Historie der experimentellen Teilchenphysik in Bonn (Prof. E. Paul)

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Historie der experimentellen Teilchenphysik in Bonn (Prof. E. Paul)
..
UNIVERSIT AT BONN
Physikalisches Institut
50 Jahre Experimente zur Teilchenphysik
am Physikalischen Institut der Universität
Bonn
Ein Zeitzeuge erinnert sich
Ewald Paul
Physikalisches Institut
Universität Bonn
Post address:
BONN-MS-2007-02
Nussallee 12
Bonn University
53115 Bonn
September 2007
Germany
ISSN-0172-8741
50 Jahre Experimente zur Teilchenphysik
am Physikalischen Institut der Universität
Bonn ?
Ein Zeitzeuge erinnert sich ??
Ewald Paul
Physikalisches Institut der Universität Bonn
[email protected]
Das Physikalische Institut der Universität Bonn gehört weltweit zu den ersten Plätzen, an denen die Teilchenphysik in Forschung und Lehre Einzug
gehalten hat. Seit nunmehr fünfzig Jahren wird an vor Ort gebauten Teilchenbeschleunigern erfolgreich experimentiert. Seit Anbeginn gibt es in Bonn
ein etwa gleich starkes Engagement an externen Experimenten, vor allem in
den internationalen Forschungszentren CERN in Genf und DESY in Hamburg.
Die Entwicklung von Teilchenbeschleunigern mit starker Fokussierung wurde
in Europa etwa zeitgleich am CERN und im Physikalischen Institut der Universität Bonn aufgenommen. Sie ist eng mit einem großen Namen verbunden:
Wolfgang Paul, Nobelpreisträger für Physik (s. Abb. 1). Nach seiner Berufung
auf eine Professur für Physik in Bonn im Jahre 1952 hat Paul die Entwicklung von Beschleunigern und Experimenten an Beschleunigern, neben seinem
Engagement auf vielen weiteren Gebieten der Physik und Wissenschaft [1–3],
zu seiner Sache gemacht. Über die rund 40 Jahre seines Wirkens hat er die
Teilchenphysik in Bonn, aber auch am CERN und bei DESY, kontinuierlich
gefördert.
Die Idee brachte Paul von einem Aufenthalt in den USA mit, als er in einem Vortrag von Werner Heisenberg erfuhr, dass mit einer neuen Technologie
der Teilchenfokussierung in Magnetfeldern, der sog. starken Fokussierung, geladene Teilchen in ringförmigen Teilchenbeschleunigern - anders als bei der
vorher entwickelten schwachen Fokussierung - bei kleinem Strahlquerschnitt
beschleunigt werden können. Die Teilchenstrahlen werden durch Magnete mit
? Stand am 31.12.2006
??Online: http://pi.physik.uni-bonn.de
Abbildung 1. Wolfgang Paul 1913-1993.
alternierenden Feldgradienten auf ihrer Bahn gehalten [4], die bei weniger
Größe und Gewicht auch geringere Betriebskosten verursachen.
Ein erster Beschleuniger dieser Art für Elektronen wurde in den USA an der
Cornell University gebaut und 1954 in Betrieb genommen. In Europa wurden zwei Beschleuniger nach diesem Konzept gebaut. In Bonn entstand der
weltweit zweite Beschleuniger dieser Art, wieder für Elektronen, mit einer
Elektronen-Endenergie von 500 MeV. Am CERN in Genf entstand der seinerzeit größte Ringbeschleuniger für Protonen, das Protonensynchrotron (PS),
mit einer Endenergie von 28 GeV. Eine ähnliche Maschine wurde am Brookhaven National Laboratory (USA) gebaut.
Bonn
Paul hatte bereits während seiner Göttinger Zeit Erfahrungen mit Methoden
der Teilchenfokussierung durch Quadrupol- und Sextupollinsen gesammelt.
Darauf aufbauend konzipierte er in Bonn neben einem Massenfilter und einer
Ionenfalle, die ihm später den Nobelpreis einbrachte, auch das Elektronensynchrotron. Paul hatte die Entwicklung von Teilchenbeschleunigern zunächst
auch nach anderen Konzepten verfolgt und ein Plasmabetatron gebaut [5].
Abbildung 2 zeigt den Aufbau des 500 MeV- Synchrotrons, einen aus neun Magneten und sechs Topfkreis-Resonatoren gebildeten Ring von 5,30 m Durchmesser [6]. Das Elektronensynchrotron wurde von Mitarbeitern im Physikalischen Institut Bonn unter Leitung von Paul geplant und gebaut. Die Maschi2
Abbildung 2. Das 500 MeV-Synchrotron in Bonn.
Abbildung 3. Messung des Wirkungsquerschnitts der Photoproduktion von π + im
Bereich der ersten Resonanz am 500 MeV-Synchrotron in Bonn [7].
3
Abbildung 4. Das 500 MeV-Synchrotron im Deutschen Museum in Bonn.
ne entstand als beispiellose Pionierleistung unter Verantwortung 1 von K.-H.
Althoff, E. Bodenstedt, H. Ehrenberg, G. Knop, A. Minten, H. Steinwedel,
H. Winkler und K. Ziock, im wesentlichen durch die betreuten Arbeiten von
Diplomanden und Doktoranden.
Ende 1954 wurde mit der Vorbereitung von Experimenten am 500 MeV-Synchrotron angefangen. Damit begann in Bonn die Pionierzeit der Entwicklung
von Teilchendetektoren. Mitte der 50-er Jahre wurde fast ausschließlich mit
nur zwei Detektortypen experimentiert: Szintillationszählern und Blasenkammern. Paul ließ ein kleines Modell einer Blasenkammer bauen und testen.
Einer der Doktoranden aus der Bonner Experimentierschule (G. Horlitz) war
später am Bau der 85 cm-Blasenkammer bei DESY in Hamburg verantwortlich
beteiligt (siehe unten). Bei Szintillationszählern, aber auch auf vielen anderen Gebieten der Detektorentwicklung, wie z.B. bei Bildverstärkern, Cherenkovzählern oder Funkenkammern und deren Auslese durch Prozessrechner,
wurde erfolgreiche Entwicklungsarbeit geleistet, die auch frühen Experimenten in den Forschungszentren CERN und DESY zugute kam. Die Detektoren
für die Experimente an der 500 MeV-Maschine wurden in Diplom- und Doktorarbeiten in Zusammenarbeit mit den gut funktionierenden Werkstätten in
Bonn entwickelt und gebaut. Zahlreiche Veröffentlichungen zeugen von den
1
Namensnennungen werden in alphabetischer Reihenfolge angegeben. Sie sagen
nichts darüber aus, wer welche Beiträge zu verantworten hat.
4
vielseitigen technologischen Erfolgen in dieser Zeit.
Das 500 MeV-Synchrotron ging 1958 in Betrieb und wurde von 1959 bis 1984 in
insgesamt ca. 100000 Betriebsstunden für Teilchenstreuexperimente genutzt,
in manchen Jahren an ∼8000 Stunden. Die Ergebnisse auf dem Gebiet der
Ein-Pion-Photoproduktion im Bereich der ersten Resonanz waren lange Zeit
richtungsweisend. Parallel durchgeführte Messungen der Wirkungsquerschnitte für die Erzeugung von π + und π 0 am Proton bei Photonenergien um 300
MeV erlaubten u.a. bereits detaillierte Untersuchungen der ersten Nukleonresonanz bzgl. Isospin und Produktionsmechanismus bis hin zu Vergleichen
mit theoretischen Rechnungen (K.-H. Althoff, H. M. Fischer, G. Knop, W.
Paul, R. Wedemeyer). Abbildung 3 zeigt am Beispiel eines Experimentes zur
π + -Produktion, welche hohe Messgenauigkeit schon damals erreicht wurde [7].
In anderen Experimenten wurde die Rückstoßpolarisation der Protonen untersucht ( K.-H. Althoff, H. Piel).
Weitere Experimente wurden durchgeführt, um die Comptonstreuung, die
Photospaltung des Deuterons und photoninduzierte Reaktionen an Kernen
zu untersuchen ( B. Mecking, G. Nöldeke, W. Paul, R. Wedemeyer).
Das 500 MeV-Synchrotron war eine im gesamten experimentellen Bereich,
vom Beschleuniger- und Detektorbau bis hin zu den Datenanlysen der durchgeführten Streuexperimente, sehr erfolgreiche Maschine [8]. Insgesamt wurden
89 Diplom-, 44 Doktorarbeiten und 5 Habilationsschriften angefertigt. Die
physikalischen Ergebnisse sind in 46 Artikeln veröffentlicht worden. Eine beeindruckende Zahl der Absolventen wurde Hochschullehrer oder gelangte auf
leitende Positionen in Forschungszentren 2 .
Auf Initiative von K.-H. Althoff wurde das 500 MeV-Synchrotron 1995 als
erster europäischer Beschleuniger mit starker Fokussierung in das Deutschen
Museum in Bonn gebracht und dort in Teilen wieder aufgebaut. Es findet
seitdem bei den Besuchern viel Aufmerksamkeit. Abbildung 4 zeigt Althoff
mit Schülern im Museum am 500 MeV-Synchrotron.
Die Teilchenphysik in Bonn stand seit den Anfängen in regem Austausch mit
CERN. Teilchenphysiker, die ihr Handwerk am Physikalischen Institut Bonn
gelernt hatten, waren schon am Bau des 28 GeV-Protonensynchrotrons (PS)
und an den ersten Streuexperimenten beim CERN beteiligt. Bis heute gehen
gut ausgebildete Mitarbeiter des Physikalischen Instituts Bonn als Fellows
oder Staff-Angestellte zum CERN.
Zu Beginn der Sechziger Jahre begann beim CERN die 20-jährige Epoche der
Physik mit Blasenkammern. Am Physikalischen Institut Bonn entstand nun
2
H. G. Fischer, D. Freytag, O. Gildemeister, E. Hilger, K.-H. Kissler, R. Kose, K.
Lübelsmeyer, B. Mecking, H. Piel, T. Reichelt, D. Schmitz, M. Tonutti.
5
CERN
eine zweite Arbeitsgruppe für Teilchenphysik, die sich über die Aufnahme
und Auswertung von Blasenkammerbildern an CERN-Experimenten beteiligte. Abbildung 5 zeigt als Beispiel die Aufnahme eines seltenen Ereignisses:
die Streuung eines negativ geladenen Kaons, das als Strahlteilchen von unten
einläuft, an einem Wasserstoffkern in der Kammer, bei dem ein Ω− erzeugt
wird, das kaskadenartig zerfällt.
Abbildung 5. Blasenkammerbild, aufgenommem mit der CERN-2m-Kammer [9].
Um die Ereignisse auszuwerten, mussten sie auf den Filmen gemustert und vermessen werden. Solche Auswertungen an Filmen konnte man natürlich relativ
problemlos auch außerhalb des CERN in den Instituten der Mitgliedsstaaten
vornehmen. So wurden, parallel an vielen Instituten und Forschungszentren,
Scan-Tische zur Musterung der Filme und Messmaschinen zur Vermessung
der Ereignisse auf den Filmen gebaut, sowie die Software zur Rekonstruktion
der Ereignisse entwickelt. In Deutschland waren die ersten die Physikalischen
Institute in Aachen, Bonn, Hamburg, Heidelberg und München. Über die Blasenkammerauswertung gab es in den 60-er Jahren die ersten internationalen
Kollaborationen am CERN. Sie blieben nicht auf die Mitgliedsstaaten beschränkt. Es gab bereits in den 60-er Jahren Kollaborationen mit Instituten
im damaligen Ostblock. Damit wurde eines der kulturellen Ziele des CERN, die
Völkerverständigung durch gemeinsame Forschung zu fördern, fast unbemerkt
von der Politik, schon lange vor Beendigung des Kalten Krieges realisiert.
Blasenkammerexperimente hatten zu ihrer Zeit ein hohes Entdeckungspotential auf verschiedenen Gebieten der Physik der kleinsten Teilchen. Die meisten
6
Entdeckungen wurden zunächst auf dem Gebiet der starken Wechselwirkung
gemacht, wobei Experimente an Wasserstoffblasenkammern im Vordergrund
standen. In Experimenten mit Pionen-, Kaonen- und Protonenstrahlen wurde
ein ganzer Zoo von instabilen hadronischen Zuständen entdeckt, der sich in
geradezu verblüffender Zuverlässigkeit in die von Gell-Mann und Zweig vorhergesagten SU(3)-Multipletts für leichte Flavor einordnen ließ und damit eine
der fundamentalen Symmetrien der starken Wechselwirkung verifizierte.
Bonn war über die ganze Epoche an Wasserstoff-Blasenkammer-Experimenten
beteiligt, zunächst mit hadronischen Streuungen an Protonen in der 81 cmKammer und in der 2 m-Kammer, und schließlich mit Proton- und Neutrinostreuungen an Wasserstoff in der Big European Bubble Chamber BEBC
(K. Böckmann, H. H. Nagel, B. Nellen, W.Paul mit Diplomanden und Doktoranden 3 ). Darüberhinaus hat sich die Bonner Blasenkammergruppe in den
frühen 80-er Jahren an einem Streamerkammerexperiment (UA5) beteiligt,
das an dem gerade am CERN in Betrieb genommenen Proton-AntiprotonSpeicherring einen frühzeitigen Überblick über die sehr komplexen hadronischen Endzustände bei den erstmalig erreichten hohen Schwerpunktsenergien
(mit Strahlenergien der Protonen und Antiprotonen von bis zu 450 GeV) geliefert hat [10].
Im Jahre 1964 wurde der erste Elektronenbeschleuniger in Hamburg, das Deutsche Elektronensynchrotron DESY, mit einer Endenergie von 6 GeV fertiggestellt. Schon bei Bau und Betrieb des DESY-Synchrotrons haben am Bonner Synchrotron ausgebildete Physiker in vielfältiger Weise ihre Erfahrungen
eingebracht. Es war natürlich sehr attraktiv, am DESY-Synchrotron in dem
gegenüber der Bonner Maschine höheren Energiebereich mit Photonen- und
Elektronenstrahlen zu experimentieren. In der frühen Phase kam eine mit
Bonner Expertise (G. Horlitz) gebaute 85 cm-Blasenkammer am Beschleuniger DESY zum Einsatz, an der die Blasenkammergruppe in Bonn einige Jahre
lang mit Experimenten zur Photoproduktion hadronischer Endzustände an
Wasserstoff und Deuterium beteiligt war. Parallel dazu beteiligten sich Bonner Physiker an Zählerexperimenten mit Photonstrahlen auf externe Targets
(K. Lübelsmeyer, D. Schmitz). Dabei war es hilfreich, dass junge Physiker ihre
am Bonner 500 MeV-Synchrotron erworbenen Erfahreungen im Detektorbau
und bei der Durchführung von Experimenten nach Hamburg exportiert haben 4 . In ersten Experimenten wurde der differentielle Wirkungsquerschnitt
für die Photoproduktion von neutralen Pionen am Proton in Vorwärtsrichtung im Energiebereich bis 5,8 GeV gemessen. Der Nachweis der π 0 -Mesonen
erfolgte über die Messung der Zerfallsphotonen mit Hilfe von zwei totalabsor3
Die Absolventen S. Brandt, H. Drevermann, J. Moebes, Th. Müller, E. Paul,
H. Plothow und W. Tejessy wurden Hochschullehrer bzw. leitende Mitarbeiter am
CERN.
4 Die Absolventen W. Braunschweig und D. Husmann wurden Hochschullehrer.
7
DESY
bierenden Cerenkov-Zählern [11]. Parallel dazu wurde, in Kollaboration mit
Pisa und Rom, die Lebensdauer des η-Mesons über den Primakoff-Effekt mit
hoher Genauigkeit gemessen. In den 70-er Jahren hat Bonn über eine Beteiligung am BONANZA-Detektor am ersten Hamburger e+ e− - Speicherring
DORIS experimentiert (G. Nöldeke, M. Tonutti).
Abbildung 6. Das 2,5 GeV-Synchrotron in Bonn.
Bonn
In Bonn wurde ein zweites, größeres Elektronensynchrotron mit einer Endenergie von bis zu 2,5 GeV gebaut [12], das seit 1967 in Betrieb ist (K.-H. Althoff,
J. Drees, A. Febel, G. Knop, W. Paul, H. E. Stier). Die Elektronen werden auf
einem Ring von 22,20 m Durchmesser, bestückt mit zwölf combined-function
Ablenkmagneten und Sextupolkomponenten zur Korrektur auf chromatische
Effekte in den fokussierenden und defokussierenden Sektoren, beschleunigt
(Abb. 6).
Hiermit begann in Bonn eine neue Ära von Teilchenstreuexperimenten an externen Photonen- und Elektronenstrahlen. Die Schwerpunkte des Forschungsprogramms lagen auf der Erzeugung von Mesonen in Photo- und Elektroproduktion in dem gegenüber dem 500 MeV-Synchrotron erweiterten Energiebereich der Nukleonresonanzen, sowie der Messung von Formfaktoren an Protonund Deuterontargets [13].
Das an der 500 MeV-Maschine bereits begonnene Experimentierprogramm
zur Ein-Pion-Photoproduktion mit Bremsstrahlungsphotonen wurde an der
2,5 GeV-Maschine fortgesetzt, nun mit polarisierten Targets, und dadurch auf
8
Abbildung 7. Wirkungsquerschnitte der π 0 -Photoproduktion in Rückwärtsrichtung
in Abhängigkeit von der Virtualität des Photons |q 2 | für verschiedene Schwerpunktsenergien und Impulsüberträge. Durchgezogene Linie: ρ-Pole-Formfaktor [14].
wichtige Polarisationsvariable erweitert (K.-H. Althoff, P. Brinkmann, H. M.
Fischer, W. J. Schwille, R. Wedemeyer). An der 2,5 GeV-Maschine wurden die
weltweit ersten Messungen an polarisierten Neutronen durchgeführt. Die dafür
benötigten polarisierten Targets sind Bonner Entwicklungen (siehe unten).
In weiteren Photoproduktionsexperimenten wurden die Comptonstreuung gemessen (M. Jung, R. Wedemeyer) und die nun zugängige schwellennahe Erzeugung von Hyperonen, Kaonen, η-Mesonen und leichten Vektormesonen untersucht (D. Husmann, R. Kose, G. Nöldeke, W. Paul, T. Reichelt, W. J.
Schwille).
Die Ein-Pion-Photoproduktion wurde durch die Elektroproduktion auf virtuelle Photonen erweitert (J. Drees, G. Knop, K. Heinloth, H. E. Stier). Abbildung 7 zeigt eines der Ergebnisse: Der Wirkungsquerschnitt für die Elektroproduktion von neutralen Pionen in Rückwärtsrichtung geht nicht stetig in den
der π 0 -Photoproduktion über, wenn die Virtualität des Photons (|q 2 |) gegen
Null geht [14]. Im vorliegenden Experiment wurde die Elektroproduktion von
π 0 erstmals für extrem kleine Werten von |q 2 | und große Nukleon-Rückstoßimpulse gemessen. Während die |q 2 |-Abhängigkeit des Wirkungsquerschnitts von
den reellen zu den virtuelle Photonen im Bereich der dritten Nukleonresonanz,
bei W=1540 MeV, durch den ρ-Pol-Formfaktor beschrieben wird (linke Abbil9
dung), geht das einheitliche Bild im Bereich der höheren Nukleonresonanzen,
bei W=1700 bis 1900 MeV, verloren: Die Wirkungsquerschnitte mit virtuellen
Photonen sind signifikant kleiner als es dem Verlauf des ρ-Formfaktors entspräche (mittlere Abbildungen). Die Unterschiede werden mit zunehmender
Schwerpunktsenergie größer (rechte Abbildung). Daraus konnte man schließen,
dass sich der Produktionsmechanismus für die π 0 -Elektroproduktion schon für
extrem kleine Photon-Virtualität von dem der π 0 -Photoproduktion im Energiebereich der Nukleonresonanzen zu unterscheiden beginnt.
Formfaktoren wurden durch elastische Elektronenstreuung an Proton und
Deuteron-Targets gemessen. Die ersten erfolgreichen Messungen am Proton
wurden bereits in den 60-er Jahren durchgeführt (G. Knop). Das Messprogramm wurde mit polarisierten Targets fortgesetzt (K.-H. Althoff, W. Meyer).
In den 80-er Jahren wurden durch Messungen an einem tensor-polarisierten
Deuterium-Target die drei Formfaktoren des Deuterons separat bestimmt [15].
Fast zeitgleich mit dem Bau des 2,5 GeV-Synchrotrons war in Bonn eine bis
heute sehr erfolgreiche Arbeitsgruppe für die Entwicklung und den Bau von
polarisierten Targets aufgebaut worden (K.-H. Althoff, H. Dutz, S. Goertz,
W. Meyer). Die in Bonn entwickelten N H3 - und N D3 -Targets kamen weltweit zum Einsatz, so auch im SMC-Experiment am CERN zur Messung polarisationsabhängiger Strukturfunktionen des Nukleons. Auf dem Gebiet der
frozen spin-Targets wurde in den 90-er Jahren in Bonn eine interne Haltespule entwickelt [16], die es erstmals ermöglichte, Streuexperimente an Targets
mit longitudinaler Spin-Ausrichtung in Detektoren mit großer Raumwinkelakzeptanz durchzuführen. Eine solche Haltespule wurde Ende der 90-er Jahre
im GDH-Experiment an den Beschleunigern MAMI in Mainz und ELSA in
Bonn (siehe unten) erfolgreich eingesetzt. Ein zunächst in Bonn entwickeltes
Lithium-Deuterid-Target kommt im COMPASS-Experiment am CERN (siehe
unten) in tief inelastischer Lepton-Nukleon-Streuung zum Einsatz. Das erweiterte CB-ELSA/TAPS-Experiment in Bonn (siehe unten) arbeitet mit einem
polarisierten Butanol-Target, das eine gute Polarisationsresistenz gegenüber
Strahlungsschäden besitzt.
Die einzelnen Projekte am 2,5 GeV-Synchrotron, d.h. Bau und Betrieb des
Synchrotrons, Entwicklung und Bau der Detektorkomponenten, einschließlich
der polarisierten Targets, Aufbau der Experimente und deren Durchführung
wurden wie schon an der 500 MeV-Maschine im Wesentlichen erst durch
die Arbeiten von Diplomanden und Doktoranden des Physikalischen Instituts
möglich 5 .
5
Eine große Zahl der Absolventen wurde Hochschullehrer oder ging auf verantwortliche Positionen in Forschungszentren: G. Anton, K.-H. Becks, C. H. Berger,
R. Brockmann, V. Burkert, H. Herr, M. Jung, K. Koenigsmann, H. Kolanoski, B.
Langenbeck, M. Leenen, B. Löhr, W. Meyer, K. Rith, W. J. Schwille, D. Trines, U.
Trinks, H. Wahlen, W. Wallraff, E. Weiße.
10
In den frühen 70-er Jahren war mit dem OMEGA-Spektrometer beim CERN
ein Mehrteilchendetektor entwickelt worden, mit dem ähnlich wie mit Blasenkammern komplexe Ereignistopologien im vollen Raumwinkel gemessen werden konnten, nun aber unter wesentlich besseren experimentellen Bedingungen. Dank der elektronischen Auslese der Messdaten konnte auf interessante
Ereignisse getriggert und die Rekonstruktion der Ereignisse statt über die Vermessung von Filmen über die rechnergesteuerte Auswertung von Driftkammerdaten vorgenommen werden. Detektorkomponenten zu Triggerzwecken, für
Teilchenidentifikation und elektromagnetische Kalorimetrie wurden von den
an OMEGA-Experimenten beteiligten externen Instituten gebaut.
CERN
Bonn war ein Jahrzehnt lang in internationalen Kollaborationen an Experimenten mit dem OMEGA-Spektrometer beteiligt (K. Heinloth, M. Jung, E.
Paul mit Diplomanden und Doktoranden 6 ). Mit den beim CERN verfügbaren
Energien war es nun möglich, die in Bonn und bei DESY untersuchte Physik
zur Photoproduktion zu höheren Energien hin fortzusetzen. Für die Photoproduktionsexperimente am OMEGA-Spektrometer wurde in Bonn u.a. einer
der weltweit ersten Übergangsstrahlungsdetektoren zur Trennung von Pionen, Kaonen und Protonen entwickelt, gebaut und erfolgreich eingesetzt. Ein
herausragendes Ergebnis, das im Experiment WA69 der OMEGA-PHOTONKollaboration unter Bonner Federführung erarbeitet wurde, war der Nachweis,
dass es für die Beschreibung der Photoproduktion von Hadronen in harten Prozessen nicht genügt, das Photon als Quelle von Vektormesonen zu betrachten,
sondern dass, mit zunehmender Härte der Streuung, das Photon auch durch
eine direkte (elektromagnetische) Kopplung an die Quarks im Proton mehr
und mehr zum γp-Wikungsquerschnitt beiträgt [17]. Abbildung 8 zeigt den
Wirkungsquerschnitt der inklusiven Ein-Teilchen-Photoproduktion als Funktion des Transversalimpulses (Maß für die Härte der Streuung) im Vergleich
mit einer Kombination von im gleichen Experiment gemessenen Pion- und
Kaon-induzierten Wirkungsschnitten, mit denen nach Maßgabe des VektorDominanz-Modells das Photon als Quelle von Vektormesonen approximiert
wird. Bei kleinen Transversalimpulsen ist das Verhältnis der Wirkungsquerschnitte nahezu eins. Der bei Transversalimpulsen oberhalb von ca. 1 GeV
zunehmende Überschuss weist die zusätzliche, harte Komponente aus, in Übereinstimmung mit Rechnungen, die im Rahmen der Quantenchromodynamik
QCD durchgeführt wurden. Die Auffassung des Photons als Superposition verschiedener Komponenten ist von grundlegender Bedeutung für das Verständnis
der Streuprozesse mit quasi-reelen Photonen, wie sie in den Experimenten H1
und ZEUS am Elektron-Proton-Speicherring HERA bei DESY in Hamburg
seit 1993 untersucht werden (siehe unten).
Bei DESY wurde 1976 der e+ e− -Speicherring PETRA fertiggestellt. Für die
6
Die Absolventen B. Diekmann, P. Mättig und H. Marsiske wurden Hochschullehrer bzw. leitende Forscher.
11
DESY
Abbildung 8. Quotient der Wirkungsquerschnitte
dron-induzierte inklusive Einteilchenerzeugung [17].
für Photon-
Abbildung 9. TASSO-Ereignis mit drei Jets [19].
12
und Ha-
Experimente haben weltweite internationale Kollaborationen eine neue Generation von Mehrzweckdetektoren gebaut, die es ermöglichte, hoch-komplexe
Vielteilchenendzustände zu messen. Vom Physikalischen Institut in Bonn aus
gab es eine starke Beteiligung am TASSO-Experiment. Bonn war maßgeblich
am Bau von Vorwärtsdetektor, Luminositätsmonitor, zentraler Driftkammer
und Magnetspule involviert und hat sich an den Datenanalysen beteiligt (H.
M. Fischer, E. Hilger, G. Knop, H. Kolanoski, R. Wedemeyer, Diplomanden
und Doktoranden 7 ).
Bei den mit PETRA erreichten hohen Energien konnten an e+ e− -Reaktionen
quantitative Untersuchungen zu elektromagnetischen, starken und schwachen
Wechselwirkungen durchgeführt werden [18].
In vier großen Experimenten, vornean TASSO, wurde das Gluon als Trägerteilchen der starken Kraft, welche die Grundbausteine aller Kernmaterie - die
Quarks - aneinander bindet, nachgewiesen: In der e+ e− -Vernichtung entstehen
neben Zwei-Jet-Ereignissen, die aus der Hadronisierung des erzeugten QuarkAntiquark-Paares hervorgehen, auch Ereignisse mit einem dritten Jet, der aus
der Hadronisierung eines zuvor abgestrahlten Gluons entsteht. Abbildung 9
zeigt ein solches Drei-Jet-Ereignis, das sich von einem Ereignis mit zwei kolliniaren Jets deutlich unterscheidet.
Über die Hadronenerzeugung mit e+ e− -Reaktionen gab es auch einen Zugang
zur Photon-Photon-Streuung (Zwei-Photon-Physik), an denen Bonn vorrangig beteiligt war. Die Datenanalysen haben neue Einblicke in die hadronische
Natur des Photons geliefert [20].
Am 2,5 GeV-Synchrotron hatte sich die Beschränkung der Zählraten durch den
kleinen Duty-Faktor (der Elektronstrahl stand nur während maximal 5% der
Zeit zur Verfügung) mehr und mehr bemerkbar gemacht. Zusammen mit dem
Wunsch nach höherer Energie führte dies zum Bau der Elektronen-StretcherAnlage ELSA, einem Ringbeschleuniger mit einer Maximalenergie von 3,5 GeV
[21–23]. Das 2,5 GeV-Synchrotron dient dabei als Vorbeschleuniger (BoosterSynchrotron) für ELSA. Die Anlage wurde in vier Jahren gebaut (K.-H. Althoff, D. Husmann) und wird seit 1987 für Experimente zur Verfügung gestellt
(W. Hillert, D. Husmann). ELSA und die Experimente an ELSA wurden durch
betreute Arbeiten von Diplomanden und Doktoranden erst möglich 8 .
Abbildung 10 gibt einen Überblick über die derzeitige Beschleunigeranlage
mit dem CB-ELSA/TAPS-Detektor (Crystal Barrel) und SynchrotronlichtExperimenten. Spinpolarisierte Elektronen werden durch Photoemission an
Gallium-Arsenid-ähnlichen Kristallen erzeugt [23]. Bei Einstrahlung von zir7
Die Absolventen L. Köpke und N. Wermes wurden Hochschullehrer.
Die Absolventen K. Jakobs, H. Honscheidt, H. Merkel, H. C. Schultz-Coulon und
A. Wolf wurden Hochschullehrer.
8
13
Bonn
Magnetstromversorgung
Synchrotron
Elektronen-Stretcher-Anlage (ELSA)
Tagger
M
Dipol (horizontal)
Dipol (vertikal)
Quadrupol
T
HadronenphysikExperimente
Extraktionssepta
supraleitendes
Solenoid
Transformatoren,
Filter
Polarisiertes
Target
Crystal Barrel
PETRA-Resonator
Tagger
(im Aufbau)
Solenoid
Hochfrequenz
SprungQuadrupol
NHV1
CB-Detektor
ComptonPolarimeter
10 kV
Trafo
Skew-Quadrupol
Sextupol
Combined-Function-Magnet
DORIS-Resonator
Flugzeitwände
Stretcherring
0,5 - 3,5 GeV
SynchrotronlichtExperimente
BoosterSynchrotron
BN3 BN2
0,5 – 1,6 GeV
Injektionssepta
SprungQuadrupol
DESY-Resonator
BN1
EKS
LINAC 1
(20 MeV)
BN0
Halbzelle des Stretcherrings
Q BPM
M
SkewQuadrupole
KA2
Mott-Polarimeter
Elektronenkanone
Elektronenkanone
LINAC 2
pol. eQuelle
(50 keV)
Labor des FZK
Messplatz zum
Detektor-Test
KA1
(26 MeV)
0m
5m
10 m
15 m
Abbildung 10. ELSA-Beschleunigeranlage.
Abbildung 11. Transferregion zwischen 2,5 GeV-Synchrotron und ELSA.
kular polarisiertem Laserlicht wird der Polarisationsgrad zu nahezu 100% auf
die Elektronen übertragen. Der longitudinal polarisierte Elektronenstrahl wird
mit Hilfe eines elektrostatischen 90o -Deflektors vor dem LINAC gedreht, da
er vor Einschuß in das Synchrotron transversal polarisiert sein muß. Nach
Vorbeschleunigung im Synchrotron werden die Elektronen in den ELSA-Ring
transferiert (Abb. 11), dort nachbeschleunigt und durch langsames Abschälen
des Strahls zu einem nahezu kontinuierlichen Strahl geformt. Nach der Strahlextraktion kann der Elektronenspin mit Hilfe eines supraleitenden Solenoids
und der Ablenkmagnete der Strahlführung longitudinal ausgerichtet werden.
Den Polarisationsgrad, der für aus ELSA extrahierte Elektronen erreicht wur14
Abbildung 12. Polarisationsgrad der aus ELSA extrahierten Elektronen [23].
de, zeigt Abb. 12 am Beispiel der Messperiode des GDH-Experiments (siehe
unten).
Target−Material in Haltespule
Kryostat
Pol.−Magnet
DAPHNE−Detektor
Abbildung 13. Das GDH-Experiment im offenen Zustand: mit DAPHNE-Detektor,
Targetmaterial im Kryostat und Polarisierungsmagnet für das Target (Aufbau in
Mainz).
An ELSA wird ein vielseitiges experimentelles Programm in Kollaboration
mit anderen Instituten in Deutschland und Europa durchgeführt 9 . Zu den
9
Einen Überblick über die Experimente und die Publikationen findet man in [15].
15
erfolgreichen, bereits abgeschlossenen Experimenten an ELSA gehören das
ELAN-Experiment für Präzisionsmessungen der Ein-Pion-Elektroproduktion
an Protonen und sehr leichten Kernen im Bereich der Isospin-3/2-NukleonResonanzen (R. W. Gothe, B. Schoch), das PHOENICS-Experiment zur Photoproduktion von Mesonen im Schwellenbereich (G. Anton, J. Arends, K.-H.
Althoff, G. Nöldeke, W. Meyer), das bereits erwähnte GDH-Experiment mit
einem frozen spin-Target in supraleitender Haltespule und Polarisationsmagnet (Abb. 13), das zum Test der Gerasimov-Drell-Hearn-Summenregel eingesetzt wurde (H. Dutz, F. Klein, T. Reichelt, B. Schoch), und das SAPHIRExperiment zur Messung der Photoproduktion von geladenen Mehrteilchenendzuständen im nahezu vollständigem Raumwinkel (K. Heinloth, F. Klein,
E. Paul, M. Ostrick, W. Schwille, R. Wedemeyer).
Der mit dem SAPHIR-Detektor (Abb. 14) untersuchte kinematische Bereich
deckt die Schwellenbereiche für die Erzeugung von Strange Particle-Paaren
einerseits und leichten Vektormesonen andererseits ab und war daher prädestiniert, um nach leichten Baryonenresonanzen zu suchen, die in Kaon-Hyperonbzw. Nukleon-Vektormeson-Endzustände zerfallen. Die Existenz bisher nicht
beobachteter Resonanzen, die an solche Endzustände koppeln, wird in vielen Modellrechnungen vorhergesagt. Das SAPHIR-Experiment hat dazu eine
ganze Reihe neuer Erkenntnisse geliefert [24].
Spectrometer Arrangement
S
A
for PH
PHoton IInduced R
Reactions
electromagnetic
calorimeter
plastic scintillators
γ
electron
beam
target
tagging
system
planar
drift chambers
central
drift chamber
Abbildung 14. Das SAPHIR-Experiment.
SAPHIR wurde 1998 durch das CB-ELSA/TAPS-Experiment abgelöst (Abb.
15). Der CB-ELSA/TAPS-Detektor wurde auf Initiative von E. Klempt (HISKP
Bonn) und B. Schoch aufgebaut, um hochauflösende Spektrometrie mit Me16
sonen, die in Multi-Photon-Endzustände zerfallen, vor allem mit π 0 , η und ω,
durchzuführen. Er ist damit weitgehend komplimentär zu anderen existierenden Mehrteilchenspektrometern für Photonstrahlenergien im GeV-Bereich, die
im wesentlichen auf den Nachweis geladener Teilchen optimiert sind. Herzstück
für die Messung der Photonen ist der Crystal Barrel-Detektor, der von der Crystal Barrel Kollaboration am CERN übernommen wurde. Im CB-ELSA/TAPSExperiment wird vorrangig die Anregung fehlender“ baryonischer Resonan”
zen in der Photoproduktion an Protonen und Kernen untersucht [25] (F. Klein,
H. Schmieden, B. Schoch).
Ein interessantes Ergebnis von CB-ELSA/TAPS zeigt Abb. 16: Das ω-Meson
scheint an Masse zu verlieren, wenn es statt an Wasserstoff an schweren Kernen
(Niobium) erzeugt wird. Das wird im Zusammenhang mit einer fundamentalen Symmetrie gesehen: Starke Wechselwirkungen sind invariant gegenüber
einem Wechsel der Chiralität von Quarks. Allerdings ist diese Symmetrie in
der Natur nicht realisiert, sondern spontan gebrochen. Durch diese Symmetriebrechung erhalten Quarks eine Konstituentenmasse und Vektormesonen
werden schwerer als pseudoskalare Mesonen. Von der Quantenchromodynamik QCD inspirierte Modelle sagen voraus, daß die chirale Symmetrie bei
hohen Dichten und bei hohen Temperaturen wiederhergestellt wird. Das Ergebnis von CB-ELSA/TAPS hat gezeigt, daß es schon bei der Dichte normaler
Kerne Anzeichen für eine Absenkung der Masse des ω-Mesons gibt, in Übereinstimmung mit theoretischen Vorhersagen [26].
Zur Zeit wird das CB-ELSA/TAPS-Experiment im Rahmen des Sonderforschungsbereichs SFB/TR16 erweitert. In dem neuen Experiment (H. Dutz,
S. Goertz, W. Hillert, F. Klein, M. Ostrick, H. Schmieden) werden transversal polarisierte Photonen aus ELSA an polarisierten Targets absorbiert (Abb.
17). Forschungsschwerpunkt ist die spinabhängige Untersuchung der elektromagnetischen Anregung subnuklearer Systeme.
Parallel zu den Teilchenexperimenten an ELSA werden Experimente durchgeführt, die das am Elektronbeschleuniger gratis gelieferte Synchrotronlicht
nutzen. W. Paul hatte die darin liegenden Möglichkeiten schon früh erkannt.
Erste Absorptionsmessungen hatte es schon am Ultraviolettkontinuum der
500 MeV-Maschine gegeben [8]. Die Absorptionsmessungen wurden mit der
härteren Synchrotronstrahlung an der 2,5 GeV-Maschine fortgesetzt [13]. An
ELSA wurde ein separates Synchrotronstrahlungslabor aufgebaut, in dem die
Instrumentierung die Nutzung sowohl des Kontinuums der Synchrotronstrahlung von ELSA als auch von (mit Hilfe von Chromatoren herausgefilterter)
monchromatischer Strahlung im Bereich von ca. 5 eV bis ca. 20 keV erlaubt. Schwerpunkte der durchgeführten Arbeiten liegen im Bereich der Röntgentiefenlithographie mit der damit verbundenen Strahlenchemie und in der
Röntgenabsorptionsspektroskopie (B. Drerup, J. Hormes, H. Modrow, F. von
Busch).
17
TOF
TAPS
Crystal Barrel
LH 2− Target
Tagging−System
Abbildung 15. Das CB-ELSA/TAPS-Experiment.
CERN
Am CERN wurde die nächste Generation von Experimenten mit einem in den
80-er Jahren neu gebauten Ring von 26,7 km Umfang, dem Large-ElectronPositron-Collider LEP, zwischen 1989 und 2000 durchgeführt. Das Physikalische Institut Bonn war am OPAL-Experiment beteiligt (H. M. Fischer, P. Fischer, G. Knop, M. Kobel, B. Nellen, A. Stahl, N. Wermes 10 ) und hat maßgeblich zum Bau der Jetkammer und des Vorwärts-Silzium/Wolfram-Kalorimeters
beigetragen. Das OPAL-Experiment hat mit sehr präzisen Messungen, gemeinsam mit drei parallel durchgeführten Experimenten, das Standardmodell
der Teilchenphysik endgültig etabliert. Herausragende Ergebnisse waren u.a.
die experimentelle Verifikation der Existenz von genau drei leichten Neutri10
Die Absolventen O.Biebel, M. Hauschild, E. v. Törne und M. Schumacher wurden
Hochschullehrer bzw. leitende Forscher in Forschungszentren.
18
600
→
2
counts / [ 12 MeV/c ]
2
counts / [ 12 MeV/c ]
800
| pω |< 0.5 GeV/c
Nb
LH2
400
200
Mpeak = 722 MeV/c2
Nb - LH2 data
400
200
0
0
600
700
800 900
2
Mπ γ [MeV/c ]
600
700
800
900
2
Mπ γ [MeV/c ]
Abbildung 16. Vergleich der ω-Signale, erzeugt an Wasserstoff und an Niobium [26].
Kryostat + pol. Target
e
−
Crystal Barrel
TOF
Photon−
kamera
Tagging−System +
Moeller−Polarimeter
γ −Veto
Midi−TAPS
Abbildung 17. Das CB-ELSA/TAPS-Experiment mit Polarisation im Eingangszustand.
nos über die Messung des Z 0 -Signals und die sehr präzise Quantifizierung
von Strahlungskorrekturen, die zunächst zur korrekten Vorhersage der TopQuark-Masse und im Zusammenspiel mit den Experimenten CDF und D0 am
TEVATRON zur Entdeckung des Top-Quarks geführt hat, und, mit sehr eindrucksvoller Präzision, Vorhersagen zur Masse des für die Brechung der elektroschwachen Symmetrie postulierten Higgs-Teilchens geliefert hat (Abb.18).
Nach dem Higgs-Teilchen wird in den nächsten Jahren am Large Hadron Collider LHC beim CERN gesucht werden (siehe unten). In den Physikanalysen,
19
6
Theory uncertainty
∆α(5)
had =
5
0.02758±0.00035
0.02749±0.00012
incl. low Q2 data
∆χ2
4
3
2
1
0
Excluded
30
100
300
mH [GeV]
Abbildung 18. Vorhersage der Higgsmasse über die Messung der Strahlungskorrekturen durch die LEP-Experimente (vorläufiges Ergebnis [27]).
die in der Bonner Gruppe durchgeführt wurden, lagen die Schwerpunkte in
der Higgs-Suche und auf dem Gebiet der Physik des schweren τ -Leptons. Die
Erzeugung von τ + τ − -Paaren diente als Laboratorium zum Studium seiner Zerfallsprodukte und der zugrunde liegenden Wechselwirkungen. Bis Ende 2006
wurden Ergebnisse der OPAL-Kollaboration in 419 wissenschaftlichen Artikeln publiziert, davon 70 mit maßgeblicher Beteiligung von Mitgliedern der
Bonner OPAL-Gruppe.
DESY
Mit dem Bau von HERA, dem Elektron-Proton-Speicherring bei DESY, in
den achtziger Jahren hat sich das Physikalische Institut der Universität Bonn
in internationaler Kollaboration am ZEUS-Experiment beteiligt (I. C. Brock,
J. Crittenden, B. Diekmann, K. Heinloth, E. Hilger, U. Katz, E. Paul, R. Wedemeyer 11 ). Abbildung 19 zeigt den Aufbau des Detektors. Bonn hat maßgeblich zum Bau der planaren Driftkammern für die Spurmessung, des Übergangsstrahlungsdetektors für den Nachweis von Elektronen und des UranSzintillator-Kalorimeters für die Energiemessung der erzeugten Teilchen beigetragen. Zur Verbesserung der Spurmessung wurde 2001 der Übergangsstrah11
Die Absolventen A. Bornheim, K. Desch, L. Feld, A. Frey, M. Grothe, C. Rembser
und M. Wang wurden Hochschullehrer oder sind in leitender Position in einem
Forschunszentren tätig.
20
Urankalorimeter
Myonkammern
Solenoid
p
e
Mikrovertex−Detektor
zentrale Driftkammer
Straw Tube Tracker +
planare Driftkammern
Abbildung 19. Das ZEUS-Experiment.
lungsdetektor durch einen Straw-Tube-Tracker ersetzt. Bonn ist seit Beginn
der ZEUS-Planung mit Diplom- und Doktorarbeiten außer am Detektorbau,
auch an der Entwicklung von Software und an Datennanalysen auf vielen Gebieten beteiligt. Im Mittelpunkt der Analysen stehen die Bestimmung von
Protonstrukturfunktionen in tief-inelastischen Prozessen mit und ohne Farbladungsaustausch, die Aufschluss über Quark- und Gluoninhalt des Protons
und des resolved Photons liefern, die Überprüfung der Quantenchromodynamik QCD in einem weiten kinematischen Bereich, beginnend im Übergangsgebiet von weicher zu harter Elektron-Proton-Streuung, insbesondere auch in
Photoproduktionsprozessen, sowie die Suche nach Abweichungen vom Standardmodell im Rahmen von über das Standardmodell hinausreichenden Modellvorhersagen [28]. ZEUS liefert bereits heute eine der weltweit genauesten
Messungen der starken Kopplungskonstanten αs . Die Messungen verifizieren
mit zunehmender Präzision die Übereinstimmung mit der QCD-Vorhersage
einer mit wachsender transversaler Energie der erzeugten Jets abnehmenden Kopplungskonstanten αs (Abb. 20). Bis Ende 2006 wurden Ergebnisse
der Analysen der ZEUS-Kollaboration in 169 wissenschaftlichen Artikeln publiziert, davon 30 mit maßgeblicher Beteiligung von Mitgliedern der Bonner
ZEUS-Gruppe.
Im COMPASS-Experiment beim CERN, das Ende der 90-er Jahre entwickelt
und aufgebaut wurde, ist das Hauptziel, über die Messung der Streuung longitudinal polarisierter Müonen an longitudinal polarisierten Nukleonen Heli21
CERN
αs
ZEUS
-1
ZEUS 82 pb
QCD
(αs(MZ) = 0.1207 ± 0.0040)
0.2
0.15
} stat.
0.1
10
15
+
th.
} stat.
syst. }
20
25
30
35
40
45
jet
E T,B (GeV)
Abbildung 20. Messung der Starken Kopplungskonstante α s als Funktion der
transversalen Jetenergie im Breitsystem [29]. Innere/äußere Fehlerbalken: statistische/kombinierte stat. und system. Fehler; gepunktet: theoretische Unsicherheit; schattiert: Vorhersage durch die Renormalisierungsgruppe für den Weltdurchschnittswert von αs (MZ ).
zitätsbeiträge des Gluons zum Nukleonspin mit hoher Genauigkeit zu bestimmen. Bonn ist mit der Entwicklung von Triggerelektronik und Datenanalysen
an dem Experiment beteiligt (F. Klein, S. Goertz, M. Ostrick, J. Pretz). Die
COMPASS-Kollaboration hat erste Ergebnisse zu Untersuchungen des Nukleonspins bereits veröffentlicht [30].
FNAL
Seit einigen Jahren ist Bonn am D0-Experiment am TEVATRON im Fermilab
beteiligt (V. Büscher, A. Quadt, E. von Törne, N. Wermes). Schwerpunkt der
Bonner Datenanalysen sind die Messungen von Produktionsquerschnitt, Masse
und Spin des Top-Quarks.
CERN
Die nahe Bonner Zukunft am CERN gehört dem ATLAS-Experiment am
Large-Hadron-Collider LHC ( I. C. Brock, V. Büscher, K. Desch, P. Fischer,
22
Abbildung 21. Modul für den Barrel des Pixeldetektors von ATLAS, bestehend aus
16 front end-Chips mit ca. 46000 Pixeln der Größe 50x400 µm2 [31].
M. Schumacher, E. von Törne, N. Wermes 12 ). Bonn ist mit Entwicklung und
Bau eines Pixel-Detektors am Innendetektor von ATLAS beteiligt. Dafür betreibt das Physikalische Institut Bonn ein Speziallabor zur Entwicklung von
Halbleitersensoren und integrierten Elektronik-Chips, das über das ATLASExperiment hinaus auch für andere Anwendungsbereiche, vor allem in medizinischen und biotechnischen Bereichen, genutzt wird.
Abbildung 21 zeigt ein für den Barrel-Detektor von ATLAS entwickeltes Modul. 13 Module bilden ein stave und 112 dieser staves bilden den Barrel des Pixeldetektors [31]. Die damit erreichte gute Vertexauflösung für einzelne Spuren
im Pixeldetektor veranschaulicht die simulierte Impact-Parameter-Verteilung
von Müonen als Funktion des Transversalimpulses (Abb. 22).
Bei den Physikanalysen der ATLAS-Daten wird es schwerpunktsmäßig um die
Suche nach dem Higgs-Teilchen gehen, wofür in Bonn umfangreiche Untersuchungen des Entdeckungspotentials für dieses Teilchen im Standard-Modell
der Elementarteilchenphysik und dessen minimale supersymmetrische Erweiterungen bereits durchgeführt wurden. Weitere Schwerpunkte werden auf der
Top-Physik und auf der Suche nach supersymmetrischen Teilchen liegen. Die
ersten Messungen werden für 2008 erwartet.
Die Teilchenphysik ist Schwerpunkt in Forschung und Lehre im Physikalischen
12
mit wissenschaftlichen Mitarbeitern, Diplomanden und Doktoranden.
23
Resümee
Abbildung 22. Transversaler Impact-Parameter als Maß der Vertexauflösung des
ATLAS-Spursystems für zentrale (η = 0) bzw. strahlnahe (η < 2.5) Müonen. Die
Punkte beschreiben die Ergebnisse verschiedener Simulationsprogramme [32].
Institut der Universität, seitdem Teilchenbeschleuniger in Europa gebaut werden. Unter langjähriger Führung des Nobelpreisträgers Wolfgang Paul hat sich
die experimentelle Teilchenphysik auf den Gebieten der Beschleunigertechnologie und der Experimente an Beschleunigern zur zentralen Forschungsaktivität
in Bonn entwickelt. Diplom- und Doktorarbeiten 13 , die an Beschleunigern im
Physikalischen Institut in Bonn, am CERN, bei DESY und am FNAL durchgeführt wurden, haben wissenschaftliche Ergebnisse in großer Vielfalt geliefert,
die in angesehenen Fachzeitschriften veröffentlicht wurden.
Auf Initiative von W. Paul ist Anfang der 60-er Jahre auch die Theoretische
Teilchenphysik nach Bonn gekommen. Sie ist bis heute mit vielfältigen Aktivitäten in Forschung und Lehre im Physikalischen Institut vertreten. Die
Geschichte der Theoretischen Teilchenphysik in Bonn hier einzubinden, hätte
aber den Rahmen dieses Artikels gesprengt.
Das Physikalische Institut Bonn engagiert sich in guter Tradition weiter bei
den weltweiten Zukunftsplanungen mit neuen Beschleunigern und neuen Experimenten.
13
Insgesamt wurden bis Ende 2006 ca. 600 Diplomarbeiten, ca. 390 Doktorarbeiten
durchgeführt und 26 Habilationsschriften angefertigt.
24
Ich möchte mich bei allen Kollegen am Physikalischen Institut der Universität Bonn,
vor allem bei I. C. Brock, K. Desch, K. Heinloth, E. Hilger, D. Husmann, F. Klein,
G. Knop und W. Schwille, für ihre nachhaltige Unterstützung beim Verfassen dieses Artikels herzlich bedanken. Erst durch ihre Bereitschaft, bei der Klärung von
Sachverhalten mitzuwirken und meine zwischenzeitlichen Textentwürfe kritisch zu
kommentieren, bin ich an entscheidenden Stellen weiter gekommen. Mein Dank gilt
auch H. Dutz, J Große-Knetter, E. Klempt, H. Modrow und D. Walther, die mir
Material zur Verfügung gestellt haben, und O.M. Kind und N. Jöpen, die mir bei
der Gestaltung von Text und Abbildungen geholfen haben.
25
Literatur
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Physik. Institut - BONN UNIV PIB 8 - 12 Oktober 1973.
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publiziert, s. http://www-biblio.physik.uni-bonn.de .
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[18] P. Duinker, Rev. Mod. Phys. 54, 325 (1982).
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University, BONN-IR-87-30, Oktober 1987.
[22] D. Husmann und W. J. Schwille, Physikalische Blätter 44, Nr.2 (1988).
26
[23] W. Hillert, Eur.Phys.J. A 28, 139 (2006).
[24] SAPHIR Homepage, http://saphir.physik.uni-bonn.de .
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[28] ZEUS Homepage, http://www-zeus.desy.de .
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[30] COMPASS Homepage, http://wwwcompass.cern.ch .
[31] J. Grosse-Knetter, Nucl. Instr. and Meth. A 568, 252 (2006); also preprint
physics/0506228.
[32] ATLAS Collaboration, A. Poppleton et al., ATLAS Note ATL-Com-INDET2005-008.
27

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