornehmlich Kunstprojekte. Ein Teil-
7
nehmer war aber echt, die Principality of Sealand.
Diese in den 1960ern von britischen Schlitzohren
(im Ärmelkanal, Anm. d. Red.) gegründete Mikronation hat mir gezeigt, dass es auch solche mit
politischem Gehalt gibt. Dass Mikronationen eine
Strategie sind, innerhalb dieser immer homogeneren, monokulturellen Weltordnung Freiräume zu
erkämpfen. In vielen Jahren der Recherche ist
mir aufgefallen, wie viele verschiedene Arten von
Utopien und sozialen Experimenten es tatsächlich gibt: Nomadische Formen, neue Kommunen,
Eco-Dörfer, auch klassische Mikronationen die
ökonomisch und politisch eher konservativ agieren. Es ist bei weitem nicht nur links und jung,
was sich in den letzten zehn Jahren an Gegenwelten entwickelt hat.
Die SeparatistInnen und SezessionistInnen, die
du besucht hast, sind ja Freischärler verschiedenster Couleur. BewohnerInnen des alternativemanzipatorischen Freistaat Christiania in Kopenhagen scheinen auf den ersten Blick nur
wenig zu tun zu haben mit Prinz Leonard, dem
konservativen Statthalter des unabhängigen
Fürstentums Hutt River in Australien, den vor allem
regulatorische Zwänge in die Sezession trieben.
Wo liegen Gemeinsamkeiten, wo Unterschiede in
den sezessionistischen Projekten?
Grundsätzlich gab es drei grosse Landnahmebewegungen: Zunächst einmal die Seefahrt, im
Zuge derer viele Fürstentümer gegründet wurden. Dann das New Country Movement der 68er
Bewegung, die in Indien oder auf Mittelmeerinseln Kommunenexperimente machten und bereits
Länder deklarierten. Von denen konnten sich
nur einige wenige über die Zeit retten und aktualisieren, wie etwa Christiania in Kopenhagen.
Die dritte Welle wurde durch die verbreiterte Vernetzung und die globale Monokultur angestossen, welche die Menschen geradezu zwingt, die
Weltordnung zu unterwandern und mit rechtlichen Schlupflöchern etwas Freiheit zu finden. In
meinem Film «Empire Me» ging es mir gerade
darum, die Bandbreite dieses Drangs zur Freiheit
dieser Bewegungen abzubilden, von rechts-konservativ bis links-anarchistisch. Alle diese Gegenwelten versuchen, ein politisches System wieder
auf die Menschen zurückzuführen und zu fragen,
wo die Verantwortung, wo das Miteinander liegt.
Bei der Portraitierung der Projekte betonst du
stark das Prinzip der Selbstermächtigung, des
Do-It-Yourself. Tatsächlich sind aber bei weitem
nicht alle der Gegenwelten und der Mikronationen partizipativ aufgebaut. Ist trotzdem alles
Gold, was glänzt?
Meine Sympathie dafür, dass sie diese Projekte
machen, haben sie auf jeden Fall, trotzdem finde
ich nicht bei allen super, wie sie es machen.
Mich interessiert und inspiriert der Mut, sich mit
der Weltordnung anzulegen. Ich habe im Film
denn auch Welten ausgesucht, bei denen die Bewohner ein Glücksgefühl, eine Stimmigkeit erfahren, die durch die andere Weltordnung evoziert
werden. Das gelang bei allen portraitierten Gegenwelten, wenn auch in verschiedenen Formen.
Für mich persönlich spielte da dann die menschliche Akzeptanz dieses Umstandes eine grosse
Rolle. Gerade bei Sealand oder Hutt River, die
eher rechts bis sehr rechts-konservativ ausge-
richtet sind. Es hätte auch eine Mikronation gegeben, die noch weiter rechts gestanden hätte.
Die ist aber nicht im Film, da sie meinem Produzenten zu heiss war: Eine neonazistische Mikronation in Kalifornien, wo rechte Skinheads aus
San Francisco und Umland sich die Parameter
der Ursprünglichkeit, also Ackerbau und Viehzucht aneigneten und unter Hakenkreuzen und
mit Wikingerhelmen das Zurück zu den Ursprüngen zelebrierten und Urschreitherapien machten. Da wurden also klassisch linke Erkundungsformen übernommen. Darin zeigt sich für mich
auch die Dringlichkeit der Suche nach sozialen
Gefässen, wo Menschen wieder eine Stimmlichkeit und eine Bedeutung kriegen, etwas, das absurderweise trotz der Zunahme der Kommunikationskanäle immer mehr verschwindet. Mir ist
wichtig, dass dieser Freiraum, wo so etwas geschehen kann, prinzipiell existiert und dass Menschen diese Fläche finden, egal, ob sie 80 oder
18, rechts oder links oder aus der Mitte sind.
Der von dir gewählte Begriff ‹Gegenwelt› ist ja
nicht unproblematisch. Schaut man genau hin,
findet man in Gegenwelten immer auch sehr viel
Bekanntes: Regierungen, Zeremonien, Pässe,
nationalistische Insignien wie Flaggen und Briefmarken etc. Wieviel Gegenwelt hast du tatsächlich vorgefunden und wieviel ist Analogwelt im
Kleinen?
Bei Mikronationen läuft das ähnlich wie bei den
Religionen heutzutage: Man dichtet sich relativ
individuell ein Patchwork zusammen aus Elementen, die man auch aus anderen Zusammenhängen kennt, die aber eine spezifische Note
erhalten, weil sie eben in diesen speziellen Territorien stattfinden. Gerade bei Mikronationen
wirkt das mitunter ziemlich skurril, weil man es
öfters mit outgedateten Insignien und Hierarchieinszenierungen zu tun hat. Das gründet teilweise in der eigenen Lust am Regenten- oder
Diktatorsein, ist aber auch Überlebensstrategie.
In Hutt River in Australien spielt das eine wichtige Rolle. Australien gehört ja dem Commonwealth an und hat die Hörigkeit der Queen gegenüber nie aufgekündigt. Genau dieser Zusammenhang wurde von Hutt River ausgenutzt
und Prince Leonard pochte auf eine rund 400
jährige Gesetzgebung, die es UntertanInnen der
Queen zugesteht, Freikirchen und Freistaaten
zu gründen, solange man sich als Herzogtum
oder als Bischof deklariert und einmal im Jahr
auf die Legacy der britischen Queen schwört.
Im Endeffekt wird man vor ein australisches Gericht gezogen, hängt sich dort einen Bischofstalar um, nachdem man in Dokumenten an die
UNO erklärt hat, dass dies die Farben des
Königtums Tralala sind. Schliesslich verkündet
man vor Gericht, dass man die australischen
Gerichte deshalb nicht anerkannt. Dazu werden
Weihnachtskarten an die Queen, den Papst
oder Briefwechsel mit Kofi Annan vorgelegt –
daraus folgt, dass die Richter einen roten Kopf
kriegen und es anerkennen müssen. Quintessenz ist, dass die Leute ihr Land behalten können. Ein bisschen anders sieht es aus, wenn
massiv Geld gemacht wird mit dieser Unabhängigkeit, sprich wenn Freihandelszonen eingerichtet oder Steuerhinterziehungen im grossen
Stil abgewickelt werden. Da gibt es schon auch
mal Reibereien mit dem Umland. Aber im Fall
von Hutt River hat es nach 39 Jahren gerichtlichen Streitereien geklappt: Sie haben ein Dokument vom australischen Finanzdepartement, dass
sie nicht zu Australien gehören. Es hängt heute
in Gold über dem Eintrittstor des Fürstentums.
tion: Es geht darum, sich mit einem Freiraum
Distanz zu schaffen, um sich einen freien Blick
und die politische Agitationsfähigkeit zu sichern,
um überhaupt gemeinsam agieren zu können.
Und da beginnen die Schwierigkeiten, denn sobald du Macht oder Geld hast, werden die Weltmächte versuchen, dich zu annektieren.
Die Territorial- oder, um es moderner auszudrücken, die Raumfrage, die mit der Diskussion
von Mikronationen einhergeht, ist höchst aktuell
– auch bei der Entwicklung rund um den GeziPark in Istanbul. Wie erklärst du dir diesen plötzlichen Bedeutungssprung von Raum für Soziale
Bewegungen?
Die Idee einer Welt aus lokalen freiwilligen Assoziationen ohne nationalstaatliche Grenzen ist
ja nicht neu. Der russische Anarchist Petr Krapotkin etwa pochte schon in den 1870er Jahren
auf die Kommunenbildung auf der Basis der
freien Assoziation, und der Münchner AnarchoSozialist Gustav Landauer proklamierte Anfangs
des 20. Jahrhunderts, Siedlungen zu gründen,
um das Gute im Jetzt zu leben und als leuchtendes Beispiel voranzugehen. Vor dem Hintergrund deiner Recherchen, was denkst du: Wird
die Welt eine bessere, wenn jede Interessensgruppe ihre eigenen 50 Quadratkilometer beackert?
So plötzlich ist das nicht; mich wundert mehr,
wieso es so lange gedauert hat. Loretta Napoleoni hat in Ihrem Buch ‹Rogue Economics› sehr
klar festgemacht, dass mit dem brutalen Siegeszug der neoliberalen Globalisierung nach
1989 die demokratischen Inszenierungen der
europäischen Staaten durch die Politik faktisch
nicht mehr existieren. Das ist nur noch Marktshow und wirkliche Räume zur politischen Interaktion gibt es nicht mehr. Zwar wird das mit
dem Gentrifizierungsdiskurs nun immer mehr
diskutiert, aber tatsächlich ist das etwas, das
seit gut 24 Jahren köchelt, während die Verantwortlichen längst hinter eisernen Türen hocken.
Es hat mich wenig gewundert, dass mir ein Film
zu diesem Thema mit Loretta Napoleoni von
den Geldgebern abgeschossen wurde, weil er
die vorherrschende Ohnmacht gegenüber dem
System nicht nur bei den Widerstandsbewegungen, sondern eben auch bei den Bankern, der
Polizei und den Machtinstitutionen demonstrierte. Es wird spannend zu sehen, ob und wie weit
sich diese globale Brave New World noch entwickeln muss, oder ob wir vorher zur Vernunft
und zu neuen demokratischen Formen kommen.
Sinngemäss heisst es in deinem Film: «Dir passt
deine Welt nicht? Mach dir deine eigene!»
Rechtlich sieht es dafür ja relativ gut aus. Mikronationen folgen in der Regel der Konvention
von Montevideo 1933. Diese Konvention verlangt
von einem Staat für seine Existenz lediglich ein
Territorium, eine Regierung, eine ständige Population, und die Kapazität, mit anderen Staaten in
Verbindung treten zu können. Das tönt machbar. Warum gibt es nicht viel mehr D.I.Y. Staaten?
Gerade in Zeiten des verstärkten Regionalismus erscheint das doch als Patentlösung?
Tatsächlich steigt die Zahl ja ganz massiv an!
Als ich 2003 mit meinen Recherchen begann,
gab es 300-400, mittlerweile sind es 600-700.
Für mich ist das ein Anzeichen eines gesteigerten Bedürfnisses, sich einen eigenen Freiraum
zu schaffen. Die Konstitution ist ja auch easy
und wird sogar unterstützt – nach dem Zweiten
Weltkrieg wurde völkerrechtlich festgeschrieben, dass man sein eigener Staat sein darf, wenn
ein Staat nicht mehr für die Sicherheit seiner
Menschen sorgen kann. Nur praktiziert wird’s
halt fast nie, denn wenn man sich für diese
Rechte stark macht, wird man ins böse Eck gestellt, als wolle man nichts mit niemandem zu
tun haben. Dabei geht es gerade nicht um Isola-
Ich würde sagen, die Welt braucht das als Lernstufe. Letztlich kommt entweder die grosse
gesichtslose Weltdiktatur in Form des alles beherrschenden Kapitals, oder es gibt diesen Zerfall in kleine Entitäten, die über eine Weltvernetzung gemeinsam agieren können. Ich sehe das
nicht als deleuze’sches Rhizom, sondern als Ansammlung kleiner und grosser Flächen, die in
ständigem Austausch agieren können. Grundsätzlich gilt, je mehr es kriselt, desto monokultureller, autoritärer und beschränkter wird es
für den einzelnen Menschen. Dass die ganze
Welt in 30-Personen-Einheiten zerfällt, ist eher
unwahrscheinlich, aber um eine politische Bewusstwerdung voranzutreiben, ist eine faktische,
haptische Lebensfläche wie die der Kommunen
unabdingbar. Da können Menschen als Ganzes
im Austausch miteinander stehen, ohne Politisches und Privates zu trennen. So entstehen für
mich positive soziale Spannungen und eben
auch soziale Fruchtbarkeit.
Als Gedankenprojekt ist die Flucht in die eigene
Welt ja eine sehr schöne Sache. Wird sie umgesetzt, bricht die Wucht des Realen aber ziemlich schnell ein. Nur schon die Frage der Territorialität: Plötzlich ist es überlebenswichtig, wo
man sein Land aufmacht, denn Bodenschätze,
Wasser und Bodenqualität sind alles wesentliche Faktoren für das Überleben von Staaten.
Wie sieht die Versorgungs- und Wirtschaftslage
in den Mikronationen, die du besucht hast, aus?
Die Mikronationen haben das geschickt gemacht. Beispielsweise Sealand betreibt unter
dem Radar illegale Geschäfte mit anderen Ländern. Dazu gehören Kreditkartengeschäfte,
Grundstücksmaklerei und ähnliches, durchaus
auch mit namhaften Personen aus Politik und
Finanzwirtschaft. Das geht bis in den Waffenhandel und die Pornoindustrie hinein. Prince
Michael sagte mir, dass er aber auch schon Nein
gesagt hätte: Es ging um einen Online-Organhandel mit Organen von chinesischen Hinrichtungen, die weltweit und innerhalb von 24 Stunden über’s Internet hätten bezogen werden
können, quasi als alternatives e-Bay. Bei allen
Projekten gibt es klassische Methoden zur
Mittelbeschaffung, wie Tourismus oder Kunsthandwerk oder eben weniger klassische. Das
anarchistisch-survivalistische Projekt der Swimming Cities of Serenissima beispielsweise verkauft einerseits Kunst und schnorrt andererseits
in bester Gauklermanier oder klaut Baumaterial
und Essen aus Containern zusammen.
Zum Abschluss ein Ausblick: Wie fragmentiert
wird unsere Zukunft und wie gut ist das für die
Menschheit?
Ich denke, das grundlegende Problem ist nicht
die Fragmentierung sondern die grundlegende
Zerissenheit der vorherrschenden LifestyleKrieger-Schizophrenie. Seit dem neoliberalen
Siegeszug ist dieses konstante Selbstaufforstungsparadigma wirksam, das einen dazu
ermutigen will, sich möglichst als Ego-Warrior
der kapitalistischen Gesellschaft anzupassen
und sich hineinzuoptimieren. Durch unsere
Kommunikationsmöglichkeiten werden wir dazu
erzogen, optimal zu leisten, zu lieben, zu leben.
Es gibt keine nicht-optimierte Lebensfläche mehr,
auch die Erholung wird optimiert, um noch leistungsfähiger zu sein. Meines Erachtens geht
das am menschlichen und am sozialen Naturell
vorbei. Es gibt keine Imaginationsflächen mehr!
Deshalb habe ich diesen Film gemacht. Schon
Albert Einstein sagte: «In Zeiten der Krise hilft
uns nicht die Wissenschaft, da helfen uns nur
die Träume.» Genau diese Gegenwelten laden
dazu ein, politisch und sozial zu träumen. Sie inspirieren dazu, sich Mut zu fassen, etwas für
sich selber zu suchen und zu finden. Und das
ist ziemlich viel in dieser Welt, wie wir sie jetzt
haben.
Interview von Nino Kühnis
Paul Poets Dokumentarfilm «Empire Me» portraitiert sechs Gegenwelten, in denen so ziemlich
alles anders läuft, als im spätkapitalistischen Halali, das wir Alltag nennen. Süffisant, verblüffend
und manchmal ein bisschen gar euphemistisch
wird von selbsternannten Prinzen, von postapokalyptischen (Lebens-)KünstlerInnen oder von
Halbheiligen berichtet, die keine Lust mehr hatten, auf das Gute zu warten, sondern es in bester
D.I.Y.-Manier gleich selbst erschufen. Man findet
sich in der Folge wieder auf Sealand, einigen
ausgedienten Bohrinseln im Atlantik, im Zentrum
für experimentelle Gesellschaftsgestaltung
ZEGG, einer befreiten Zone im Nordosten Deutschlands, aber auch auf den aus Müll gebastelten
frei schwimmenden Flossstaaten der Swimming
Cities of Serenissima in der Adria. Man hört von
Sorgen und Wünschen der BewohnerInnen des
Freistaats Christiania in Kopenhagen, von der quasireligiösen Föderation Damanhur im Piemont
oder von einem querschlägernden Grundbesitzer
im offiziell nicht-mehr-australischen Hutt River.
Alle Projekte ergeben zusammen ein Panopotikum
ermutigender, zuweilen auch befremdender Gehversuche, die sich trotz aller Unterschiede in
einem gleichen: Sie zeigen, dass alles auch ganz
anders geht.
dialektik
der nische
«Nische (v. franz. niche), halbrunde oder eckige
Vertiefung in einer Mauer. An Häuserfassaden
dienen die Nischen häufig zur Aufnahme von
Büsten und Statuen; oft sollen sie auch nur Abwechselung in die Fassade bringen. Sie werden
oben gewöhnlich halbrund abgeschlossen, auch
rings durch Rundstäbe, Gesimse, Pilaster, Halbsäulen u. dgl. eingefasst oder durch Giebel aus-
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gezeichnet. Im Innern der Häuser dienen Nischen zur Aufstellung von Möbeln (Schränken
u. dgl.) oder von Madonnenfiguren etc., die
Fensternischen zur Einrichtung von Sitzen.»
«Französisch ›niche‹, von frz. ›nicher‹ = «ein
Nest bauen», nach lat. ›nidus‹, Nest.»
1. Haus— Das Wort «Haus» lässt sich wie auch
Scheune, Hose oder Haut (ebenso wie engl.
Skin oder hide) etymologisch auf die indogermanische Wurzel *(s)keu-, «bedecken», «umhüllen» zurückführen und bedeutet also im engeren Sinne: Schutz, Sicherheit. «In den deutschen Märchen beschreibt ‹Der Wolf und die
sieben Geißlein› das spezifische Dilemma, das
mit der defensiven Herstellung von Sicherheit,
Weltvergewisserung, Innen und Außen verbunden ist.» Die schützende Nische ist in diesem
Märchen zunächst das Haus, dann der «Kasten
der Wanduhr». Was passiert? Mutter Geiß geht
aus dem Haus, lässt ihre sieben Kinder, die
Geißlein, allein zurück. Sie sollen niemandem die
Tür öffnen. Ein Wolf kommt (ein «gottloses
Tier») und versucht, ins Haus zu gelangen, indem er vorgibt, die Mutter zu sein. Die Geißlein
erkennen zwar nicht den Wolf, aber merken,
dass er nicht ihre Mutter ist. Beim Krämer kauft
der Wolf Kreide, um damit seine Stimme sanft
zu machen. Wieder an der Tür, verweigern die
Geißlein erneut den Einlass. Erst der dritte
Versuch klappt: Der Bäcker hat dem Wolf aus
Furcht gefressen zu werden die Pfoten mit Mehl
bestreut; jetzt ist seine Verkleidung überzeugend. Der Wolf frisst sechs der sieben Geißlein.
«Durch eine…Tür, die immer zugleich Verschluss
und Öffnung nach außen ist, verhandeln die
Geißlein dreimal mit dem Wolf, ehe sie sich betrügen lassen. Das Haus selber aber, nach Eindringen des Wolfs, besteht aus Verstecken. Das
beste Versteck ist der Uhrkasten. Nur das jüngste Zicklein, das im Uhrkasten sitzt (in älteren Fassungen ist es kein mechanisches Gehäuse als
Versteck, sondern eine Unterhöhle des Hauses),
wird vom Wolf übersehen und kann der Mutter
die Nachricht bringen. » – «Aufklärung», schreibt
Kant 1784, «ist der Ausgang des Menschen aus
seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.»
2. Interieur, Abseits
«Es gibt immer Orte zu finden, die leer von
Macht sind.» – Peter Brückner, ‹Das Abseits als
sicherer Ort› (Berlin 1980, S. 16)
Das Entscheidende an der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft ist nicht nur die Verfasstheit der Gesellschaft als bürgerliche, sondern
die Dialektik: Dass mit der Realisierung der bürgerlichen Gesellschaft als bürgerliche überhaupt
erst «Gesellschaft» entsteht. Insofern erscheinen erst mit der bürgerlichen Gesellschaft soziale Verhältnisse als konkrete Totalität. Individuum
und Gesellschaft bilden eine strukturelle Einheit,
das heißt, das Individuum ist wesentlich Resultat
der Vergesellschaftung (Marx nennt das Wesen
des Individuums ein «Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse»), ebenso wie die Gesellschaft Resultat der Individualisierung ist. Walter
Benjamin notiert: «Unter Louis-Philippe betritt
der Privatmann den geschichtlichen Schauplatz…
Für den Privatmann tritt erstmals der Lebensraum in Gegensatz zu der Arbeitsstätte. Der erste konstituiert sich im Interieur. Das Kontor ist
sein Komplement. Der Privatmann, der im Kontor der Realität Rechnung trägt, verlangt vom
Interieur in seinen Illusionen unterhalten zu werden. Diese Notwendigkeit ist umso dringlicher,
als er seine geschäftlichen Überlegungen nicht
zu gesellschaftlichen zu erweitern gedenkt. In
der Gestaltung seiner privaten Umwelt verdrängt
er beide. Dem entspringen die Phantasmagorien des Interieurs. Es stellt für den Privatmann
das Universum dar. In ihm versammelt er die Ferne und die Vergangenheit. Sein Salon ist eine
Loge im Welttheater.»
Der Rückzug ins Private stärkt den Bürger für
die Wahrnehmung seiner Interessen in der Öffentlichkeit. Die Trennung von Privatsphäre und
Öffentlichkeit vollzieht sich dabei als «Hälftung»
des Lebens und dient schließlich der allgemeinen, nicht nur auf die bürgerliche Klasse bezogenen «Ostung» der Bevölkerung; anders gesagt: Die Trennung von «privat» und «öffentlich»
halbiert das Leben in separierte – und darin
auch geschützte – Bereiche eben des Privatlebens in klarer Abgrenzung zum öffentlichen Leben. Das Privatleben wird zur Nische, zum
Schutzraum, der es erlaubt, dem Alltag zu entfliehen; doch für den Bürger ist das Haus nicht
einfach nur Rückzugsgebiet, sondern der Ort,
an dem sich die bürgerliche Individualität konstituiert, Spiegel der Seele: Hier kann der Bürger
jenseits seiner bürgerlichen Existenz «er selbst»
sein – was ihm die Kraft gibt, seine bürgerliche
Existenz zu begründen (als Unternehmer, Politiker, öffentliche Person etc.). Bei Benjamin heisst
es weiter: «Exkurs über den Jugendstil. Die Erschütterung des Interieurs vollzieht sich um die
Jahrhundertwende im Jugendstil. Allerdings
scheint er, seiner Ideologie nach, die Vollendung
des Interieurs mit sich zu bringen. Die Verklärung der einsamen Seele erscheint als sein Ziel.
Der Individualismus ist seine Theorie. Bei Van de
Velde erscheint das Haus als Ausdruck der Persönlichkeit.»
Wer kein Haus hat, nur ein dreckiges Loch bewohnt, in einer Baracke oder Bretterverschlag
eine Schlafstatt hat, hat keine Persönlichkeit.
Erst recht nicht, wer gar kein Dach übern Kopf,
nicht einmal eine Wohnung oder ein Zimmer.
9
Das bleibt für die Massen in der ersten Hälfte
des zwanzigsten Jahrhunderts die Normalität.
Die Nischen hier sind Dreckslöcher oder Spelunken, Kaschemmen, dunkle Orte zum Herumlungern. Solche Orte finden sich zum Beispiel in
Brechts und Weills ‹Dreigroschenoper› (1928).
Oder bei Kurt Tucholsky: «Eine Seite des Proletarierschicksals aller Länder wird niemals beschrieben – nämlich die Tragik, die darin liegt,
dass der Proletarier nie allein ist. So ist sein Leben: Geboren wird er im Krankenhaus, wo viele
Mütter kreißen, oder in einem Zimmer, wo ihn
gleich die Familie mit ihrem Anhang, den Schlafburschen, umwimmelt; so wächst er auf, und
dies hier (gezeigt wird ein Zimmer mit sechs Leuten) ist noch eine bessere Familie, denn hier
hat jeder sein eigenes Bett; alle aber, die so leben, leben ständig das Leben der anderen mit
und sind nie allein.»
Siegfried Kracauer hat in seinem Essay ‹Asyl für
Obdachlose› ähnliche Lebensverhältnisse dargestellt: Ein Alltag ohne Nischen oder mit falschen Nischen. Unter dem gleichen Titel und
freilich mit Bezug auf Kracauer, schreibt Adorno
konstatiert in seinen ‹Minima Moralia›: «Wie es
mit dem Privatleben heute bestellt ist, zeigt sein
Schauplatz an. Eigentlich kann man überhaupt
nicht mehr wohnen. Die traditionellen Wohnungen, in denen wir groß geworden sind, haben
etwas Unerträgliches angenommen: Jeder Zug
des Behagens darin ist mit Verrat an der Erkenntnis, jede Spur der Geborgenheit mit der
muffigen Interessengemeinschaft der Familie
bezahlt.» Adornos Reflexion endet mit dem berühmt gewordenen Aphorismus: «Es gibt kein
richtiges Leben im falschen.»
Peter Brückner korrigiert: «Wenn es auch kein
richtiges Leben im falschen geben kann, so
doch ein richtigeres.» Dieses richtigere Leben
(und das ist kein besseres Leben im falschen!)
hat einen Ort: Die Nische. Brückners Nische in
seiner Kindheit und Jugend zwischen 1933 und
1945: Das Abseits. «Das Abseits ist, was den Nationalsozialismus angeht, in Deutschland der einzig sichere, ja, der einzig glückliche Ort.» Kairos.
3. Today’s Homes, Etui-Menschen, Idylle—
Das Proletariat muss sich die parzellierten Formen der bürgerlichen Lebensweise erst ökonomisch und politisch erkämpfen – bis es durch
das kommodifizierte Alltagsleben scheinbar fast
von selbst an der bürgerlichen Lebensweisen
partizipieren darf und soll: Jenseits der Lohnarbeit wird der Proletarier zum Bürger – als Konsument. Das Bild dazu ist eine Collage, ‹Just what
is it that makes today’s homes so different, so
appealing?› von Richard Hamilton, eine Collage
für die Ausstellung «This is Tomorrow», die 1956
in London zu sehen war. Was das Leben heute
– also Mitte der fünfziger Jahre, gerade ein Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg, eine Stadt
wie London liegt noch in weiten Gebieten in
Trümmern – so anders, so angenehm macht, zeigt
sich in einer modernen Lebensweise, amerikanisch: Ein Wohnzimmer, ein Innenraum, ausgestattet mit den neusten technischen Errungenschaften des Alltagslebens, eingerichtet im «International Style»; mit dem Fernseher, der Sofagarnitur, der exotischen Zimmerpflanze, dem
Tonbandgerät und dem Dosenfleisch, dem Staubsauger und der Stehlampe mit dem Ford-Logo
(damals kam der Thunderbird auf die Straße und
mit ihm die Heckflosse) wird dieser Raum zum
Privatraum für das Subjekt der «affluent society»
– posierend wie bei Botticelli bewohnen AktMenschen, «Models», diesen Raum: Ein Bodybuilder und ein Pin-up-Girl. Aus der bürgerlichen
Lebensweise ist ein Lifestyle geworden; die
sachliche Kälte wird als Coolness bequem. Der
Bodybuilder und das Pin-up-Girl erscheinen
derart als modernistische Gegenfiguren zu den
«Etui-Menschen», die Benjamin beschrieben
hat (und Benjamin nennt das Gegenstück: Den
destruktiven Charakter).
Noch einmal ein Rückblick ins neunzehnte Jahrhundert: «Das Interieur ist nicht nur das Universum sondern auch das Etui des Privatmanns.
Wohnen heißt Spuren hinterlassen. Im Interieur
werden sie betont. Man ersinnt Überzüge und
Schoner, Futterals und Etuis in Fülle, in denen
die Spuren der alltäglichsten Gebrauchsgegenstände sich abdrücken. Auch die Spuren des
Wohnenden drücken sich im Interieur ab. Es entsteht die Detektivgeschichte, die diesen Spuren
nachgeht.» – Einhundert Jahre später ist der
Samt, sind die kleinen Deckchen der Klarheit
und den glatten Oberflächen gewichen. Die
Spuren sind nur noch Fingerabdrücke, Flecken,
Unsauberkeiten. Helles Licht durchflutet den
Raum auf Hamiltons Collage; das Fenster hat
keine schweren Vorhänge, keine Gardinen, der
Staub ist weggesaugt, von draußen dringt der
Lärm des nächtlichen Broadway-Lebens in das
Wohnzimmer, der Fernseher läuft (und verdoppelt das universale Diktat der Kommunikation:
Eine Frau telefoniert). Ein Rückzug ins Private,
aber ohne Nische, ohne Versteckmöglichkeit:
Die Menschen, die hier zu sehen sind, leben als
öffentliche Personen – als Stars (das Versprechen des Pop: Jede bzw. jeder ist ein Star. Insofern: «Der bestirnte Himmel über mir und das
moralische Gesetz in mir» – was bei Kant noch
«unmittelbar mit dem Bewusstsein meiner Existenz … verknüpft» werden muss, fällt für die Popexistenz automatisch zusammen: « Ich bin der
bestirnte Himmel, und das ist das moralische
Gesetz!») Das Wohnzimmer als kommodifizierte
Idylle, aber immerhin (die Idylle – oder Idyll –
ist eigentlich das Hirtengedicht oder Bildchen,
griechisch «eidyllion», die Verkleinerungsform
von «eïdos», Bild. Mithin: Die Idylle ist die verkleinerte Idee.).
4. Subkultur, Underground, Zitadelle, Kosmos
«So lebe ich / in meinem Zimmer / ein Wimpernschlag / ein Zeitkristall / ein Lied im Dunkeln / ein blasser Schimmer / ein schwacher
Trost / kein Einzelfall.» – Blumfeld, ‹So lebe ich›
(auf: ‹Old Nobody›, 1999)
Erst jetzt wird das Leben wirklich modern, wirklich funktional. Man sagt: Das Private wird das
Politische – und umgekehrt. Entscheidend ist
aber, dass das Private zu einer Funktion des Politischen wird, ebenso wie das Politische zu einer Funktion des Privaten wird. Gerade unter dem
Vorzeichen des Pop wird hier das antizipiert,
was Richard Sennett die «Tyrannei der Intimität»
nennt. – Indes: Nicht nur wird, wie Sennett diagnostiziert, der öffentliche Raum bedeutungslos,
sondern auch die Privatsphäre wird als Schutzraum aufgegeben; anders gesagt: Ebenso wie
«der öffentliche Raum … zu einer Funktion der
Fortbewegung» wird, verwandelt sich der Privatraum zu einer Funktion der Stillstellung; Individualität wird in dieser Enklave arretiert und damit
anonymisiert.
Gleichwohl ist dem Pop aber auch die Gegenbewegung immanent, die Sehnsucht nach der
Nische, nach dem Versteck, nach dem Exzentrischen, Dezentrierten, eben Abseitigen. Wo die
funktionalen Lebensweisen der verwalteten Welt
keine Nischen mehr haben, versuchen Subkulturen eine Absetzung nach unten (die Nische als
Underground und vice versa).
Aus den Kinderzimmern wurden Jugendzimmer,
aus den Jugendzimmern wurden geheime Kammern der Subkultur («Zutritt verboten!» oder
mindestens «Betreten auf eigene Gefahr!» stand
an den Türen). Die Räume werden ausstaffiert
mit Postern (ja, manche Poster sind aus feinem
Samtbelag, in schimmernden Neonfarben). Tücher, Kissen und Räucherstäbchenrauch machen
aus dem Zimmer eine Höhle. Das Zimmer wird
gegen die Sterilität und Spießigkeit der anderen
Räume zu einem exotischen Ort des Abenteuers
(zum Beispiel finden hier sonderbare Rituale
statt, mit denen sich auf das Nachtleben, die Party, das «Saturday Night Fever» vorbereitet wird).
Die Eltern allerdings, die hier nicht reinkommen
dürfen, schaffen sich derweil ihre eigenen Nischen; sie kommen als Etui-Menschen in den
Siebzigern, Achtzigern wieder: Der Keller wird
zum Partyraum ausgebaut, Plastik und Kunstleder wird in Braun- und Beigetönen gemütlich.
Stofftapeten aus Jute oder Bast, Zimmerpflanzen (Yucca-Palme, Birkenfeige etc.) machen
aus der Wohnung ein ökologisches Biotop; ohnehin ist das Schlafzimmer eine Nische der
Lust. In den Siebzigern gehört zu dieser Nischenwiederbelebung der postmoderne Vitalismus,
die Rückkehr des Ornaments, Stuck aus Styropor, Hobby und Do it yourself, Handarbeit –
Stricken, Nähen, Tauchlackblumen – und Heimwerkerei – «Selbst ist der Mann!»; Amateure und
Bastler sind die Figuren, die inmitten der mikroelektronischen Technifizierung des Alltags innehalten und im Neubau die Zeit still stellen, indem
sie sich ihre Wohnungen und Gärten mit den
Resten des Industriezeitalters verbarrikadieren.
Eine Enklave als Reservat des Privatlebens: In
der Gestaltung der Komfortwohnung realisiert
sich als Idylle die «Zitadellenkultur». Otto Karl
Werckmeister nimmt das als Metapher für eine
Gesellschaft, die sich genüsslich von Krisenszenarien unterhalten lässt, ohne an einer Lösung
der wirklichen Krisen interessiert zu sein. Eben
im metaphorischen Sinn ist die Kultur dann nur
noch eine ideologische Festung, eine Zitadelle.
In ihr sind die Nischen wie Waben, in denen sich
die Menschen passivieren, verpuppen («Cocooning»).
Solche Nischen sind Verkleinerungen im
schlechten Sinne: Sie verheißen das richtige Leben, jenseits des falschen, hier soll es besser
sein (zum Teil gehören hierzu die Heterotopien,
die Michel Foucault 1967 als ‹Andere Räume›
beschrieben hat: Gärten, Urlaubs- und Ferienorte etc.). Diese Entwicklung hat eine historische
Signatur: In derselben Zeit, in der sich die Gesellschaft mit kapitalistischer Produktionsweise
in eine kapitalistische Gesellschaft ergo Kapitalismus transformiert und sich – in den Siebzigern
– endgültig die Globalisierung durchsetzt (konterkariert nicht nur durch die internationalisierte
Blockkonfrontation, sondern auch durch die sogenannten nationalen Befreiungsbewegungen),
verdichtet sich der Individualismus als privatistischer Separatismus: Die Nische – die Wohnung,
das Eigenheim, das Wochenendhaus als Versuch, sich und die Familie als Innenwelt gegen
die Gesellschaft als Außen abzugrenzen, abzusichern und die Parzelle des «Privaten», des
«Eigenen» und «Eigentums» vor der voranschreitenden Fragmentierung des Lebens zu schützen. (Auch in dieser Zeit werden in der Politik
wie im Privaten die Grenzen dichtgemacht, die
Lebensbereiche abgeschottet; sukzessive wird
das Fremde oder werden die Fremden negativ
konnotiert, Xenophobie wird zur Haltung außerhalb der Nische.)
Die Dialektik liegt auch hier in den Extremen
des Widerspruchs: Gegen die Nische als separierte Privatenklave bleibt das Abseits nicht
nur als sicherer Ort, sondern als glücklicher Ort
zu verteidigen: Als Platzhalter des Universums,
als Platz oder Stelle der Erinnerung – an den
Kosmos (Brückner, noch einmal: «Wenn es auch
kein richtiges Leben im falschen geben kann,
so doch ein richtigeres. Aus dieser minimalen Differenz ließe sich ein neuer Kosmos entfalten.»)
Derart ist die Nische Utopie, Idylle als Verkleinerung der größten Idee, die zu haben ist: Nach
der die Menschheit aus dem Abseits heraustritt
und die ganze Welt bewohnt. Space is the
Place.
Von Roger Behrens
freedom
we
future
god
Land
my
death
the seven most used terms (in national mottos of 68 separatist movements or countries,
not recognised as a member of the international community).
10
all
all
all
all
always
am
am
and
and
and
and
and
another
are
are
as
borders
breath
can
conquers
country
courage
cradle
darkness
day
dear
death
death
death
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defend
defens
demand
democracy
dignity
directions
drugs
each
emperor
equality
equality
ex
failed
fathers
free
freedom
freedom
freedom
freedom
freedom
freedom
freedom
freedom
freedom
friendship
from
from
frontier
further
future
future
future
future
future
gained
gave
give
give
go
god
god
god
god
god
hard
have
have
help
his
his
his
hope
house
I
I
I
I
in
in
in
in
in
independent
independence
independence
independence
is
is
is
island
islands
john
justice
justice
king
kingdom
land
land
land
land
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lead
let
liberty
liberty
liberty
liberty
light
live
love
love
love
magnanimity
man‘s
many
march
me
me
me
men
men
men
men
mind
monotheism
most
The Mottos of 68 Separatist Movements or Countries, not recognised as a member
of the international community. Cut into Words, sorted in alphabetical order.
motherland
motherland
multitude
municipalis
my
my
my
my
my
name
new
nice
no
north
north
not
nothing
nothing
of
of
of
of
of
of
of
oh
old
on
one
one
one
or
or
or
others
our
our
out
over
own
peace
peace
peace
people
people
peoples
prevail
prosperity
proud
queen
redemption
related
remember
remember
right
right
rights
room
sat
save
sea
seceded
serve
shade
shall
sharing
since
since
small
soil
speech
star
stars
state
strength
strength
strength
strong
struggle
surrounds
the
the
the
the
the
the
the
the
the
the
the
this
thou
through
to
to
to
to
under
unity
unity
us
us
us
ventured
victorious
victory
victory
vincit
vindicator
volunteers
water
water
we
we
we
we
we
we
we
we
we
well
were
without
what
where
while
who
wins
with
women
world
world
world
yes

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