PUNK ROCK - Landesbühne Niedersachsen Nord

Transcrição

PUNK ROCK - Landesbühne Niedersachsen Nord
Materialmappe
PUNK ROCK
von Simon Stephens
Regie: Carola Unser
Bühne & Kostüme: Juliette Collas
Dramaturgie: Britta Hollmann
Regieassistenz: Romy Lehmann
Ausstattungshospitanz: Imra Henseleit
Souffleuse: Petra Hillers
Inspizienz: Björn de Groot
mit: Saskia Boden / Mechthild Grabner / Ben Knop / Robert Lang / Robert Oschmann /
Anna Rausch / Vasilios Zavrakis / Katharina Hoffmann (Klavier)
Premiere:
Sa., 24/01/2015 / 20.00 Uhr/ Stadttheater Wilhelmshaven
www.landesbuehne-nord.de
Liebe Lehrerinnen und Lehrer, liebe Pädagoginnen und Pädagogen, liebe Theaterbegeisterte!
zum ersten Mal haben wir in dieser Spielzeit mit PUNK ROCK von Simon Stephens ein Stück im
Spielplan, das sich gezielt an alle ab 15 Jahren richtet und mit dem wir eine Brücke zwischen
dem Angebot der Jungen Landesbühne und dem Abendspielplan schlagen.
Der Titel PUNK ROCK beschreibt in diesem Fall keinen Musikstil, sondern steht für die Orientierungslosigkeit, Wut und Frustration der Jugendlichen. Ein Zitat aus dem Stück beschreibt nicht
nur die Situation in der Schule, sondern lässt sich auch auf das heutige Gesellschaftsklima übertragen: „Wie kommt es, dass wirklich jeder an dieser Schule alle anderen nach dem Grad ihrer
Intelligenz beurteilt? Nicht nach ihrem Witz. Nicht nach ihrem Aussehen. Nicht nach ihrem Kleidungsstil. Nicht nach ihrem Musikgeschmack. Sondern danach, wie viele Bestnoten sie haben.“
Simon Stephens, der einige Jahre als Lehrer gearbeitet hat, sagt über seine Motivation zum
schreiben des Stücks: „Es entsetzt mich, dass sich in unserem Jahrhundert die Angst und der
Horror mancher Heranwachsender nicht mehr in Selbstmord, sondern in Mord entlädt. Es war
meine Furcht angesichts dieser Entwicklung, die mich dazu brachte, dieses Stück zu schreiben.“
Was muss sich in unseren Köpfen ändern, damit unsere Gesellschaft wieder lebenswerter wird?
Was lässt uns als Mensch der Versuchung erliegen, Grenzen zu unbeschreiblichen Taten zu überschreiten? Sind Amokläufer Individuen, die verzweifelt versuchen, in einer Welt voll gescheiterter
Utopien einen Halt zu finden, einen Sinn suchen und letzten Endes doch an ihrem eigenen Narzissmus scheitern? Ist ein Amoklauf ein letzter Versuch, den eigenen Marktwert zu steigern?
Diese Materialmappe soll Ihnen helfen, Unterrichtseinheiten zum Stück und zu den Themenbereichen vorzubereiten, die es berührt. Aus diesem Grund finden Sie nicht nur Anregungen zur
Textarbeit im Fach Deutsch und für szenisches Arbeiten, sondern auch Hintergründe und Diskussionsanregungen, die sich vielleicht für die Fächer Politik, Religion/Ethik eignen.
Verwenden Sie diese Mappe nicht statisch, sondern machen Sie damit das, was für Ihre individuellen Vorbereitungen am besten passt!
Wenn Sie ein wenig Unterstützung für Ihren Unterricht brauchen oder Fragen haben, melden Sie
sich. Unser Theaterpädagoge Frank Fuhrmann, Carola Unser, die Leitung der Jungen Landesbühne, und natürlich ich kommen sehr gerne in Ihre Einrichtung, um zusammen mit Ihren SchülerInnen und Ihnen den Theaterbesuch vor- oder nachzubereiten.
Viele Grüße
Britta Hollmann
Dramaturgin Junge Landesbühne
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INHALTSVERZEICHNIS
Inhaltsangabe…………………………..…………………………………………………………………..………4
Bühnenbild…………………………………………………………………………………………………………….5
Kostüme…………………………………………….……………………………………………………….…………6
Spielszenen………………….………………………………………………………………………………………11
Vor- und Nachbereitung des Theaterbesuchs
Text und Spielen…………………………………………………………………………………………………… ..17
Davor und Danach ………………………………………….……………………………………………………..18
Nachbereitung………………………………………….…………………………………………………………....19
Zitate und Sätze zu Stück und Inszenierung…………………………………………………………….20
Die Darsteller……………………………………………………………………………………………………….…21
Autor, Regie, Ausstattung……………………………………………………………………………………… ..23
Unterrichtsanregungen EXTRA…………………………………………………………………………………24
Literatur- und Filmempfehlungen……………………………………………………………………………..41
Buchungsinformationen und Kontakt……………………………………………………………………….41
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INHALTSANGABE
PUNK ROCK
von Simon Stephens
für Menschen ab 15 Jahren
„Wie schön, klug und kraftvoll muss einer sein, um dazuzugehören?“
Bundespräsident Horst Köhler in seiner Rede anlässlich der
Trauerfeier für die Opfer des Amoklaufs in Winnenden, 2009
Sieben junge Menschen bereiten sich auf die Abschlussprüfungen vor. Sie kämpfen auf allen
Ebenen - nicht nur um Bestnoten, sondern auch um Anerkennung oder doch zumindest Respekt.
Die täglichen Begegnungen in der Schulbibliothek wechseln blitzschnell von freundschaftlichen
Scherzen zu ernsthaften Beleidigungen. Unter der perfekten Oberfläche von zur Schau gestellter
Coolness brodelt es gewaltig.
Als die mit Furcht und Verunsicherung erkaufte „Normalität“ eskaliert, starren alle ratlos auf die
Katastrophe.
Der derzeit in Deutschland meistgespielte fremdsprachige Dramatiker Simon Stephens hinterfragt die „Normalität“ unserer Gesellschaft. Der Alltag seiner Jugendlichen ist ein beispielhafter
Mikrokosmos einer Gesellschaft, die Leistung und Funktionalität an erste Stelle setzt.
Premiere: Sa., 24. Januar 2015 / 20.00 Uhr / Stadttheater Wilhelmshaven
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Bühnenbild (Das Bühnenbildmodell und die Zeichnungen wurden von unserer französischen Ausstatterin Juliette Collas angefertigt)
Welche Assoziationen habt Ihr zum Bühnenbild? Was fällt Euch auf?
Was für einen Ort seht Ihr?
Was hat Selbstinszenierung mit Amoklauf zu tun?
Selbstwert - Marktwert- Ego-Performance - Amoklauf - wo ist der Zusammenhang ?
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Kostüme
Welche Kostüme ordnet Ihr welchen Figuren zu?
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7
8
9
Was fällt Euch besonders auf? Kann
man von bestimmten Kleidungsstücken
auf die Persönlichkeit der Figuren, bzw.
bestimmte Charaktereigenschaften
schließen?
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Spielszenen aus PUNK ROCK
1.
LILLY
Weißt du, was mir an dir aufgefallen ist? Du bist so ruhig. Du bewegst ganz
langsam den Kopf. Ich mag das. Deine Haare mag ich auch.
WILLIAM
Danke.
LILLY
Ich mag’s, wie sie die Augen verdecken. Das sieht schüchtern aus. Du hast
schüchterne Haare.
Sie schaut ihn an. Ihr Blick macht ihn ein bisschen nervös.
WILLIAM
Wie war Französisch?
LILLY
Machst du dir manchmal Sorgen um Chadwick Meade?
WILLIAM
Wie meinst du?
LILLY
Er ist bei uns in Französisch. Er ist enorm sprachbegabt. Er sagt kein Wort. Er
hat fast die ganze Stunde gewippt. Kaum merklich. Ich saß neben ihm. Das war
mir total unheimlich.
WILLIAM
Gewippt?
LILLY
Vor und zurück.
WILLIAM
Klingt doch ganz beruhigend.
LILLY
Es war bizarr. Ich weiß nicht so ganz, ob ich ihm traue. Ich weiß nicht genau, ob
ich ihn mag.
WILLIAM
Warum denn nicht? Er ist der klügste Mann des Universums.
LILLY
Er ist nicht normal.
WILLIAM
Ich hasse normale Menschen. Normale Menschen sollte man abschlachten. Er
macht den totalen Horror durch. Er kriegt ein nicht unbeträchtliches Stipendium. Bei ihm zu Hause ist es eher grässlich, glaube ich. Hier hat er es enorm
schwer. Du solltest nett zu ihm sein.
LILLY
Ich hasse das Wort „sollte“.
WILLIAM
Der Druck, den er abkriegt. Die Gedanken, die er hat. Man sollte sich bei ihm
etwas vorsehen.
LILLY
Ungefähr das hab ich gemeint.
WILLIAM
Eines Tages rastet er aus, glaube ich.
LILLY
Wie meinst du das?
WILLIAM
Leute wie er, die so oft plattgemacht werden, und dann eines Tages. Pop.
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LILLY
Pop?
WILLIAM
Es kommt mir vor, als würde ich dich schon seit Jahren kennen.
LILLY
Tust du aber nicht.
WILLIAM
Würdest du mal mit mir ausgehen?
LILLY
Mit dir ausgehen?
WILLIAM
Ein Date. Wir könnten vielleicht ins Theater. Oder ich lade dich zum Essen ein.
LILLY
Zum Essen?
WILLIAM
Obwohl ich Restaurants hasse.
LILLY
Du hasst Restaurants?
WILLIAM
Die ganzen Leute, die einem beim Essen zusehen.
LILLY
Warum willst du dann mit mir hin?
WILLIAM
Wir könnten auch ins Kino. Oder Kegeln. Schwimmen.
LILLY
Schwimmen?
WILLIAM
Möchtest du?
Möchtest du überhaupt mit mir ausgehen?
LILLY
Ich glaube nicht.
Ein Moment.
WILLIAM
Klar.
LILLY
Es liegt absolut nicht an dir, echt nicht. Ich kann nur gerade wirklich keinen
verdammten Freund gebrauchen.
WILLIAM
Nein.
LILLY
Tut mir leid.
Pause.
WILLIAM
Ich habe das noch nie gemacht.
LILLY
Was?
WILLIAM
Jemand einladen. War nicht gerade ein voller Erfolg, oder?
LILLY
Das war völlig okay.
WILLIAM
Aber mit enttäuschendem Resultat, muss ich sagen. Die Oberpeinlichkeit,
wenn man ehrlich ist.
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LILLY
Ich finde, es war romantisch.
2.
BENNETT
Hey, hab ich dir etwa gesagt, du darfst dich bewegen? Ja?
CHADWICK
Nein.
BENNETT
Und warum bewegst du dich dann, verdammt?
CHADWICK
Ich wollte mein Zeug…
TANYA
Lass ihn in Ruhe. Das ist langweilig.
BENNETT
Langweilig? Ich langweile mich nicht. Langweilst du dich, Chadwick? Oder du, Nicky?
TANYA
Du bist ein derartiger –
BENNETT
Was? Was bin ich, Tanya? Komm, sag’s mir. Ach. Scheiße. Ist doch nur Spaß. Ein
Spiel. Ich spiel gerade den Arsch. Chadwick. Komm rein. Komm rein, mein Hübscher. ich bin gerade ein Arschloch. Wie geht es dir heute, Chadders?
CHADWICK
Gut, danke.
BENNETT
Bereit für die Prüfung in Gemeinschaftskunde?
CHADWICK
Ja.
BENNETT
Ich auch, Hübscher. Das mit Lloyd ist eine verdammt furchtbare Horrornachricht,
oder? Ich frage mich, wie er aussah. Ich frage mich, ob er aufgehört hat zu atmen.
Ich frage mich, in welcher Farbe er angelaufen ist. Hast du schon mal jemand
sterben sehen, Chadders?
CHADWICK
Nein.
BENNETT
Ich habe gehört, man kriegt eine Erektion. Meinst du, er ist zu alt für eine Erektion?
CISSY
Bennett.
BENNETT
Scheiße, der hat garantiert einen Riesenschwanz. So einen richtig scheiß-großen
Riemen, meinst du nicht, Chadders?
TANYA
Du bist krank.
BENNETT
Hattest du schon mal eine Erektion, Chadwick?
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TANYA
Nicht.
BENNETT
Was? Ich frag doch nur. Ich frage nur meinen Kumpel Chadders. Na, Chadwick?
Hattest du schon mal eine Erektion, Chadwick? Bist du schon mal gekommen?
CHADWICK
Ja.
BENNETT
Woher weißt du das?
CHADWICK
Das ist doch offensichtlich. Weißt du das nicht?
BENNETT
Ich kann mir nicht vorstellen, dass du kommst. Wichst du zu Hause die ganze Zeit,
Chadwick? Woran denkst du beim Wichsen? Denkst du an Mädchen oder an
Jungs?
CHADWICK
Ich denke an Mädchen. Du nicht?
BENNETT
Deine Mum zählt nicht, Chadwick, wenn ich das anmerken darf. Oder denkst du
meistens an die fette kleine Tanya? Da hast du übrigens Chancen, Alter. Du solltest dich unbedingt mit ihr verabreden. Ihr wärt ein hübsches Paar. Hattest du
schon mal eine Freundin, Chadwick? Chadwick, beantworte meine scheiß Frage,
du dämlicher Klemmarsch.
CHADWICK
Was?
BENNETT
Chadwick, hattest du in deinem ganzen scheiß Leben schon mal eine Freundin?
CISSY
Gott. Kannst du dir das vorstellen? Es mit Chadwick zu machen. Tut mir leid,
Chadwick. Sollte keine Beleidigung sein.
Eine Pause.
BENNETT
Tanya, hast du Lippenstift?
TANYA
Was?
BENNETT
Ja oder nein? Hast du einen Lippenstift, Tanya?
CISSY
Bennett, es klingelt gleich. Es sind gleich alle draußen.
BENNETT
Kann ich dich was fragen, Tanya, altes Mädchen? Glaubst du, ich komme mir
schlecht vor, weil du dich dauernd für ihn einsetzt? Glaubst du das etwa?
Er geht zu CHADWICK. Er packt ihn sehr fest an den Haaren.
Tanya.
Hol deinen Lippenstift raus, oder ich tue ihm richtig weh. Na also. Jetzt komm
rüber zu Tanya, Chadwick. Und sie trägt dir Lippenstift auf.
TANYA
Was?
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BENNETT
Na los, Tanya.
CISSY
Oh mein Gott.
BENNETT
Chadwick, komm zu Tanya. Spitz die Lippen. Los jetzt. Sofort. Danke.
CHADWICK
Das ist schön.
CISSY
Was?
CHADWICK
Gefällt mir. Das riecht gut.
BENNETT
Du siehst so verdammt schwul aus, Chadwick, dass ich gleich pissen muss. Küss
ihn.
CISSY
Was?
BENNETT
Küss ihn. Für mich.
Sie schaut BENNETT an. Sie geht zu CHADWICK. Sie küsst ihn auf wirklich sexuelle Weise.
BENNETT
Hey, Chadwick. Das ist meine Freundin.
CHADWICK und CISSY hören auf, sich zu küssen.
Scheiße, was machst du da, küsst hier meine scheiß Freundin.
CISSY
Er schmeckt nach Chips.
BENNETT
Vor meinen Augen.
CHADWICK
Das wolltest du doch. Bennett. Ich war nicht scharf drauf.
BENNETT
Du warst nicht scharf drauf? Was sagst du da? Was sagst du da über Cissy, Chadwick? Erst knutschst du sie vor meinen Augen ab und sagt dann, er war nicht
scharf drauf. Dafür sollte ich dir dein Gesicht abschneiden, die Ohren, Deinen
Winzpimmel. Du verdammtes perverses dämliches Schwanzgesicht.
WILLIAM
Hör auf, Bennett.
BENNETT
Was?
WILLIAM
Hör auf. Lass ihn einfach in Ruhe.
BENNETT
Redest du jetzt tatsächlich mit mir?
WILLIAM
Du bist echt ein totaler Arsch. Lass ihn in Ruhe.
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BENNETT
Hört euch das an.
WILLIAM
Im Ernst, Bennett. Lass ihn in Ruhe. Sofort.
BENNETT
Hört euch den Bruderficker da drüben an.
WILLIAM
Dafür bring ich dich um.
LILLY
William, ganz ruhig. Er zieht dich nur auf.
3.
CHADWICK
Ich mach mir wegen euch keine Gedanken mehr.
BENNETT
Hm. Echt nobel von dir.
CHADWICK
Menschen sind erbärmlich. Alles, was Menschen tun, geht am Ende schlecht aus.
Alles Gute, was Menschen machen, fußt immer auf etwas Monströsem. Nichts ist
von Dauer. Und wir schon gar nicht. Wir hätten Außergewöhnliches erreichen können, aber wir tun es nicht. Wir sind seit ungefähr hunderttausend Jahren da. Spätestens in zweihundert sind wir ausgestorben. Wisst ihr, worauf wir uns freuen
können? Wisst ihr, was die nächsten zweihundert Jahre bestimmen wird? Aus Religion wird nackte Gewalt, Kriminalitätsraten explodieren, alle werden süchtig nach
Internet-Sex, Selbstmord kommt in Mode, es gibt Hungersnöte, es gibt Überschwemmungen, es brennt in den Großstädten der westlichen Welt. Unser Bildungssystem kollabiert. Unser Gesundheitssystem wird unbezahlbar, unsere Polizei unkontrollierbar, unsere Regierung korrupt. Auf der Straße herrscht offene Brutalität, es kommt zum Atomkrieg, zum massiven Abbau aller Ressourcen, zum irrsinnigen Bevölkerungswachstum in der Dritten Welt. Es passiert schon. Es passiert in diesem Moment. Jeden Sommer sterben Tausende durch Überschwemmungen im indischen Monsun. Afrikaner werden en Masse an die Küsten des Mittelmeers gespült und von schuldbewussten liberalen Urlaubern versorgt oder vom
europäischen Sicherheitssystem Frontex abgeknallt. Hunderte sterben jedes Jahr
in Paris durch Hitze oder Feuer. Oder in Kalifornien. Oder Athen. Der Meeresspiegel steigt an. Die Städte werden versinken. Die Kraftwerke werden versinken.
Flughäfen werden versinken. Arten verschwinden für immer. Einschließlich unserer. Wenn du also glaubst, dass ich mir Gedanken mache, weil du mich beschimpfst, Bennett, du kleiner, kleiner Junge, dann machst du dir echt was vor.
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Anregungen für den Unterricht
Vorbereitung des Theaterbesuchs
Unterrichtsempfehlung
Aneignung des Textes
Deutsch
Text lesen mit verteilten Rollen
Die SchülerInnen sollen sich zusammenfinden und den Text mit verteilten Rollen lesen, zuerst
ganz neutral. Danach können sie mit Gefühlen experimentieren: Wie kann man den Text noch
lesen? Aggressiv, ängstlich, wütend, glücklich, müde, hysterisch, verliebt … Welches Gefühl
stimmt mit dem Inhalt der Szene überein, welches nicht?
Ermuntern Sie die Klasse auch körperlich in die Emotion zu gehen. Welche Gesten, welche Haltungen und welche Mimik sind den verschiedenen Emotionen zueigen?
Textvergleich
Lassen Sie Ihre SchülerInnen den Monolog von Chadwick aus dem 3. Textauszug aus dem Stück
mit dem Abschiedsbrief von Sebastian B. auf S. 24 vergleichen. Welche Gemeinsamkeiten gibt es,
welche Unterschiede? Was für ein Bild unserer Gesellschaft, bzw. des Zustandes unserer Welt
wird beschrieben? In welchen Punkten stimmen die SchülerInnen zu, in welchen nicht? An welcher Stelle des Briefes von Sebastian B. wird klar, dass er mehr ist, als eine kritische Auseinandersetzung mit der Gesellschaft?
Spielen
Figurenstandbild / Foto
Drei SchülerInnen aus der Klasse bauen ein Standbild des Verhältnisses der Figuren untereinander. Zwei Schüler sind die beiden Protagonisten, einer der Arrangeur. Der Arrangeur soll die beiden anderen so stellen, wie er sie gerne auf einem Foto haben möchte und so müssen sie stehen
bleiben.
Wie ist das Verhältnis der Figuren zueinander? Nimmt einer von ihnen einen höheren Status ein
als der andere? Gibt es eine abweichende Meinung zu dem Standbild? Eine andere Gruppe soll
ein weiteres Standbild bauen. Sprechen Sie über die unterschiedliche Wahrnehmung.
Kann man das Gefundene in eine kurze Szene verpacken? Improvisieren Sie mit Sprache und
Bewegung.
Wer bin ich?
Jeder von uns nimmt sich als Individuum war und definiert sich über verschiedene Aspekte.
Überlegt, was untrennbar zu Euch gehört, woran Euch andere erkennen können, was Ihr oder
andere als „typisch“ an Euch beschreiben würden.
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Was definiert mich? Sucht Euch etwas aus, mit dem Ihr euch wohlfühlt oder etwas, worauf Ihr
stolz seid:
-
Körperhaltung
-
Geste
-
Kleidung
-
Ein Tick (ständiges Zwinken, mit dem Stuhl kippeln, mit den Fingern trommeln…)
-
Ein bestimmter Dialekt /Akzent
-
Muttersprache
-
Religiösität
-
Frisur
-
Accessoire
-
Brille
-
Hobby
-
Etc.
Jetzt stellt Euch Eurer Klasse so vor. Wer an der Reihe ist, steht auf, stellt sich vor die Klasse,
nennt seinen Namen laut und deutlich und zeigt die Geste oder die Frisur oder ein Zeichen für
sein Hobby. Alle anderen begrüßen ihn nun mit „Hallo …“ und wiederholen die Geste oder das
Zeichen.
Einer muss raus
Alle gucken sich im Kreis an und einigen sich – nur über Blicke – wer den Kreis verlassen muss.
Die Übung kann einige Minuten dauern, danach sollte darüber gesprochen werden, aus welchen
Gründen sich die Gruppe eben für diese Person entschieden hat. Und: Wie fühlt sich die „ausgestoßene“ Person?
Davor und Danach
Schlagwörter
Diese Aktion eignet sich hervorragend, um eine Brücke zwischen der Aufführung und den Unterrichtsstunden zu schlagen.
Jeder schreibt vor und nach dem Theaterbesuch je ein Wort zum Stück auf eine Karteikarte. Wie
hat sich die Wahrnehmung der einzelnen Schüler verändert? Sprecht über erfüllte und unerfüllte
Erwartungen, veränderte Einstellung zur Thematik und den Einfluss der Spielweise auf die Wahrnehmung von Problemen.
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Nachbereitung des Theaterbesuchs
Was habe ich gesehen - Fragenkatalog zur Reflexion des Stückes
Wie sah das Bühnenbild aus?
Was konnte das Bühnenbild über die Atmosphäre der Inszenierung verraten?
Sind die Kostüme den Figuren angepasst?
Wie sieht die Ausgangssituation des Stückes aus?
Wurden die Figuren immer vom selben Schauspieler gespielt?
Sind die Schauspieler auch aus der Figur ausgebrochen?
Haben sich die Schauspieler direkt an die Zuschauer gewandt?
Hatten die Schauspieler selbst Spaß an der Geschichte?
Wie wurde Musik eingesetzt? Wurde mit ihr gespielt, wurde sie live gemacht, hat sie zum Fortgang der Handlung beigetragen oder hat sie „nur“ Atmosphäre erzeugt?
Wie wurde mit Konflikten umgegangen?
Konntet Ihr der Geschichte gut folgen?
War der Schluss offen, so dass Ihr selbst noch nachdenken musstet, oder hat er alle Fragen beantwortet?
Lieblingsmomente
Jeder findet zu seinem Lieblingsmoment im Stück eine Bewegung und ein Geräusch, ein Wort
oder einen Satz – je einfacher und klarer, desto besser. Die anderen raten, welcher Moment dargestellt wurde. Wenn jeder seinen speziellen Moment gefunden hat, kann man je 5 Spieler auf
die Bühne bitten und gemeinsam mit allen die Momente in die richtige Reihenfolge bringen. Mit
diesem Spiel wird das Theaterstück wieder lebendig und die ganze Gruppe erinnert sich.
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Die folgenden Sätze und Zitate haben uns während der Proben begleitet und wir haben sie immer wieder diskutiert und im Hinblick auf das Stück beleuchtet.
Was denken Sie und Ihre SchülerInnen dazu?
„Ich glaube nicht an Jugend, ich glaube nicht an Theater,
ich wünsche mir ein Spektakel, das den Boden aufreißt,
auf dem Kategorien gezüchtet wurden.
Es gibt einen Gedanken, der sich der Welt entgegenstellt.
Egal ob ich vier bin, vierzehn oder vierundneunzig,
es wird keinen besseren Zeitpunkt geben, den Gedanken freizulassen.
Es könnte sich was ändern. Aber die Zeit läuft ab.”
Anja Hilling, Blogbeitrag auf http://kjtz.co/2014/11/26/anja-hilling-mein-ideales-jugendtheater/
„Was an diesem Planeten an Mut und Liebe zum Mitmenschen vorhanden ist,
macht mir Hoffnung.“
Jean Ziegler, der ehemalige UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung in einem Interview auf
http://www.planet-interview.de/interviews/jean-ziegler/46415/
I don´t want Realism, I want Magic.
Tennessee Williams, Zitat aus dem Stück „Endstation Sehnsucht” („A Streetcar Named Desire“)
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DIE DARSTELLER
Tanya Gleason, Dr. Richard Harvey / Saskia Boden
Saskia Boden studierte an der Theaterakademie Hamburg Schauspiel.
Während ihrer Ausbildung spielte sie bereits am Schauspielhaus und
am Thalia Theater Hamburg und auf Kampnagel Hamburg. Ihr erstes
Engagement führte sie 2009 ans Theater Osnabrück. 2011 wechselte
sie ins Ensemble des Wolfgang Borchert Theaters Münster. Ende 2013
gründete sie zusammen mit Anna Dreher das PussyPowerGrrrls Kollektiv. Seit dieser Spielzeit ist sie als freischaffende Schauspielerin tätig.
Lilly Cahill, Dr. Richard Harvey / Mechthild Grabner
Mechthild Grabner absolvierte ihr Schauspielstudium an der Folkwang
Universität der Künste Essen/Bochum. Bevor sie diese Spielzeit ihr festes Engagement antrat, war sie bereits als Gast in NO UND ICH an der
Landesbühne sowie am Schauspielhaus Bochum und an der Studiobühne Köln zu sehen.
Chadwick Meade, Dr. Richard Harvey / Ben Knop
Ben Knop schloss sein Studium an der Stage School Hamburg 2011
ab. Nach seinem Studium war er freiberuflich tätig und stand in Musical- und Schauspielproduktionen, unter anderem am Schauspielhaus
Kiel, am Altonaer Theater und an den Hamburger Kammerspielen auf
der Bühne. Seit dieser Spielzeit ist er festes Ensemblemitglied der Landesbühne und war bereits in DER KLEINE HORRORLADEN und EMILIA
GALOTTI zu sehen.
William Carlisle / Robert Lang
Robert Lang wurde in Stuttgart geboren. Seine Schauspielausbildung
schloss er 2014 an der Hochschule für Musik, Theater und Medien in
Hannover ab. Er spielte während seiner Ausbildung bereits am Staatstheater Stuttgart und am Schauspiel Hannover. Seit dieser Spielzeit ist
er festes Ensemblemitglied an der Landesbühne und war bereits in DAS
DING und DREI SCHWESTERN zu sehen.
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Nicholas Chatman, Dr. Richard Harvey / Robert Oschmann
Robert Oschmann wurde in München geboren. Er schloss sein Schauspielstudium 2012 an der Hochschule für Musik und Darstellende
Kunst Frankfurt am Main ab. Bereits während des Studiums spielte er
am Stadttheater Heidelberg, am Staatstheater Wiesbaden und am
Schauspiel Frankfurt. Seit der Spielzeit 2012/2013 ist er festes Ensemblemitglied und war zuletzt als Faust/Mephisto in FAUST I und als
Tusenbach in DREI SCHWESTERN zu sehen.
Cissy Franks, Dr. Richard Harvey / Anna Rausch
Anna Rausch war von 2006 bis 2007 am Theater Überzwerg in Saarbrücken Schauspielelevin bevor sie von 2007 bis 2011 an der Universität für Musik und darstellende Kunst in Graz Schauspiel studierte.
Während des Studiums spielte sie am Schauspielhaus Graz und am
Theater im Palais Graz. Seit der Spielzeit 2011/2012 ist sie
Ensemblemitglied an der Landesbühne.
Bennett Francis, Dr. Richard Harvey / Vasilios Zavrakis
Vasilios Zavrakis wurde in Hamburg geboren und studierte von 2003
bis 2006 am Hamburger Schauspielstudio Frese.
Er spielte unter anderem am Theater Lübeck, Theater Bremen und am
Oldenburgischen Staatstheater. Zudem ist er seit 2010 mit seinem Soloprogramm „Ouzo for One“ unterwegs.
Seine erste Rolle an der Landesbühne Niedersachsen Nord hatte er als
„Maik“ in TSCHICK. Seit dieser Spielzeit ist er festes Ensemblemitglied.
Klavier / Katharina Hoffmann
Katharina Hoffmann studierte Schulmusik in Dresden. Seit 2010 ist sie
freischaffend tätig im Bereich Musikpädagogik, Theater- und Filmmusik
(u.a. die buehne Dresden, projekttheater Dresden). Außerdem macht
sie Live-Musik für Improvisations- und Figurentheater. Weitere Spezialitäten sind freie Improvisationen und Performances. Katharina Hoffmann ist Sängerin bei lindgruen, der „leisesten Band der Welt“.
Sie leitete bereits zwei mal den Workshop Musik während der theaterfabrik der Jungen Landesbühne. Für das letztjährige Weihnachtsmärchen DER LEBKUCHENMANN komponierte und arrangierte sie alle Lieder, studierte sie mit dem Ensemble ein und war selbst als lebendige
Spieluhr live auf der Bühne zu sehen und zu hören. Beim diesjährigen
Weihnachtsmärchen HÄNSEL UND GRETEL komponierte sie die Lieder
und übernahm die musikalischer Einstudierung.
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INFORMATIONEN ZU AUTOR, REGIE UND AUSSTATTUNG
AUTOR
Simon Stephens wurde 1971 in Stockport/South Manchester geboren, studierte Geschichte an
der York University und arbeitete u.a. als Barkeeper und DJ, bevor er Lehrer für Englisch sowie
Theater und Medien an der Eastbrook School in Dagenham wurde. 1998 feierte sein Stück
„Bluebird“ im Rahmen des „new writing”-Festivals „Choices” Uraufführung am Londoner Royal
Court Theatre (Regie: Gordon Anderson). 2000 war er am Royal Court Theatre „resident dramatist” und im selben Jahr Hausautor am Royal Exchange Theatre Manchester. Von 2001 bis 2006
arbeitete er als Tutor des „Young Writers“-Programms am Royal Court Theatre.
Ausgezeichnet wurde Simon Stephens bisher u.a. mit dem Pearson-Award für das beste neue
Stück 2001/02 (für „Port“) sowie 2006 mit dem „Laurence Olivier Award for Best New Play“ (für
„Am Strand der weiten Welt“). In den Kritikerumfragen von Theater heute wurde Simon Stephens
2006, 2007, 2008, 2011 und 2012 zum besten ausländischen Dramatiker des Jahres gewählt.
Neben Stücken hat Simon Stephens auch Hörspiele und Drehbücher geschrieben und entwickelte für Channel 4 eine TV-Serie. Von 1993 bis 2005 war er Bassist der Band „The Country
Teasers“.
PUNK ROCK wurde 2009 am Lyric Hammersmith Theatre, London uraufgeführt.
Die Deutschsprachige Erstaufführung fand 2010 am Deutschen Schauspielhaus Hamburg statt.
REGIE
Carola Unser studierte, nach einer Ausbildung zur Landwirtin, Diplom-Pädagogik und Theologie.
Neben dem Studium absolvierte sie eine Ausbildung zur Spiel- und Theaterpädagogin in Frankfurt. Sie arbeitete in verschiedenen Projekten im soziokulturellen Bereich und im Kulturmanagement, bevor sie von 2004 bis 2008 an der Theaterakademie Hamburg Regie studierte.
Im Rahmen des Studiums inszenierte Carola Unser am Thalia Theater Hamburg, im Malersaal des
Deutschen Schauspielhauses sowie auf Kampnagel und wurde mit ihren Inszenierungen zu diversen Festivals eingeladen. Bis 2011 leitete Carola Unser die bühne e.V., das Theater der TU
Dresden, wo sie mit der Inszenierung „Vision Impossible“ nach Motiven von Anton Tschechows
„Der Kirschgarten“ mit dem Neuberin-Preis 2009 ausgezeichnet wurde. Bis heute arbeitet sie als
Dozentin an der Spiel- und Theaterwerkstatt Frankfurt, an der KFH Mainz und am SchauspielStudio Freese in Hamburg, wo sie mit der Abschlussinszenierung „Ein paar Leute suchen das
Glück und lachen sich tot“ den Friedrich-Schütter-Ensemblepreis gewann.
Für die Inszenierung des „WONDERFUL Zauberer von Oz“ 2013 erhielt sie und ihre Compagnie
BOND Girrrls den Rolf-Mares-Preis der Hamburger Theater.
In der Spielzeit 2012/13 hat sie die Leitung der Jungen Landesbühne übernommen und inszenierte bereits TSCHICK, DER WUNSCHPUNSCH, COWBOYS UND PFERDE, NO UND ICH, DER LEBKUCHENMANN, BREMER STADTMUSIK – LIVE!, DAS DING und HÄNSEL UND GRETEL.
BÜHNE & KOSTÜME
Juliette Collas wurde in Frankreich geboren. Nach ihrem Master in Architekturgeschichte zog sie
von Paris nach Dresden und studierte an der dortigen Hochschule für Bildende Künste Bühnenbild. Seit 2010 arbeitet sie als freie Assistentin für die Schaubühne und Dorky Park und
seit 2012 als freie Bühnen- und Kostümbildnerin, unter anderem am Theater Meiningen und in
der freien Szene. Mit Carola Unser verbindet sie eine langjährige Zusammenarbeit. Sie stattete
bereits die Stücke TSCHICK und NO UND ICH an der Jungen Landesbühne aus.
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Unterrichtsempfehlung
Anregungen für den Unterricht EXTRA
Politik, Ethik, Religion
Im folgenden finden Sie Texte zu den Themenkomplexen Marktwert des Menschen, Normalität, Zustand unserer Gesellschaft und Texte, die sich auf stattgefundene Amokläufe
beziehen oder sich mit dem Phänomen beschäftigen. Diese Texte waren uns bei der Beschäftigung mit dem Stück und für die Inszenierung wichtig. Wir haben sie größtenteils
gemeinsam im Ensemble gelesen und diskutiert und schlagen Ihnen ebendies für die
Arbeit mit Ihren SchülerInnen vor.
Abschiedsbrief Emsdetten 2006, Sebastian B. (unredigierte Originalfassung)
Wenn man weiss, dass man in seinem Leben nicht mehr Glücklich werden kann, und sich von Tag
zu Tag die Gründe dafür häufen, dann bleibt einem nichts anderes übrig als aus diesem Leben zu
verschwinden. Und dafür habe ich mich entschieden. Es gibt vielleicht Leute die hätten weiter
gemacht, hätten sich gedacht "das wird schon", aber das wird es nicht.
Man hat mir gesagt ich muss zur Schule gehen, um für mein leben zu lernen, um später ein schönes Leben führen zu können. Aber was bringt einem das dickste Auto, das grösste Haus, die
schönste Frau, wenn es letztendlich sowieso für'n Arsch ist. Wenn deine Frau beginnt dich zu
hassen, wenn dein Auto Benzin verbraucht das du nicht zahlen kannst, und wenn du niemanden
hast der dich in deinem scheiss Haus besuchen kommt!
Das einzigste was ich intensiv in der Schule beigebracht bekommen habe war, das ich ein Verlierer bin. Für die ersten jahre an der GSS stimmt das sogar, ich war der Konsumgeilheit verfallen,
habe anach gestrebt Freunde zu bekommen, Menschen die dich nicht als Person, sondern als
Statussymbol sehen.
Aber dann bin ich aufgewacht! Ich erkannte das die Welt wie sie mir erschien nicht existiert, das
ie eine Illusion war, die hauptsächlich von den Medien erzeugt wurde. Ich merkte mehr und mehr
in was für einer Welt ich mich befand. Eine Welt in der Geld alles regiert, selbst in der Schule ging
es nur darum. Man musste das neuste Handy haben, die neusten Klamotten, und die richtigen
"Freunde". hat man eines davon nicht ist man es nicht wert beachtet zu werden. Und diese Menschen nennt man Jocks. Jocks sind alle, die meinen aufgrund von teuren Klamotten oder schönen Mädchen an der Seite über anderen zu stehen. Ich verabscheue diese Menschen, nein, ich
verabscheue Menschen.
Ich habe in den 18 Jahren meines Lebens erfahren müssen, das man nur Glücklich werden kann,
wenn man sich der Masse fügt, der Gesellschaft anpasst. Aber das konnte und wollte ich nicht.
Ich bin frei! Niemand darf in mein Leben eingreifen, und tut er es doch hat er die Konsequenzen
zu tragen! Kein Politiker hat das Recht Gesetze zu erlassen, die mir Dinge verbieten, Kein Bulle
hat das Recht mir meine Waffe wegzunehmen, schon gar nicht während er seine am Gürtel trägt.
Wozu das alles? Wozu soll ich arbeiten? Damit ich mich kaputtmaloche um mit 65 in den Ruhestand zugehen und 5 Jahre später abzukratzen? Warum soll ich mich noch anstrengen irgendetwas zu erreichen, wenn es letztendlich sowieso für'n Arsch ist weil ich früher oder später krepiere?
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Ich kann ein Haus bauen, Kinder bekommen und was weiss ich nicht alles. Aber wozu? Das Haus
wird irgendwann abgerissen, und die Kinder sterben auch mal. Was hat denn das Leben bitte für
einen Sinn? Keinen! Also muss man seinem Leben einen Sinn geben, und das mache ich nicht
indem ich einem überbezahlten Chef im Arsch rumkrieche oder mich von Faschisten verarschen
lasse die mir erzählen wollen wir leben in einer Volksherrschaft.
Nein, es gibt für mich jetzt noch eine Möglichkeit meinem Leben einen Sinn zu geben, und die
werde ich nicht wie alle anderen zuvor verschwenden! Vielleicht hätte mein Leben komplett anders verlaufen können. Aber die Gesellschaft hat nunmal keinen Platz für Individualisten. Ich
meine richtige Individualisten, Leute die selbst denken, und nicht solche "Ich trage ein Nietenarmband und bin alternativ" Idioten!
Ihr habt diese Schlacht begonnen, nicht ich. Meine Handlungen sind ein Resultat eurer Welt, eine
Welt die mich nicht sein lassen will wie ich bin. Ihr habt euch über mich lustig gemacht, dasselbe
habe ich nun mit euch getan, ich hatte nur einen ganz anderen Humor!
Von 1994 bis 2003/2004 war es auch mein Bestreben, Freunde zu haben, Spass zu haben. Als
ich dann 1998 auf die GSS kam, fing es an mit den Statussymbolen, Kleidung, Freunde, Handy
usw.. Dann bin ich wach geworden. Mir wurde bewusst das ich mein Leben lang der Dumme für
andere war, und man sich über mich lustig machte. Und ich habe mir Rache geschworen!
Diese Rache wird so brutal und rücksichtslos ausgeführt werden, dass euch das Blut in den Adern
gefriert. Bevor ich gehe, werde ich euch einen Denkzettel verpassen, damit mich nie wieder ein
Mensch vergisst!
Ich will das ihr erkennt, das niemand das Recht hat unter einem faschistischen Deckmantel aus
Gesetz und Religion in fremdes Leben einzugreifen!
Ich will das sich mein Gesicht in eure Köpfe einbrennt!
Ich will nicht länger davon laufen!
Ich will meinen Teil zur Revolution der Ausgestossenen beitragen!
Ich will R A C H E !
Ich habe darüber nachgedacht, dass die meisten der Schüler die mich gedemütigt haben schon
von der GSS abgegangen sind. Dazu habe ich zwei Dinge zu sagen:
1. Ich ging nicht nur in eine klasse, nein, ich ging auf die ganze Schule. Die Menschen die sich auf
der Schule befinden, sind in keinem Falle unschuldig! Niemand ist das! In deren Köpfen läuft das
selbe Programm welches auch bei den früheren Jahrgängen lief! Ich bin der Virus der diese Programme zerstören will, es ist völlig irrelewand wo ich da anfange.
2. Ein Grossteil meiner Rache wird sich auf das Lehrpersonal richten, denn das sind Menschen
die gegen meinen Willen in mein Leben eingegriffen haben, und geholfen haben mich dahin zu
stellen, wo ich jetzt stehe; Auf dem Schlachtfeld! Diese Lehrer befinden sich so gut wie alle noch
auf dieser verdammten schule!
Das Leben wie es heute täglich stattfindet ist wohl das armseeligste was die Welt zu bieten hat!
S.A.A.R.T. - Schule, Ausbildung, Arbeit, Rente, Tod Das ist der Lebenslauf eines "normalen" Menschen heutzutage. Aber was ist eigentlich normal?
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Als normal wird das bezeichnet, was von der Gesellschaft erwartet wird. Somit werden heutzutage
Punks, Penner, Mörder, Gothics, Schwule usw. als unnormal bezeichnet, weil sie den allgemeinen
Vorstellungen der Gesellschaft nicht gerecht werden, können oder wollen. Ich scheiss auf euch!
Jeder hat frei zu sein! Gebt jedem eine Waffe und die Probleme unter den Menschen lösen sich
ohne jedliche Einmischung Dritter. Wenn jemand stirbt, dann ist er halt tot. Und? Der Tod gehört
zum Leben! Kommen die Angehörigen mit dem Verlust nicht klar, können sie Selbstmord begehen, niemand hindert sie daran!
S.A.A.R.T. beginnt mit dem 6. Lebensjahr hier in Deutschland, mit der Einschulung. Das Kind begibt sich auf seine persönliche Sozialisationsstrecke, und wird in den darauffolgenden Jahren
gezwungen sich der Allgemeinheit, der Mehrheit anzupassen. Lehnt es dies ab, schalten sich
Lehrer, Eltern, und nicht zuletzt die Polizei ein. Schulpflicht ist die Schönrede von Schulzwang,
denn man wird ja gezwungen zur Schule zu gehen.
Wer gezwungen wird, verliert ein Stück seiner Freiheit. Man wird gezwungen Steuern zu zahlen,
man wird gezwungen Geschwindigkeitsbegrenzungen einzuhalten, man wird gezwungen dies zu
tun, man wird gewzungen das zu tun. Ergo: Keine Freiheit!
Und sowas nennt man dann Volksherrschaft. Wenn das Volk hier herrschen würde, hiesse es
Anarchie!
WERDET ENDLICH WACH - GEHT AUF DIE STRASSE - DAS HAT IN DEUTSCHLAND SCHONMAL
FUNKTIONIERT!
Nach meiner Tat werden wieder irgendwelche fetten Politiker dumme Sprüche klopfen wie "Wir
halten nun alle zusammen" oder "Wir müssen gemeinsam versuchen dies durchzustehen". Doch
das machen sie nur um Aufmerksmakeit zu bekommen, um sich selbst als die Lösung zu präsentieren. Auf der GSS war es genauso... niemals lässt sich dieses fette Stück Scheisse von Rektorin
blicken, aber wenn Theater- aufführungen sind, dann steht sie als erste mit einem breiten Grinsen auf der Bühne und präsentiert sich der Masse!
Nazis, HipHoper, Türken, Staat, Staatsdiener, Gläubige...einfach alle sind zum kotzen und müssen vernichtet werden! (Den begriff "Türken" benutze ich für alle HipHopMuchels und Kleingangster; Sie kommen nach Deutschland weil die Bedingungen bei ihnen zu hause zu schlecht sind,
weil Krieg ist... und dann kommen Sie nach Deutschland, dem Sozialamt der Welt, und lassne
hier die Sau raus. Sie sollten alle vergast werden! Keine Juden, keine Neger, keine Holländer,
aber Muchels! ICH BIN KEIN SCHEISS NAZI)
Ich hasse euch und eure Art! Ihr müsst alle sterben!
Seit meinem 6. Lebensjahr wurde ich von euch allen verarscht! Nun müsst ihr dafür bezahlen!
Weil ich weiss das die Fascholizei meine Videos, Schulhefte, Tagebücher, einfach alles, nicht veröffentlichen will, habe ich das selbst in die Hand genommen.
Als letztes möchte ich den Menschen die mir was bedeuten, oder die jemals gut zu mir waren,
danken, und mich für all dies Entschuldigen!
Ich bin weg...
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Die Band The „Boomtown Rats” waren am 29. Januar 1979 gerade bei einem Interview bei einem amerikanischen Radiosender, als die Meldung die Redaktion erreichte, dass die 16jährige
Schülerin Brenda Ann Spencer mit einem halbautomatischen Gewehr aus dem Fenster ihres
Zimmers auf den gegenüberliegenden Schulhof der Grover Cleveland Elementary School in San
Diego/Kalifornien schoss. Sie tötete den Schulleiter und den Hausmeister und verletzte neun
Schüler, als Tatmotiv gab sie an: „I don’t like Mondays.“ Bob Geldof schrieb daraufhin den berühmt gewordenen Song:
I Don't Like Mondays
Bob Geldof/Boomtown Rats
The silicon chip inside her head
Gets switched to overload.
And nobody's gonna go to school today,
She's going to make them stay at home.
And daddy doesn't understand it,
He always said she was good as gold.
And he can see no reasons
'Cause there are no reasons
What reason do you need to be shown?
Tell me why?
I don't like Mondays.
Tell me why?
I don't like Mondays.
Tell me why?
I don't like Mondays.
I want to shoot
The whole day down.
The telex machine is kept so clean
As it types to a waiting world.
And mother feels so shocked,
Father's world is rocked,
And their thoughts turn to
Their own little girl.
Sweet 16 ain't that peachy keen,
No, it ain't so neat to admit defeat.
They can see no reasons
'Cause there are no reasons
What reasons do you need. ooh
-ooh-ooh
Tell me why?
I don't like Mondays.
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Tell me why?
I don't like Mondays.
Tell me why?
I don't like Mondays.
I want to shoot
The whole day down, down, down... shoot it all down
All the playing's stopped in the playground now
She wants to play with her toys a while.
And school's out early and soon we'll be learning
And the lesson today is how to die.
And then the bullhorn crackles,
And the captain tackles,
With the problems and the hows and whys.
And he can see no reasons
'Cause there are no reasons
What reason do you need to die, die, ooh... ooh?
The silicon chip inside her head
Gets switched to overload.
And nobody's gonna go to school today,
She's going to make them stay at home.
And daddy doesn't understand it,
He always said she was good as gold.
And he can see no reasons
'Cause there are no reasons
What reason do you need to be shown?
Tell me why?
I don't like Mondays
Tell me why?
I don't like Mondays
Tell me why?
I don't like, I don't like, I don't like Mondays.
Tell me why?
I don't like, I don't like, I don't like Mondays.
Tell me why?
I don't like Mondays.
I want to shoot
The whole day down.
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Die Institutionalisierung von Amokläufen
13. März 2009 Robert Brumme, Rostock
http://www.homosociologicus.de
Um es kurz zu machen: Eine Gesellschaft legt fest, was normal ist, und die Mitglieder orientieren
sich bei ihren Handlungen und Entscheidung an dieser vorherrschenden Vorstellung von Normalität. So kaufen wir unsere Brötchen beim Bäcker und nicht beim Fleischer; bringen den kranken
Partner in die Klinik und nicht zur Bank und natürlich gehen wir in die Schule um etwas zu lernen
und nicht um Menschen zu erschießen.
Diese Normalitätsvorstellungen – also Ideen davon, was gemacht und gedacht werden darf und
was nicht – sind bereits vor unserer Zeit in Form von gesellschaftlichem Wissen vorhanden und
werden von uns angewandt, weiterverarbeitet und verändert [1]. Denn natürlich können sich diese Vorstellungen mit der Zeit auch wandeln. So kann es sein, dass wir früher mal unsere Brötchen beim Bauern nebenan gekauft haben, dass wir Kranke in Zukunft zu einem chinesischem
Heilpraktiker schicken oder dass die Schule jener Ort wird, an dem junge Männer ihre verloren
geglaubte Ehre wieder herstellen können – und zwar indem sie möglichst viele Menschen töten.
Eine unvorstellbare These – die dennoch nicht ganz unbegründet zu sein scheint. Denn es gab
mal eine Zeit, in der Amokläufe normal waren. Doch dazu später mehr.
Normalität ist ein gesellschaftliches Konstrukt. Es wird durch die Handlungen und Ansichten der
Mitglieder einer Gesellschaft erzeugt, verändert und angewandt und dient als Handlungsorientierung für alltägliche Vorgänge und Situationen. Dieser Normalitätsgedanke leitet uns bei unseren
täglichen Handlungen und liefert uns Bewertungsmaßstäbe für „richtig“ und „falsch“ oder „angemessen“ und „unangemessen“.
Wir werden als Mitglieder einer Gesellschaft mit Wissensbeständen und Rezeptwissen versorgt,
welche uns das doch sonst so anstrengende Leben ungemein erleichtern. Wir müssen nämlich
nicht jeden morgen überlegen, wo und wie wir unsere Brötchen herbekommen; wo wir unseren
erkrankten Partner hinbringen oder was wir in der Schule zu tun und zu lassen haben. Die „richtigen“ Antworten auf diese Fragen wurden uns ansozialisiert und die „angemessen“ Reaktionen
darauf werden von uns größtenteils unreflektiert ausgeführt. Dies erleichtert uns das Leben ungemein – denn es wäre ziemlich mühselig, jede Situation neu zu bewerten, auszuhandeln und
alle Handlungsalternativen gegeneinander abzuwägen.
Haben sich spezielle Handlungsoptionen für adäquater oder effizienter in bestimmten Situationen
erwiesen, so werden sie nach und nach zu gesellschaftlichem Basiswissen, welches den Mitgliedern des Kulturkreises zu Verfügung steht. Handlungen und soziale Abläufe werden institutionalisiert – was bedeutet, dass es für bestimmte Umstände und Situationen anerkannte Formen des
Handelns und Reagierens gibt, welche sich bewährt haben. Und auf diese altbewährten Arten des
Handelns greifen wir, sobald wir in jene Situationen kommen, zurück.
Das, was uns interessiert, ist, dass es zu einer Zeit in einer Region der Erde gesellschaftlich anerkannt war, in bestimmten Situationen Amok zu laufen. Wir sprechen von Malaysia im 15./16.
Jahrhundert. Für Personen, die einen Gesichtsverlust, eine Kränkung oder ein schweres Trauma
erlitten, bot die malaiische Kultur einen Ausweg aus dieser Situation an: eine Art „„Modell des
Fehlverhaltens“, das die Kultur ihren Mitgliedern in Situationen großen Stresses als Entlastungsmechanismus zur Verfügung stellt“[2]. Die gekränkte Person durchlebte eine Phase des Rückzuges und des Brütens, bis sie schließlich mit dem Ruf „Amok! Amok!“ auf die Straße stürzte und
mit einem Dolch auf alle Menschen einstach, die sich nicht rechtzeitig in Sicherheit bringen konn29
ten, so lange, bis sie selber getötet wurde. Es gab demnach eine genaue gesellschaftliche Vorstellung darüber, wann ein Amoklauf als Reaktion auf eine bestimmte Situation in Frage kam und wie
dieser abzulaufen hatte. Der Amoklauf war damit institutionalisiert [3].
Mit der Zeit verschwand diese Form des Handelns auch in der malaiischen Region und auf die
oben beschriebenen Symptome wurden andere Reaktionsformen etabliert. Dieser Prozess kann
aber auch umgekehrt ablaufen. So ist es möglich, dass ein Amoklauf als Reaktion auf bestimmte
Erlebnisse und Gegebenheiten die wahrscheinlichste von vielen Handlungsalternativen für Jugendliche wird. Würde dies tatsächlich eintreten, wäre der Amoklauf eine adäquate Lösungsstrategie für bspw. erlebte Kränkungen, sozialen Ausschlusses oder den vermeintlichen Verlust der
eigenen Ehre. Andere Formen zur Lösung der persönlichen Probleme würden in diesem Fall in
den Hintergrund treten und der Amoklauf würde als angemessene Lösung angesehen werden.
Aber gibt es tatsächlich Anzeichen dafür, dass Amokläufe, die von Jugendlichen an ihren Bildungseinrichtungen begangen werden, in den letzten Jahren institutionalisiert wurden? Kann
man wirklich davon sprechen, dass es bereits so etwas wie Rezeptwissen gibt, wie ein Amoklauf
»richtig« durchgeführt wird und in welchen Situationen er in Frage kommt? Gibt es wirklich gesellschaftliches Wissen, an dem man sich orientieren kann, so als ob man Brötchen kaufen geht?
Die Antwort scheint „ja“ zu sein. Die Handlungsalternativen, wie ein Amoklauf ablaufen muss,
scheinen sich tatsächlich auf nur eine, als »normal« anerkannte Form zu verengen.
Nehmen wir den Kleidungsstil der Amokläufer. Selbst für uns als „Außenstehende“ ist es schon
Normalität geworden, dass die Täter nicht etwa bunte Kleidung mit Schlaghosen tragen oder einen BWLer-Schal mit Hemd und Designerhose. Nein – auch wir erwarten jemand mit schwarzer
Kleidung oder einem Tarn/Kampf-Anzug, der vielleicht eine Ski-Maske oder eine Sonnenbrille
trägt und möglicherweise mit bestimmten Accessoires wie Patronengürteln oder Messern ausgestattet ist. Diese Kleidungsform symbolisiert nämlich etwas: es geht um Ehre und die Wiederherstellung dieser mit allen Mitteln [4]. Alle jugendlichen Amokläufer in jüngerer Zeit haben sich an
diesen „Kleiderkodex“ gehalten – von Amerika über Deutschland bis nach Finnland – von Cho
Seung-Hui und Robert Steinhäuser bis zu Pekka-Eric Auvinen.
Zweitens scheint es Normalität geworden zu sein, die Tat auf irgendeine Art und Weise einige
Stunden oder Tage vorher anzukündigen. Dies kann (personenabhängig) eine Art Warnung, ein
Hilfeschrei oder aber auch ein gezieltes Informieren bestimmter Konsumenten und Mitwisser
sein. Abschiedsbriefe (Sebastian Bosse), Internetblogs (Pekka-Eric Auvinen) oder ganze Videoserien (Cho Seung-Hui) sind Belege dafür, dass es scheinbar zum „guten Ton“ gehört, der Nachwelt
etwas zu hinterlassen.
Sogar Ort, Zeit und Durchführung der Tat scheinen sich zu institutionalisieren. Dass Jugendliche,
die einen Amoklauf begehen, diesen an ihrer Schule durchführen, scheint heutzutage bereits
nahezuliegen. Aber man kann fragen „warum“? Wieso nicht im eigenen Elternhaus? Warum nicht
im Schützenverein oder im Supermarkt? Und warum kehren auch jene, die bereits aus der Schule
ausgeschieden sind (bspw. Robert Steinhäuser und Tim Kretschmar), für ihre Tat an diesen Ort
zurück? Vielleicht, weil sie gelernt haben, dass „man das so macht“.
Auch der Tatzeitpunkt liegt fast immer in den frühen Morgen- und Mittagsstunden – was zunächst
wegen des Schulbetriebs sinnvoll erscheint, aber dennoch dir Frage aufwirft, warum Amokläufe
so gut wie nie am Nachmittag stattfinden [5]. Auch die Art der Durchführung gleicht sich zusehends. Kleidung anlegen – besetzte Klassen betreten – Feuer eröffnen – Selbstmord. So gut wie
kein jugendlicher Amokläufer der jüngeren Zeit wurde festgenommen oder von der Polizei getötet.
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Fast alle haben sich selbst gerichtet – vielleicht auch um am Ende noch einmal ihre Macht zu
demonstrieren.
Um es kurz zu machen: Normalität entsteht in unseren Köpfen. Und wenn wir es für normal und
„angemessen“ halten, auf Kränkung und Ausschluss, auf Demütigung oder fehlende Zuneigung
mit Gewalt zu reagieren, dann wird es ganz schwer, solche Taten zu verhindern. Das adäquate
Gegenmittel kann nur sein: Jugendliche gar nicht erst in Situationen kommen zu lassen, in denen
sie einen Amoklauf für eine „richtige“ Entscheidung halten.
Robert Brumme ist Masterkandidat an der Uni Rostock und Autor des Buchs „Amok – Amokläufe
Jugendlicher an ihren Bildungseinrichtungen – Erklärungsansätze mit Hilfe soziologischer Theorien“
[1] Zur Sedimentierung von Wissen siehe: Berger, Peter L. & Luckmann, Thomas (1969): „Die
gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“, oder: Schütz, Alfred (1932): „Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt“
[2] Eisenberg, Götz, 2002: „Gewalt, die aus der Kälte kommt – Amok – Pogrom – Populismus“, S.
17
[3] Brumme, Robert (2007): „Amok – Amoklaufe Jugendlicher an ihren Bildungseinrichtungen –
Erklärungsansätze mit Hilfe soziologischer Theorien“
[4] Lothar Adler im Spiegelinterview, einzusehen unter
http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,194799,00.html
[5] Robert Steinhäuser 10:46 Uhr, Cho Seung-Hui ca. 9:30 Uhr, Sebastian Bosse 9:20 Uhr, Tim
Kretschmar 9:33 Uhr, Eric Harris & Dylan Klebold 11:18 Uhr
31
„Früher war so etwas nicht vorstellbar”
16. März 2009 Robert Brumme
http://www.homosociologicus.de
Wenn man die letzten Jahre zurückschaut, beschleicht einen das Gefühl, dass eine merkliche
Zunahme von Amokläufen Jugendlicher zu verzeichnen ist. Ob diese Vermutung wirklich stimmt,
ist schwierig zu beantworten, da es meist an den Journalisten liegt, welche Gewalttaten als Amoklauf bezeichnet werden und welche nicht. Wenn wir uns aber dieser Annahme hingeben (die nebenbei gesagt empirisch belegt werden kann), drängt sich die Frage auf, was die Gründe für die
Häufung von Amokläufen an Bildungseinrichtungen sein könnten.
Werfen wir einen Blick in die aktuelle Presse, scheint die Antwort zwar vielseitig aber immer eindeutig zu sein. Es sind die klassischen Monster der modernen Gesellschaft. Einige der Gründe
muten bereits heute so bizarr an, dass man sich schon fast nicht mehr vorstellen kann, dass sie
wirklich mal ernsthaft formuliert wurden. Aber sammeln wir doch einfach mal die Top 10 der ausschlaggebenden Gründe dafür, dass Jugendliche Amok laufen.
1. Zu leichter Zugang zu Waffen
2. Wachsender Egoismus und Desinteresse an Mitmenschen
3. Gewalttätige Computer-/Videospiele
4. Schwindender Einfluss und Interesse der Eltern auf/an ihren Kindern
5. Gewaltdarstellung in Fernsehen/Nachrichten/Filmen
6. Fehlende Zuneigung und soziale Einbindung
7. Psychische Erkrankungen
8. Nachlassende Verbindlichkeit von Normen und Werten
9. Gewaltverherrlichende Musik
10. Internet und andere neue Medien
Was ständig wiederholt wird, ist jedoch noch lange nicht wahr. Unser Ziel muss es sein, sich
ernsthaft damit auseinander zu setzen, warum Jugendliche sich heutzutage eher dafür entscheiden (oder eher den Drang verspüren) Amok zu laufen, als einen anderen Lösungsweg für ihre
subjektiv oder objektiv erlebten Probleme zu finden. Wenn wir davon ausgehen, dass Ausgrenzung aus Peer-Groups, fehlende elterliche Zuneigung, Mobbing oder Depressionen bei jungen
Menschen keine neuartigen Phänomene sind (was natürlich zu beweisen wäre), bleibt dennoch
die Frage, warum es heutzutage eher passiert, dass ein Amoklauf die finale Lösung für persönliche Probleme zu sein scheint.
Psychologische Untersuchungen bei überlebenden Amokläufern und im Nachhinein angefertigte
Profile haben dazu beigetragen, eine Liste mit Verhaltensmerkmalen der Täter zu erstellen: narzisstisch, beziehungsgestört, leicht kränkbar, sehr bemüht um Anpassung, geringe Frustrationstoleranz, plötzliche Verhaltenssprünge, Mangel an Nähe und Vertrautheit, Schwierigkeit, Probleme
zu erkennen und zu bewältigen. Die Liste ist selbstverständlich keine Bastelanleitung und auch
nicht als Kontrollliste für Eltern zu verstehen; vielmehr handelt es sich um eine Art psychologi32
sches Abbild des „Idealamokläufers” – für Vollständigkeit kann keine Haftung übernommen werden.
Gehen wir also davon aus, dass es auch früher schon Jugendliche mit Auffälligkeiten und Profilen
dieser Art gab, dann bleibt die Frage, warum sich Amokläufe in den letzten zehn Jahren gehäuft
haben. Und jetzt müssen wir unseren ganzen Mut zusammen nehmen und uns von dem schönen
Gedanken trennen, der uns in den Medien verkauft wird, dass es eine einfache, monokausale
Antwort gibt. Nein, die Antwort ist komplex und es kommt eine Vielzahl von Faktoren zusammen,
die schließlich darin münden, dass ein Jugendlicher überhaupt den Gedanken entwickelt und die
Möglichkeit hat, einen Amoklauf durchzuführen.
Wir haben also eine Person mit einer Vielzahl der oben beschriebenen Verhaltensstörungen mit
unterschiedlich starker Ausprägung (die Gründe für die Entstehung dieser fällt dann eher in den
Bereich der (Sozial-)Psychologie). Nun betrachten wir die Amokläufer der letzten Jahre und tragen
ihre weiteren Gemeinsamkeiten zusammen.
1. Mitglied im Schützenverein (Sportschütze) / Paintball/Softair-Spieler
Durch das reale Trainieren mit Schusswaffen erhöht sich die Zielgenauigkeit und die Vertrautheit
mit Waffen allgemein. Hemmschwellen diese zu benutzen verringern sich und Abläufe werden
automatisiert.
2. Zugang zu Waffen
Jeder der Täter hat sich auf legalem oder illegalem Weg Zugang zu effizienten und relativ einfach
zu bedienenden Mordwerkzeugen verschafft. Die Ermöglichung dieses Zuganges kann durch vorherrschende gesellschaftliche Rahmenbedingungen, Unachtsamkeit Dritter oder Kreativität der
Täter erfolgen.
3. Konsum gewaltverherrlichender Filme und Spiele
Der Konsum von Medien, deren Inhalt von Gewalt und dem Ausleben oder Zufügen dieser gekennzeichnet ist, versorgt die Täter mit gewalttätigen Lösungsmöglichkeiten für ihre persönlichen
Probleme. Sie erleben in Form Dritter (durch Filme) oder direkt (durch Videospiele), wie Protagonisten oder Spielfiguren in der Lage sind, Probleme mit Gewalt zu lösen. Dieser Punkt mag der
Spielgemeinde nicht gefallen, ist aber extrem wichtig. Das Konsumieren von gewalttätigen Filmen
oder Videospielen versorgt den Jugendlichen auf der einen Seite mit neuartigen (d.h. von den
vorherrschenden abweichenden) Ansichten, wie Konflikte zu lösen sind. Es ermöglicht ihnen aber
auch, einen Identitätswechsel zu vollführen. Sie haben die Möglichkeit, die Rolle übermächtiger
Charaktere zu übernehmen, die sich von ihrer wahren Persönlichkeit in Selbstbewusstsein, Stärke und Macht unterscheiden. Das Erleben dieses Allmachtgefühls führt zu einem immer stärker
werdenden Rückzug in eine zweite Realität – in eine unreale Fantasiewelt, die nach und nach zur
realen Welt des potentiellen Amokläufers wird. Er beginnt die erlebten Lösungsstrategien für
Probleme auf die reale Welt zu übertragen und verliert mehr und mehr die Hemmung, diese auch
anzuwenden.
4. Fehlende soziale Einbindung (zu Eltern / Peer-Groups)
Durch fehlende soziale Integration, sei es in einen Freundeskreis, in Vereinen oder im Elternhaus,
hat der Täter die Möglichkeit, seine Persönlichkeitsveränderungen und die Flucht in eine Scheinwelt zu verheimlichen. Dort, wo soziale Kontakte fehlen, wird die Fähigkeit unbeachtet zu agieren,
zu grübeln, vorzubereiten und schließlich loszuschlagen, gefördert. Des Weiteren verstreicht
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durch die Ausgrenzung die Chance, den Jugendlichen auf der einen Seite bei ihrer Problembewältigung zu helfen, aber auch auf der anderen Seite, sie mit adäquaten Lösungsansätzen für ihre
Probleme zu versorgen. Es gibt für sie einfach keine Möglichkeit mehr, Probleme zu verarbeiten,
sie zu bereden und sie zu vergessen. Durch das Alleingelassen-Sein verengen sich die Gedanken
des Täters irgendwann soweit, bis es nur noch einen Ausweg gibt, die subjektiv oder objektiv vorhandenen Konflikte zu lösen: mit Gewalt.
5. Zugang zum Internet
Das Internet dient als Medium für Vielerlei: es ist (1) ein Ort, an dem die Jugendlichen ihre „wahre” Identität hinter sich lassen können. Dies kann bspw. über Chatrooms oder OnlineSpiele erfolgen. Hier können sie sich Eigenschaften zuschreiben und ausleben, die sie im wahren Leben
nicht haben. Das Internet dient (2) als Informationsquelle einerseits für zurückliegende Amokläufe und als Tor zu jenen Seiten, auf denen frühere Amokläufer auf das Level von Märtyrern gehoben werden, aber auch (3) als Quelle für Informationen über den Bau von Bomben oder die Beschaffung von Waffen und Munition. Des Weiteren ist es (4) das am leichtesten zu bedienende
Medium, um Amokläufe anzukündigen oder um der Nachwelt Abschiedsbriefe bzw. Videos zu
hinterlassen. Dies geschieht auch, um selber den erhofften Status eines Märtyrers zu erhalten.
Eines soll noch klargestellt werden. Natürlich ist bspw. der Zugang zum Internet nicht zwingend
nötig, um die Idee zu entwickeln oder sich dem Drang hinzugeben, einen Amoklauf durchzuführen. Das Internet und moderne Unterhaltungstechnologie sind vielmehr erleichternde Momente,
wenn es darum geht, die Realität hinter sich zu lassen, um sich in eine Scheinwelt zu flüchten –
sie erleichtert diesen Vorgang nicht unwesentlich. Wie gesagt, das, was hier zusammengetragen
wurde, spiegelt die Vorgehensweise und die Einflussfaktoren des idealtypischen jugendlichen
Amokläufers wieder. Das Streichen einzelner Punkte aus der obigen Liste würde vermutlich nicht
ausreichen, um Amokläufe zu verhindern.
Sämtliche jugendliche Amokläufer der jüngeren Zeit erfüllen ausnahmslos (so gut wie) alle der
oben angeführten Punkte. Zwei Fragen können wir nun versuchen zu beantworten: (1) Warum
treten Amokläufe von Jugendlichen an ihren Bildungseinrichtungen in den letzten Jahren so gehäuft auf und (2) welchen Effekt hat es, wenn den öffentlich formulierten Forderungen nachgekommen wird, die fast immer nur einen der oben genannten Punkte ansprechen.
Zu (1): Es ist für Jugendliche heutzutage viel einfacher, sich in Fantasiewelten zu flüchten oder
sich allgemein aus der Realität und aus sozialen Bindungen zurückzuziehen als früher. Dies liegt
einerseits an den Charakteristika der Moderne (Individualisierung, Enttraditionalisierung, Embedding), andererseits an der Bereitstellung moderner Medien und deren uneingeschränkte Nutzbarkeit. So ist es mit Hilfe von Filmen, Videospielen und Internet viel einfacher, sich eine zweite unreale Welt zu schaffen als es bspw. vor 50 Jahren war. Ein Knopfdruck genügt, um sich in eine
Fantasiewelt zu begeben, in der man sämtliche gewünschten Eigenschaften und Fähigkeiten erhalten kann ohne sie in der Realität wirklich zu besitzen. Sicherlich kann man behaupten, dass es
auch früher Bücher oder Theaterstücke gab, die Gewalt enthielten – dies ist unbestritten – aber
die heutige Zeit mit den modernen Medien zeichnet sich dadurch aus, dass alles permanent verfügbar ist. Man hat jederzeit die Möglichkeit, sich einer Scheinwelt hinzugeben und Fantasien zu
entwickeln und auszuleben. Dies geschieht umso einfacher, je mehr Sinne bedient werden und je
größer der Anteil der Fantasiewelt im Vergleich zur „realen” Welt wird. Real wird das, was ich
permanent erlebe. Und wenn Gewaltdarstellungen dauerhaft auf einen sozial nicht eingebundenes Individuum treffen, dem ein gefestigter Geist fehlt, dann kann das, was auf dem Bildschirm
erlebt wird, real werden. Der Bildschirm wird zu einer Art Ersatz-Sozialisierungsinstanz, welche
dem Jugendlichen mit Lösungsmöglichkeiten für seine Probleme versorgt. Wenn diese auf die
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reale Welt übertragen werden, kann ein Amoklauf die Folge sein. Darüber hinaus ist es heutzutage aufgrund der geringeren sozialen Integration einfacher, diese Flucht in eine Fantasiewelt vor
Anderen zu verstecken.
Zu (2): Ob ein monokausales Einwirken auf einen der oben genannten Punkte wirklich einen Effekt auf die Häufigkeit des Auftretens von Amokläufen haben kann, ist für mich nicht möglich zu
beantworten. Und selbst wenn ein totales Verbot von bspw. Waffen oder Videospielen die Eintrittswahrscheinlichkeit von Amokläufen verringern könnte, wäre damit nicht das Problem als
solches gelöst. Die Ursachen, die dazu führen, dass junge Menschen sich überhaupt erst zurückziehen und sich auf die Suche nach einer zweiten Realität begeben oder sich eine Fantasiewelt
erzeugen, wären damit nicht beseitigt. Jedoch wird dieses „Wurzelproblem” kaum in der Öffentlichkeit thematisiert.
Robert Brumme ist Masterkandidat an der Uni Rostock und Autor des Buchs „Amok – Amokläufe
Jugendlicher an ihren Bildungseinrichtungen – Erklärungsansätze mit Hilfe soziologischer Theorien”
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Rede von Bundespräsident Horst Köhler bei der Trauerfeier zum Gedenken an die Opfer des
Amoklaufs in Winnenden und Wendlingen
Winnenden, 21. März 2009
„Unser Land steht zusammen in der Stunde der Trauer“
Wir gedenken heute der Opfer eines furchtbaren Verbrechens. Wir trauern um
Jacqueline Hahn,
Ibrahim Halilaj,
Franz Josef Just,
Stefanie Tanja Kleisch,
Michaela Köhler,
Selina Marx,
Nina Denise Mayer,
Viktorija Minasenko,
Nicole Elisabeth Nalepa,
Denis Puljic,
Chantal Schill,
Jana Natascha Schober,
Sabrina Schüle,
Kristina Strobel,
Sigurt Peter Gustav Wilk.
Wir trauern um acht Schülerinnen, einen Schüler und drei Lehrerinnen der Albertville-Realschule
in Winnenden. Wir trauern um drei Männer, die der Täter auf seiner Flucht wahllos tötete, ehe er
sich selbst das Leben nahm.
Wir trauern mit allen Eltern, die Kinder verloren haben, mit den Freundinnen und Freunden der
Getöteten, mit den Familien der ermordeten Erwachsenen.
„Nichts ist mehr, wie es war.“ Dieser verzweifelte Satz war in den letzten Tagen oft zu hören: in
Winnenden und Wendlingen, in Weiler zum Stein und in vielen anderen Orten überall im Land und
darüber hinaus. Ein junger Mensch hat 15 Mitmenschen und dann sich selbst getötet. Er hat gemordet - und er hat viele an Leib und Seele verletzt. Er hat Familien in Trauer und Verzweiflung
gestürzt - auch seine eigene. Auch sie hat ein Kind verloren. Auch für sie ist eine Welt zusammengebrochen.
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Wir haben die schrecklichen Bilder vom vorletzten Mittwoch noch vor Augen: die Bilder von Eltern,
die voller Angst auf Nachricht von ihren Kindern warten. Die Bilder von jungen Menschen und von
Erwachsenen, die sich weinend in den Armen liegen. Das Bild eines Polizeipräsidenten, dem die
Stimme versagt. Die Bilder der Trauernden an der improvisierten Gedenkstätte mit Kerzen, Blumen und Plakaten.
Jedes Kind ist unschuldig geboren. Wenn ein Kind stirbt, dann sterben auch Hoffnung und Zukunft mit ihm. Deshalb entsetzen uns Berichte über Gewalt gegen Kinder so sehr. Was aber,
wenn Kinder selbst zu Mördern werden?
Uns quälen die immer gleichen Fragen:
Wie konnte das geschehen?
Wie kann ein Mensch so etwas tun?
Gab es keine Alarmsignale, keine Zeichen, auf die man hätte reagieren können?
Manche werden sich auch fragen, wie Gott so etwas zulassen kann.
Und viele Angehörige fragen sich: „Wie soll unser Leben nun weitergehen?"
Bundespräsident Johannes Rau hat vor sieben Jahren nach dem Mordanschlag am Erfurter Gutenberg-Gymnasium gesagt: „Wir sind ratlos und wir spüren, dass schnelle Erklärungen so wenig
helfen wie schnelle Forderungen."
Es ist wahr: Amokläufe wie der in Erfurt, in Emsdetten und jetzt hier in Winnenden und Wendlingen führen uns auf schmerzliche Weise vor Augen, wie verletzlich und zerbrechlich unser Leben
ist, wie trügerisch unser Gefühl von Normalität und Sicherheit. Wir spüren, wie uns plötzlich der
Boden unter den Füßen weggezogen wird. Wir suchen Halt: bei Freunden und Angehörigen; bei
Menschen, die das gleiche Schicksal erlitten haben; im Glauben an Gott.
Solche Taten führen uns an die Grenze des Verstehens. Und auch an die Grenze des Sagbaren,
hinter der alles Deuten, Fordern und Erklärenwollen schnell unsäglich wird.
Ja, wir haben Angst und sind ratlos. Aber solange wir einander halten und helfen können, sind wir
nicht hilflos.
Ja, viele von uns vergehen vor Schmerz. Aber solange wir einander trösten können, ist unser Leben nicht trostlos.
Ja, wir können keinen Sinn in dieser Tat erkennen. Aber solange es Menschen gibt, die uns brauchen und auf die wir achten, solange wir eine Aufgabe haben, ist unser Leben nicht sinnlos.
Wir haben in den letzten Tagen auf schmerzliche Weise gespürt, was wirklich wichtig ist im Leben.
Wirklich wichtig ist, dass wir spüren, wenn einer verletzt ist und Hilfe braucht. Dass wir uns unserer eigenen Verletzlichkeit und unserer eigenen Grenzen bewusst sind.
Wir brauchen den Trost, das Schweigen, das Zuhören und das Einfach-nur-Dasein unserer Mitmenschen.
Wirklich wichtig ist, dass wir uns umeinander kümmern, dass wir uns gegenseitig annehmen und
dass wir füreinander da sind.
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Wir haben großen Respekt vor der Tapferkeit der örtlichen Polizeibeamten, die hier in Winnenden
mit hohem persönlichem Risiko noch Schlimmeres verhindert haben. Ihr rasches Eingreifen war
auch eine Konsequenz aus früheren Amoktaten.
Doch es bleiben Fragen an uns alle: Tun wir genug, um uns und unsere Kinder zu schützen? Tun
wir genug, um gefährdete Menschen vor sich selbst zu schützen? Tun wir genug für den inneren
Frieden bei uns, den Zusammenhalt? Wir haben uns auch alle selbst zu prüfen, was wir in Zukunft besser machen, welche Lehren wir aus dieser Tat ziehen müssen.
Zum Beispiel wissen wir doch schon lange, dass in ungezählten Filmen und Computerspielen
extreme Gewalt, die Zurschaustellung zerstörter Körper und die Erniedrigung von Menschen im
Vordergrund stehen. Sagt uns nicht der gesunde Menschenverstand, dass ein Dauerkonsum solcher Produkte schadet? Ich finde jedenfalls: Dieser Art von „Marktentwicklung“ sollte Einhalt geboten werden.
Eltern und Angehörige von Opfern haben mir gesagt: „Wir wollen, dass sich etwas ändert“. Meine
Damen und Herren, das will ich auch. Das sollten wir alle wollen. Und da ist nicht nur der Staat
gefordert. Es ist auch eine Frage der Selbstachtung, welche Filme ich mir anschaue, welche Spiele ich spiele, welches Vorbild ich meinen Freunden, meinen Kindern und Mitmenschen gebe. Zur
Selbstachtung gehört es, dass man „Nein“ sagt zu Dingen, die man für schlecht hält - auch wenn
sie nicht verboten sind. Die meisten von uns haben ein Gespür für Gut und Böse. Also handeln wir
auch danach! Helfen wir denjenigen, die sich in medialen Scheinwelten verfangen haben und aus
eigener Kraft nicht mehr zurückfinden. Helfen wir auch Eltern, denen ihre Kinder zu entgleiten
drohen.
Und schauen wir auch genau hin, welche Bilder wir uns von unseren Mitmenschen machen, welche Menschenbilder wir in unserer Umgebung akzeptieren und von welchen wir uns selbst beeinflussen lassen: Welche Erwartungen haben wir an andere? Wie schön, klug und kraftvoll muss
einer sein, um dazuzugehören? Und wie verloren muss sich einer fühlen in einer Gesellschaft, die
täglich scheinbare „Stars“ produziert und sie morgen schon wieder vergessen hat? Was wird aus
denen, die solchen Bildern nicht entsprechen? Wie schnell fällt einer aus dem Rahmen - nur weil
er anders ist, als wir es von ihm erwarten; nur weil wir zu bequem sind, um nachzudenken und
unsere Schablonen zu korrigieren? Einen Menschen so wahrzunehmen, wie er ist - das ist die
wichtigste Voraussetzung, um einander verstehen und annehmen zu können, um einander zu
helfen.
Da haben auch die Schulgemeinschaften eine wichtige Aufgabe. Wenn Ihnen viel gutes Miteinander gelingt und wenn sie dabei unterstützt werden, wenn sie geprägt sind von Aufmerksamkeit,
von gegenseitiger Wertschätzung und Sorge füreinander, dann macht das junge Menschen stark
und hilft, dass niemand zurückbleibt.
Wir wurden in den letzten Tagen Zeugen von sinnloser Gewalt und unermesslichem Leid. Wir haben aber auch erlebt, wie Menschen füreinander da waren, wie sie sich gegenseitig stützten und
beistanden, wie sie Zeit und Trost füreinander hatten. Ich danke allen, die geholfen haben und
dabei oft bis an ihre eigenen Grenzen gegangen sind: der Schulleiterin Frau Hahn und ihrem
Stellvertreter Herrn Stetter, den Lehrerinnen und Lehrern, den Schülerinnen und Schülern, die
während des Attentats geistesgegenwärtig reagierten und ihre Schüler und Mitschüler schützten,
den freiwilligen Helfern, den Polizisten, Rettungskräften, Ärzten, Psychologen und Seelsorgern.
Und ich danke allen, die in den vergangenen Tagen füreinander da gewesen sind.
Ich danke den Menschen aus Erfurt, bei denen der Amoklauf am 11. März schreckliche Erinnerungen geweckt hat und die nun ihre Hilfe bei der Bewältigung des Unglücks angeboten haben.
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Ich danke den vielen Menschen aus dem In- und Ausland, die in Briefen, E-Mails und im Internet
ihr Mitgefühl und ihre Solidarität ausgedrückt haben. Viele Beileidsbriefe kamen aus den östlichen Bundesländern. Es ist gut zu wissen, dass unser Land in dieser Stunde der Trauer zusammensteht und dass Menschen überall auf der Welt Teil dieser Trauergemeinde sind.
Unsere Gedanken sind bei den Verletzten und bei denjenigen, die nicht die Kraft gefunden haben,
heute bei uns zu sein.
Liebe Angehörige, meine Frau und ich, wir wünschen Ihnen Kraft und Zuversicht. Wir wünschen
Ihnen, dass Ihr Leben wieder einen Rahmen findet - einen Rahmen, der ihnen hilft, weiterzuleben,
und in dem auch die Toten und Verlorenen, der Schmerz und die Trauer ihren Platz finden. Wir
wünschen Ihnen die Zeit, die Sie brauchen, und Menschen, die in echter Anteilnahme bei Ihnen
sind.
Ganz Deutschland trauert mit Ihnen.
Sie sind nicht allein.
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Anmerkung: Der folgende Text ist zwar von 1977, aber inhaltlich geradezu erschreckend aktuell.
Was allein daraus folgt, ist eine hervorragende Diskussionsgrundlage …
Der Mensch als Ware
Die Zeit, 16. Dezember 1977 von Claus Voland
Sprache ist verräterisch: Vom „Schülerberg“ zur „Akademikerschwemme“
Es türmen sich Berge auf von Schülern, Lehrlingen und Studenten. Es droht eine Schwemme von
Akademikern. Der Überfluss ist ausgebrochen. Was tun wir mit überflüssigen Produkten? Wir
konservieren oder vernichten sie. Der Milchschwemme versucht die Europäische Gemeinschaft
Herr zu werden, indem sie den Bauern Prämien für das Schlachten ihrer Kühe zahlt und die Milch
als Trockenpulver einlagert. Der Butterberg wird abgetragen, indem der Bestand an Rindviechern
dezimiert und die Butter in Kühlhäusern gestapelt wird – zum Feste dann billig auf den Markt
geworfen.
Wie muss wohl Jugendlichen zumute sein, wenn sie lesen und hören, sie bilden einen „Schüler-,
Lehrlings- und Studentenberg“, eine „Akademikerschwemme“ schwappe über das Land? Ist nur
die Sprache verludert, oder werden die jungen Menschen als Ware be- und gehandelt? Sprache
ist verräterisch, Sprache ist Denken. Kategorien der Marktwirtschaft werden auf Menschen übertragen: das Gesetz von Angebot und Nachfrage. Das „Angebot“ von jungen Menschen – Schülern,
Lehrlingen, Studenten – wächst Jahr für Jahr, weil die Kinder der geburtenstarken Jahrgänge jetzt
aus den Schulen kommen. Sie suchen einen Ausbildungs- und Arbeitsplatz. Aber die „Nachfrage“
der Wirtschaft und des öffentlichen Dienstes nach Lehrlingen und ausgebildeten Akademikern ist
geringer als Jugendliche auf „den Markt“ kommen.
Wohin also mit dem „Überfluss“ an Jugendlichen? Nach den Gesetzen des Marktes kann sie die
Wirtschaft nicht alle aufnehmen, zumal viele von ihnen, so kritisieren Wirtschaftsbosse, „am Bedarf vorbei,“ nämlich dem des Marktes ausgebildet werden. Was wirklich der Bedarf ist, kann
freilich niemand genau sagen, denn das ändert sich immer wieder je nach der Marktlage. Der
Staat, sprich Bund, Länder und Gemeinden muss sparen und hat daher seine Arbeitsplätze verringert.
Was also tun? Trotz der Waren-Sprache sind Jugendliche keine Produkte, die man beliebig verwenden kann. Die Jugendlichen sind da, sie fordern Ausbildung und Arbeit. In den nächsten zehn
Jahren brauchen wir zusätzlich über eine Million Arbeitsplätze. Wir haben aber schon heute eine
Million Arbeitslose. Werden wir schon in einigen Jahren zwei Millionen Arbeitslose haben, darunter viele Jugendliche, weil wir unbeirrt an die „Selbstheilungskräfte“ der freien Marktwirtschaft
glauben? Die jungen Menschen werden den Glauben daran, sollten sie ihn überhaupt haben,
schnell verlieren, wenn sie als Überangebot behandelt werden. Wer nicht gebraucht wird, fühlt
sich auch keiner Gesellschaftsordnung verpflichtet. Wer nicht gebraucht wird, folgt schließlich
politischen Rattenfängern, die ihn brauchen, um ihn zu missbrauchen.
Wenn das System der freien Marktwirtschaft Tausenden von Jugendlichen weder Ausbildung
noch Arbeit bieten kann, weil die Nachfrage geringer ist als das Angebot, ist etwas faul am System. Die Wirtschaft sollte das nicht ignorieren und nur auf die Gesetze des Marktes pochen. Sie
muss nach Wegen suchen, wie sie vor allem für die jungen Menschen Ausbildungs- und Arbeitsplätze schafft – selbst wenn das die Gewinne schmälert.
Solange aber im Vordergrund steht: der Mensch habe sich dem Bedarf des Marktes unterzuordnen, scheint es kein Zufall, dass der „Überfluss“ an Jugendlichen wie bei landwirtschaftlichen
Produkten einprägsam als „Schülerberg“, „Studentenberg“, „Lehrlingsberg“ und „Akademikerschwemme“ gekennzeichnet wird.
Hat die Überflussgesellschaft eine überflüssige Generation produziert?
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Literaturempfehlungen
Simon Stephens: Plays: 3. Bloomsbury Methuen Drama London, 2014. (PUNK ROCK und drei
weitere Stücke, sowie ein ausführliches Vorwort des Autors auf Englisch)
Herbert Scheithauer und Rebecca Bondü: Amoklauf und School Shooting – Bedeutung,
Hintergründe und Prävention. Vandenhoek & Ruprecht Verlag Göttingen, 2011.
Daniel Oliver Bachmann: Die Schüler von Winnenden - Unser Leben nach dem Amoklauf.
Arena Verlag Würzburg, 2013.
Filmempfehlung
Elephant
Regie: Gus Van Sant, USA 2003 (FSK 12)
Gus Van Sants Film, frei nach den Ereignissen des Amoklaufs an der Columbine Highschool
in Colorado/USA 1999, polarisierte stark, da er kühl-distanziert auf die Handlung blickt und
keine Einsichten oder Erklärungen liefert.
Buchungsinformationen und Kontakte
PUNK ROCK
Premiere: Samstag, 24. Januar 2015 / 20.00 Uhr / Stadttheater Wilhelmshaven
(Um 19.30 Uhr findet im Oberen Foyer ein Einführungsgespräch mit der Regisseurin und der
Dramaturgin des Stückes statt.)
Wenden Sie sich für Gruppenbuchungen für die Vorstellungen in Wilhelmshaven unter
Tel. 04421.9401-15 an unsere Theaterkasse. Für die Vorstellungen im Spielgebiet wenden Sie sich bitte an Ihre örtlichen Veranstalter.
Der Gruppenpreis für Schulklassen liegt in Wilhelmshaven je nach Platzkategorie zwischen 6,40 € und 7,50 € pro Karte.
Termine in Wilhelmshaven, Stadttheater
Sa, 24/01/2015 / 20.00 Uhr
Sa, 07/02/2015 / 20.00 Uhr
Mi, 11/02/2015 / 20.00 Uhr (Im Anschluss findet ein Publikumsgespräch statt!)
Mi, 25/02/2015 / 20.00 Uhr
Di, 10/03/2015 / 20.00 Uhr
Termine im Spielgebiet
Di, 27/01/2015 / 19.30 Uhr / Esens, Theodor-Thomas-Halle
Fr, 06/02/2015 / 19.30 Uhr / Weener, Oberschule Weener
Do, 12/02/2015 / 20.00 Uhr / Norden, Theatersaal der Oberschule
Fr, 13/02/2015 / 20.00 Uhr / Jever, Theater am Dannhalm (Im Anschluss findet ein Publikumsgespräch statt!)
Di, 17/02/2015 / 19.30 Uhr / Leer, Theater an der Blinke
Mi, 18/02/2015 / 19.30 Uhr / Aurich, Stadthalle Aurich
Fr, 8/05/2015 / 20.00 Uhr / Neumünster, Theater in der Stadthalle
Wir empfehlen das Stück für Jugendliche ab Jahrgangsstufe 9.
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