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Cut to Words, sorted in alphabetical order. the the the the the the the the the the the through to together together triumphs trust truth truth under union union union union union united united united unity unity unity unity unity unity unity unity unity unity unity unity unity unity unity unity unity unity unity unity unity unity unity Unity Unity unum upward we work work work work work work work work Work Work world world unity freedom god work justice strength Liberty The seven most used Terms (in National Mottos of 70 Countries, recognised as a member of the international community.) 3 Editorial «Die Zeit für mehr Autonomie ist gekommen! Wir sind es leid uns von der Stadt vorschreiben zu lassen, was für unser Quartier gut ist.» So Christine Berger, Gemeinderatskandidatin der Liste «Freie Gemeinde Höngg» im Januar 1994 im «Höngger». Was heute nach einem Aprilscherz klingt, war zu Beginn der 90er durchaus ernst gemeint: Die Idee einer (von der Stadt Zürich) unabhängigen Gemeinde Höngg. Die Gruppierung «Freie Gemeinde Höngg» plante die Abspaltung von Zürich, weil eine kleinere Gemeinde «mehr Übersicht und Kontrolle» biete und «man nicht mit der Stadt Zürich Konkurs gehen wolle». Was sich in Höngg als sezessionistisches StrohFeuerchen erwies, lodert heute wie ein Waldbrand durch den krisengeplagten EU-Raum: Von Norditalien über Katalonien bis nach Flandern fordern immer mehr Menschen mehr Unabhängigkeit. Thomas Konicz nennt das in seinem Text «Separatismus und Krise» einen typischen Reflex kapitalistischer Globalisierung: «In diesen wenigen Regionen, die zu den vorläufigen «Gewinnern» dieses Krisenprozesses gehören, nimmt somit das Bestreben überhand, diese kostspieligen Zusammenbruchsgebiete ökonomisch «verbrannter Erde» möglichst kostengünstig mittels einer Abspaltung loszuwerden.» FGH-Spitzenkandidat Heinz Fischer, Spieler der 1. Mannschaft des SV Höngg, könnte darauf Einsitz in der Schulpflege Waidberg nehmen. Welche Ortstafeln? Ja, wegen des guten Wahlresultates bei den Gemeinderatswahlen wurde uns ein Sitz zugeteilt. Das kam von der Stadt. Warum er aufgehört hat, weiss ich nicht. Ich glaube, da hat irgendetwas Geschäftliches mit hineingespielt. In der heutigen Welt kann man sich kaum mehr «entziehen» Alles ist vernetzt, verbunden, kontrolliert, überwacht. Alle realen und sprichwörtlichen Inseln sind belegt, kartografiert und haben meistes bereits WIFI. Es ist deshalb kaum verwunderlich, dass der Wunsch nach Unabhängigkeit — auch aus weniger ökonomisch motivierten Beweggründen — immer stärker wird. Die Sommerausgabe der Fabrikzeitung widmet sich dem Separatismus und macht sich auf die Reise nach Höngg, Sealand, ins Fürstentum Hutt River, ins Westberlin der 80er Jahre und in die Nische des Wohnzimmers. Höngg ist ein schönes, ruhiges, mittelständisches Wohnquartier am Rand von Zürich. Ein höchstens halburbaner Ausläufer der Stadt, der bis 1934 noch eine selbstständige Gemeinde war. Der Dorfcharakter ist dem Quartier bis heute teilweise geblieben, und manch einer liebäugelt insgeheim noch immer mit der Unabhängigkeit. Anscheinend jedenfalls: 1993 formierte sich um verschiedene Exponenten des lokalen Gewerbes und des Fussballvereins eine Bewegung, welche die Hauptschlagader aus Richtung Stadt kappen wollte. Die Interessensgemeinschaft Freie Gemeinde Höngg (kurz IG FGH) zog mit einer vollbesetzten Liste in den Gemeinderatswahlkampf von 1994 ein. Georg Sibler, ehemaliger Gemeindenotar und Verfasser verschiedener Publikationen zur Höngger Ortsgeschichte, war damals Vorstandsmitglied. Herr Sibler, 1993 formierte sich in Höngg die Interessensgemeinschaft Freie Gemeinde Höngg. Ihr Ziel: Die Abspaltung von der Stadt Zürich. Was war ausschlaggebend für ihre Gründung? Warum dies gerade ausgerechnet in den Neunziger Jahren passierte, weiss ich nicht. Das Lustige ist ja, dass sich zwei Gruppen unabhängig voneinander ähnliche Gedanken machten. Nur wussten diese beiden Gruppen erst gar nichts voneinander. Erst als beide in der Quartierzeitung «Höngger» etwas publizieren wollten stellte der dortige Redaktor den Kontakt her. Schliesslich schlossen sich die beiden Gruppen dann zusammen. Was war Ihr Grund um bei den Separatisten mitzumachen? Ich bin in Dättlikon bei Winterthur aufgewachsen. Der Ort hatte damals 350 Einwohner und 100 Stimmberechtigte. An der Gemeindeversammlung hat der Gemeindeschreiber ohne auf die Liste zu schauen gewusst, wer alles fehlte. Man hat einander gekannt, war in allen Belangen in direktem persönlichem Kontakt miteinander. Als ich dann in die Stadt Zürich übersiedel- 4 te, nahm ich die Behörden oft als unprofessionell wahr. Niemand fühlte sich zuständig, niemand stand für Fehler gerade. Sie waren jahrzehntelang Gemeindenotar von Höngg und hatten beruflich viel mit den städtischen Behörden zu tun gehabt. Ja, aber sobald ich mit anderen Gemeinden zu tun hatte, ging in den meisten Fällen alles reibungslos. Den Gemeinderat von Weiningen oder Regensdorf konnte man direkt anrufen und alles besprechen. Bei der Stadt endete alles immer in einem Hin und Her und am Schluss kam ein anonymer Entscheid dabei raus, päng. War das auch ein Grund, der die anderen Mitglieder der IG FGH zum Mitmachen bewogen hat? Wahrscheinlich waren es ähnliche Gründe. Vieles läuft in einem kleinen Kreis einfach besser und geordneter ab. Ich würde das mit dem Begriff Bürgernähe zusammenfassen. Und mit einem gewissen Misstrauen gegenüber der Leistungsfähigkeit des städtischen Apparats. Aber eben: Es war wohl mehr ein latentes Unbehagen, als ein wirklich starkes Gefühl. Viele fanden die Abspaltung von Zürich eine gute Idee, aber es wollte oder konnte sich niemand wirklich stark engagieren. Nach der Auflösung der IG FGH im Jahr 1996 haben sie mehrere Texte über die kurze Geschichte des Vereins verfasst. Sie nehmen dort immer wieder die historische Perspektive ein. Wieso? Ich habe mich intensiv mit der Geschichte von Höngg beschäftigt. Die Eigenständigkeit hat hier eine lange Geschichte. Auch als Höngg anfangs 1934 schliesslich eingemeindet wurde, waren viele Leute dagegen. Das Ganze stand auf der Kippe. Auch während der folgenden Jahrzehnte hielten die Skepsis und der Unmut bei vielen an. Der Tenor war oft: Zum Zahlen sind wir ihnen recht, aber sonst für nicht viel. Wer waren die Separatisten, die gemeinsam mit ihnen kämpften? (überlegt) Man kann wohl schon sagen, dass die Vereinsmitglieder eher im oberen Mittelstand anzusiedeln waren. Ingenieure, PR-Berater, Ma- lermeister, Leute aus dem Umfeld des SV Höngg. Keine wirklichen Prominenten, aber alles Leute, die schon eine Weile in Höngg wohnen. Leute, denen Höngg wirklich am Herzen liegt. Der Verein erreichte eine maximale Mitgliederzahl von 141 Mitgliedern. Haben Sie diese Leute alle gekannt? Nein, und das obwohl ich als Notar ziemlich viele Gesichter gespeichert hatte. Ich würde meinen, mindestens die Hälfte der Leute waren solche, die man noch nie gesehen hatte. Wie sind diese Vereinsmitglieder rekrutiert worden? Das waren alles Leute, die sich von den Texten, die wir von der IG FGH veröffentlicht haben, in irgendeiner Form angesprochen gefühlt haben. Leute, die sich dachten: «Gute Idee! Das sollte man wirklich machen.» Worum ging es in den ersten Sitzungen? Die allerersten Sitzungen, an denen es um die grundsätzliche Idee gegangen ist, habe ich nicht erlebt. Ich bin ja erst später hinzugestossen. Irgendjemand ist dann auf die Idee gekommen, an den Gemeinderatswahlen von 1994 teilzunehmen. Es war nicht die Idee, dass wir einen Sitz im Gemeinderat bekommen. So unrealistisch haben wir nicht gedacht. Wir wollten einfach etwas Aufmerksamkeit erregen und die Diskussion ankurbeln. Das hat sehr gut funktioniert. Wir haben dann symbolisch die ganze Liste gefüllt und insgesamt 12 Kandidaten gestellt. Zwei Frauen und zehn Männer. Eigentlich hätten wir gerne noch mehr Frauen gehabt. Und Sie selber waren auch auf der Liste? Ja. Ich wollte im Voraus eigentlich gar nicht. Aber die anderen haben gesagt: «Doch, doch, dich kennt man doch.» Wie genau hat man sich überlegt, was im Falle einer Abspaltung zu tun wäre? Zu wenig genau. Wir hatten vor, Arbeitsgruppen zu bilden, welche sich den verschiedenen Themen widmen sollten. Ausserdem war die Idee, dass sich jeder der zwölf Kandidaten mit einem In der Nacht auf den 1. April 1994 haben wir alle an den Zufahrtsstrassen liegenden Ortstafeln mit Schildern mit der Aufschrift «Freie Gemeinde Höngg» versehen. Sie waren am Morgen schon wieder weg. Wie hat sich der Verein finanziert? Jeder, der auf der Gemeinderatsliste war, musste ein paar hundert Franken zahlen. Dazu kamen ziemlich viele Spenden. Ein Schreinermeister hat uns immer wieder mit Beträgen von bis zu 1000 Franken unterstützt. Allerdings mit der Bedingung, dass sein Name nirgends auftaucht. Er hatte Angst um seine Aufträge von der Stadt. Der Präsident arbeitete in einem Möbelgeschäft und hatte schlussendlich ähnliche Probleme: Er bekam ziemlich deutlich von der Stadt zu hören, dass sie keine Aufträge mehr bekäme, wenn das so weiterginge. Separatisten wolle man nicht unterstützen. Haben Sie eine Ahnung, wer das gewesen sein könnte? Ich glaube, ich war der Einzige aus dem Verein, dem aufgefallen ist, dass das Ganze nicht wirklich aufgeht. Eines meiner Hobbies ist Heraldik. Aber gesagt hab ich nichts. Ich wollte die anderen in ihrem Tatendrang nicht ausbremsen. Woran ist das ganze Unternehmen Freie Gemeinde Höngg schlussendlich gescheitert? Eben genau daran: am fehlenden Engagement der Vereinsmitglieder. Was am Schluss der Auslöser für die Vereinsauflösung war, weiss ich nicht. Das wollte mir niemand sagen. Auf einmal war Schluss. Keine Ahnung. Wirklich nicht. Haben Sie noch weitere ungewöhnliche Aktionen durchgeführt? Im Vorfeld der Gemeinderatswahlen haben wir uns zweimal ein paar Stunden auf die Strasse gestellt und den Kontakt zu den Passanten gesucht. Wir haben ihnen ein Hufeisen mit einer Etikette in die Hand gedrückt – als Glückssymbol. Sind Sie auch mit negativen Reaktionen konfrontiert worden? Stimmt, davon hatte ich gelesen: Ihnen ist erst später aufgegangen, dass das Hofeisen im Wappen von Wipkingen vorkommt... Nur ganz Wenige waren vehement dagegen – zumindest aus meiner Wahrnehmung. Irgendeiner hat in einem Leserbrief geschrieben das Ganze sei eine «Furzidee». Und die Leute, welche die Ortstafeln wieder abmontiert und weg- Irgendeiner hat gesagt, er habe einen Bekannten, der in seinem Pferdestall eine Kiste mit alten Hufeisen habe, die er uns gratis geben könne. Die haben wir dann nach einer Sitzung während ein paar Stunden mit Glaspapier abgeschliffen. Das heisst, die Auflösung kam für Sie völlig überraschend? Ja. Ich weiss noch, wie wir an einer Sitzung einen Termin für die nächste gesucht haben. Da hiess es: Vielleicht nicht in einer, aber sicher in zwei oder drei Wochen. Dann hab ich nichts mehr gehört. Nach einem Vierteljahr schrieb ich dann einen Brief an alle Vorstandsmitglieder und bestand auf einer Sitzung. Als diese schliesslich zustande kam, wurde als einziges Traktandum über die Auflösung beschlossen. Seltsam. Freiheit für höngg! In den Neunziger Jahren kämpfte die Interessensgemeinschaft Freie Gemeinde Höngg für die Abspaltung von Zürich. Aufgetaucht war sie aus dem Nichts – und dort verschwand sie gut drei Jahre später auch wieder. Doch was stand hinter dem kurzen separatistischen Strohfeuer? geschmissen haben, waren wohl auch vehement dagegen. Artikel im «Höngger» vorstellt und dabei ein Thema vertieft behandelt. Schlussendlich habe ich neun Artikel geschrieben und die anderen keinen einzigen. Es hiess nur immer: «Ich bin noch nicht dazugekommen.» – Dabei hatte ich selbst auch nicht sonderlich viel Zeit. Ich hatte mich zwar als Notar frühpensionieren lassen, arbeitete aber damals gerade im Auftrag der Ortsgeschichtlichen Kommission an einem Buch über Höngg. Wenn man nicht mehr ans grosse Zürich angeschlossen ist, muss man sich ja als Gemeinde plötzlich wieder Gedanken über Wasser- und Stromversorgung, öffentlichen Verkehr, Forstamt, Polizei, Feuerwehr und vieles Weitere machen. Ja. Es wäre sicher blödsinnig gewesen zu sagen, man betreibe jetzt ein eigenes Höngger Tram. Aber die VBZ hat ja verschiedene Linien, die über die Stadtgrenze hinausgehen. Das hätte man einfach aushandeln müssen. Und auch die Wasserleitungen auseinanderzurupfen hätte sicher keinen Sinn gemacht. Als Ausgleich für gewisse Leistungen, hätte man der Stadt zum Beispiel anbieten können, das gesamte Forstgebiet Höngg, das auch Teile von Wipkingen und Affoltern umfasst, von hier aus zu verwalten. Warum ging es nicht vorwärts? Waren das mehrheitlich Stammtisch-Gespräche? Man hatte mit dem Gemeinderatswahlkampf ziemlich viel Zeit verloren. Danach hätte man sich sofort Gedanken zur konkreten Umsetzung machen sollen. Man hat dann immer nur geplant und geplant. Die Arbeitsgruppen haben ihre Tätigkeit gar nie aufgenommen. Bei den bei den Gemeinderatswahlen von 1994 erreichte die IG FGH im Kreis 10 einen Stimmenanteil von 4 Prozent. Sie schätzen, dass dies etwa 7 Prozent der Stimmberechtigten von Höngg entspricht. War das ein Erfolg oder hätten Sie sich mehr erhofft? Das werteten wir schon als Erfolg! Wir waren sehr überrascht, dass wir als unbekannte Gruppierung so viele Stimmen erzielen konnten. Und Zulauf hatten wir danach auch. Sie waren voll engagiert, während bei den Anderen das ganze Engagement verpufft war? Ja. Am Anfang hatte man noch das Gefühl, es hätten alle das gleiche Interesse. Aber es hat am Einsatz gefehlt. Wäre die Abspaltung von Höngg denn Ihrer Ansicht nach immer noch sinnvoll? Ja. Ich bin heute noch nicht überzeugt, ob eine Zentralverwaltung in allen Bereichen besser ist als eine überblickbare Organisation. Je grösser eine Verwaltung, desto grösser ist die Gefahr, dass nicht richtig motivierte Beamte darin Unterschlupf finden. Da herrscht einfach zu wenig Kontrolle. Wie nehmen Sie Höngg heute wahr? Ich glaube, Höngg hat immer noch von allen Stadtquartieren das intensivste Dorfleben. Höngg hat Charakter. Interview von Adrian Schräder Georg Sibler, Freie Gemeinde Höngg. Lösung von der Stadt Zürich! Erinnerungen an eine Idee von 1993 und ihr Scheitern 1996, in: Zürcher Taschenbuch 2008, S. 304-331 Ja. Wahrscheinlich haben die sich vorher abgesprochen, fanden aber: «Mit dem ‚Gschpinnsiech’ reden wir gar nicht mehr. Der glaubt ja noch dran...» separatismus und krise Angefacht von der nicht endenwollenden Eurokrise scheinen separatistische Bewegungen in vielen Regionen der Europäischen Union Morgenluft zu wittern. Die Landkarte der Alten Welt könnte mittelfristig um ein eigenständiges Schottland, um Katalonien, Wallonien, Flandern, Südtirol und ein in Norditalien zu errichtendes «Padanien» ergänzt werden. Zunehmende Autonomiebestrebungen erfassen inzwischen auch die industriell geprägte südpolnische Region Schlesien. Selbst im wirtschaftlich avancierten Bayern mehren sich die einflussreichen Stimmen, die ein «bayerisches Aufbegehren» (Wilfried Scharnagl) oder zumindest ein Ende der Finanztransfers an ökonomisch rückständige Regionen der Bundesrepublik fordern. Mitte 2012 verlieh der CSU-Funktionär Scharnagl, der als langjähriger Chefredakteur des Parteiorgans ‹Bayernkurier› tätig war und im Vorstand der CSU-nahen Hanns-Seidel-Stiftung sitzt, in einem Interview mit der Wochenzeitung ‹Focus› diesen schwelenden Absetzbemühungen südlich des Weißwurstäquators öffentlich Ausdruck: «Die Bayern müssen das Recht der demokratischen Entscheidung über ihr Land behalten und dort, wo es verloren gegangen ist, wiedergewinnen.» Der bayrische Freistaat müsse für die volle «politische und staatliche Freiheit kämpfen», die dessen Gründergeneration anstrebte, «als sie die Bayerische Verfassung als Verfassung eines Vollstaates formuliert habe», so Scharnagl. Wie bei den meisten regionalen Konflikten geht es auch bei diesem «bayerischen Aufbegehren» vornehmlich ums Geld. Monatelang stritten sich 2012 Spitzenpolitiker aus Bayern und Nordrhein Westfalen über die Beiträge zum deutschen Länderfinanzausgleich, bei dem die ökonomisch führenden Bundesländer Ausgleichszahlungen an wirtschaftsschwache Regionen zu leisten haben. Der Münchener Finanzminister Markus 5 Söder sah bei dem Streit die bayrische «Schmerzgrenze überschritten» und forderte ein «Einfrieren» der Zahlungen an den Ausgleichsfonds – wobei er die deutschen Empfängerregionen des Finanzausgleichs mit den südeuropäischen Schuldenstaaten verglich. Selbstverständlich können diese Streitigkeiten über den deutschen Länderfinanzausgleich – noch – nicht mit den ausgewachsenen separatistischen Bewegungen in Italien, Spanien oder Belgien gleichgesetzt werden, aber die Abspaltungstendenzen verbleiben in Bayern nur deswegen zumeist in einem Stadium der Latenz, weil die BRD sich noch zu den Gewinnern der Eurokrise zählen kann. In Spanien, Italien oder Belgien – wo Schuldenkrisen und Rezessionen massive Pauperisierungsschübe befördern – können die zunehmenden Zentrifugalkräfte hingegen nicht mehr unter den Teppich gekehrt werden. Es sind dabei fast immer die «wohlhabenden», wirtschaftlich am meisten entwickelten Regionen, in denen sich Unabhängigkeitsbestrebungen rühren. In Spanien ist es Katalonien, in dem die Bestrebungen zunehmen, sich aus dem krisengeplagten und hoch verschuldeten Staatsverbund zu lösen, um die Transferzahlungen an die südspanischen Armutsregionen künftig zu umgehen. In Italien sind separatistische Bewegungen im wohlhabenden Südtirol und in der als industrielles Kernland geltende Poebene aktiv – auch hier verschmelzen alte nationalistische und regionalistische Ressentiments mit dem kriegsbedingt zunehmenden Unwillen, Transferzahlungen an die Zentralregierung und die ökonomisch abgeschlagenen Regionen im traditionell sozioökonomisch zwischen Nord und Süd gespaltenen Italien zu leisten. In Belgien wiederum haben Separatisten in der wirtschaftlich dominanten Region Flandern Zulauf, die den überschuldeten belgischen Staatsverband mitsamt der ökonomisch verwüsteten Region Wallonien verlassen wollen. Einzig in Schottland scheinen solch eindeutige ökonomische Vorteile der im September 2014 zur Abstimmung stehenden Unabhängigkeit nicht offensichtlich zu sein – und gerade deswegen bleiben die Sezessionsbefürworter bei allen Umfragen bislang in der Minderheit. Obwohl sie auf mitunter uralten, historisch grundierten regionalen Differenzen und Animositäten gründen, sind die gegenwärtigen sezessionistischen Debatten vor allem durch eine ökonomistische Wirtschaftsstandortideologie determiniert. Durch die Abtrennung vom krisengeschüttelten Staatsverbund möchten die Separatisten eine Verbesserung ihrer sozioökonomischen Lage erreichen. Es ist dieselbe Krisenlogik, die auch bei den eingangs skizzierten Auseinandersetzungen in der föderal geprägten Bundesrepublik greift: Die ökonomisch abgeschlagenen Regionen werden von den avancierten Regionen als «Schmarotzer» wahrgenommen, die in der Krise zu einer unzumutbaren Belastung würden. Diese Sichtweise – die in einer allgemeinen Tendenz zur Exklusion der Krisenverlierer aufgeht – gewinnt in Katalonien, Flandern und Norditalien an Boden. Der europäische Krisenseparatismus wird somit maßgeblich von einem ressentimentgeladenen Standort-Nationalismus und einem ökonomistischen Konkurrenzdenken befeuert. Die Abspaltung wird als eine Maßnahme begriffen, mit der die Krisenfolgen für die eigene Region gemildert und die Krisenlast auf den restlichen Staatsverband abgewälzt werden könnte. Auch in Schottland finden sich übrigens bei der gegenwärtigen öffentlichen Diskussion diese Argumentationsmuster, nur gewinnen sie nicht dieselbe Überzeugungskraft wie in den oben genannten, wirtschaftlich tatsächlich avancierten Regionen. Eigentlich stellt diese neue separatistische Welle in Europa somit nur eine weitere Stufe der be- reits etablierten Konkurrenz um Investitionen zwischen den Regionen dar, die in Gefolge der neoliberalen Revolution zu bloßen «Wirtschaftsstandorten» zugerichtet wurden. Dabei hat ironischerweise gerade der «europäische Einigungsprozess» diesen europäischen Regionalismus befördert. Die wirtschaftlichen Vorteile einer Abspaltung können nur deswegen so stark in den Vordergrund der besagten Sezessionsdebatten rücken, weil ein wesentlicher Nachteil nicht mehr gegeben zu sein scheint: Der im Sezessionsfall drohende Wegfall der gemeinsamen nationalen Märkte, der vor allem die Industrie dieser separatismusfreudigen Regionen hart treffen würde, scheint angesichts des europäischen Binnenmarktes seinen Schrecken verloren zu haben. Da die Warenströme nun EU-weit frei fließen können, scheint dem Zentralstaat sein wichtigstes ökonomisches Druckmittel bei einer Sezession – die Schließung der Märkte und die Kappung aller ökonomischen Verbindungen – abhandengekommen zu sein. Die ökonomische Tendenz zur eines supranationalen Marktes mitsamt den korrespondierenden supraststaatlichen Institutionen der EU scheint somit eine Gegenbewegung zum Regionalismus, zur verstärkten regionalen Konkurrenz zu befördern. Die letzte wirksame Drohung des Zentralstaates gegenüber separatistischen Bewegungen bildet nur noch der Verweis auf die Regelungen der EU, denen zufolge die Aufnahme neuer Beitrittsländer der Zustimmung aller EU-Staaten bedarf. Genau diese Karte spielte übrigens die spanische Zentralregierung gegenüber den katalonischen Separatisten aus, als sie andeutete, die Aufnahme eines unabhängigen Kataloniens in die EU zu blockieren. Die EU ist somit dabei, den Nationalstaat als den dominanten institutionellen Rahmen kapitalisti- scher Wirtschaftsweise zu verdrängen, was wiederum die separatistischen Tendenzen befördert. Doch sind diese europaweiten Umwälzungen – die Entstehung europäischer Institutionen bei gleichzeitiger Renaissance des Regionalismus – selber nur Ausdruck einer beschleunigten krisenbedingten Auflösung der alten nationalen Volkswirtschaften. Die Krise der Nation, die sich immer stärker abzeichnet, ist vor allem der Auflösung der nationalen Ökonomie in der krisenhaften Globalisierung geschuldet. Der zunehmende Regionalismus und letztendlich auch Separatismus resultiert somit auch daraus, dass die nationalen Volkswirtschaften in Auflösung übergehen. Zum einen äußert sich das in den zunehmenden sozioökonomischen Disparitäten in den meisten Staaten der EU. Die wirtschaftlichen Abgründe, die sozialen Ungleichheiten nehmen innerhalb vieler Regionen in den gegebenen Staaten immer stärker zu. Die Krise beschleunigt somit eine längerfristige Tendenz des regionalen Auseinanderdriftens, bei der einige wirtschaftlich erfolgreiche Regionen Landstrichen gegenüberstehen, die von Deindustrialisierung und Massenarbeitslosigkeit geprägt sind. Die sozioökonomischen Unterschiede zwischen Südtirol und Sizilien, zwischen Katalonien und Andalusien oder zwischen der erfolgreichen Region Bayern und den postindustriellen Brachlandschaften des Ruhrgebiets sind bereits jetzt gewaltig. Die Krise der Nation ist aber auch Ausdruck einer fundamentalen Krise des Kapitalismus, der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft, die aufgrund beständiger Produktivitätsfortschritte spätestens seit der Dritten Industriellen Revolution der ITTechnologien an ihrer eigenen Hyperproduktivi- tät erstickt – und nur noch vermittels kreditgenerierter Nachfrage eine Art Zombieleben «auf Pump» führen kann. Dieser Krisenprozess brachte nicht nur die gigantischen Schuldenberge hervor, unter denen weite Teile Europas gerade zusammenbrechen, er führte auch zur Zuspitzung der gegebenen regionalen Ungleichgewichte in vielen Staaten. Die gegenwärtige kapitalistische Systemkrise geht nämlich mit einem regionalen, flächenmäßigen «Abschmelzen» der hochproduktiven warenproduzierenden Industrie einher, die zu einer konzentrierten Clusterbildung auf relativ kleiner räumlicher Fläche übergeht. Diese Anballungen von hochproduktiver Industrie, die sich im gnadenlosen Verdrängungswettbewerb etabliert haben, sind in globale Wertschöpfungsketten eingebunden und sie produzieren hauptsächlich für den Weltmarkt. Die ökonomische Verflechtung mit den ökonomisch abgehängten und deindustrialisierten Regionen innerhalb derselben Nation nimmt hingegen immer weiter ab. Bayern und Baden-Württemberg bilden mit ihrer avancierten sozioökonomische Struktur somit eher einen Teil der Clusterbildung rund um den Alpenraum, wo in Norditalien, Teilen Österreichs und der Schweiz wirtschaftliche Konzentrationsprozesse ablaufen – bei gleichzeitiger Deindustrialisierung in weiten Teilen Europas. Der grundlegende Widerspruch kapitalistischer Warenproduktion, bei dem das Kapital mit der Lohnarbeit seine eigene Substanz aus dem Produktionsprozess wegrationalisiert, produziert auf globaler Ebene somit immer größere Massen buchstäblich ökonomisch «überflüssiger» Menschen, ebenso wie postindustrielle Brachlandschafen wie das Ruhrgebiet oder die Wallonie. Dem kontrastiert – wie ausgeführt – die Bildung von Clustern, die in globale Produktionsketten eingebettet sind und für den Weltmarkt produzieren. In diesen wenigen Regionen, die zu den vorläufigen «Gewinnern» dieses Krisenprozesses gehören, nimmt somit das Bestreben überhand, diese kostspieligen Zusammenbruchsgebiete ökonomisch «verbrannter Erde» möglichst kostengünstig vermittels einer Abspaltung loszuwerden. Selbstverständlich befördert die kapitalistische Globalisierung – die selber eine «Flucht nach vorn», einen Reflex auf den genannten Krisenprozess darstellt – ebenfalls den neuen europäischen «Krisenseparatismus», indem sie vermittels der Internationalisierung der Investitions- und Warenströme der Auflösung der Nationalökonomie weiteren Vorschub leistet. Der nationale Binnenmarkt spielt für viele der Regionen, die noch von der Warenproduktion für den Weltmarkt leben können, nur noch eine untergeordnete Rolle. Wenn etwa BMW viel mehr Autos in China als in Ostdeutschland absetzt, formt dies auch entsprechende politische Prioritäten an seinem «Wirtschaftsstandort». Diese Ablösungstendenzen von Nationalstaaten werden noch weiter dadurch beschleunigt, dass die EU inzwischen dabei ist, viele der staatlichen Funktionen und Aufgabenfelder zu übernehmen, die exportorientierte Unternehmen und Konzerne an Staatsapparaten zu schätzen gelernt haben. Falls die Eurozone den gegenwärtigen Krisenschub noch einmal überstehen sollte, so wird sie dies tatsächlich in der Gestalt eines «Europas der Regionen» tun, in dem eine gnadenlose Standortkonkurrenz mit zunehmenden sozioökonomischen Abgründen zwischen den Regionen und ausartenden regionalistischen Ressentiments einhergehen werden. Doch ist ein Fortbestehen der EU längst nicht sicher. Schließlich finden sich in der jüngsten Geschichte genügen historische Parallelen, die die Wechselwirkung von Systemkrise, Systemkollaps und Separatismus veranschaulichen. Auch bei der Implosion des autoritären Staatssozialismus waren es vor allem die ökonomisch am weitesten entwickelten Regionen, die frühzeitig auf ihre Unabhängigkeit vom zerfallenden Staatsverband setzten. In der Sowjetunion drängten etwa die baltischen Staaten auf die Loslösung, in Jugoslawien war es das wirtschaftlich avancierte Slowenien, das zuerst die Sezession betrieb. Schließlich lässt der gegenwärtige Separatismus den europäischen Nationalismus als das erscheinen, was er schon immer war: Als eine im Grunde genommen willkürliche und – historisch betrachtet – relativ junge Ideologie, die erst im 19. Jahrhundert parallel zur Ausbildung von nationalen Volkswirtschaften zur Massenwirksamkeit gelangte. Die Leichtigkeit, mit der neue nationale Identitäten derzeit regelrecht gezüchtet werden, die einem Modephänomen gleich auftauchen und wieder verschwinden, deutet auf deren baldigen Zerfall hin. Der Nationalismus ist zum ideologischen Speiball beim eskalierenden Wirtschaftsstandortkrieg geworden. Mit der langsamen Auflösung und Zerfaserung der nationalen Volkswirtschaft in der krisenhaften Globalisierung verliert somit auch die nationale Identität ihr Fundament – und deswegen wird sie so wandlungsfähig, instabil und potenziell bösartig. Von Thomasz Konicz freizeitinsel berlin Der Künstler Wolfgang Müller, Gründer der Band «Die Tödliche Doris», Herausgeber von ‹Geniale Dilettanten› und Roman-Autor u.a. der Satire ‹Kosmas› veröffentlichte vor kurzem eine Anthologie mit dem Titel ‹Subkultur Westberlin 1979-1989, Freizeit›. In der Einleitung schreibt er: «Die Geschichte der Mauer ist immer auch die Geschichte ihrer Überwindung. Jede Trennung stellt zugleich Verbindungen her. Dadurch, dass Westberlin von der Mauer umschlossen war, wurde diese Stadthälfte zu einer Insel, mit spezifischen Auswirkungen auf ihre Kultur und deren Produktion.» Maximilian Linz: In deinen Schilderungen erscheint Westberlin als eine historische Option auf einen quasi passiven Individual-Separatismus, da die Alliierten die Grenzen praktischerweise schon gezogen hatten. Wolfgang Müller: Auch in Westberlin wurde man gewissermaßen von der Mauer geschützt. Offiziell wollte ja die DDR ihre Bürger vor dem kapitalistischen System schützen. In Wirklichkeit ging es natürlich darum, sich als Land davor zu schützen, dass ständig Leute weglaufen, weil es offenbar doch für viele ziemlich attraktiv war, abzuhauen, um im Westen ein Mehrfaches zu verdienen. Umgekehrt ist von Westdeutschland kaum ein Mensch nach Westberlin gezogen, um dort Karriere zu machen – außer ein paar abgehalfterten Politikern. Man konnte hier «nichts werden», karrieremäßig gesehen. Für mich war das genau die Möglichkeit, ohne diesen klassischen Anpassungs- und Konkurrenzdruck im Sinne einer seltsam vorangenommenen Realität zu leben. Insofern war die Atmosphäre im Westberlin jener Zeit extrem unrealistisch. 6 Heiner Müller beschreibt den Grenzübergang von Ost- nach Westberlin an der Friedrichstraße als eine Zeitreise. Ich stelle mir den Transit von Westdeutschland nach Westberlin so ähnlich vor. Der ganze polizeiliche Aufwand richtete sich also nach außen, auf die äußeren Grenzen, und was die von diesen Grenzen Subjektivierten so getrieben haben, war eigentlich egal... Das stimmt. Als erstes kamen die Grenzer, die Grenzsoldaten in grüngrauen Uniformen. Du dachtest, der Krieg sei noch gar nicht zu Ende, weil überall Wachtürme standen. Du musstest deinen Pass abgeben, sie stempelten ihn ab, du wurdest scharf angeguckt und durftest bei der Fahrt nicht von der Transitstrecke abweichen. ...weil die für die Autoritäten sowieso keine ernstzunehmenden Leute waren. Eine Haltung, die sich auch in der Rezeption unserer Arbeiten fortgesetzt hat, in unserer Kunst. Als ich 1984 «Die unsichtbare Platte» konzipiert habe, hielt ich das für eine geniale Idee: Zwei Alben aufzunehmen und eine dem DDR-Label Amiga anzubieten und eine dem BRD-Label Atatak – die Musik für den Osten klingt nach E-Musik und die im Westen nach U-Musik – und dann nach ein paar Monaten erst bekannt zu geben, dass beide Versionen exakt zusammengehören, auf zwei Plattenspielern gleichzeitig zusammengespielt werden müssen, um die erste entmaterialisierte Vinyl-LP zu ergeben. Nach der Bekanntgabe des Konzepts folgte in der Spex ein winziger Artikel. Als die Journalistin Fatima Ingranham Mitte der 80er einen Artikel vom Auftritt «Die Tödliche Doris» in New York mit Fotos von Nan Goldin anbot, hieß es bei SPEX bloß: «Nö, kein Interesse.» Unter mikropolitischen Separatismen stelle ich mir eher Bewegungen vor, die dahin gehen, wo keine Staatsgewalt mehr waltet, ihr dagegen seid in diesen äußerst militarisierten Bereich gezogen. Offiziell galt in Westberlin nicht einmal die Todesstrafe als abgeschafft. Gleichzeitig fühlte man sich total frei, weil sich kaum jemand um die Zuzügler kümmerte. Ich habe aus dieser Zeit Situationen im Kopf, die ich mir für heute schwer vorstellen kann. Beispielsweise ein korpulenter, extrem spießig gekleideter Transvestit, der mit Bauarbeitern in Arbeitsklamotten an einer CurryBude am U-Bahnhof Yorckstraße steht und mit ihnen Bratwurst isst. Ein Mann mit Bartstoppeln, angezogen wie eine vollkommen normale, bürgerliche Frau. Oder war es doch eine Frau? Heute müsste er mindestens eine schrille Fernseh-Drag-Queen sein, um nicht besonders aufzufallen. Damals war das kein Thema, es wäre auch kein Kamerateam in der Nähe gewesen, um diese Situation zu vermarkten. Weil niemand etwas Bestimmtes erwartete, herrschte in Westberlin eine Gleichmut, eine große Ruhe, kaum Aggression. Konnten die in Köln damit nichts anfangen? Westberlin wurde nicht ernstgenommen. Von nirgendwo eigentlich. Außerdem waren die Spex-Redakteure mit dem Aufbau ihrer eigenen Karrieren vollkommen ausgelastet. Wie fand man in die Subkultur, wenn man als Einzelner und Individualist nach Westberlin kam? Erst einmal war es fast unmöglich, eine Wohnung zu kriegen. 1979 wohnte ich zunächst in einem Durchgangszimmer bei einem Typen, der mich nervte. Dann bekam ich einen der begehrten Jobs im Café «Anderes Ufer». Da brauchte man dem Publikum keine gelungene Konstruktion des eigenen Lebens vorzuspielen. Ich merkte aber auch schnell, dass Machtstrukturen im alternativen Bereich ebenso vorhanden sind; sie haben nur eine andere Gestalt und wirken sich anders aus. In der Basisdemokratie sind alle unschuldig – es regiert das subjektlose Mobbing. Gerade in Kollektiven sind die Hierarchien versteckter und schwerer zu orten, aber sie existieren. Wie bildete sich denn die Szene um eure Band «Die Tödliche Doris»? Viele von den Punk-Kneipen – übrigens auch in England, wo im Lesbenclub «Louisis» die Sex Pistols ihre ersten Auftritte hatten – bildeten sich im proto-queeren Milieu. Mitte der 70er Jahre waren Lesben, Schwule und Trans noch ganz klar Außenseiter der Gesellschaft; Homosexualität war gerade mal ein paar Jahre entkriminalisiert. Bis 1969 konnte Sex zwischen Männern in der BRD mit bis zu drei Jahren Gefängnis bestraft werden. In die ersten offen schwulen und lesbischen Berliner Kneipen wie «Anderes Ufer» oder «Risiko» zog es dann auch straighte Aussenseiter. Dass es beispielsweise auch einen heterosexuellen Transvestiten geben könnte, der außerdem Vater von drei Kindern ist, war in der allgemeinen Vorstellung damals kaum vorhanden. Während Läden wie das «Andere Ufer» in Berlin eröffneten, wurden identitäre Grenzziehungen oder Behauptungen ganz allgemein irritiert. Einige Frauen machten auch darauf auf- merksam, wie unglaublich machohaft, wie «normal» der 68er-Mann letztlich war. Obwohl viele wichtige Punkte formuliert wurden, galten sie dennoch bloß als Nebensache oder Nebenwiderspruch. Ich interessiere mich für Nebenwidersprüche. Wenn in dem Moment der Kampf zu Ende sein soll, wenn die Rudi-Dutschke-Straße auf die Axel-Springer-Straße trifft, dann ist für mich ein toter Punkt erreicht. Es zeigt, man hat längst aufgegeben, irgendwie anders denken zu wollen – vielleicht konnte man es nie. Im Grunde glauben alle an dasselbe: Die gleichen Rituale, die gleiche Ästhetik, die gleiche Macht; man möchte dazugehören. Die linksalternative Autorin Iris Hanika schrieb einmal sinngemäß: «Früher kämpften wir gegen die Faschisten, heute ärgern wir uns über Hundescheiße auf dem Gehweg.» Der Weg der Anpassung wird wie ein Selbsterkenntnisprozess geschildert, wie ein Reifungsprozess. Und die poetische Beschreibung dieser Läuterung wird mit einem Ticket im Mainstream belohnt. Mit einer solchen neo-individualliberalen Haltung können sich heute viele Altlinke und Ex-Hausbesetzer identifizieren und Karriere machen. Vielleicht hatte ich das Glück, schon immer genug Spießer gewesen zu sein, um mich schon damals über Hundescheiße auf dem Gehweg ärgern zu können. Ich fand‘s tatsächlich auch immer nett, Leute anständig zu behandeln, Verabredungen einzuhalten, pünktlich zu sein, gutes Essen zu kochen – wobei die Gastronomie in Westberlin katastrophal war. Ich habe jedes Mal aufgeatmet, wenn ich nach Hamburg, Süddeutschland, Österreich oder in die Schweiz kam, weil die da so gutes Essen hinkriegten. Ich fand das toll und keineswegs dekadent, dass die Schweizer Bäcker wunderbaren Kuchen oder Brot backen können. Und ich habe mich gefragt: Warum gelingt das kaum in Berlin? Warum knallen die Bäcker hier auf alles zentimeterdicken Zuckerguss? Um guten Kuchen zu bekommen, musste man entweder selbst backen oder ins KaDeWe – dem einzigen Ort, an dem die Kunden in den 80ern in Westberlin sogar angelächelt wurden. Das utopische Moment an Westberlin ist ja die Vorstellung, dass man irgendwie aussteigen konnte. Ich glaube, dass es möglich war, eben im Bewusstsein der Abhängigkeit von den jeweiligen politischen und räumlichen Anordnungen. Die waren spezifisch und brachten unterschiedliche Lebensweisen hervor. Ich fand es faszinierend, dass sich die Menschen in West- und Ostberlin unterschiedlich bewegten: Im Osten waren die Bewegungen ruhiger, runder, weniger hektisch und eckig. Die Vorstellung, dass die Menschen etwas gemeinsam gehabt hätten, weil auf beiden Stadthälften irgendwie «Deutsche» gewesen seien, ist grotesk. Nach ‚89 wurde deutlich, dass diese neue Einigkeit, der sogenannte fröhliche, unbeschwerte Nationalismus vorallem auch ein Nährboden für neuen Rassismus ist. Viele der türkischen oder arabischen Einwanderer waren ja längst «drin», mitten in der Gesellschaft verwurzelt, als SPD-Finanzsenator Thilo Sarrazin und sein Parteifreund Buschkowsky mit ihren rassistischen Vorstellungen auftauchten und diese auch noch dreist als überfälligen Tabubruch verkauften. Dass Hobby-Eugeniker Sarrazin für seine rassistischen Gedanken nicht nur in der Bild werben durfte, sondern auch die Titelseite vom Spiegel zur Verfügung gestellt bekam, ist wirklich Wahnsinn. Ein etwa durch Sven Regeners Roman ‹Herr Lehmann› und der dazugehörigen Verfilmung vermitteltes Klischee ist, dass man nach Westberlin zog, um sich dem Zugriff der staatlichen Institutionen zu entziehen, beispielsweise dem Wehrdienst zu entgehen. Dieser Aspekt hat durch den Erfolg des Lehmann-Buches eine Riesenbedeutung bekommen. Dieses Bohemien-Dasein, sich den Tag irgendwie zu vertreiben, herumzutrödeln. Ich betone in Interviews gern, ich sei sehr fleißig gewesen. Es war nämlich möglich ohne ökonomischen Druck, ohne Stress und Angst etwas zu entwickeln. Das war die eigentliche Qualität. Eure Band «Die Tödliche Doris» war konzeptuell auch separiert – sie kommunizierte selbstständig als Person, erteilte Absagen, zwang ihre Mitglieder zu bestimmten Handlungen. Sie hatte ein ausgeprägtes Sensorium für die Bedingungen, unter denen ihr ein Auftritt möglich war. Seit ein paar Jahren wird bei Anfragen, ob zu Lesungen oder Auftritten, oft zuerst formuliert, ob ich «Lust» habe. Von Honorar ist dagegen keine Rede. Ist das ein Zeichen, dass es kein Geld gibt oder wird angenommen, dass ich erstrangig einem Bedürfnis folge? Die «Lust» wird ins Künstlersubjekt hinein projiziert. Es gibt ein paar mehr Umstände, auf die ich dann hinweisen muss: «...da ich als freischaffender Künstler darauf angewiesen bin, meine Zeit gut einzuteilen, um auch weiter freischaffend tätig sein zu können, muss ich das Angebot entsprechend abwägen, vom Zeitaufwand und vom Ökonomischen her...» Das ist eine Mühe, die ich mir von Doris abnehmen lassen konnte. Doris war einfach die Verantwortliche für alles. Sie war sozusagen an allem Schuld. Für den Erfolg genauso wie für den Misserfolg. Das hat sie ja auch in einem Song thematisiert: «Ich bin schuld / Du bist schuld / Schuldstruktur...» War «Die Tödliche Doris» Separatistin? Ja und nein. Sie hat sich einerseits total entzogen und steckte andererseits in allem und allen drin. Einmal bekamen wir einen Button zugesandt, auf dem stand «Gesellschaft Normaler Leute». Das war eine Punk-Combo aus Kassel, abgekürzt: GNL. Nikolaus Utermöhlen hat sich den Button an die Brust geheftet und sich damit in einem Fotofix-Automaten abgelichtet – jedoch so, dass man von seinem Kopf nur noch das Kinn sah. Das Foto klebte er dann auf ein A4-Blatt und tippte mit der Schreibmaschine darunter: «In Überschätzung ihrer eigenen Größe hat Doris den Drehhocker im Fotofix-Automaten zu hoch geschraubt.» Doris war überall und nirgendwo zugleich. Das Doris-Konzept spielte damit, die Projektionen und Signifikationen, die von außen an ein Kunstwerk herangetragen werden, als eigene Gestalt sichtbar zu machen. Das Kunstwerk selbst, also der Körper von Doris, war nie präsent. So wurde deutlich, dass die Zuschreibungen – ob zutreffend oder nicht konnte durch die körperliche Abwesenheit eh nicht geklärt werden – ganz stark an der Bedeutungskonstruktion und an der Gestalt mitwirken. Das hatte auch etwas Archäologisches. Als wir 1980 einen Film aus weggeworfenen Passbildern machten, haben wir bereits vorhandenes Material aufgegriffen und dessen Bedeutung ein Stück weit verändert. Von den Leuten, die sich da von einer Maschine hatten fotografieren lassen, wusste ja niemand, dass das Bild mal in einem Film landen würde, der in jeweils vier Portraits den vergangenen Bewegungsablauf im Fotofix-Automaten rekonstruiert. Solche Bewegungsrekonstruktionen fanden wir wesentlich spannender, als die Wilde Male- rei und ihr Anknüpfen an die Tradition des deutschen Expressionismus. Interdisziplinär wirkende Künstler wie Dieter Roth, Joseph Beuys, Valeska Gert, Meret Oppenheim oder Andy Warhol waren für uns viel anregender. Was ist die «Ästhetik der Absage»? Bei der «Ästhetik der Absage» geht es darum, deutlich zu machen, dass man noch lange kein Opfer ist, weil man bei etwas nicht mitmacht und eine sogenannte Chance nicht ergreift. Was in den Medien nicht vermittelt wird, sind die Erfolge von Absagen. Es werden immer nur Zusagen und deren Erfolge gebracht. Die Absagen aber sind es, die längerfristig dazu führen können, dass jemand unabhängiger von Trends seine Kunst realisieren kann und damit Erfolg hat. Es sollte einem egal sein, wenn man eine Zeit lang eher out ist, wie «Die Tödliche Doris» in den ersten Jahren nach der Wende. Wenn das Konzept eine bestimmte Qualität hat, geht diese ja nicht deshalb flöten, weil die Umstände ungünstig sind oder weil die Rezeption bestimmten Schwankungen unterworfen ist. Wieso hat Doris die Teilnahme an der documenta 7 im Jahr 1982 abgesagt? Doris hatte keine Lust mit ihrer Live-Präsenz kostenlos die wild gemalten Punks vor der Berliner Mauer von zum Beispiel Rainer Fetting zu legitimieren. Ihre Selbsteinschätzung war einfach höher, als jene, die ihr durch die documenta 7 vermittelt wurde. Wie wurde das damals wahrgenommen? Die Leute dachten: Diese Gruppe ist extrem schwierig und zickig. Das muss eine Sekte sein. Interview von Maximilian Linz ‹Subkultur Westberlin 1979-1989› ist in der Reihe Fundus Bücher bei Philo Fine Arts erschienen. ganz klein ganz gross Viele Menschen haben die Nase voll vom Leben im Status quo. Stress – wozu?, Plackerei – für wen?, endlose Ausbildungen für noch düsterere Aussichten, meine Güte. Manche versuchen deshalb, den Zustand der Welt wie wir sie kennen, zu ändern, ihn zu verbessern. Mit den gegebenen Mitteln zur gegebenen Zeit. Anderen reicht das bei weitem nicht. Sie klinken sich aus und fangen von vorne an: In einem selbstgegründeten Staat, der unabhängig und nach ihren eigenen Regeln funktioniert. Paul Poet hat viele der mittlerweile 193 verbrieften Mikronationen in aller Welt besucht und stellt sechs davon in seinem Dokumentarfilm «Empire Me» vor. Nino Kühnis: Paul Poet, in deinem Film «Empire Me!» machst du dich auf die Suche nach Gegenwelten und D.I.Y.-Staaten. Was hast du gefunden? Paul Poet: Meine Suche hat mit dem Weltkongress der Mikronationen 2003 in Helsinki angefangen. Von 60 eingeladenen Mikronationen kamen fünf, vornehmlich Kunstprojekte. Ein Teil- 7 nehmer war aber echt, die Principality of Sealand. Diese in den 1960ern von britischen Schlitzohren (im Ärmelkanal, Anm. d. Red.) gegründete Mikronation hat mir gezeigt, dass es auch solche mit politischem Gehalt gibt. Dass Mikronationen eine Strategie sind, innerhalb dieser immer homogeneren, monokulturellen Weltordnung Freiräume zu erkämpfen. In vielen Jahren der Recherche ist mir aufgefallen, wie viele verschiedene Arten von Utopien und sozialen Experimenten es tatsächlich gibt: Nomadische Formen, neue Kommunen, Eco-Dörfer, auch klassische Mikronationen die ökonomisch und politisch eher konservativ agieren. Es ist bei weitem nicht nur links und jung, was sich in den letzten zehn Jahren an Gegenwelten entwickelt hat. Die SeparatistInnen und SezessionistInnen, die du besucht hast, sind ja Freischärler verschiedenster Couleur. BewohnerInnen des alternativemanzipatorischen Freistaat Christiania in Kopenhagen scheinen auf den ersten Blick nur wenig zu tun zu haben mit Prinz Leonard, dem konservativen Statthalter des unabhängigen Fürstentums Hutt River in Australien, den vor allem regulatorische Zwänge in die Sezession trieben. Wo liegen Gemeinsamkeiten, wo Unterschiede in den sezessionistischen Projekten? Grundsätzlich gab es drei grosse Landnahmebewegungen: Zunächst einmal die Seefahrt, im Zuge derer viele Fürstentümer gegründet wurden. Dann das New Country Movement der 68er Bewegung, die in Indien oder auf Mittelmeerinseln Kommunenexperimente machten und bereits Länder deklarierten. Von denen konnten sich nur einige wenige über die Zeit retten und aktualisieren, wie etwa Christiania in Kopenhagen. Die dritte Welle wurde durch die verbreiterte Vernetzung und die globale Monokultur angestossen, welche die Menschen geradezu zwingt, die Weltordnung zu unterwandern und mit rechtlichen Schlupflöchern etwas Freiheit zu finden. In meinem Film «Empire Me» ging es mir gerade darum, die Bandbreite dieses Drangs zur Freiheit dieser Bewegungen abzubilden, von rechts-konservativ bis links-anarchistisch. Alle diese Gegenwelten versuchen, ein politisches System wieder auf die Menschen zurückzuführen und zu fragen, wo die Verantwortung, wo das Miteinander liegt. Bei der Portraitierung der Projekte betonst du stark das Prinzip der Selbstermächtigung, des Do-It-Yourself. Tatsächlich sind aber bei weitem nicht alle der Gegenwelten und der Mikronationen partizipativ aufgebaut. Ist trotzdem alles Gold, was glänzt? Meine Sympathie dafür, dass sie diese Projekte machen, haben sie auf jeden Fall, trotzdem finde ich nicht bei allen super, wie sie es machen. Mich interessiert und inspiriert der Mut, sich mit der Weltordnung anzulegen. Ich habe im Film denn auch Welten ausgesucht, bei denen die Bewohner ein Glücksgefühl, eine Stimmigkeit erfahren, die durch die andere Weltordnung evoziert werden. Das gelang bei allen portraitierten Gegenwelten, wenn auch in verschiedenen Formen. Für mich persönlich spielte da dann die menschliche Akzeptanz dieses Umstandes eine grosse Rolle. Gerade bei Sealand oder Hutt River, die eher rechts bis sehr rechts-konservativ ausge- richtet sind. Es hätte auch eine Mikronation gegeben, die noch weiter rechts gestanden hätte. Die ist aber nicht im Film, da sie meinem Produzenten zu heiss war: Eine neonazistische Mikronation in Kalifornien, wo rechte Skinheads aus San Francisco und Umland sich die Parameter der Ursprünglichkeit, also Ackerbau und Viehzucht aneigneten und unter Hakenkreuzen und mit Wikingerhelmen das Zurück zu den Ursprüngen zelebrierten und Urschreitherapien machten. Da wurden also klassisch linke Erkundungsformen übernommen. Darin zeigt sich für mich auch die Dringlichkeit der Suche nach sozialen Gefässen, wo Menschen wieder eine Stimmlichkeit und eine Bedeutung kriegen, etwas, das absurderweise trotz der Zunahme der Kommunikationskanäle immer mehr verschwindet. Mir ist wichtig, dass dieser Freiraum, wo so etwas geschehen kann, prinzipiell existiert und dass Menschen diese Fläche finden, egal, ob sie 80 oder 18, rechts oder links oder aus der Mitte sind. Der von dir gewählte Begriff ‹Gegenwelt› ist ja nicht unproblematisch. Schaut man genau hin, findet man in Gegenwelten immer auch sehr viel Bekanntes: Regierungen, Zeremonien, Pässe, nationalistische Insignien wie Flaggen und Briefmarken etc. Wieviel Gegenwelt hast du tatsächlich vorgefunden und wieviel ist Analogwelt im Kleinen? Bei Mikronationen läuft das ähnlich wie bei den Religionen heutzutage: Man dichtet sich relativ individuell ein Patchwork zusammen aus Elementen, die man auch aus anderen Zusammenhängen kennt, die aber eine spezifische Note erhalten, weil sie eben in diesen speziellen Territorien stattfinden. Gerade bei Mikronationen wirkt das mitunter ziemlich skurril, weil man es öfters mit outgedateten Insignien und Hierarchieinszenierungen zu tun hat. Das gründet teilweise in der eigenen Lust am Regenten- oder Diktatorsein, ist aber auch Überlebensstrategie. In Hutt River in Australien spielt das eine wichtige Rolle. Australien gehört ja dem Commonwealth an und hat die Hörigkeit der Queen gegenüber nie aufgekündigt. Genau dieser Zusammenhang wurde von Hutt River ausgenutzt und Prince Leonard pochte auf eine rund 400 jährige Gesetzgebung, die es UntertanInnen der Queen zugesteht, Freikirchen und Freistaaten zu gründen, solange man sich als Herzogtum oder als Bischof deklariert und einmal im Jahr auf die Legacy der britischen Queen schwört. Im Endeffekt wird man vor ein australisches Gericht gezogen, hängt sich dort einen Bischofstalar um, nachdem man in Dokumenten an die UNO erklärt hat, dass dies die Farben des Königtums Tralala sind. Schliesslich verkündet man vor Gericht, dass man die australischen Gerichte deshalb nicht anerkannt. Dazu werden Weihnachtskarten an die Queen, den Papst oder Briefwechsel mit Kofi Annan vorgelegt – daraus folgt, dass die Richter einen roten Kopf kriegen und es anerkennen müssen. Quintessenz ist, dass die Leute ihr Land behalten können. Ein bisschen anders sieht es aus, wenn massiv Geld gemacht wird mit dieser Unabhängigkeit, sprich wenn Freihandelszonen eingerichtet oder Steuerhinterziehungen im grossen Stil abgewickelt werden. Da gibt es schon auch mal Reibereien mit dem Umland. Aber im Fall von Hutt River hat es nach 39 Jahren gerichtlichen Streitereien geklappt: Sie haben ein Dokument vom australischen Finanzdepartement, dass sie nicht zu Australien gehören. Es hängt heute in Gold über dem Eintrittstor des Fürstentums. tion: Es geht darum, sich mit einem Freiraum Distanz zu schaffen, um sich einen freien Blick und die politische Agitationsfähigkeit zu sichern, um überhaupt gemeinsam agieren zu können. Und da beginnen die Schwierigkeiten, denn sobald du Macht oder Geld hast, werden die Weltmächte versuchen, dich zu annektieren. Die Territorial- oder, um es moderner auszudrücken, die Raumfrage, die mit der Diskussion von Mikronationen einhergeht, ist höchst aktuell – auch bei der Entwicklung rund um den GeziPark in Istanbul. Wie erklärst du dir diesen plötzlichen Bedeutungssprung von Raum für Soziale Bewegungen? Die Idee einer Welt aus lokalen freiwilligen Assoziationen ohne nationalstaatliche Grenzen ist ja nicht neu. Der russische Anarchist Petr Krapotkin etwa pochte schon in den 1870er Jahren auf die Kommunenbildung auf der Basis der freien Assoziation, und der Münchner AnarchoSozialist Gustav Landauer proklamierte Anfangs des 20. Jahrhunderts, Siedlungen zu gründen, um das Gute im Jetzt zu leben und als leuchtendes Beispiel voranzugehen. Vor dem Hintergrund deiner Recherchen, was denkst du: Wird die Welt eine bessere, wenn jede Interessensgruppe ihre eigenen 50 Quadratkilometer beackert? So plötzlich ist das nicht; mich wundert mehr, wieso es so lange gedauert hat. Loretta Napoleoni hat in Ihrem Buch ‹Rogue Economics› sehr klar festgemacht, dass mit dem brutalen Siegeszug der neoliberalen Globalisierung nach 1989 die demokratischen Inszenierungen der europäischen Staaten durch die Politik faktisch nicht mehr existieren. Das ist nur noch Marktshow und wirkliche Räume zur politischen Interaktion gibt es nicht mehr. Zwar wird das mit dem Gentrifizierungsdiskurs nun immer mehr diskutiert, aber tatsächlich ist das etwas, das seit gut 24 Jahren köchelt, während die Verantwortlichen längst hinter eisernen Türen hocken. Es hat mich wenig gewundert, dass mir ein Film zu diesem Thema mit Loretta Napoleoni von den Geldgebern abgeschossen wurde, weil er die vorherrschende Ohnmacht gegenüber dem System nicht nur bei den Widerstandsbewegungen, sondern eben auch bei den Bankern, der Polizei und den Machtinstitutionen demonstrierte. Es wird spannend zu sehen, ob und wie weit sich diese globale Brave New World noch entwickeln muss, oder ob wir vorher zur Vernunft und zu neuen demokratischen Formen kommen. Sinngemäss heisst es in deinem Film: «Dir passt deine Welt nicht? Mach dir deine eigene!» Rechtlich sieht es dafür ja relativ gut aus. Mikronationen folgen in der Regel der Konvention von Montevideo 1933. Diese Konvention verlangt von einem Staat für seine Existenz lediglich ein Territorium, eine Regierung, eine ständige Population, und die Kapazität, mit anderen Staaten in Verbindung treten zu können. Das tönt machbar. Warum gibt es nicht viel mehr D.I.Y. Staaten? Gerade in Zeiten des verstärkten Regionalismus erscheint das doch als Patentlösung? Tatsächlich steigt die Zahl ja ganz massiv an! Als ich 2003 mit meinen Recherchen begann, gab es 300-400, mittlerweile sind es 600-700. Für mich ist das ein Anzeichen eines gesteigerten Bedürfnisses, sich einen eigenen Freiraum zu schaffen. Die Konstitution ist ja auch easy und wird sogar unterstützt – nach dem Zweiten Weltkrieg wurde völkerrechtlich festgeschrieben, dass man sein eigener Staat sein darf, wenn ein Staat nicht mehr für die Sicherheit seiner Menschen sorgen kann. Nur praktiziert wird’s halt fast nie, denn wenn man sich für diese Rechte stark macht, wird man ins böse Eck gestellt, als wolle man nichts mit niemandem zu tun haben. Dabei geht es gerade nicht um Isola- Ich würde sagen, die Welt braucht das als Lernstufe. Letztlich kommt entweder die grosse gesichtslose Weltdiktatur in Form des alles beherrschenden Kapitals, oder es gibt diesen Zerfall in kleine Entitäten, die über eine Weltvernetzung gemeinsam agieren können. Ich sehe das nicht als deleuze’sches Rhizom, sondern als Ansammlung kleiner und grosser Flächen, die in ständigem Austausch agieren können. Grundsätzlich gilt, je mehr es kriselt, desto monokultureller, autoritärer und beschränkter wird es für den einzelnen Menschen. Dass die ganze Welt in 30-Personen-Einheiten zerfällt, ist eher unwahrscheinlich, aber um eine politische Bewusstwerdung voranzutreiben, ist eine faktische, haptische Lebensfläche wie die der Kommunen unabdingbar. Da können Menschen als Ganzes im Austausch miteinander stehen, ohne Politisches und Privates zu trennen. So entstehen für mich positive soziale Spannungen und eben auch soziale Fruchtbarkeit. Als Gedankenprojekt ist die Flucht in die eigene Welt ja eine sehr schöne Sache. Wird sie umgesetzt, bricht die Wucht des Realen aber ziemlich schnell ein. Nur schon die Frage der Territorialität: Plötzlich ist es überlebenswichtig, wo man sein Land aufmacht, denn Bodenschätze, Wasser und Bodenqualität sind alles wesentliche Faktoren für das Überleben von Staaten. Wie sieht die Versorgungs- und Wirtschaftslage in den Mikronationen, die du besucht hast, aus? Die Mikronationen haben das geschickt gemacht. Beispielsweise Sealand betreibt unter dem Radar illegale Geschäfte mit anderen Ländern. Dazu gehören Kreditkartengeschäfte, Grundstücksmaklerei und ähnliches, durchaus auch mit namhaften Personen aus Politik und Finanzwirtschaft. Das geht bis in den Waffenhandel und die Pornoindustrie hinein. Prince Michael sagte mir, dass er aber auch schon Nein gesagt hätte: Es ging um einen Online-Organhandel mit Organen von chinesischen Hinrichtungen, die weltweit und innerhalb von 24 Stunden über’s Internet hätten bezogen werden können, quasi als alternatives e-Bay. Bei allen Projekten gibt es klassische Methoden zur Mittelbeschaffung, wie Tourismus oder Kunsthandwerk oder eben weniger klassische. Das anarchistisch-survivalistische Projekt der Swimming Cities of Serenissima beispielsweise verkauft einerseits Kunst und schnorrt andererseits in bester Gauklermanier oder klaut Baumaterial und Essen aus Containern zusammen. Zum Abschluss ein Ausblick: Wie fragmentiert wird unsere Zukunft und wie gut ist das für die Menschheit? Ich denke, das grundlegende Problem ist nicht die Fragmentierung sondern die grundlegende Zerissenheit der vorherrschenden LifestyleKrieger-Schizophrenie. Seit dem neoliberalen Siegeszug ist dieses konstante Selbstaufforstungsparadigma wirksam, das einen dazu ermutigen will, sich möglichst als Ego-Warrior der kapitalistischen Gesellschaft anzupassen und sich hineinzuoptimieren. Durch unsere Kommunikationsmöglichkeiten werden wir dazu erzogen, optimal zu leisten, zu lieben, zu leben. Es gibt keine nicht-optimierte Lebensfläche mehr, auch die Erholung wird optimiert, um noch leistungsfähiger zu sein. Meines Erachtens geht das am menschlichen und am sozialen Naturell vorbei. Es gibt keine Imaginationsflächen mehr! Deshalb habe ich diesen Film gemacht. Schon Albert Einstein sagte: «In Zeiten der Krise hilft uns nicht die Wissenschaft, da helfen uns nur die Träume.» Genau diese Gegenwelten laden dazu ein, politisch und sozial zu träumen. Sie inspirieren dazu, sich Mut zu fassen, etwas für sich selber zu suchen und zu finden. Und das ist ziemlich viel in dieser Welt, wie wir sie jetzt haben. Interview von Nino Kühnis Paul Poets Dokumentarfilm «Empire Me» portraitiert sechs Gegenwelten, in denen so ziemlich alles anders läuft, als im spätkapitalistischen Halali, das wir Alltag nennen. Süffisant, verblüffend und manchmal ein bisschen gar euphemistisch wird von selbsternannten Prinzen, von postapokalyptischen (Lebens-)KünstlerInnen oder von Halbheiligen berichtet, die keine Lust mehr hatten, auf das Gute zu warten, sondern es in bester D.I.Y.-Manier gleich selbst erschufen. Man findet sich in der Folge wieder auf Sealand, einigen ausgedienten Bohrinseln im Atlantik, im Zentrum für experimentelle Gesellschaftsgestaltung ZEGG, einer befreiten Zone im Nordosten Deutschlands, aber auch auf den aus Müll gebastelten frei schwimmenden Flossstaaten der Swimming Cities of Serenissima in der Adria. Man hört von Sorgen und Wünschen der BewohnerInnen des Freistaats Christiania in Kopenhagen, von der quasireligiösen Föderation Damanhur im Piemont oder von einem querschlägernden Grundbesitzer im offiziell nicht-mehr-australischen Hutt River. Alle Projekte ergeben zusammen ein Panopotikum ermutigender, zuweilen auch befremdender Gehversuche, die sich trotz aller Unterschiede in einem gleichen: Sie zeigen, dass alles auch ganz anders geht. dialektik der nische «Nische (v. franz. niche), halbrunde oder eckige Vertiefung in einer Mauer. An Häuserfassaden dienen die Nischen häufig zur Aufnahme von Büsten und Statuen; oft sollen sie auch nur Abwechselung in die Fassade bringen. Sie werden oben gewöhnlich halbrund abgeschlossen, auch rings durch Rundstäbe, Gesimse, Pilaster, Halbsäulen u. dgl. eingefasst oder durch Giebel aus- 8 gezeichnet. Im Innern der Häuser dienen Nischen zur Aufstellung von Möbeln (Schränken u. dgl.) oder von Madonnenfiguren etc., die Fensternischen zur Einrichtung von Sitzen.» «Französisch ›niche‹, von frz. ›nicher‹ = «ein Nest bauen», nach lat. ›nidus‹, Nest.» 1. Haus— Das Wort «Haus» lässt sich wie auch Scheune, Hose oder Haut (ebenso wie engl. Skin oder hide) etymologisch auf die indogermanische Wurzel *(s)keu-, «bedecken», «umhüllen» zurückführen und bedeutet also im engeren Sinne: Schutz, Sicherheit. «In den deutschen Märchen beschreibt ‹Der Wolf und die sieben Geißlein› das spezifische Dilemma, das mit der defensiven Herstellung von Sicherheit, Weltvergewisserung, Innen und Außen verbunden ist.» Die schützende Nische ist in diesem Märchen zunächst das Haus, dann der «Kasten der Wanduhr». Was passiert? Mutter Geiß geht aus dem Haus, lässt ihre sieben Kinder, die Geißlein, allein zurück. Sie sollen niemandem die Tür öffnen. Ein Wolf kommt (ein «gottloses Tier») und versucht, ins Haus zu gelangen, indem er vorgibt, die Mutter zu sein. Die Geißlein erkennen zwar nicht den Wolf, aber merken, dass er nicht ihre Mutter ist. Beim Krämer kauft der Wolf Kreide, um damit seine Stimme sanft zu machen. Wieder an der Tür, verweigern die Geißlein erneut den Einlass. Erst der dritte Versuch klappt: Der Bäcker hat dem Wolf aus Furcht gefressen zu werden die Pfoten mit Mehl bestreut; jetzt ist seine Verkleidung überzeugend. Der Wolf frisst sechs der sieben Geißlein. «Durch eine…Tür, die immer zugleich Verschluss und Öffnung nach außen ist, verhandeln die Geißlein dreimal mit dem Wolf, ehe sie sich betrügen lassen. Das Haus selber aber, nach Eindringen des Wolfs, besteht aus Verstecken. Das beste Versteck ist der Uhrkasten. Nur das jüngste Zicklein, das im Uhrkasten sitzt (in älteren Fassungen ist es kein mechanisches Gehäuse als Versteck, sondern eine Unterhöhle des Hauses), wird vom Wolf übersehen und kann der Mutter die Nachricht bringen. » – «Aufklärung», schreibt Kant 1784, «ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.» 2. Interieur, Abseits «Es gibt immer Orte zu finden, die leer von Macht sind.» – Peter Brückner, ‹Das Abseits als sicherer Ort› (Berlin 1980, S. 16) Das Entscheidende an der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft ist nicht nur die Verfasstheit der Gesellschaft als bürgerliche, sondern die Dialektik: Dass mit der Realisierung der bürgerlichen Gesellschaft als bürgerliche überhaupt erst «Gesellschaft» entsteht. Insofern erscheinen erst mit der bürgerlichen Gesellschaft soziale Verhältnisse als konkrete Totalität. Individuum und Gesellschaft bilden eine strukturelle Einheit, das heißt, das Individuum ist wesentlich Resultat der Vergesellschaftung (Marx nennt das Wesen des Individuums ein «Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse»), ebenso wie die Gesellschaft Resultat der Individualisierung ist. Walter Benjamin notiert: «Unter Louis-Philippe betritt der Privatmann den geschichtlichen Schauplatz… Für den Privatmann tritt erstmals der Lebensraum in Gegensatz zu der Arbeitsstätte. Der erste konstituiert sich im Interieur. Das Kontor ist sein Komplement. Der Privatmann, der im Kontor der Realität Rechnung trägt, verlangt vom Interieur in seinen Illusionen unterhalten zu werden. Diese Notwendigkeit ist umso dringlicher, als er seine geschäftlichen Überlegungen nicht zu gesellschaftlichen zu erweitern gedenkt. In der Gestaltung seiner privaten Umwelt verdrängt er beide. Dem entspringen die Phantasmagorien des Interieurs. Es stellt für den Privatmann das Universum dar. In ihm versammelt er die Ferne und die Vergangenheit. Sein Salon ist eine Loge im Welttheater.» Der Rückzug ins Private stärkt den Bürger für die Wahrnehmung seiner Interessen in der Öffentlichkeit. Die Trennung von Privatsphäre und Öffentlichkeit vollzieht sich dabei als «Hälftung» des Lebens und dient schließlich der allgemeinen, nicht nur auf die bürgerliche Klasse bezogenen «Ostung» der Bevölkerung; anders gesagt: Die Trennung von «privat» und «öffentlich» halbiert das Leben in separierte – und darin auch geschützte – Bereiche eben des Privatlebens in klarer Abgrenzung zum öffentlichen Leben. Das Privatleben wird zur Nische, zum Schutzraum, der es erlaubt, dem Alltag zu entfliehen; doch für den Bürger ist das Haus nicht einfach nur Rückzugsgebiet, sondern der Ort, an dem sich die bürgerliche Individualität konstituiert, Spiegel der Seele: Hier kann der Bürger jenseits seiner bürgerlichen Existenz «er selbst» sein – was ihm die Kraft gibt, seine bürgerliche Existenz zu begründen (als Unternehmer, Politiker, öffentliche Person etc.). Bei Benjamin heisst es weiter: «Exkurs über den Jugendstil. Die Erschütterung des Interieurs vollzieht sich um die Jahrhundertwende im Jugendstil. Allerdings scheint er, seiner Ideologie nach, die Vollendung des Interieurs mit sich zu bringen. Die Verklärung der einsamen Seele erscheint als sein Ziel. Der Individualismus ist seine Theorie. Bei Van de Velde erscheint das Haus als Ausdruck der Persönlichkeit.» Wer kein Haus hat, nur ein dreckiges Loch bewohnt, in einer Baracke oder Bretterverschlag eine Schlafstatt hat, hat keine Persönlichkeit. Erst recht nicht, wer gar kein Dach übern Kopf, nicht einmal eine Wohnung oder ein Zimmer. 9 Das bleibt für die Massen in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts die Normalität. Die Nischen hier sind Dreckslöcher oder Spelunken, Kaschemmen, dunkle Orte zum Herumlungern. Solche Orte finden sich zum Beispiel in Brechts und Weills ‹Dreigroschenoper› (1928). Oder bei Kurt Tucholsky: «Eine Seite des Proletarierschicksals aller Länder wird niemals beschrieben – nämlich die Tragik, die darin liegt, dass der Proletarier nie allein ist. So ist sein Leben: Geboren wird er im Krankenhaus, wo viele Mütter kreißen, oder in einem Zimmer, wo ihn gleich die Familie mit ihrem Anhang, den Schlafburschen, umwimmelt; so wächst er auf, und dies hier (gezeigt wird ein Zimmer mit sechs Leuten) ist noch eine bessere Familie, denn hier hat jeder sein eigenes Bett; alle aber, die so leben, leben ständig das Leben der anderen mit und sind nie allein.» Siegfried Kracauer hat in seinem Essay ‹Asyl für Obdachlose› ähnliche Lebensverhältnisse dargestellt: Ein Alltag ohne Nischen oder mit falschen Nischen. Unter dem gleichen Titel und freilich mit Bezug auf Kracauer, schreibt Adorno konstatiert in seinen ‹Minima Moralia›: «Wie es mit dem Privatleben heute bestellt ist, zeigt sein Schauplatz an. Eigentlich kann man überhaupt nicht mehr wohnen. Die traditionellen Wohnungen, in denen wir groß geworden sind, haben etwas Unerträgliches angenommen: Jeder Zug des Behagens darin ist mit Verrat an der Erkenntnis, jede Spur der Geborgenheit mit der muffigen Interessengemeinschaft der Familie bezahlt.» Adornos Reflexion endet mit dem berühmt gewordenen Aphorismus: «Es gibt kein richtiges Leben im falschen.» Peter Brückner korrigiert: «Wenn es auch kein richtiges Leben im falschen geben kann, so doch ein richtigeres.» Dieses richtigere Leben (und das ist kein besseres Leben im falschen!) hat einen Ort: Die Nische. Brückners Nische in seiner Kindheit und Jugend zwischen 1933 und 1945: Das Abseits. «Das Abseits ist, was den Nationalsozialismus angeht, in Deutschland der einzig sichere, ja, der einzig glückliche Ort.» Kairos. 3. Today’s Homes, Etui-Menschen, Idylle— Das Proletariat muss sich die parzellierten Formen der bürgerlichen Lebensweise erst ökonomisch und politisch erkämpfen – bis es durch das kommodifizierte Alltagsleben scheinbar fast von selbst an der bürgerlichen Lebensweisen partizipieren darf und soll: Jenseits der Lohnarbeit wird der Proletarier zum Bürger – als Konsument. Das Bild dazu ist eine Collage, ‹Just what is it that makes today’s homes so different, so appealing?› von Richard Hamilton, eine Collage für die Ausstellung «This is Tomorrow», die 1956 in London zu sehen war. Was das Leben heute – also Mitte der fünfziger Jahre, gerade ein Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg, eine Stadt wie London liegt noch in weiten Gebieten in Trümmern – so anders, so angenehm macht, zeigt sich in einer modernen Lebensweise, amerikanisch: Ein Wohnzimmer, ein Innenraum, ausgestattet mit den neusten technischen Errungenschaften des Alltagslebens, eingerichtet im «International Style»; mit dem Fernseher, der Sofagarnitur, der exotischen Zimmerpflanze, dem Tonbandgerät und dem Dosenfleisch, dem Staubsauger und der Stehlampe mit dem Ford-Logo (damals kam der Thunderbird auf die Straße und mit ihm die Heckflosse) wird dieser Raum zum Privatraum für das Subjekt der «affluent society» – posierend wie bei Botticelli bewohnen AktMenschen, «Models», diesen Raum: Ein Bodybuilder und ein Pin-up-Girl. Aus der bürgerlichen Lebensweise ist ein Lifestyle geworden; die sachliche Kälte wird als Coolness bequem. Der Bodybuilder und das Pin-up-Girl erscheinen derart als modernistische Gegenfiguren zu den «Etui-Menschen», die Benjamin beschrieben hat (und Benjamin nennt das Gegenstück: Den destruktiven Charakter). Noch einmal ein Rückblick ins neunzehnte Jahrhundert: «Das Interieur ist nicht nur das Universum sondern auch das Etui des Privatmanns. Wohnen heißt Spuren hinterlassen. Im Interieur werden sie betont. Man ersinnt Überzüge und Schoner, Futterals und Etuis in Fülle, in denen die Spuren der alltäglichsten Gebrauchsgegenstände sich abdrücken. Auch die Spuren des Wohnenden drücken sich im Interieur ab. Es entsteht die Detektivgeschichte, die diesen Spuren nachgeht.» – Einhundert Jahre später ist der Samt, sind die kleinen Deckchen der Klarheit und den glatten Oberflächen gewichen. Die Spuren sind nur noch Fingerabdrücke, Flecken, Unsauberkeiten. Helles Licht durchflutet den Raum auf Hamiltons Collage; das Fenster hat keine schweren Vorhänge, keine Gardinen, der Staub ist weggesaugt, von draußen dringt der Lärm des nächtlichen Broadway-Lebens in das Wohnzimmer, der Fernseher läuft (und verdoppelt das universale Diktat der Kommunikation: Eine Frau telefoniert). Ein Rückzug ins Private, aber ohne Nische, ohne Versteckmöglichkeit: Die Menschen, die hier zu sehen sind, leben als öffentliche Personen – als Stars (das Versprechen des Pop: Jede bzw. jeder ist ein Star. Insofern: «Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir» – was bei Kant noch «unmittelbar mit dem Bewusstsein meiner Existenz … verknüpft» werden muss, fällt für die Popexistenz automatisch zusammen: « Ich bin der bestirnte Himmel, und das ist das moralische Gesetz!») Das Wohnzimmer als kommodifizierte Idylle, aber immerhin (die Idylle – oder Idyll – ist eigentlich das Hirtengedicht oder Bildchen, griechisch «eidyllion», die Verkleinerungsform von «eïdos», Bild. Mithin: Die Idylle ist die verkleinerte Idee.). 4. Subkultur, Underground, Zitadelle, Kosmos «So lebe ich / in meinem Zimmer / ein Wimpernschlag / ein Zeitkristall / ein Lied im Dunkeln / ein blasser Schimmer / ein schwacher Trost / kein Einzelfall.» – Blumfeld, ‹So lebe ich› (auf: ‹Old Nobody›, 1999) Erst jetzt wird das Leben wirklich modern, wirklich funktional. Man sagt: Das Private wird das Politische – und umgekehrt. Entscheidend ist aber, dass das Private zu einer Funktion des Politischen wird, ebenso wie das Politische zu einer Funktion des Privaten wird. Gerade unter dem Vorzeichen des Pop wird hier das antizipiert, was Richard Sennett die «Tyrannei der Intimität» nennt. – Indes: Nicht nur wird, wie Sennett diagnostiziert, der öffentliche Raum bedeutungslos, sondern auch die Privatsphäre wird als Schutzraum aufgegeben; anders gesagt: Ebenso wie «der öffentliche Raum … zu einer Funktion der Fortbewegung» wird, verwandelt sich der Privatraum zu einer Funktion der Stillstellung; Individualität wird in dieser Enklave arretiert und damit anonymisiert. Gleichwohl ist dem Pop aber auch die Gegenbewegung immanent, die Sehnsucht nach der Nische, nach dem Versteck, nach dem Exzentrischen, Dezentrierten, eben Abseitigen. Wo die funktionalen Lebensweisen der verwalteten Welt keine Nischen mehr haben, versuchen Subkulturen eine Absetzung nach unten (die Nische als Underground und vice versa). Aus den Kinderzimmern wurden Jugendzimmer, aus den Jugendzimmern wurden geheime Kammern der Subkultur («Zutritt verboten!» oder mindestens «Betreten auf eigene Gefahr!» stand an den Türen). Die Räume werden ausstaffiert mit Postern (ja, manche Poster sind aus feinem Samtbelag, in schimmernden Neonfarben). Tücher, Kissen und Räucherstäbchenrauch machen aus dem Zimmer eine Höhle. Das Zimmer wird gegen die Sterilität und Spießigkeit der anderen Räume zu einem exotischen Ort des Abenteuers (zum Beispiel finden hier sonderbare Rituale statt, mit denen sich auf das Nachtleben, die Party, das «Saturday Night Fever» vorbereitet wird). Die Eltern allerdings, die hier nicht reinkommen dürfen, schaffen sich derweil ihre eigenen Nischen; sie kommen als Etui-Menschen in den Siebzigern, Achtzigern wieder: Der Keller wird zum Partyraum ausgebaut, Plastik und Kunstleder wird in Braun- und Beigetönen gemütlich. Stofftapeten aus Jute oder Bast, Zimmerpflanzen (Yucca-Palme, Birkenfeige etc.) machen aus der Wohnung ein ökologisches Biotop; ohnehin ist das Schlafzimmer eine Nische der Lust. In den Siebzigern gehört zu dieser Nischenwiederbelebung der postmoderne Vitalismus, die Rückkehr des Ornaments, Stuck aus Styropor, Hobby und Do it yourself, Handarbeit – Stricken, Nähen, Tauchlackblumen – und Heimwerkerei – «Selbst ist der Mann!»; Amateure und Bastler sind die Figuren, die inmitten der mikroelektronischen Technifizierung des Alltags innehalten und im Neubau die Zeit still stellen, indem sie sich ihre Wohnungen und Gärten mit den Resten des Industriezeitalters verbarrikadieren. Eine Enklave als Reservat des Privatlebens: In der Gestaltung der Komfortwohnung realisiert sich als Idylle die «Zitadellenkultur». Otto Karl Werckmeister nimmt das als Metapher für eine Gesellschaft, die sich genüsslich von Krisenszenarien unterhalten lässt, ohne an einer Lösung der wirklichen Krisen interessiert zu sein. Eben im metaphorischen Sinn ist die Kultur dann nur noch eine ideologische Festung, eine Zitadelle. In ihr sind die Nischen wie Waben, in denen sich die Menschen passivieren, verpuppen («Cocooning»). Solche Nischen sind Verkleinerungen im schlechten Sinne: Sie verheißen das richtige Leben, jenseits des falschen, hier soll es besser sein (zum Teil gehören hierzu die Heterotopien, die Michel Foucault 1967 als ‹Andere Räume› beschrieben hat: Gärten, Urlaubs- und Ferienorte etc.). Diese Entwicklung hat eine historische Signatur: In derselben Zeit, in der sich die Gesellschaft mit kapitalistischer Produktionsweise in eine kapitalistische Gesellschaft ergo Kapitalismus transformiert und sich – in den Siebzigern – endgültig die Globalisierung durchsetzt (konterkariert nicht nur durch die internationalisierte Blockkonfrontation, sondern auch durch die sogenannten nationalen Befreiungsbewegungen), verdichtet sich der Individualismus als privatistischer Separatismus: Die Nische – die Wohnung, das Eigenheim, das Wochenendhaus als Versuch, sich und die Familie als Innenwelt gegen die Gesellschaft als Außen abzugrenzen, abzusichern und die Parzelle des «Privaten», des «Eigenen» und «Eigentums» vor der voranschreitenden Fragmentierung des Lebens zu schützen. (Auch in dieser Zeit werden in der Politik wie im Privaten die Grenzen dichtgemacht, die Lebensbereiche abgeschottet; sukzessive wird das Fremde oder werden die Fremden negativ konnotiert, Xenophobie wird zur Haltung außerhalb der Nische.) Die Dialektik liegt auch hier in den Extremen des Widerspruchs: Gegen die Nische als separierte Privatenklave bleibt das Abseits nicht nur als sicherer Ort, sondern als glücklicher Ort zu verteidigen: Als Platzhalter des Universums, als Platz oder Stelle der Erinnerung – an den Kosmos (Brückner, noch einmal: «Wenn es auch kein richtiges Leben im falschen geben kann, so doch ein richtigeres. Aus dieser minimalen Differenz ließe sich ein neuer Kosmos entfalten.») Derart ist die Nische Utopie, Idylle als Verkleinerung der größten Idee, die zu haben ist: Nach der die Menschheit aus dem Abseits heraustritt und die ganze Welt bewohnt. Space is the Place. Von Roger Behrens freedom we future god Land my death the seven most used terms (in national mottos of 68 separatist movements or countries, not recognised as a member of the international community). 10 all all all all always am am and and and and and another are are as borders breath can conquers country courage cradle darkness day dear death death death death defend defens demand democracy dignity directions drugs each emperor equality equality ex failed fathers free freedom freedom freedom freedom freedom freedom freedom freedom freedom friendship from from frontier further future future future future future gained gave give give go god god god god god hard have have help his his his hope house I I I I in in in in in independent independence independence independence is is is island islands john justice justice king kingdom land land land land land lead let liberty liberty liberty liberty light live love love love magnanimity man‘s many march me me me men men men men mind monotheism most The Mottos of 68 Separatist Movements or Countries, not recognised as a member of the international community. Cut into Words, sorted in alphabetical order. motherland motherland multitude municipalis my my my my my name new nice no north north not nothing nothing of of of of of of of oh old on one one one or or or others our our out over own peace peace peace people people peoples prevail prosperity proud queen redemption related remember remember right right rights room sat save sea seceded serve shade shall sharing since since small soil speech star stars state strength strength strength strong struggle surrounds the the the the the the the the the the the this thou through to to to to under unity unity us us us ventured victorious victory victory vincit vindicator volunteers water water we we we we we we we we we well were without what where while who wins with women world world world yes