Das Hutewaldprojekt im Naturpark Solling-Vogler - WWW
Transcrição
Das Hutewaldprojekt im Naturpark Solling-Vogler - WWW
Hutewaldprojekt Solling Holger Sonnenburg, Bernd Gerken, Hans-Georg Wagner und Holger Ebersbach Das Hutewaldprojekt im Naturpark Solling-Vogler Ein Baustein für eine neue Ära in Naturschutz und Landschaftsentwicklung Das im Länderdreieck Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Hessen gelegene Weser-Leine-Bergland gehört zu den waldreichsten Gebieten Deutschlands. Von besonderer Bedeutung sind die hier noch recht zahlreich vorhandenen Eichenwälder, von denen einige bis heute unschwer als ehemalige Hutewälder (= Hudewälder) erkennbar sind. Von dieser ehemals weit verbreiteten Waldnutzungsform sind heute allenfalls Relikte vorhanden. Ein neues Pflegemodell mittels großer Pflanzenfresser soll jetzt in einem Pilotprojekt den lichten Waldcharakter erhalten und natürliche dynamische Prozesse reaktivieren. Dadurch soll die herausragende Artenvielfalt dieser Landschaften erhalten und gefördert werden. G roße Pflanzenfresser zählen von Natur aus zum festen Bestandteil mitteleuropäischer terrestrischer Ökosysteme und nehmen beziehungsweise nahmen darin wichtige Schlüsselpositionen ein (z. B. BEUTLER 1996, GERKEN 2002, Beitrag HOFMANN i. d. Heft). Gebiete mit langer, extensiver Weidetradition zeichnen sich durch eine strukturreiche Landschaft und durch hohen Artenreichtum aus. Ein berühmtes Beispiel ist der südenglische New Forest (TUBBS 1986, Beitrag MICHELS & SPENCER i. d. Heft ). Die historische Waldweidewirtschaft ist kulturgeschichtlich gesehen aus der natürlichen Waldweide hervorgegangen. Diese naturgemäße Nutzungsform kehrte sich jedoch in ihr Gegenteil um, als mit wachsender Bevölkerungs- und Weidetierzahl der Wald aufs Intensivste genutzt wurde. Um 1736 weideten im Solling allein in den Ämtern Nienover (heutiges Projektgebiet) und Lauenförde 123 Rinder, Pferde, Schafe und Schweine auf 100 Hektar Waldfläche (MELF 1996). Parallel dazu wurde der Wald immer mehr durch Holzeinschlag, Köhlerei und Streugewinnung beansprucht. Unter solchen Bedingungen war eine Regeneration des Waldes nicht mehr möglich, und wie viele andere Mittelgebirge war der Solling bald auf großen Flächen entwaldet. Die Ablösung der Mast- und Weiderechte erfolgte hier vor allem im Zeitraum zwischen 1850 und 1885. Seither wurden die Grenzen zwischen den großflächig neu angelegten Fors-ten und der Feldflur in möglichst geraden Linien gezogen und damit eine bis heute weitgehend erhaltene Abgrenzung geschaffen, die zu einer enormen Veränderung des Landschaftsbildes führte. Heute sind alte Hutewälder nur noch kleinflächig als Relikte erhalten und zumeist stark ausgedunkelt. Etwas großflächiger vorhanden sind etwa 200-jährige, oftmals als Reihenpflanzungen angelegte Eichen36 Heckrinder auf Waldlichtung. bestände, die jedoch überwiegend nicht mehr beweidet wurden. Die naturschutzfachliche und kulturhistorische Bedeutung dieser Eichenwälder, insbesondere der Hutewaldrelikte, steht heutzutage außer Frage. Die niedersächsische Landesregierung sieht deshalb in ihrem Programm zur „Langfristigen Ökologischen Wald-Entwicklung“ (LÖWE) eigens die Schutzkategorien „lichter Wirtschaftswald mit Habitatkontinuität“ und „kulturhistorischer Wirtschaftswald“ vor. Trotz dieser Erkenntnis und der Unterschutzstellung einiger verbliebener Restflächen gab es bisher jedoch kein überzeugendes Konzept für die nachhaltige Pflege von Hutewäldern. Da unter dem massiv aufkommenden Rotbuchenjungwuchs diese Eichenbestände ihren Lichtwaldcharakter und damit ihr Foto: J. Borris biologisches Potenzial zusehends verlieren, sind dringend Maßnahmen zur Eindämmung des Buchenaufwuchses notwendig. Mechanische Pflegeeinsätze mit Motorsägen und -sensen, wie sie an wenigen Stellen mitunter durchgeführt wurden, führen zwar zu einer vorübergehenden Auflichtung, sind aber mit einem hohen Zeit- und Personalaufwand verbunden und erreichen die naturschutzfachlichen Zielsetzungen höchstens bedingt und vorübergehend. Hingegen weisen neuere Konzepte der Naturschutzpraxis darauf hin, dass man zum Schutz beziehungsweise zur Pflege tiergeprägter Landschaften am erfolgreichsten eben solche Tiere einsetzt, die Schlüsselpositionen darin einnahmen (z.B. POTT & HÜPPE 1991, RIECKEN et al. 1998, GERKEN & GÖRNER 1999). LÖBF-Mitteilungen 4/03 Hutewaldprojekt Solling Ein neues Modell wird erprobt Große Pflanzenfresser nehmen in terrestrischen und aquatischen Ökosystemen in Mitteleuropa eine zentrale Stellung ein (GEISER 1992, HOFMANN & SCHEIBE 1996, GERKEN 2002, REDECKER et al. 2002). Diese Erkenntnis setzt sich nach einer lebhaften Diskussion nun nach und nach auch in Deutschland durch. Als ein Resultat der zahlreichen Fachtagungen, die in den neunziger Jahren zum Thema der Bedeutung der Megaherbivoren in heimischen Ökosystemen durchgeführt wurden (z. B. GERKEN & MEYER 1996, 1997, GERKEN & GÖRNER 1999, KLEIN et al. 1997), ist das hier beschriebene Projekt entstanden. Das im Jahre 2000 gestartete E+E-Vorhaben „Hutelandschaftspflege und Artenschutz mit großen Weidetieren im Naturpark Solling-Vogler“ erprobt und entwickelt zum ersten Mal in Deutschland im Wald auf relativ großer Fläche ein neues Landschaftspflege-Verfahren, bei dem Heckrinder und Exmoorponies eingesetzt werden. Das Projekt wird vom Bundesamt für Naturschutz aus Mitteln des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit für zunächst vier Jahre gefördert. Weitere Förderer sind das niedersächsische Umwelt- und das Landwirtschaftsministerium. Die Bereitstellung einer Staatsforstfläche für ein solches Projekt verdient eine besondere Würdigung. Die Fachhochschule Lippe und Höxter führt das Vorhaben gemeinsam mit dem Naturpark Solling-Vogler durch. Flechten, Insekten), Beweidungsfolgern (z. B. Neuntöter, Wildapfel) und Rohbodenbesiedlern. Als Erprobungs- und Entwicklungsvorhaben soll das Projekt abschließend ein auf andere Mittelgebirgsregionen übertragbares Modell zur Hutelandschaftspflege unter Einbeziehung von Mittelgebirgstälern entwickeln. Im Laufe der Projektlaufzeit haben schließlich die Umweltbildung beziehungsweise die Förderung des öffentlichen Naturbewusstseins sowie regionalökonomische Aspekte zunehmend an Bedeutung gewonnen und sind heute wichtige Bestandteile des Vorhabens. LÖBF-Mitteilungen 4/03 Von grundlegender Bedeutung ist der Befund, dass dem Projektgebiet bereits vor Beweidungsbeginn aus Sicht des Artenschutzes eine außerordentlich hohe Bedeutung zukam, die ursprüngliche Annahmen deutlich übersteigt (Tab. 1). Davon zeugen zum einen die festgestellten überdurchschnittlichen Artenzahlen der meisten untersuchten Artengruppen. Zum anderen stechen über 450 Arten der Roten Liste (Status 0 bis 3), mehrere Arten der FFHAnhangsliste II sowie mehrere Wiederfun- Das Projektgebiet Das 170 Hektar große Projektgebiet liegt im südniedersächsischen Landkreis Northeim unweit der Gemeinde Amelith. Naturräumlich zählt es zum Weser- und Leinebergland. Es liegt zwischen 190 und 290 m über dem Meeresspiegel. Vorherrschend sind löss-beeinflusste, schluffig-lehmige Braunerdeböden aus verwittertem Buntsandstein. Einbezogen sind historische Hutewaldrelikte, vielfältig strukturierter, zumeist älterer Eichenwirtschaftswald (zusammen 106 Hektar), Fichten- und Lärchenbestände (33 Hektar), ehemalige Acker- und Weideflächen (rd. 6 Hektar) sowie Bachläufe, in geringen Flächenanteilen Auenwald, Hochstaudenfluren und Bachwiesen. Im Solling leben die Exmoorponies in einem natürlichen Sozialgefüge; hier eine Begegnung von Junghengsten an einer Staubbadstelle. Foto: „perentie-productions“/ K. Sparwasser Rote-Liste-Status Projektziele Hauptziele sind die effektive, dauerhafte Pflege beziehungsweise der Erhalt von lichten Eichenbeständen und die Reaktivierung von Hutelandschaften unter Einsatz großer Pflanzenfresser. Der Begriff „Hutelandschaft“ im Projekttitel ist als Leitbild zu verstehen und meidet gewollt den Begriff „Wald“. Die eingesetzten Tiere sollen dem von der massiv aufkommenden Rotbuche ausgehenden Ausdunkelungsprozess entgegenwirken, der zugleich zu einer Verarmung und Umstrukturierung der Lebensgemeinschaften führen würde. Langfristig soll die Beweidung zu einer natürlichen Verzahnung unterschiedlicher Biotope, insbesondere aber von „Wald“ und Offenland führen. Durch Förderung der Mosaikhaftigkeit und der Strukturvielfalt sowie durch beweidungsbedingte dynamische Prozesse soll an die Bedingungen einer artenreichen extensiven Wald-Weidelandschaft angeknüpft werden. Insbesondere sollen licht- und wärmebedürftige Arten und solche Organismen, die direkt oder indirekt von Weidetiereinflüssen profitieren, gefördert werden. Dabei geht es beispielsweise um den Schutz von Eichenwaldbewohnern (z. B. Mittelspecht, spezialisierte Moose und Bemerkenswerter Artenreichtum Niedersachsen festgestellte Artenzahl Pilze 342 Flechten 125 Moose 134 Pflanzen 376 Weichtiere 56 Libellen 21 Laufkäfer 106 sonst. Käfer 453 Tagfalter 26 Nachtfalter 360 Schwebfliegen 98 Pflanzenwespen 73 Stechimmen 191 Amphibien 8 Brutvögel 64 Säugetiere 40 sonstige 297 Artengruppe 0 1 2 1 16 2 Deutschland 2 3 gesamt 3 16 9 2 1 4 2 16 19 12 21 5 3 3 20 53 23 23 6 7 5 2 16 4 48 1 6 71 2 11 4 4 3 10 17 5 4 13 17 1 2 3 gesamt 3 1 21 1 8 20 13 5 2 3 3 42 9 43 14 5 2 5 3 60 6 4 3 14 2 6 5 5 14 2 5 6 6 14 2 1 7 1 1 1 5 1 1 1 9 5 12 1 2 1 1 7 Tab: 1: Im Projektgebiet seit 1999 festgestellte Artenzahlen und Rote-Liste-Arten ausgewählter Gruppen (Stand Aug. 2003). Für „sonstige Käfer“ und „Pflanzenwespen“ liegt keine niedersächsische Rote Liste vor (graue Hinterlegung). Erklärung der Gefährdungskategorien: siehe Tab. 2. 37 Hutewaldprojekt Solling wissenschaftl. Artname dt. Artname Fungi Dendrothele alliacea Xylobolus frustulatus Fistulina hepatica Lichenes Arthonia vinosa Bryoria fuscescens Calicium adspersum Chaenotheca brunneola Chrysothrix candelaris Lecanactis abietina Opegrapha vermicellifera Pertusaria flavida Usnea filipendula Usnea subfloridana Bryophyta Frullania dilatata Frullania fragilifolia Frullania tamarisci Orthotrichum lyellii Radula complanata Zygodon viridissimus var. vulgaris Coleoptera Calosoma inquisitor Lymexylon navale Ischnomera caerulea Melandrya caraboides Corticeus fasciatus Gnorimus nobilis Lucanus cervus Lepidoptera Roeselia strigula Polyploca ridens Amphipyra berbera Lithophane ornitopus Lithophane socia Dichonia aprilina Moma alpium Nycteola revajana Bena bicolorana Catocala sponsa Catocala promissa Pechipogo strigilata Dystroma siterata Aves Dendrocopos medius Pilze Eichen-Baumwarzenpilz Mosaik-Schichtpilz Leberzunge Flechten Moose Breites Sackmoos Bruchblättriges Sackmoos Tamariskenblättriges Sackmoos Lyells Goldhaarmoos Flachblättriges Kratzmoos Gewöhnliches Grünes Jochzahnmoos Käfer Kleiner Puppenräuber Schiffs-Werftkäfer Blauhalsiger Schmal-Weichflügler Schwarzblauer Düsterkäfer Rotbindiger Linien-Schwarzkäfer Grüner Edelscharrkäfer Hirschkäfer Schmetterlinge Kleines Eichenbärchen Moosgrüner Wollbeinspinner Svenssons Pyramideneule Hellgraue Holzeule Gelbbraune Holzeule April-Eule Seladoneule, Orion Eichen-Wicklereulchen Großer Kahnspinner Eichenkarmin Kleiner Eichenkarmin Bartzünslereule Olivgrüner Blattspanner Vögel Mittelspecht RL RL Nds D Zeiger Bindung hist. an Eiche Wälder 2 2 3 2 2 1 1 1 1 2 1 1 1 1 2 2 2 2 2 2 3 2 2 2 x x x x x x x x x x xxx xxx xxx xx xxx xxx x xx xxx xxx 3 1 2 3 3 3 3 3 3 3 x x x xx xxx xxx xx x 2 3 x xxx 2 3 2 3 1 2 2 3 3 2 1 2 1 V x xxx xx 3 3 3 3 2 3 2 xx xx xx (x) xx (x) xx V xxx xxx x x (x) xxx xxx xxx xxx xxx xxx xxx x V V 3 V xx Tab: 2: Beispiele für im Projektgebiet nachgewiesene Arten mit einer Affi-nität zu Eichen bzw. einer Bindung an Eichen- oder historisch alte Laubwälder, mit Angaben zur Gefährdung. RL = Rote Liste, Nds = Niedersachsen, D = Deutschland, 0 = ausgestorben, 1 = vom Aussterben bedroht, 2 = stark gefährdet, 3 = gefährdet, V = Art der Vorwarnliste Zeiger für historisch alte Wälder nach WULF (1997) und HOMM (1999). Für Spalte „Bindung an Eiche“: (x) Bindung indirekt über Lichtwaldstrukturen/-faktoren, die jedoch auch in anderen Lichtwäldern gegeben sein können x Eichen-Bindung oder Affinität vorhanden, Ausmaß unbekannt oder Bindung weniger streng xx ausgeprägte Bindung an Eiche (zumindest im Projektgebiet oder regional) xxx obligatorisch an Eiche (zumindest im Projektgebiet oder regional) 38 de landesweit verschollen geglaubter Arten hervor. Diese Artenfülle erlaubt eine recht sichere bioindikatorische Interpretation der Beweidungsfolgen. Eine Vielzahl dieser Organismen ist unmittelbar vom Vorhandensein alter Eichen und von Lichtwaldbedingungen abhängig. In diesem Zusammenhang ist auch die Tatsache hervorzuheben, dass die Mehrzahl so genannter Indikatorarten für historisch alte Waldstandorte Lichtwaldbesiedler sind (Tab. 2). Daraus leitet sich unweigerlich die Notwendigkeit ab, der Ausdunkelung durch die Rotbuche entgegenzuwirken. Exmoor-Ponies und Heckrinder Sowohl Heckrinder als auch Exmoorponies zeichnen sich durch verschiedene wildtierhafte Eigenschaften und Verhaltensweisen aus, eine unverzichtbare Voraussetzung für ein Beweidungsprojekt in einer regen- und schneereichen Mittelgebirgslandschaft. Zur Eignung des Heckrindes im Rahmen extensiver Beweidungs- Heckrindkühe legen ihre gesättigten Kälber mitunter stundenlang in der Deckung ab. Foto: „perentie-productions“/ K. Sparwasser projekte liegen bereits umfangreiche Erfahrungen und entsprechend zahlreiche Publikationen vor (vgl. BUNZELDRÜKE 1996, VULINK 2001). Das Exmoorpony gilt als eine der ursprünglichsten Pferderassen Europas (BAKER 1993, WILLMANN 1999). Es ist angepasst an atlantische Klimaverhältnisse, saure Böden und an eine karge, oftmals adlerfarndominierte Vegetation; an Bedingungen also, wie sie ähnlich auch im Projektgebiet zu finden sind. Die ersten Weidetiere wurden im Spätsommer 2000 in einen Teilbereich des Projektgebietes entlassen. Eine flächendeckende Beweidung mit zunächst sieben Ponies und neun Rindern fand ab November 2000 statt. Im Projektgebiet leben derzeit 14 Exmoorponies und 18 Heckrinder. Ursprünglich war eine Projektdurchführung auf wesentlich größerer Fläche unter Einsatz von Wisenten geplant, was jedoch nicht umzusetzen war. LÖBF-Mitteilungen 4/03 Hutewaldprojekt Solling Neben den eingesetzten Weidetieren leben natürlicherweise zahlreiche Rehe und Wildschweine und zeitweilig drei bis fünf Rothirsche im Projektgebiet. Die Letztgenannten können über Einsprünge beziehungsweise Sauklappen jederzeit zwischen Projektgebiet und Umland wechseln. Wissenschaftliche Begleitung Das Projekt, dem eine einjährige Vorstudie vorausging, wird umfassend wissenschaftlich begleitet. Neben standortkundlichen Aufnahmen (z. B. Bodenparameter, Gehölzverjüngung) werden regelmäßige floristisch-vegetationskundliche Untersuchungen durchgeführt. Der faunistischtierökologische Bereich beinhaltet regelmäßige Erfassungen von Brutvögeln, Säugetieren (inklusive Fledermäusen), Mollusken, Nachtfaltern, Stechimmen, Laufkäfern, dung- und totholzbesiedelnden Käfern. Die Ergebnisse werden in Beziehung gesetzt zu den Daten aus der Studie zur Raumnutzung der Weidetiere. Eine Studie zur Sozioökonomie beschäftigt sich mit Fragen des Tourismus, der Land- und Forstwirtschaft, des Naturschutzes und der Landschaftspflege. Raumnutzung und Nahrung der Weidetiere Entsprechend dem Nahrungsangebot halten sich sowohl die Rinder als auch die Pferde überwiegend auf den Freiflächen auf. Um den Weidedruck auf die bewaldeten Flächen zu erhöhen, wird die Beweidung der Offenbereiche während der Vegetationsperiode nur zeitweise ermöglicht. Die ehemaligen Ackerflächen bieten ein reiches, leicht verfügbares Angebot an Gräsern und Kräutern, obwohl sie nach der letzten Ernte (September 2000) nicht eingesät wurden. Gleichwohl wird auch der bewaldete Teil mindestens einmal täglich aufgesucht und auf vielfältige Weise genutzt: ◆ Die Weidetiere fressen Waldgräser und -kräuter, Gehölze (Blätter, Knospen, Zweige, Rinde) und deren Früchte (Eicheln, Bucheckern, Wildobst) und erschließen sich zugleich wichtige Mineralienquellen. ◆ Sie suchen hier Schutz vor extremen Witterungseinflüssen (Sturm, Starkregen, Schnee, Hagel, Hitze) und Insektenplagen. ◆ Sie nutzen Baumstämme und Äste zum Scheuern. ◆ Sie bringen ihre Jungen gern im Schutze des Waldes zur Welt. ◆ Kühe legen ihre gesättigten Kälber mitunter stundenlang im Wald oder im Schutze hoher Vegetation ab. ◆ Sie nutzen die Deckung, um Sozialstress zwischen verschiedenen Gruppen LÖBF-Mitteilungen 4/03 von Tieren zu vermindern. Es handelt sich hierbei ganz offensichtlich um elementare, dem Ökoschema und natürlichen Verhaltensrepertoire der Weidetiere entsprechende Erscheinungen. In der Konsequenz bedeutet dies, dass Gehölze beziehungsweise bewaldete Bereiche für Rinder und Pferde für eine artgemäße Haltung von grundlegender Bedeutung sind. Im Spätherbst und Winter erweisen sich Dieses Exmoor-Pony-Fohlen wurde auf einer Waldlichtung Foto: J. Borris die lichten Alteichen- geboren. bestände nahrungsreicher als das Offenland. Buchenjungwuchs, Hier sind rund zwei Drittel ( in TeilbereiHimbeersträucher, Brombeerblätter und chen mehr als 90 Prozent) des Buchenvor allem Eicheln bilden dann hohe Antei- jungwuchses, der sich im Zugriffsbereich le an der aufgenommenen Nahrung. Die der Tiere befindet, teilweise stark verbisExmoorponies scharren Eicheln geschickt sen. In vielen Fällen wird ein Durchmit den Vorderhufen aus dem Falllaub und schießen des Haupttriebes dadurch unteraus tieferem Schnee frei. Aufgrund zweier bunden beziehungsweise über längere Zeit aufeinander folgender schneereicher Win- hinausgezögert. Die Rotbuche reagiert auf ter war zwischen Dezember und April eine den Verbiss durch die Ausbildung zahlreiZufütterung mit Heu erforderlich. In mil- cher Knospen an sehr kurzen Trieben und den Wintern scheint eine Überwinterung damit die Ausbildung von Säulen- bezieder Exmoorponies, die in sehr hohem hungsweise „Zuckerhutformen“. KeimlinMaße Zweige und Knospen fressen, je- ge werden oftmals komplett gefressen. doch auch ohne Zufütterung möglich. Die Dies sind erste Anzeichen für mittelfristige Heckrinder hingegen sind im Projektgebiet strukturelle Einflüsse der Weidetiere in während der Mangelzeit auf höhere Futter- dem System. Die verbissenen Buchen ohgaben angewiesen, da sie in weitaus gerin- ne die typischen ausladenden Kronen ergerem Maße Gehölztriebe, Knospen und möglichen die beginnende Ausbildung von Eicheln aufnehmen und kaum Schnee Weiderasen auch auf den kleineren Waldwegscharren. Aus diesem Grunde wurden lichtungen. Solche Bereiche können ihren Heckrinder und Exmoorponies im letzten Charakter wahrscheinlich längerfristig beWinter durch einen vorübergehenden Zaun wahren und licht- und wärmebedürftigen voneinander getrennt, so dass eine gezielte Lebensgemeinschaften Raum bieten. Über Fütterung der Rinder möglich war. Hier den Äser der Weidetiere hinausgewachsezeigt sich, dass die Projektgebietsfläche ne Haupttriebe der Jungbuchen wachsen und ihre Biotopausstattung noch unzurei- jedoch durch, und auch ihre Seitentriebe chend sind. Die Tiere würden unter natürlichen Umständen im Winter sehr wahrscheinlich in tiefere, nahrungsreichere Lagen abwandern. Auswirkungen auf den Lebensraum Neben den flächenhaften Auswirkungen der Nahrungsaufnahme auf die Vegetation im Offenland ist insbesondere der Einfluss auf die Verjüngung der Rotbuche deutlich. Weidende Exmoor-Pony-Herde. Foto: H. Sonnenburg 39 Hutewaldprojekt Solling werden kaum noch verbissen. Entsprechend bestockte Teilbereiche entwickeln sich zu artenarmen Buchendickungen, in denen die Eiche nur noch als Überhälter Platz findet. Aus bislang unbekannten Gründen haben die Ponies und Rinder im Projektgebiet noch keine Baumrinde geschält. Aus anderen Projekten ist das Schälen von Gehölzen sowohl durch Rinder als auch durch Pferde jedoch bekannt, vor allem im Winterhalbjahr. Auswirkungen auf Lebensgemeinschaften Weidetiere setzen durch ihre Lebensäußerungen vielfältige Entwicklungsprozesse in Gang, die weit über ihre Fraßtätigkeit hinausgehen und mit fortschreitender WeiBeweidungseinfluss Gehölz-Verbiss Verbiss-Selektion und Auflichtung im Umfeld Reaktionen von Lebensgemeinschaften Ausbildung von VerbissFormen Zunahme konkurrenzschwacher / lichtliebender / „weidefester“ Pflanzengesellschaften oder -arten Bestands- oder BlütenRückgang nicht weidefester Arten Rohbodenfreilegung durch Tritt- und Wälzspuren auf frischen Lehmböden in Feuchtbereichen Reaktivierung u./o. NeuAnsiedlung von • kurzlebigen PionierPflanzen-Arten - • in (mageren) Trockenbereichen auf grasigen, lückigen Waldschneisen Anlage von Wechseln im Wald • in Kombination mit Diasporentransport • als strukturelles Phänomen weidetierbegleitende und aufgescheuchte Insekten Scharren im Laub oder Schnee Dung • • kurzlebigen PionierPflanzen-Arten pionierfreudigen Insekten offener Feuchtbereiche erdnistenden Insektenarten Ausbreitung / Einwanderung von „Offenland-Arten“ Art-Beispiele aus dem Projektgebiet (in Klammern RL-Status D/Nds) - v.a. Rotbuche, Hainbuche - Rasiges Quellmoos Philonotis caespitosa (3/2) Hohe Schlüsselblume Primula elatior Berg-Platterbse Lathyrus linifolius (-/3) verschiedene Kleinseggen Carex spp. Rohrglanzgras Phalaris arundinacea Mädesüß Filipendula ulmaria Sumpf-Pippau Crepis paludosa Himbeere Rubus idaeus - Acker-Kleinling Anagallis minima (3/1B, 2) Acker-Hornmoos Anthoceros agrestis (V/3) (Blaualgen-Flechte) Moelleropsis humida (1/*) (Flechte) Steinia geophana (G/1) Borstige Schuppensimse Isolepis setacea (-/3) Sumpfquendel Peplis portula (-/3) Gerandeter Samtläufer Chlaenius vestitus (-/2) Grünlicher Glanzflachläufer Agonum viduum Glänzender Uferläufer Elaphrus cupreus Buntes Vergißmeinnicht Myosotis discolor (3/3) Kotwespe Mellinus arvensis diverse Wildbienen-Arten Lack-Trichterling Laccaria tortillis gebreitet. Es wird offensichtlich an den Hufen der Weidetiere verbreitet. Ähnliches gilt für das Zweischenkelmoos Discelium nudum, eine weitere Rarität im Projektgebiet. Auf etwas trockeneren beziehungsweise wechselfrischen Rohbodenstellen der Pfadsysteme sind beispielsweise Flechten wie Peltigera didactyla oder die sehr seltene Moelleropsis humida von ehemaligen Einzelvorkommen aus in Ausbreitung. Die Weidetiere schaffen somit nicht nur die Besiedlungsinitiale im Offenland, sondern tragen diese Organismen aktiv in den Wald, wo sie sich wiederum auf Trittpfaden weiter ausbreiten. Auf diese Weise sorgen sie für eine natürliche Durchdringung lichter Wälder mit vermeintlichen „Offenlandarten“. Erwartungsgemäß werden die Wechsel der Weidetiere auch von anderen Tieren als Einwanderungschneisen und Pfade benutzt. Besonders bei Tiefschneelagen wird vielen Säugetieren wie Fuchs, Wildkatze und Reh eine erleichterte Fortbewegung - Rasiges Jungermann-Moos Jungermannia caespiticia (V/R) - Zweischenkelmoos Discelium nudum (3/1) - Acker-Hornmoos Anthoceros agrestis (V/3) gezielte Nahrungssuche von Bodensuchern Substrat für Destruenten Nistmaterial - Rotkehlchen, Buch-/Bergfink, Drosseln Blutalge Porphyridium purpureum (2/#) Goldmistpilz Bolbitius vitellinus diverse Fliegen 108 Käferarten Creutzers Winter-Dungkäfer Aphodius consputus (2/#) - Gefleckter Dungkäfer Aphodius maculatus (3/#) - Singvögel, Gelbhalsmaus - Tab. 3: Einflüsse der Beweidung und Reaktionen von Arten und Lebensgemeinschaften im Projektgebiet. Manche Arten reagieren auf Einflusskombinationen. Für Gefährdungsangaben (Rote-Liste-Status) siehe Tabelle 2. 40 Die rindenbesiedelnde Flechte Arthonia vinosa – ein Beispiel für zahlreiche gefährdeter Arten im Projektgebiet, die gut besonnte Eichenstämme besiedeln. Foto: H.-G. Wagner erleichterte Fortbewegung bei - Fuchs, Wildkatze (2/2), Feldhase etc. Tiefschnee und hoher Vegetation gezielte Nahrungssuche von - Schwalben, Bach- Schaf- und Gebirgsstelzen Insektenfressern Substrat / Habitat für Koprobionte Wirbellose Haare detätigkeit immer deutlicher in Erscheinung treten. Nach bisher erst drei Jahren der Beweidung sind deutliche Effekte erwartungsgemäß vor allem in den frischen beziehungsweise feuchten Bereichen des Projektgebietes feststellbar (Tab. 3). Durch die trittbedingte Bodenfreilegung und die Verbiss-Selektion haben konkurrenzschwache, kurzlebige Rohbodenpioniere auffällig zugenommen. Gefährdete Arten wie die Borstige Schuppensimse (Isolepis setacea) bilden in den zahlreichen Trittsiegeln nun teilweise Massenbestände. Der in Niedersachsen stark gefährdete Gerandete Samtläufer (Chlaenius vestitus) trat im zweiten Jahr der Beweidung neu im Projektgebiet auf. Das seltene Rasige Jungermann-Moos (Jungermannia caespiticia) hat sich auf Rohbodenstellen der Pfade erheblich aus- Das seltene Rasige Jungermannmoos (Jungermannia caespiticia) profitiert auf zweifache Weise von den Weidetieren: es besiedelt offene Bodenstellen und wird aktiv an den Hufen verbreitet. Foto: H.-G. Wagner LÖBF-Mitteilungen 4/03 Hutewaldprojekt Solling ermöglicht, was anhand von Fährten nachgewiesen wurde. Ferner bieten die Randbereiche der Wechsel für bestimmte Wildbienenarten (z. B. Nomada flavoguttata, Andrena helvola) nachweislich Nistmöglichkeiten. Das trifft auch auf die Wälzstellen der Ponies zu. Häufig haben die Wildschweine durch das Aufbrechen der Vegetationsdecke hierzu Vorarbeit geleistet. Von großer ökologischer Bedeutung ist ferner die erhebliche Dungproduktion der Weidetiere. Eine im Jahr 2001 durchgeführte Untersuchung der dungbesiedelnden und gastweise auftretenden Käferfauna erbrachte 108 Arten, darunter den bundesweit stark gefährdeten Creutzers Winter-Dungkäfer (Aphodius consputus). Als Maximum lockte ein einziger Pferdedunghaufen 1169 adulte Käfer an. Wildschweine, Dachs, Mausohr, Neuntöter und zahlreiche andere Tierarten nutzen die Dungfauna als Nahrung. Für Bewohner der Röhrichte und Hochstauden sind die Perspektiven weniger günstig, da diese nur kleinflächig im Projektgebiet vorhandenen und in einem Engpass gelegenen Biotope einem hohen Weidedruck ausgesetzt sind. Hier zeigt sich die Notwendigkeit einer größeren, vielfältig strukturierten Projektfläche. Im Offenland haben sich die Lebensbedingungen für viele Vogelarten mit Beweidungsbeginn erheblich verbessert. Die ehemaligen Äcker stellen ganzjährig ergiebige Nahrungsflächen für zahlreiche Brutund Gastvogelarten dar. Bluthänfling, Goldammer, Bachstelze und Gebirgsstelze zeigen positive Bestandsentwicklungen. Mit Beweidungsbeginn trat der Neuntöter als jährlicher Brutvogel auf. Im Wald ist mit auffälligen Veränderungen der Lebensgemeinschaften jedoch erst nach längerer Beweidungsdauer zu rechnen. So können die hier bislang feststellbaren Schwankungen der Brutvogelpopulation und der Laufkäfergemeinschaften nicht eindeutig mit den Beweidungseinflüssen erklärt werden, sondern sind eher Ausdruck einer natürlichen Populationsdynamik. Beobachtungen von Kleinvögeln, die den nahrungssuchenden Weidetieren im Wald folgen – besonders wenn diese Boden freischarren – deuten jedoch darauf hin, dass hier die Nahrungserwerbsmöglichkeiten positiv beeinflusst werden. Ein solcher Effekt geht nachweislich auch von der Dungfauna im Wald aus. Gehölze gehören zum Lebensraum Rinder und Pferde wurden mit der Aufhebung der Waldweide gewissermaßen zu grasfressenden Offenlandbewohnern erklärt. Auch die zahlreichen naturschutzmotivierten Beweidungsprojekte in Deutschland haben zumeist das Ziel, Offenland vor der drohenden Wiederbewaldung zu bewahren. Die Ergebnisse dieses LÖBF-Mitteilungen 4/03 und anderer großflächiger Beweidungsprojekte belegen jedoch: auch domestizierte Weidetiere, die eng gezäunte, gedüngte Weiden gewohnt sind, zeigen eine hohe Affinität zu Gehölzen und ein bemerkenswertes Potenzial an wildtierhaftem Verhalten. Beides kommt unter herkömmlichen Haltungsbedingungen nicht zum Ausdruck. Zweifellos gehören Bäume und Sträucher zum „Ökoschema“ der hier betrachteten wild Durch intensive Aufnahme von Buchentrieben und -knospen lebenden sowie der do- wirken die Exmoorponies der drohenden Ausdunkelung der EiFoto: J. Borris mes-tizierten großen chenwälder durch die Rotbuche entgegen. Pflanzenfresser. Dies macht einen Einsatz solcher Tiere gerade in einem Wald-Offen- scheidende pädagogische und bewusstland-Komplex sinnvoll. Dadurch eröffnen seinsbildende Bedeutung zu. Sozialstruksich zugleich neue Perspektiven für die turen gemischter Herden mit heterogener zahlreichen von Verbrachung bedrohten Altersstruktur, wie sie im Hutewaldprojekt oder z. B. bei den großflächigen niederlänMittelgebirgstäler. dischen Naturentwicklungsgebieten zu finden sind, besitzen darüber hinaus einen Öffentlichkeitsarbeit Eigenwert, der bislang viel zu wenig beSeit Projektbeginn werden zahlreiche Ex- achtet wurde (GERKEN & SONNENkursionen und Vortragsabende angeboten. BURG 2002, LIMPENS et al. 2002). Die Dies erscheint um so wichtiger, da für die konventionelle Tierhaltung und Zoologilaufende erste Projektphase ein beliebter sche Gärten können hierfür keinen Ersatz Wanderweg gesperrt werden musste und bieten. das Projektgebiet nicht frei zugänglich ist. Große Weidetiere in einer vielfältigen Insgesamt wird das Vorhaben bei der Be- Landschaft bieten sich hervorragend für völkerung, Touristen und Feriengästen die Naturschutzbildungsarbeit an. Unsere sehr positiv aufgenommen, und die Veran- Erfahrungen mit Besuchergruppen zeigen staltungen erfreuen sich großen Zu- immer wieder: Die Beziehung des Menspruchs. Jährlich nehmen ca. 1000 Perso- schen zu großen Tieren und tiergeprägten nen an den Führungen teil. Dabei wird Landschaften neu zu gestalten, bedeutet, deutlich, dass große Tiere entscheidend ihn wieder für die Natur und seine eigene zum Erlebniswert einer Landschaft beitra- Kulturgeschichte zu gewinnen. gen. Auf zwei Erlebnispfaden entlang des Projektgebietes können Besucher Zusammenhänge zwischen Weidetieren und ihrem Lebensraum kennenlernen. In Kürze eröffnet eine Dauerausstellung und Hutewaldschule in einem Nebengebäude des unmittelbar benachbarten Jagdschlosses Nienover bei Amelith. In einer Zeit, in der viele Großstadtkinder noch nie eine Kuh zu Gesicht bekommen haben, kommt dem Er- Der streng an Eichen gebundene Kleine Eichenkarmin (Catolebniswert solcher Pro- cala promissa) stellt eine besondere Kostbarkeit des Projektgejekte wie dem hier be- bietes dar. in Niedersachsen ist er vom Aussterben bedroht. schriebenen eine entFoto: J. Borris 41 Hutewaldprojekt Solling dung sein Potenzial der weideland- Das Interesse und die Resonanz des Proschaftstypischen Arten nun wieder zu ent- jektes in der Öffentlichkeit haben unsere falten beginnt. Erwartungen innerhalb kurzer Zeit bei Die angestrebte Verzahnung von Wald und weitem übertroffen. Es erweist sich als Offenland ist auf der Ebene von Organis- ebenso notwendig wie sehr gut möglich, menarten bereits deutlich initiiert worden, im Rahmen dieses Vorhabens das neu entwie die oben genannten Beispiele gezeigt stehende Verständnis natürlicher Prozesse haben. Änderungen der Landschafts- und am Beispiel des Hutelandschaftsprojektes Waldstruktur, d. h. der typischen Dynamik direkt zu vermitteln. Hierfür sind im Proder Eichenbestände beziehungsweise des jektgebiet des Solling die landschaftlichen Wald-Offenland-Verhältnisses bedürfen und strukturellen Rahmenbedingungen gut einer wesentlich längeren zeitlichen Per- geeignet. spektive und zugleich einer möglichst Ergänzend zu den oben beschriebenen großen Projektfläche. Folgende Aspekte Hauptzielen führt das Projekt zu zahlreisind von langfristigem Interesse: chen weiteren Facetten des Erkenntnisge◆ Ab wann und in welchem Ausmaß er- winns. Beispielhaft sei der veterinärmedifolgt eine Eichenverjüngung im Schutz zinische Aspekt angesprochen. So liegen von Dornsträuchern und eine Offen- bis dato allenfalls spärliche Aufzeichnunlandentwicklung im Wald (siehe hierzu VERA 2000)? ◆ Wieviel Management ist langfristig Große Pflanzenfresser in einer reizvollen erforderlich, wieKulisse erleben. Foto: H. Sonnenburg viel Natur beziehungsweise Sichselbst-Überlassen Ausblick und der Weidetiere könzukunftsweisende Fragen nen oder dürfen wir zulassen? Die Ergebnisse der Voruntersuchungen wiesen das Projektgebiet bereits vor Be- ◆ Ist zum Erreichen von Schäleinflüssen weidungsbeginn als überaus wertvoll für im Wald der Einsatz den Artenschutz aus. Dies ist noch immer anderer Arten oder die Folge einer jahrhundertelang durchgeRassen erfolgverführten, wenn auch weit zurückliegenden sprechender? AktuHutebewirtschaftung beziehungsweise des ell überlassen wir Erhaltes von Lichtwäldern. Der naturdiese „Erfindung“ Im Solling können Heckrinder wie Wildtiere im lichten Eischutzfachliche Wert des Projektgebietes Foto: H. Sonnenburg unseren Tieren, chenwald erlebt werden. ist also in besonderem Maße (ähnlich den üben uns also auch Trockenrasen) wirtschaftsgeschichtlich hier in Geduld – ein Vorgehen, was sich gen zu den Bedingungen der Tierhaltung bedingt. Der Fortbestand der zahlreichen anderenortes (Projekte in Schleswig- beziehungsweise der notwendigen vetegefährdeten, licht- und wärmeliebenden rinärmedizinischen Betreuung in überwieHolstein) offenbar bewährt hat. Arten erfordert eine Habitatkontinuität. Das Projektgebiet ist aber zusätzlich auch ◆ In welchem Maße ist eine Einbindung gend bewaldeten Gebieten vor. Auch diesdes Menschen in ein wildnisorientier- bezüglich ist das Projekt zu einem Modellinsofern besonders wertvoll, als es offenvorhaben geworden. tes Konzept möglich? sichtlich unter dem Einfluss der BeweiDies sind Fragen, die Seit langem sind viele Misserfolge des Nawir im Rahmen der turschutzes zu Recht auf eine zu geringe Weiterführung des Flächengröße von Schutzgebieten zurückProjektes untersuchen geführt worden (z. B. REMMERT 1988). werden. Daher ist ei- Erst die Bereitstellung größerer Flächen nes der langfristigen ermöglichte die Berücksichtigung natürliZiele, das Gebiet dau- cher dynamischer Prozesse in Naturerhaft mit Weidetieren schutzprojekten. Doch trotz zahlreicher zu pflegen und zu ent- Erfolge geht der Artenschwund weiter. Um wickeln. Das Projekt diesen Trend zu durchbrechen, bedarf es bietet somit die Chan- der Einsicht, dass es neben den abiotischen ce, zur Klärung vielfäl- auch unverzichtbare biotische Dynamiktiger ökologischer wie elemente zu berücksichtigen gilt, die auch naturschutzprak- flächenübergreifend wirken und zugleich tischer Zusammenhän- für Vernetzung und neue Biotoprequisiten ge maßgeblich beizu- sorgen. Viele neuere Erkenntnisse der seit tragen. Dies zunächst einigen Jahren zu Großweidetieren vorgein einem Staatswald- legten Grundlagenarbeiten und Modellbereich zu tun, ist si- vorhaben sind im hier vorgestellten Projekt cher ebenfalls aus vie- bereits aufgegriffen und umgesetzt. Hier Ein neu entstandener Weiderasen im lichten Alteichen-Weiß- lerlei organisatori- konnte auf Erfahrungen mit großflächigen dorn-Bestand wird von einer Studentengruppe untersucht. schen Gründen ange- Beweidungsprojekten im Ausland zurückFoto: H.-G. Wagner bracht. gegriffen werden (z. B. KAMPF 2001). 42 LÖBF-Mitteilungen 4/03 Hutewaldprojekt Solling Lageplan des Projektgebietes. Konkret für das Vorhaben im Solling heißt dies aber auch, dass aktuell ein dringender Mehrbedarf an Fläche erkannt ist. Literatur BAKER, S. (1993): Survival of the fittest. A natural history of the Exmoor Pony. – Exmoor Books, Delverton, Somerset. BEUTLER, A. (1996): Die Großtierfauna Europas und ihr Einfluß auf Vegetation und Landschaft. – Natur- und Kulturlandschaft 1: 51–106. BUNZEL-DRÜKE, M. (1996): Vom Auerochsen zum Heckrind. – Natur und Kulturlandschaft 1: 37–48. GEISER, R. (1992): Auch ohne Homo sapiens wäre Mitteleuropa von Natur aus halboffene Weidelandschaft. – Laufener Seminarbeiträge 2: 22–34. GERKEN, B. (2002): Was hat die Renaturierung von Auen mit der Wirkung großer Säugetiere zu tun? Über wirksame Antworten auf Artensterben und Lebensraumverluste. – Artenschutzreport 12: 42–48. GERKEN, B. & MEYER, C. (Hrsg.) (1996): Wo lebten Pflanzen und Tiere in der Naturlandschaft und der frühen Kulturlandschaft? – Natur- und Kulturlandschaft 1. GERKEN, B. & MEYER, C. (Hrsg.) (1997): Vom Waldinnensaum zu Hecke – Geschichte, Situation und Perspektiven eines Natur-Lebensraum-Gefüges. – Natur- und Kulturlandschaft 2. GERKEN, B. & GÖRNER, M. (Hrsg.) (1999): Europäische Landschaftsentwicklung mit großen Weidetieren – Geschichte, Modelle, Perspektiven. – Natur und Kulturlandschaft 3. GERKEN, B. & SONNENBURG, H. (2002): Landscape development and species protection in woodlands, forests and pastures using large herbivores. – In: REDECKER, B., FINCK, P., HÄRDTLE, W., RIECKEN U., & SCHRÖDER, E. (Hrsg.): Pasture Landscapes and Nature Conservation. Springer. Berlin Heidelberg. S. 285–301. HOFMANN, R. R. & SCHEIBE K. (1996): Überlegungen zur Rekonstruktion der natürlichen Großtierfauna Mitteleuropas auf der Grundlage ihrer morphophysiologischen Differenzierung und ihrer potentiellen ökologischen Zusammenfassung Für den Fortbestand typischer Hutewaldstrukturen und ihrer Lebensgemeinschaften bedarf es neben administrativen Bestimmungen auch praktischer Pflegemaßnahmen, um eine Ausdunkelung der artenreichen Alteichenbestände zu verhindern. Konventionelle, maschinengestützte Pflegemaßnahmen reichen hierbei langfristig gesehen nicht aus. Im Naturpark Solling-Vogler wird deshalb seit dem Sommer 2000 erfolgreich ein schonendes Pflegeverfahren mittels Heckrindern und Exmoorponies angewendet. Seither sind zahlreiche deutlich sichtbare dynamische Prozesse in Gang gesetzt worden. Diese sind von großer Bedeutung für die im Gebiet vorkommenden Lebensgemeinschaften. Durch die Weideaktivität wird die für Hutelandschaften typische Verzahnung von Wald und Offenland wiederhergestellt und eine generelle Erhöhung der Strukturvielfalt erreicht. Mit Hilfe einer umfassenden wissenschaftlichen Begleitung wird mit Abschluss des Projektes ein Pflegemodell für diese bedeutsamen Waldstandorte abgeleitet. Erste Artenschutzerfolge sind bereits jetzt erkennbar. Nach fast drei Beweidungsjahren kann gesagt werden, dass sich die im Solling-Projekt eingesetzten Weidetiere prinzipiell für derlei Beweidungsprojekte eignen. Im Einzelfall kann ein Weidemanagement die Erfolge noch verbessern. Von zunehmender Bedeutung ist der Bereich der Öffentlichkeitsarbeit und Umweltbildung innerhalb des Projektes. LÖBF-Mitteilungen 4/03 Nischen. – Natur- und Kulturlandschaft 2: 207–214. HOMM, T. (1999): Moose und Flechten des Hasbruches. - In: MELF Niedersachsen (Hrsg.): Der Hasbruch – Naturkundliche Beschreibung eines norddeutschen Waldes. – Schriftenreihe Waldentwicklung in Niedersachsen Heft 8: 52–63. KAMPF, H. (2001): Von der Politik zum Management: Große Pflanzenfresser in großflächigen Beweidungssystemen – Erfahrungen aus den Niederlanden. – Natur- und Kulturlandschaft 4: 100–110. KLEIN, M., RIECKEN, U. & SCHRÖDER, E. (Hrsg.) (1997): Alternative Konzepte des Naturschutzes für extensiv genutzte Kulturlandschaften. – Schriftenr. f. Landschaftspflege u. Naturschutz 54. 310 S. LIMPENS, H., LEJEUNE M. & VAN DER VEEN, J. (2002): Urbanized man and the longing for a new wilderness. – In: REDECKER, B., FINCK, P., HÄRDTLE, W., RIECKEN U. & SCHRÖDER, E. (Hrsg.): Pasture Landscapes and Nature Conservation. – Springer. Berlin Heidelberg: 313-328. MELF NIEDERSACHSEN (Hrsg.) (1996): Waldentwicklung im Solling. Fachgutachten. – Schriftenr. Waldentwicklung in Niedersachsen Heft 5. 149 S. POTT, R. & HÜPPE, J. (1991): Die Hudelandschaften Nordwestdeutschlands. – Abh. Westf. Mus. Naturkde. 53 (2/3), 313 S. REDECKER, B., FINCK, P., HÄRDTLE, W., RIECKEN, U. & SCHRÖDER, E. (Hrsg.) (2002): Pasture Landscapes and Nature Conservation. – Springer. Berlin / Heidelberg. REMMERT, H. (1988): Naturschutz – Ein Lesebuch. – Berlin / Heidelberg / New York / London / Tokyo. RIECKEN, U., FINCK, P., KLEIN, M. & SCHRÖDER, E. (1998): Überlegungen zu alternativen Konzepten des Naturschutzes für den Erhalt und die Entwicklung von Offenlandbiotopen. – Natur und Landschaft 73: 261–27. TUBBS, C. R. (1986): The New Forest – A Natural History. – 300 S. VERA, F.W.M. (2000): Grazing Ecology and Forest History. – CABI Publishing, Oxon / New York, 506 S. VULINK, J. T. (2001): Hungry Herds. Management of temperate lowland wetlands by grazing. – Rijksuniversiteit Groningen. 392 S. Lelystad. WILLMANN, R. (1999): Das Exmoor-Pferd: eines der ursprünglichsten halbwilden Pferde der Welt. – Natur und Museum 129: 389–407. WULF, M. (1997): Plant species as indicators of ancient woodland in northwestern Germany. – J. Vegetation Science 8: 635–642. Anschrift der Verfasser: Dipl.-Biol. Holger Sonnenburg Prof. Dr. Bernd Gerken Dipl.-Ing. Hans-Georg Wagner Dipl.-Biol. Holger Ebersbach Projektgruppe Hutewald Fachhochschule Lippe und Höxter An der Wilhelmshöhe 44 D-37671 Höxter E-Mail: [email protected] Internet: www.hutewald.de 43