pdf-Version - Passagen

Transcrição

pdf-Version - Passagen
Forschungsseminar "Viennale" Wintersemester 2012/13. Lehrveranstaltung am tfm | Institut für Theater-, Filmund Medienwissenschaft der Universität Wien
http://passagen.univie.ac.at/fseviennale
Lücke.Leere.Wahrheit.
Ruínas, Regie: Manuel Mozos, P 2009. Syrakus, Regie: Klaus Wyborny, D 2012.
Ein Essay von Tatjana Hoser
Fragment, Geschichtlichkeit, experimentell-dokumentarische Form, filmische Schauplätze im
Süden Europas, die Suche nach Spuren der Vergangenheit in der Gegenwart, Montage der
Bilder, Verhältnis von visueller und auditiver Ebene, Subjektivität – all jene Aspekte in Manuel Mozos’ Ruínas und Klaus Wybornys Syrakus scheinen auf den ersten Blick Anlass zum
Anstellen eines Vergleiches zwischen diesen Werken zu geben. Definitiv weisen die Filme
Ähnlichkeiten in ihren Grundstrukturen auf, tatsächlich klafft zwischen Ihnen eine schier unüberbrückbare Divergenz. Doch gerade jenes Oszillieren zwischen Analogie und Diskrepanz
bereichert die Gegenüberstellung, die parallele Betrachtung der Filme.
Bereits die ersten Einstellungen Manuel Mozos´ essayistischem Werk Ruínas führen uns in
die Thematik des Filmes, in das Anliegen des Autors ein: Zu sehen ist die Sprengung eines
Hochhauses, gefolgt von einem Schnitt auf einen von Menschen stark frequentierten Friedhof
in Portugal. Wir erfahren die Geschichte eines Denkmals, welche sich als die Geschichte der
dort ruhenden Henriqueta Emìlia da Conceiao e Sousa erweist, einer noch heute verehrten
Frau, deren Biografie und Leben, vom Element der Tragik durchzogen, in anekdotischer Form
in der Erinnerung der Menschen ihren Platz in der Gegenwart gefunden hat. Doch das Motiv
des Relikts erscheint in dieser Sequenz in Ergänzung zum Grab- und Denkmal zweifach: Henriqueta Emìlia da Conceiao e Sousa, so erzählt man uns, soll sich nach dem Tod ihrer Geliebten deren Kopf als Erinnerungsstück bewahrt haben.
Der Film kreist um den Terminus der Vergänglichkeit, speist sich aus einem Verhältnis von
Relikten vergangener Zeiten und Erinnerung, Vergangenheit und Gegenwart, Stillstand und
Bewegung, Wort und Bild, Raum und Zeit, Örtlichkeiten und Geschichte(n). Die Sprengung
und damit absolute Vernichtung und Auslöschung des Hochhauses in der ersten Einstellung
bleibt Einzelfall, in der direkten Gegenüberstellung mit der nachfolgenden Friedhofsequenz
wird uns die Bedeutung der Reliquie vor Augen geführt: Sie ist Verbindungsglied zwischen
Vergangenem und Gegenwärtigem, sichert dem Zurückliegenden seinen Platz und sein Fortbestehen, fungiert als Träger von Erinnerungen und Überlieferungen. Dem Relikt schenkt
Mozos in Ruínas (wie bereits der Titel verrät) seine Aufmerksamkeit, er führt seine ZuschauerInnen im Fortgang des Filmes in die Ruinenlandschaft Portugals ein, zeigt verlassene Orte
Seite 1
Forschungsseminar "Viennale" Wintersemester 2012/13. Lehrveranstaltung am tfm | Institut für Theater-, Filmund Medienwissenschaft der Universität Wien
http://passagen.univie.ac.at/fseviennale
und deren Geschichte(n) von einer Region zur nächsten, von Vila do Conde über Lissabon
nach Porto. So zahlreich wie die besuchten Ortschaften und Städte sind auch die ehemaligen
Funktionen der nun leer stehenden Gebäude: Wohnhäuser, Fabriken, Kinos, Theater, Kirchen,
Geschäfte, Industrieanlagen, Bahnhöfe und Kraftwerke.
Formal beruht der Film auf einer fragmentarisch montierten Aneinanderreihung dieser Orte,
zu welchen aus dem Off ertönende Geschichten erklingen. Während man als RezipientIn zu
Beginn des Filmes noch darum bemüht ist, eine stärkere Verbindung zwischen visueller und
auditiver Ebene herzustellen – also die erzählten Fakten oder Geschichten auf das Bild der
konkreten Ruine zu beziehen, so wird dieser Deutungszusammenhang im Laufe des Filmes
immer ambivalenter. Vor allem die einführende Sequenz am Friedhof mit dem Denkmal und
der Geschichte der Henriqueta Sousa, welche einen eindeutigen Zusammenhang zwischen
Bild/Statue und einer konkreten Person und deren Schicksal herstellt, suggeriert der ZuschauerIn diese starke Relation von Bild und Ton in der Deutungsarbeit.1 Je weiter der Film jedoch
fortzuschreiten beginnt, umso mehr wird klar, dass die Kommentare aus dem Off weniger
Fakten in Bezug auf das gerade gezeigte Bauobjekt offerieren wollen, als vielmehr ein Angebot an Möglichkeiten. Um dies zu veranschaulichen, seien einige Szenen genauer erläutert:
Der Sequenz am Friedhof folgt eine Totale eines Dorfes bzw. einer Ansammlung von Häusern, in den nächsten Einstellungen werden Außenaufnahmen von (Wohn-) Häusern gezeigt,
gefolgt von einem Panoramablick vom Dach eines Gebäudes. Ob diese Aufnahmen tatsächlich in derselben Gegend aufgenommen wurden, bleibt fraglich, der lokale Zusammenhang
wird nicht eindeutig bestimmt. Die Kamera changiert nun von Außenaufnahmen in das Innere
eines Gebäudes, sie zeigt uns die Baufälligkeit der Innenräume, verweist aber auch auf die
ehemals wohl prunkvolle Gestaltung dieser Räumlichkeiten mit Mosaiken und Wandmalereien. Parallel zu dieser Erkundung setzt der Kommentar ein: eine Aufzählung von Speisen,
möglicherweise wird eine Speisekarte vorgelesen. Erst nach mehreren Minuten dieser Aufnahmen und nach Abschluss des Kommentars folgt eine weitere Außenaufnahme, welche uns
nun den Namen des ehemaligen Restaurants Panoramic Restaurant of Monsanto verrät. Die
folgenden Einstellungen zeigen Bilder eines Kellers – ist es der Keller des Restaurants? Was
diese kurze Analyse der Sequenz veranschaulichen soll, ist die Uneindeutigkeit der lokalen
Zusammenhänge der Bilder, welche durch die durchgängig fragmentarische Montage evoziert
wird. Auch bleibt unklar, ob die vorgelesenen Speisen tatsächlich jener ehemaligen Speisekar1
Tatsächlich wird jedoch auch in diesen Einstellungen die klare Zuordenbarkeit und „Wahrheit“ der Geschichte
als ambivalent präsentiert: Zu Beginn der Szene sehen wir das Treiben am Friedhof nur als Reflektion (im doppelten Sinne) einer Fensterscheibe. Der direkte Blick bleibt uns verwehrt.
Seite 2
Forschungsseminar "Viennale" Wintersemester 2012/13. Lehrveranstaltung am tfm | Institut für Theater-, Filmund Medienwissenschaft der Universität Wien
http://passagen.univie.ac.at/fseviennale
te des Panoramic Restaurant of Monsanto entnommen sind oder ob sie völlig willkürlich gewählt wurden. Die lokale Uneindeutigkeit findet in der Relation zwischen visueller und auditiver Ebene ihr Äquivalent. Der restliche Film folgt eben jenen Schemata der Ambivalenz.
Nicht nur die Montage der Bilder erweist sich als fragmentarisch, auch die Ebene des Auditiven zeigt sich als Aneinanderreihung von Bruchstücken und Kommentaren verschiedenster
Ausprägung. Die Tonebene konzipiert sich aus Fragmenten wie kurzen, linearen Erzählungen
(neben der bereits erwähnten findet sich etwa die Erzählung über Dr. Luiz A. Gonsalves de
Freitas, welcher in seinem Leben äußerst erfolgreich war, dem es jedoch niemals gelang, seinen wahren Traum umzusetzen: ein Theaterstück auf die Bühne zu bringen; oder die schicksalhafte Geschichte eines kleinen Jungen, welcher aufgrund einer Vergewaltigung geboren,
von der Dorfgemeinschaft aufgezogen wurde), faktischen Aufzählungen (wie die Speisekarte,
medizinische Befunde eines Sanatoriums, Verhaltensregeln eines Kinderheimes), lyrischen
Kommentaren oder auch vorgelesenen Auszügen aus ehemaligem Briefverkehr (so etwa eine
Buchungsanfrage an ein Hotel oder auch persönlichere Varianten wie das Ansuchen um finanzielle Unterstützung bei einem Bekannten).
Was an der Tonebene besonders faszinierend erscheint, ist – neben der bereits beschriebenen
Vielschichtigkeit der Formen – die Vielzahl der Stimmen, der Wechsel der KommentatorInnen. Nicht Mozos ist es, der uns in dieses Geflecht von Geschichten und Wahrheiten einführt;
die auditive Ebene besteht sowohl aus diversen Erzählformen als auch aus einer Ansammlung
von Individuen und damit Stimmen. Obwohl Ruínas einen dokumentarischen Anspruch zeigt,
verzichtet Mozos auf die Position eines auktorialen Erzählers, welcher uns die Wahrheit über
diese Ruinen und verlassenen Gebäude näher bringt. Vielmehr scheint es, als dringe Mozos
durch die Darbietung vieler Wahrheiten, beschrieben von ebenso vielen Individuen, in das
kollektive Gedächtnis Portugals ein. Der Regisseur experimentiert mit einer Dekonstruktion
des herkömmlichen klassischen Dokumentarfilmes, in welchem ein (meist männlicher) auktorialer Erzähler uns die Zusammenhänge ordnet und nahe legt, der uns die Wahrheit über einen
historischen Sachverhalt in strikten Korrelationen zwischen Bild und Ton präsentiert; Auch
die Bilder sind nicht Beweisstücke der Kommentare, direkte Veranschaulichungen des Gesagten. Ruínas ist vielmehr bestimmt von einem Modus der Uneindeutigkeiten, von Relationen
der Ambivalenz und Polysemie.
Die dargebotene(n) Wahrheit(en) des Filmes auf der Autorenseite, repräsentiert durch ein
Kontingent von Erfahrungen, Assoziationen, vielleicht Fakten und Zeugenschaften nicht nur
Seite 3
Forschungsseminar "Viennale" Wintersemester 2012/13. Lehrveranstaltung am tfm | Institut für Theater-, Filmund Medienwissenschaft der Universität Wien
http://passagen.univie.ac.at/fseviennale
des Autors, sondern einer Vielzahl an Individuen, finden im Rezeptionsprozess im Kopf der
ZuschauerInnen ihr Äquivalent. Während man zu Beginn des Filmes noch darum bemüht ist,
konkrete Zusammenhänge nicht nur zwischen Bildern sondern auch zwischen Bild und
Kommentar herzustellen, wird man im Verlauf des Filmes dazu verführt, diese dargebotene
Ambivalenz nicht nur als Form des Filmes zu akzeptieren, sondern diese auch mit zu produzieren. Ruínas lädt zum Träumen ein, die Montage von Bild und Ton gibt Anlass zu eigenen
Assoziationen der ZuschauerInnen. Der RezipientIn werden beim Konsum des Filmes sehr
viele (Deutungs-)Freiheiten gelassen: Man kann sich an Bild und Geschichte/Kommentar
orientieren und die gegenwärtig leeren Gebäude anhand dieses Angebots einer möglichen
Vergangenheit Kraft der Phantasie ausfüllen und gestalten oder rekonstruieren, eigene Assoziationen fließen lassen, in Erinnerungen (etwa an vergangene Reisen) schwelgen, eigene Erfahrungen mit ähnlichen Geschichten oder Orten in den Film einbringen oder sich von der
Ästhetik von Bild und Montage einnehmen lassen. Der Film stellt ein Angebot zur eigenen
Vervollständigung und schließlich Produktion dar; Oft treten die Kommentare in den Hintergrund und eigene Geschichten werden auf den verlassenen Ort projiziert. Es muss jedoch angemerkt werden, dass die Untertitelung des Filmes zu diesem Prozess des Abschweifens ihren
Beitrag leistet. Die schnell gesprochene portugiesische Sprache der Originalfassung führt bei
Untertitelung zu einem intensiven Leseprozess, die Rezeptionserfahrung eines portugiesischsprachigen Individuums kann sich von den beschriebenen Auswirkungen daher unterscheiden.
Und doch liegt der Kern dieses Vervollständigens durch die ZuschauerIn in der Struktur des
Filmes selbst begründet, die Untertitelung kann diesen Prozess verstärken, ist jedoch nicht
dessen Ursprung.
Die Art der Montage von Bild(ern) und Ton, die Relation der Ambivalenz und Uneindeutigkeit, die (mögliche) Arbitrarität der Geschichten, die Ansammlung von individuellen und kollektiven Wahrheiten und Erfahrungen lässt in Ruínas eine semantische Lücke entstehen. Diese Lücke, welche man als zentrales Konstituens des Filmes begreifen kann, ist ein Angebot
von Seiten des Autors, jene durch eigene Erfahrungen und Assoziationen zu füllen und so den
Film zu komplettieren, mit zu produzieren.
Es eröffnet sich die Frage, welches Bild von Geschichtlichkeit damit in Ruínas transportiert
wird? Der im Film enthaltene dokumentarische Modus ist ein experimenteller, er steht in einem dekonstruktiven und erweiternden Verhältnis zum klassischen Dokumentarfilm. Mozos
nutzt seine Autorenposition nicht zur Präsentation von Geschichte – verstanden als abgeSeite 4
Forschungsseminar "Viennale" Wintersemester 2012/13. Lehrveranstaltung am tfm | Institut für Theater-, Filmund Medienwissenschaft der Universität Wien
http://passagen.univie.ac.at/fseviennale
schlossener, historischer Korpus von Fakten – sondern vielmehr zur Darlegung und Veranschaulichung von Geschichten. Der Film steht im Zeichen einer Anschauung von Geschichte
als kollektives Gedächtnis, einer Geschichtlichkeit, die die pluralen menschlichen Erfahrungen in dieses Bild miteinbezieht, anstatt uns (portugiesische) Geschichte als Faktum zu unterbreiten und damit einen Akt der Belehrung zu vollziehen. Die Geschichte ist bei Mozos nicht
abgeschlossen, sie spielt in die Gegenwart hinein, genau wie jene auf die Vergangenheit zurückwirkt. Die statischen Einstellungen und Fragmente, welche den Film respektive dessen
visuelle Ebene konstituieren, scheinen mit diesem Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart zu spielen. Die Statik der Fotografie, assoziativ vielleicht mit Vergangenem verkettet,
wird durch unauffällige Bewegungen, etwa das Wehen von Blättern im Bild gebrochen. Stillstand und Bewegungslosigkeit weisen auf das Motiv der Vergänglichkeit hin, welche durch
das Eindringen von Bewegung ihren absoluten Charakter verliert.
Man könnte Mozos’ Film als postmoderne Spielart des Dokumentarfilmes fassen, deren zentrales Charakteristikum der Entsagung an Ontologien (etwa die (objektive) Wahrheit) in Ruínas ihre spezifische Gestalt annimmt: Pluralität wird als tragendes Element dem isolierten
Wahrheitsanspruch entgegensetzt. Nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass Ruínas uns nicht
eine Wahrheit von vielen (etwa die Wahrheit des Regisseurs) präsentiert, sondern viele Wahrheiten von Vielen (inklusive jenen der RezipientInnen), erscheint mir der Terminus des Essayfilmes zur Erfassung des Werkes treffender. Dieses in den vergangenen Dekaden viel diskutierte Konzept (ich möchte es nicht als Genre fassen), profitiert von seiner offenen Form.
Ruínas umschreibt sein Sujet vielmehr, als dieses definitiv zu erfassen oder darzustellen; Mit
der Pluralität und Heterogenität der Kommentare und KommentatorInnen wendet Mozos sich
gegen Objektivität und Wahrheit, gegen Unwiderrufliches und Abgeschlossenes, gegen eine
eindeutige und kohärente Vision der Vergangenheit.
Auch Klaus Wybornys Syrakus beruht auf der Struktur des Fragmentarischen, auch er enthält
experimentell dokumentarische Elemente. Syrakus zeigt sich in seiner Form episodisch, der
Film ist in zwölf Kapitel unterteilt. Als Kooperationsprojekt des deutschen Dichters Durs
Grünbein und des Regisseurs Klaus Wyborny ist der Film anhand einer Auswahl von Gedichten Grünbeins strukturiert. Die Kapitel tragen (abgesehen vom letzten) die Titel der lyrischen
Texte, welche von Grünbein persönlich (meist als Voice-over) rezitiert werden, und gleichen
sich in ihrem Aufbau: Als Schriftinsert erscheinen Nummer und Titel der Episode, anschließend ertönt das Gedicht, bebildert von den fragmentarisch montierten Aufnahmen Wybornys.
Seite 5
Forschungsseminar "Viennale" Wintersemester 2012/13. Lehrveranstaltung am tfm | Institut für Theater-, Filmund Medienwissenschaft der Universität Wien
http://passagen.univie.ac.at/fseviennale
Die lyrischen Texte beschäftigen sich allesamt mit der Antike, beschränken sich jedoch nicht
auf (Real-)Geschichte sondern umfassen auch den Bereich der Mythologie. Bezeichnend ist
auch, dass bereits in Grünbeins Gedichten ein Verhältnis zwischen Vergangenheit und Gegenwart besteht, welches sich ebenso auf der Bildebene entdecken lässt. Ein weiteres durchgängig eingesetztes Element in Syrakus sind die Zwischentitel, welche wohl von Wyborny
verfasst und gewählt wurden und in unterschiedlichen Ausprägungen zu finden sind. Es soll
auch von Syrakus eine Szene näher beschrieben werden, um das Folgende besser verständlich
zu gestalten:
Kapitel Eins: Torso des Polyphem. Aus dem Off erklingt das gleichnamige Gedicht, es handelt von den Ausgrabungen des Torso des Polyphem, geht bruchstückhaft auf den Inhalt des
Zusammentreffens von Odysseus und seiner Truppe mit dem Zyklopen ein, setzt das mythologische Wissen der RezipientIn jedoch voraus. Auf der visuellen Ebene sehen wir in der ersten Einstellung das Kassenhäuschen am Eingang zur Grotte des Polyphem auf Sizilien, welches im Zwischentitel als solches zu erkennen gegeben wird. Die Kamera kreist um das historische Relikt, den Torso des Polyphem, zeigt uns verschiedene Blickwinkel. Auch andere Reliquien sind zu sehen, Wandmalereien, Vasen oder Skulpturen mit Mythendarstellungen. Das
Gedicht ist zu Ende, doch die Bebilderung Wybornys setzt sich noch viele Minuten fort. Es
folgen zahlreiche Zwischentitel, etwa „L’arrivée d’Ulysse“ gefolgt von einem Boot auf dem
Meer, „Niemand! Niemand hat mich geblendet!“ begleitet von einer Stop-Motion- Animation
einer Kamera auf einem Stativ, oder „Gewinnung von Bruchstein auf dem Südhang des Ätna“, bebildert von Maschinen zur Steingewinnung mit lauten Baustellengeräuschen im Hintergrund. Mehrere Minuten lang montiert Wyborny wiederholend Bilder der folgenden Motive: Reliquien, die Kamera-Animation, „Originalschauplätze“ der Mythen, die Baustelle, ein
Fotoshooting am Hafen – bis der Baustellenlärm verklingt und das erste Kapitel sein Ende
nimmt. Auch das erste Negativbild, ein Stilmittel, welches im Film wiederholt eingesetzt
wird, ist im ersten Kapitel zu sehen.
Zur Bebilderung des lyrischen Materials Grünbeins unternimmt Wyborny eine Reise durch
Griechenland und Italien auf den Spuren der Vergangenheit – er filmt von Touristen belagerte
historische Bauten wie die Tiberiusbrücke, den Titusbogen oder die Akropolis und andere
historisch und heute touristisch bedeutsame Orte. Ergänzt werden diese Aufnahmen durch
Bilder der Vegetation (sehr häufig Blumen), Touristengruppen oder Verkehr in ästhetisch
wenig überwältigender Bildgestaltung und -qualität. Rasch stellt sich im Rezeptionsprozess
Seite 6
Forschungsseminar "Viennale" Wintersemester 2012/13. Lehrveranstaltung am tfm | Institut für Theater-, Filmund Medienwissenschaft der Universität Wien
http://passagen.univie.ac.at/fseviennale
die Frage, welchem Zweck und welchem Anliegen des Autors diese 85-minütige Wiederholung des nahezu immer Gleichen folgt.
Der Film zeigt sich dokumentarisch anmutend. Während man in gewisser Weise einen Dekonstruktionsprozess des herkömmlichen Dokumentarfilms vermuten kann, erweist sich dies
jedoch als falsche Annahme. Syrakus bricht zwar mit der klassischen Struktur des (Fernseh)Dokumentarfilms, ist jedoch resümierend betrachtet nicht weniger belehrend. Interessant ist
in diesem Zusammenhang die Ebene der Kommentare (in Schrift und Ton). Wie bereits beschrieben, gebührt die auditive Ebene ausschließlich den Rezitationen der Gedichte Grünbeins. Doch Wyborny verzichtet nicht auf die Möglichkeit des sprachlichen Kommentars: er
okkupiert die Ebene der Zwischentitel zur zusätzlichen Bedeutungsproduktion. Diese Zwischentitel sind in variabler Form gestaltet; oft übernehmen sie die Funktion der Bildbeschreibung (ähnlich einem Fotoalbum), erläutern Zusammenhänge, historische Fakten oder mythische Inhalte, bleiben dabei jedoch stets bruchstückhaft. Doch dieser suggerierte Anschein der
Subjektivität in der Auseinandersetzung mit Geschichte, welche durch das In-ErscheinungTreten der Autoren auf verschiedenen Ebenen induziert wird, erweist sich als Farce. Zwar
verzichtet Syrakus wie auch Ruínas auf die klassische Form des auktorialen Erzählers, nicht
jedoch auf die Darbietung der Wahrheit. Was der ZuschauerIn aufgezwungen wird, ist ein
Konglomerat aus den persönlichen Wahrheiten Grünbeins und Wybornys. Es bleibt kein Deutungs- oder Assoziationsspielraum zur Vervollständigung durch die RezipientIn – die einzige
potentielle Lücke in diesem starren Geflecht der Elemente ist eine geschichtliche Wissenslücke, denn historisches Wissen wird in Syrakus durch die fragmentarischen Erläuterungen vorausgesetzt.
Sowohl in Ruínas als auch in Syrakus erfolgt eine Betonung der Subjektivität durch die Figur
des Autors (welche in Syrakus doppelt enthalten ist). Während Mozos sich jedoch in seiner
Autorfunktion fragend und suchend präsentiert, als Sammler von Bildern und Wahrheiten,
von Möglichkeiten, welche er die RezipientIn durch die Struktur des Filmes zu komplettieren
auffordert, agiert Wyborny feststellend, erhebt die im Film enthaltene subjektive Zeugenschaft zum Objektivitätsdiskurs. Ruínas konstituiert sich in der Subversion vermeintlicher
Objektivität, Syrakus enthüllt die in Subjektivität gekleideten Fakten (in der Lyrik, im Bild)
und erklärt sie zum zentralen Credo. Lässt sich Subjektivität in Ruínas auch als Intersubjektivität verstehen, im Sinne einer Aufforderung zur Subjektivität, zur Assoziation und Mitproduktion auch der RezipientIn, als Prozess der Multiplikation der Subjektivität, so gesteht SySeite 7
Forschungsseminar "Viennale" Wintersemester 2012/13. Lehrveranstaltung am tfm | Institut für Theater-, Filmund Medienwissenschaft der Universität Wien
http://passagen.univie.ac.at/fseviennale
rakus der ZuschauerIn lediglich wenig bis keinen Freiraum zur Interpretation und Vervollständigung zu. Vom Film in seiner Gesamtheit nicht zu sprechen, scheint Wyborny seinem
Publikum nicht einmal die eigenständige Interpretation einzelner Elemente zuzutrauen: Die
Einstellungen der animierten Kamera im ersten Kapitel, welches sich thematisch klar auf den
Zyklopen Polyphem konzentriert, werden vom Zwischentitel „Der einäugige Riese“ begleitet.
Der semantischen Lücke in Ruínas tritt in Syrakus, trotz fragmentarischer Struktur, ein Geflecht geprägt von starrem Determinismus gegenüber. Auch die essayistische Form, welche
ein gewisses Maß an Offenheit voraussetzt, teilt Syrakus trotz Ähnlichkeit in den Grundstrukturen mit Ruínas nicht. Dieser Determinismus korreliert mit dem Bild der Geschichtlichkeit,
welches in Syrakus produziert und verfolgt wird. Während die Vermischung von Mythos und
Geschichte im Film auf eine gewisse Offenheit schließen lassen könnte, wird diese Annahme
im Fortschreiten des Filmes obsolet. Selbst der Mythos, welchen man mit Deleuze als rhizomatisch, also elementar vernetzt und sich in der Zeit weiterentwickelnd begreifen kann, erfährt in Syrakus eine starre Form. Ebenso verfahren Wyborny und Grünbein mit Geschichte
an sich: als abgeschlossener und unwiderruflicher Korpus historischer Fakten scheint sie in
Syrakus auf die Gegenwart zu prallen, sie wird uns als eindeutige und kohärente Vision der
Vergangenheit vermittelt. Es stellt sich die Frage, welche Erfahrungen die RezipientIn in diesen filmischen Komplex einzubringen vermag (von quasi schulischem Wissen einmal abgesehen) und ob diese Eigenständigkeit von Wyborny überhaupt gewünscht wird? Ich tendiere zur
Verneinung der letzteren Frage, obgleich es zu reflektieren gilt, dass Syrakus sich mit der Antike beschäftigt, einer Epoche, welche sich allein aufgrund ihrer zeitlichen Distanz als schwerer greifbar erweist; doch auch die Struktur des Filmes scheint Produktivität auf Seiten des
Publikums nicht zu fördern. Syrakus vermittelt den Eindruck einer Verherrlichung des Vergangenen, dieser großen Geschichten und Figuren, von denen heute nichts mehr bleibt als
touristische Attraktionen. Kontinuierlich scheint die Gegenwart als negatives Element in die
Bilder dieser Spurensuche der Vergangenheit einzudringen. Baustellenlärm und starker Verkehr als Geräuschkulissen, Bilder von Autos, Industriegebieten, Maschinen im Steinbruch, die
Animation der Kamera stellen sich als Monster der Moderne dem prunkvollen Bild der Vergangenheit entgegen. Doch noch einen weiteren Eindruck vermittelt Syrakus, wenn auch nur
vage und als Stimmung schwer beschreibbar, nämlich jenen eines subversiven Sexismus.
Während die geschlechtliche Unausgeglichenheit der thematisch relevanten Figuren allein
noch keinen Grund zu einer solchen Skepsis bieten würde, so wird sie im Laufe des Filmes im
Zusammenhang mit einigen konkreten Elementen doch suspekt. So erzählt Wyborny im
Kommentar von den jammernden, ängstlichen und Schutz suchenden Nymphen, während die
Seite 8
Forschungsseminar "Viennale" Wintersemester 2012/13. Lehrveranstaltung am tfm | Institut für Theater-, Filmund Medienwissenschaft der Universität Wien
http://passagen.univie.ac.at/fseviennale
Kamera im Anschluss zwei junge Touristinnen verfolgt. Diese konkrete Bebilderung des Textes durch Menschen stellt keine kontinuierlich verwendete Strategie in Syrakus dar, sie bleibt
mit diesem Fall eine Einzelheit. Im restlichen Film erscheinen Menschen (meist) nur als dezentrale Gruppen in den historischen Örtlichkeiten. Das Bild des Mannes in Syrakus scheint
geprägt durch harte Arbeit an Maschinen oder durch die Lobpreisung der großen Dichter,
Herrscher, Eroberer und Forscher, während der männliche Blick die Frau im besten Falle als
Fotomodell in Szene und ins Bild zu setzen scheint. Wirklich konkret wird dieser Eindruck
des Sexismus erst im letzten Kapitel des Filmes. Dieses Kapitel weicht in seiner Gesamtheit
von allen vorherigen ab: Es trägt den Titel Der Raub der Prosperina und ist als einziges nicht
an ein Gedicht Grünbeins gebunden. Wyborny erzählt uns in Zwischentiteln ausführlich die
Geschichte der Entführung der Prosperina durch Pluto, den Gott der Unterwelt, welcher sie
anschließend zu seiner Gemahlin machte. Die Göttin Ceres, Mutter der Prosperina, verfluchte
und zerstörte daraufhin auf der Suche nach ihrer Tochter all jene Orte, an denen sie diese
nicht finden konnte. Und auch der Eindruck der Vernichtung der Vergangenheit durch die
Gegenwart beziehungsweise des Eindringens derselben in das Zurückliegende findet in diesem letzten Kapitel seinen Höhepunkt. Bilder von Technik, Industriegebieten und Moderne
vermehren sich auf der visuellen Ebene. All dies kulminiert in den letzten Minuten des Filmes, in einer permanenten Überblendung von mit der Vergangenheit konnotierten Bildinhalten und Feuer, überlagert vom Lärm der Maschinen, der Baustelle. Die Vernichtung der
prunkvollen Vergangenheit, der Ära der großen Dichter und Eroberer, wird mit dem Verwüstungswut der Göttin Ceres gleichgesetzt.
Die Ästhetik und Gestaltung des Filmes ist geprägt von verwackelten Bildern einer Handkamera; sie erinnern an Camcorder-Aufnahmen einer TouristIn mit nicht geschultem Auge in
Bezug auf Bildkomposition sowie Mangel an technischem Wissen oder Fähigkeit. Auch die
meist sehr schlechte Tonqualität – etwa lautes Rauschen aufgrund des Windes – bekräftigt
eine Konnotation mit AmateurInnenhandwerk. Die Bildausschnitte und -inhalte sind schlecht
gewählt, immer wieder laufen Menschen direkt und nahe an der Kamera durch das Bild – für
Wyborny jedoch kein Grund das Material nicht zu verwenden. Wiederholt sehen wir Aufnahmen von Blumen: in ihrer Ästhetik alles andere als ansprechend bleibt für das Publikum
nicht mehr als die Frage nach dem Warum. Auch die Zwischentitel weisen immer wieder (jedoch nicht kontinuierlich) auf Bildunterschriften hin, etwa Beschreibungen in einem Fotoalbum als Erinnerungsstütze für das Erlebte und Gesehene. Sind diese Konnotationen mit Amateurhaftigkeit und Unprofessionalität intendierte?
Seite 9
Forschungsseminar "Viennale" Wintersemester 2012/13. Lehrveranstaltung am tfm | Institut für Theater-, Filmund Medienwissenschaft der Universität Wien
http://passagen.univie.ac.at/fseviennale
Die Divergenzen zwischen Syrakus und Ruínas sind damit nicht etwa formeller Art – sie
scheinen die Grundfesten des eigenen Selbstverständnisses als Autor zu tangieren. Die divergierenden Aspekte der Filme laufen im transportierten und produzierten Bild der Geschichtlichkeit zusammen: Heterogenität und kollektives Gedächtnis auf der einen Seite, geschlossener und kohärenter Korpus historischer Fakten auf der anderen. Die alle Analogien überschattende Diskrepanz liegt im Plural – Geschichte und Geschichten. Beider Filme Ausgangspunkt
ist das Fragment. Bei Mozos wandelt sich die fragmentarische Aneinanderreihung zur assoziativen Verkettung durch die Produktivkraft der ZuschauerIn. Zentrales Konstituens in Ruínas
ist die semantische Lücke, welche Mozos durch seinen Modus der Geschichtlichkeit und dessen filmischer Umsetzung gestaltet, begleitet durch den Anstoß zur Subjektivität des Publikums, zur eigenständigen Vervollständigung und Gestaltung dieses Leerraumes. Auf diese
Vielfältigkeit der Subjektivität und persönlichen Assoziationskraft oder Erfahrung trifft in
Syrakus ein – in Subjektivität getarnter – Objektivitätsanspruch. Aus dem Fragmentarischen
resultiert in Syrakus kein Spiel- oder Freiraum, sondern ein starrer Komplex der Wahrheiten
der Autoren, aufgebaut auf jenen der großen Dichter und Historiker, ein Determinismus, dem
das Publikum nichts hinzuzufügen hat. Ruínas konstituiert sich im Prozess, Syrakus präsentiert sich als Konglomerat dogmatischer Ontologien.
Veröffentlicht am 27.10.2014
Link zur Webseite: http://passagen.univie.ac.at/fseviennale/essay/lueckeleerewahrheit-hoser
Zitiervorschlag:
Hoser, Tatjana, "Lücke.Leere.Wahrheit", passagen :: fse viennale Wintersemester 2012/13,
http://passagen.univie.ac.at/fseviennale/sites/passagen.univie.ac.at.fseviennale/files/V12eRuinHoser.pdf
27.10.2014, [Zugriffsdatum hier eintragen].
Seite 10

Documentos relacionados