100 jahre - Motorrad

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100 jahre - Motorrad
100 JAHRE –
100 NAMEN, AMEN
Als MOTORRAD 1903 gegründet wurde, hießen die meisten Jungen Karl, die meisten
Mädchen Gertrud. Doch was sind schon Namen? Schall und Rauch. Aber darauf kommt’s
doch an. Beim Motorrad jedenfalls.
Von Michael Orth und Norbert Sorg; Fotos: Frank Herzog
58 MOTORRAD magazin
12/2003
1903
GIRLS
BOYS
Gertrud
Martha
Frieda
Karl
Walter
Wilhelm
ie Zeiten ändern sich. Karl, althochdeutsch für der Freie nämlich, und Gertrud, die Speergewaltige
eben, sind längst aus den Charts verschwunden. Den Charts der beliebtesten
Namen. Da regieren heute Leon, spanisch für der Löwe, und Lea, hebräisch
die Ermüdete. Selbst Motorräder hießen
früher anders. Mussten sie auch. Weil’s
allein in Deutschland, in den fürs Motorrad ebenfalls goldenen zwanziger Jahren,
mal weit über 400 Hersteller gab. Die hatten deshalb ein Problem: Wie tauf’ ich
bloß mein liebstes Kind? Worauf ihnen
Namen eingefallen sind. Markennamen
wie Abendsonne, Engel, Forelle, Centaur,
Cyclop, Elfe, Adria, Achilles und Gnom.
Markennamen wie Gnädig, Golem, Hanfland, Mühlenhaus, Troll und Snob. Doch
halt, einer passt da nicht rein: Mühlenhaus, bekannt für seine Bratpfannen,
Fleischwölfe, Bügeleisen und seit hundert Jahren für seine Motorräder. Die
stammen nämlich aus Schweden, wo
Mühlenhaus Husqvarna heißt. Auch wenn
die casa del mulino jetzt aus Italien kommen, immerhin, es gibt sie noch.
Zwerg, Klotz, Hexe, Hirsch, Perplex
und Kondor machten dagegen recht
D
1923
1943
GIRLS Ursula
GIRLS Karin
Ilse
Hildegard
BOYS Günter
Heinz
Werner
Renate
Monika
BOYS Peter
Wolfgang
Klaus
schnell wieder den Abgang. Genau wie
Tarzan. Tarzan-Motorräder zumindest,
die in München nur ein Jahr lang zusammengesteckt wurden, 1925, als Johnny Weißmüller noch im 50-Meter-Becken
und nicht, wie später, Jane und Cheetah
kraulte. Auf der Leinwand, im Hollywoodstreifen. Der heuer ebenfalls hundert
wird. Den Startschuss gab die amerikanische Outlaw-Legende Butch Cassidy
in Edwin S. Porters Zehn-Minuten-Opus
„Der große Eisenbahnraub“. Mit ihrer
Beute, 5000 Dollar, hätten Butch und
seine Gang sich standesgemäß motorisieren können, mit einer anderen amerikanischen Outlaw-Legende, Harley-Davidson. Die es 1903 bekanntermaßen schon
gab. Und heute noch gibt. Ersteres trifft
übrigens auch auf Indian zu. Doch nicht
nur im Western sind die Indianer
die Verlierer. Harley machte sie platt, weil
man es in Milwaukee besser verstand,
dem American Way of Life zu folgen und
sich spät, aber nicht zu spät mit der
Kulturindustrie zu verbrüdern.
Einem anderen Kind des Jahres 1903
war das stets zuwider: Teddy. Wobei
damit nicht 55 PB (55 Zentimeter, Plüsch,
beweglich) gemeint ist. Denn der ver-
dankte seinen Erfolg sehr wohl den USA.
Deren Präsident Roosevelt spendierte
ihm den Namen, und ein amerikanischer
Spielwarenvertreter erteilte Margarete
Steiff den ersten großen Auftrag – 3000
Teddybären. Der andere Teddy von 1903
gab sich nie so kuschelig, blieb stets kritisch, theoretisch. Theodor Wiesengrund
Adorno brummte nicht, wenn man ihm auf
den Bauch drückte, sondern äußerte
Sätze wie: „Die ungelösten Antagonismen der Realität kehren wieder in den
Kunstwerken als die immanenten Probleme ihrer Form.“ Könnte sogar sein, dass
Willie G. Davidson diesen Satz verstanden hat. Was erklären würde, warum die
V-Rod so aussieht, als gäbe es im modernen Amerika immer größere, ungelöste
Probleme. Gerade das mag manchen
ganz recht sein. Anderen bereitet es Kopfschmerzen, denen nicht mal mit einem
Wundermittel beizukommen ist, das mittlerweile ebenfalls schon gut hundert Jahre auf dem Bayer-Kreuz hat. Aspirin.
Die Arznei des Jahrhundert konnte
denen zupass kommen, die sich über
Adorno den Kopf zerbrachen. An der Universität. Der das Jahr 1903 gleichfalls
eine Neuerung beschert. In Bonn promo-
Keine Chance gegen das Bike des weißen Mannes:
Alle Versuche, Indian wiederauferstehen zu lassen,
endeten im Reservat der Kleinproduktion
Auch Jahrgang 1903: Teddie
und Teddy. Ersterer heißt Wiesengrund Adorno, letzterer Bär
Fotos: fact
Foto: Suhrkamp
www.motorradonline.de
Foto: Siemer
MOTORRAD magazin 59
1953
1963
1973
GIRLS Monika
GIRLS Sabine
GIRLS Nicole
Angelika
Karin
BOYS Michael
Wolfgang
Peter
Susanne
Andrea
BOYS Thomas
Andreas
Michael
Tanja
Stefanie
BOYS Michael
Sven
Christian
100 Jahre Motorrad
größeren Herausforderungen auf. Anders
als der VfB Leipzig, zwischenzeitlich Lok
Leipzig. Ach apropos Lok, die Transibirische Eisenbahn ruckelt und zuckelt nun
auch schon seit hundert Jahren durch die
Taiga, auf breiter Spur. Eher schmalspurig kickt sich der VfB derzeit durch die
Oberliga, vierte Klasse. Und das, obwohl
doch Leipzig die erste deutsche Fußballmeisterschaft gewann, 1903 versteht
sich. Gegen Prag, versteht sich heute gar
nicht mehr. Wie der Umstand, dass der
ADAC einst als Motorradfahrer-Verband
begonnen hat: „In Anbetracht der Thatsa-
che, dass es notwendig ist, die Vorurteile
und Hindernisse, welche vielerseits wie
allem Neuen so auch dem Motorrade entgegengebracht werden, zu bekämpfen“,
gründeten am 24. Mai 1903 25 begeisterte Motocyclisten die „Deutsche Motorradfahrervereinigung“. Zur selben Zeit hielt
Orville Wright in North Carolina sein
Motorflugzeug 70 Meter lang in der Luft.
Maurice Garin hatte ein paar Meter mehr
abzustrampeln, als Sieger der ersten
Tour der France.
Abstrampeln musste sich auch die
deutsche Motorradindustrie. Denn nach
vierten Frida Busch und Hermine Edenhuizen als erste Frauen in Deutschland
zum Doktor der Medizin, pardon, zur Doktorin. Sie taten’s, so viel ist gewiss, noch
ohne Büstenhalter. Denn dessen Prototypen schnürte Mary Jacobs erst 1914
aus zwei Taschentüchern und einem
Band zusammen. Der erste Prototyp von
Puch war da schon elf Jahre alt. Doch
während man sich bei Puch nach einigen
Durchhängern nur um Kleinvolumiges
kümmert, nimmt es der BH mit immer
Fotos: Archiv
Immer wieder
stellt sich die Frage:
Warum wurden
manche Dinge nur
so spät erfunden?
1914 der Büstenhalter, elf Jahre
nach Puch
Wenig bleibt, wie es war. Ex-Meister VfB
Leipzig kickt jetzt gegen BSV Sondershausen
Foto: VfB Leipzig
60 MOTORRAD magazin
Tarzan-Motorräder gab’s nur
ein Jahr und lange, bevor es im
Kino weissmüllerte. Spielfilme
flimmern übrigens seit 1903
Foto: 451
Foto: UIP
12/2003
1983
1993
2002
GIRLS Stefanie
GIRLS Julia
GIRLS Lea
Julia
Nadine
BOYS Christian
Dennis
Sebastian
Vanessa
Franziska
BOYS Dennis
Philip
Kevin
Neele
Julia
BOYS Leon
Lucas
Julian
100 Jahre Motorrad
Wirtschaftswunder brachte dann das
zweite große Motorradsterben in Deutschland. Hoffmann ging 1954 kaputt, Tornax
1955, Adler und Triumph 1957, Ardie
und Express 1958, Horex, Victoria und
Dürkopp 1959, U.T. 1960. Den Rest,
Hercules, Zündapp, Kreidler, Maico, DKW,
NSU, erledigten dann die Japaner. Mit
famoser Technik, immensen Stückzahlen, attraktiven Preisen. Die sind mittlerweile so etabliert, dass sie es sich sogar
leisten können, ihren Motorradmodellen
dämliche Namen zu verpassen: Dominator, Deauville, Black Widow, Fireblade,
Fire Storm, Blackbird, Varadero, Ninja,
Twister, Drifter, Mean Streak, Bandit,
Freewind, Marauder, Intruder Volusia,
Hayabusa, V-Strom, Bulldog, Virago,
Fazer, Wild Star, Road Star Warrior. Aber
ist ja auch egal, Hauptsache die Kisten
haben Dampf und ordentlich Sound.
Schall und Rauch eben.
deren hurtigem Aufstieg, als jeder bessere Schmied in seiner Werkstatt ein
motorisiertes Zweirad fabrizierte, folgte
ein ebenso rascher Niedergang, dem
Marken zum Opfer fielen wie Propul, Voran, Robako, Schmidt, Kadi, Wimmer, Vis,
Kobolt, Erka, Ergo, Oda, Wiga, Liliput,
Bodo, Bubi, Wotan, Eisenhammer, Elster,
Dümo, Fex und Fifi. Das viel gepriesene
Foto: Wolf
Foto: Schwab
Geschichte wiederholt sich: Auch
Japanern fallen dämliche Namen ein
Macht zum Hundertesten große Sprünge: Husqvarna. Obwohl Regina
Kradlerherzen regierte, schlug Horex ein wirtschaftswunderliches Aus
Foto: mps-Fotosstudio
Anachronistisch: mit dem
Fahrrad durch Frankreich
fahren, wo’s doch Motorräder und Mittel gegen zu
billigen Roten gibt
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Foto: Kutschera
Fotos: fact, Gargolov, Künstle, Warter
12/2003

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