Recht und Gerechtigkeit in Dürrenmatts Kriminalromanen
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Recht und Gerechtigkeit in Dürrenmatts Kriminalromanen
Von „Richtern und Henkern“ - Recht und Gerechtigkeit in Dürrenmatts Kriminalromanen Magisterarbeit In der Philosophischen Fakultät IV (Sprach und Literaturwissenschaften) der Universität Regensburg Vorgelegt von Claudia Wagner aus 93142 Maxhütte - Haidhof 2 Inhaltsverzeichnis 1. Allgemeines ...................................................................................................................... 4 1.1 Einleitung .................................................................................................................... 4 1.2 Dürrenmatts Weltbild und Einflüsse ........................................................................... 5 2. Gerechtigkeit und Recht ................................................................................................. 7 2.1 Juristische Definition ................................................................................................... 7 2.2 Der „Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht“ ................................................. 9 2.3 Forschungsmeinungen ............................................................................................... 14 2.4 „Nachgedanken“ ........................................................................................................ 16 3. Dramaturgische Grundlagen........................................................................................ 18 3. 1. Zentrale Motive ....................................................................................................... 18 3.1.1 Das Labyrinth ..................................................................................................... 18 3.1.2 Der Zufall ........................................................................................................... 21 3. 1.3 Das Scheitern ..................................................................................................... 28 3.1.4 Das Spiel............................................................................................................. 32 3.2. Dürrenmatts dramaturgische Figurenkonzepte ........................................................ 33 3.2.1 Der Mutige Mensch ........................................................................................... 34 3.2.2 Der Narr .............................................................................................................. 37 3.2.3 Der Mitmacher ................................................................................................... 41 3.2.4 Der Experimentator ........................................................................................... 43 3 4. Charakterisierung als Richter, Henker, Verbrecher, Opfer und Mitläufer ............ 45 4.1 Richter ....................................................................................................................... 46 4.2 Henker ....................................................................................................................... 55 4.3 Verbrecher ................................................................................................................. 60 4.4 Mitmacher / Mitläufer ............................................................................................... 66 4. 5 Opfer ......................................................................................................................... 72 5. Zusammenfassung - Fazit ............................................................................................ 77 Literaturverzeichnis:......................................................................................................... 78 Primärliteratur: ................................................................................................................ 78 Forschungsliteratur: ......................................................................................................... 78 Erklärung ........................................................................................................................... 83 4 1. Allgemeines 1.1 Einleitung Dürrenmatts Kriminalromane gehören zu seinen meistverkauften Werken. Sie als Kriminalromane zu bezeichnen ist zwar nicht völlig korrekt, bei der „Panne“ handelt es sich um eine Novelle, „Justiz“ ist ein Roman, und „Der Richter und sein Henker“, „Der Verdacht“ und „Das Versprechen“ sind eher Detektivromane1. Um es zu vereinfachen habe ich die, wenn auch nicht völlig korrekte, Bezeichnung Kriminalromane gewählt. Wie besteht der Künstler in einer Welt der Bildung, der Alphabeten? […]Vielleicht am besten, indem er Kriminalromane schreibt, Kunst da tut, wo sie niemand vermutet. Die Literatur muß so leicht werden, daß sie auf der Waage der heutigen Literaturkritik nichts mehr wiegt: Nur so wird sie wieder gewichtig.2 Unter anderem erscheint mir wichtig zu zeigen, dass Dürrenmatts dramaturgische Motive und Personenkonzepte auch in der scheinbar trivialen Form der Literatur, im Kriminalroman eine wichtige Rolle spielen. Auch wenn sie primär für den Broterwerb geschrieben wurden enthalten sie einerseits doch die zentralen Aussagen Dürrenmatts und geben ihm andererseits die Möglichkeit, die einzelnen Figuren realistischer, als dies im Drama der Fall ist, darzustellen. Wesentlich erscheint mir die Frage, ob sich diese Figuren in Kategorien einordnen lassen und wie ihr Selbstbild mit ihrer Vorstellung von Gerechtigkeit übereinstimmt. Wo wichtige Motive wie Zufall, Labyrinth, Scheitern und Spiel einer Rolle spielen stelle ich Bezüge 1 Vgl. Zu den Überarbeitungen seiner Texte: Große, Willhelm: Friedrich Dürrenmatt. (Literaturwissen für Schüler. Reclam 15214) , Stuttgart: Reclam 1998. S. 13/14. 2 Dürrenmatt, Friedrich: Theaterprobleme. (1954) In: Gesammelte Werke. Band 7. Essays und Gedichte. Zürich: Diogenes, 1991. S. 28-69. S. 68 / 69. 5 her. So dass sich letzten Endes die Frage stellt, ob Dürrenmatt nicht doch eine Möglichkeit zeigt wie der Einzelne in unserer Welt bestehen kann. Dass die Kriminalromane dabei den klassischen Kriminalroman dekonstruieren, muss ich nicht notwendigerweise ausführen, dies wurde in der Forschungsliteratur bereits genau untersucht. Mir ist die Darstellung des Menschen, vor allem sein Handeln bzw. seine Handlungsfähigkeit besonders wichtig. 1.2 Dürrenmatts Weltbild und Einflüsse Die Forschungsliteratur hat sich immer ausführlich mit Dürrenmatts Weltbild auseinandergesetzt. Er wurde als Nihilist, Moralist, Humanist und vieler anderer Zugehörigkeiten zu verschiedenen Strömungen bezichtigt. Er selbst möchte aber weder als Existentialist, Nihilist, Expressionist oder Ironiker, in „die Kompottgläser der Literaturkritik“ eingeordnet werden.3 Die Bühne stellt für mich nicht ein Feld für Theorien, Weltanschauungen und Aussagen, sondern ein Instrument dar, dessen Möglichkeiten ich zu kennen versuche, indem ich damit spiele. Natürlich kommen in meinen Stücken auch Personen vor, die einen Glauben oder eine Weltanschauung haben, lauter Dummköpfe darzustellen, finde ich nicht interessant, doch ist das Stück nicht um ihrer Aussage willen da, sondern die Aussagen sind da, weil es sich in meinen Stücken um Menschen handelt und das Denken, das Glauben, das Philosophieren auch ein wenig zur menschlichen Natur gehört.4 Seine Figuren haben also verschiedene Weltanschauungen, und somit auch verschiedene Auffassungen von Gerechtigkeit und ihrer eigenen Rolle im Leben. Dennoch sind sie nicht eindeutig und unwiderruflich festgelegt. Weil sich also Dürrenmatts Figuren wie auch sein Weltbild einer eindeutigen Festlegung entziehen, möchte ich abschließend noch die Bedeutung des Humors als ein Mittel um in der Welt zu bestehen betonen. Der Humor ermöglicht es das Leben in seinem Chaos anzunehmen und zu akzeptieren und gelassener damit umzugehen. 3 4 Vgl.: Dürrenmatt, F.: Theaterprobleme. 28-29. Dürrenmatt, F.: Theaterprobleme 29. 6 Auch die scheinbaren und tatsächlichen Einflüsse auf Dürrenmatt sind vielfältig und ich kann auch hier nicht detailiert darauf eingehen. Ich möchte sie in drei Bereiche unterteilen. Zunächst sind da die Philosophen zu nennen, mit denen sich Dürrenmatt schon früh auseinandergesetzt hat; er hat ja auch Philosophie studiert. Hier wären Platon, Nietzsche, Popper, Schopenhauer und Kierkegaard zu nennen. Gerade für sein Anthropologisches Interesse am Menschen ist eine philosophische Betrachtung der Figuren wichtig und verleiht ihnen Tiefe, nicht umsonst werden seine Kriminalromane auch als philosophische Kriminalromane bezeichnet. Für seine Gesellschaftsvorstellung sind auch Spinoza und Hobbes von Bedeutung im Hinblick auf den Gesellschaftsvertrag. Ein weiterer wesentlicher Bereich ist die Mythologie. Durch Erzählungen seines Vaters war Friedrich Dürrenmatt mit den Mythen sehr vertraut und diese hatten immer Einfluss auf sein Schreiben und seine Malerei. Ich werde - in den entsprechenden Kapiteln - näher auf den Mythos des Labyrinths5 und die Darstellung des Ahasver6 eingehen. Darüber hinaus ist sein naturwissenschaftliches Interesse von Bedeutung und prägte sein Bild, vor allem einer Welt die nicht kausal, sondern von Zufällen bestimmt ist. Hier kommen die Chaostheorie und die Wahrscheinlichkeitsrechnung7 zu tragen. Naturwissenschaftliche Aspekte haben auch in seinen Dramen immer wieder eine Rolle gespielt, so wie Emmenbergers materielle Weltsicht auch naturwissenschaftliche Züge aufweist, oder sich Kohler auch als Naturwissenschaftler sieht und entsprechend vorgeht. Natürlich kann ich hier nicht detailierter auf Dürrenmatts Weltbild und die vielfältigen Einflüsse auf sein Schaffen eingegangen, weil die Darstellung seiner Figuren im Vordergrund dieser Arbeit steht. Seine vielfältigen Interessen und Einflüsse spiegeln sich auch in der Darstellung seiner Figuren und seiner fiktionalen Welten wieder. Wichtig wäre hier nur noch sein antropologisches Interesse zu betonen, dass vor allem in den 5 Vgl.: Kapitel Labyrinth Vgl.: Kapitel Richter 7 Vgl.: Kapitel Zufall 6 7 Kriminalromanen von großer Bedeutung ist, weil es ihm eine Tiefendimension verschafft.8 Wo nötig werde ich in den einzelnen theoretischen Bereichen kurz auf die Einflüsse verweisen. 2. Gerechtigkeit und Recht Die Thematik Recht und Gerechtigkeit steht, neben der Charakterisierung der Hauptfiguren in Dürrenmatts Kriminalliteratur, im Zentrum meiner Betrachtungen. Um hier eine theoretische Grundlage, vor allem für Dürrenmatts Vorstellungen von Recht und Gerechtigkeit, zu finden, ist die Betrachtung des „Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht“ von Friedrich Dürrenmatt wesentlich. Außerdem sind die theoretischen Kapitel in Elisabeth Bauers Analyse „Die Gerichtsthematik im Werk von Friedrich Dürrenmatt“ und der Essay von Mona und Gerhard Knapp mit dem Titel „Recht – Gerechtigkeit – Politik“ zu Rate zu ziehen.9 2.1 Juristische Definition Zunächst möchte ich eine kurze Definition der wichtigsten Rechtsbegriffe anfügen, damit deutlich wird, was mit den Begriffen „Gerechtigkeit“, „Recht“ und „Naturrecht“ im juristischen Sinne gemeint ist. Gerechtigkeit ist objektiv als Ideal die vollkommene Ordnung im Rahmen des[…] Rechts. Man unterscheidet […] die ausgleichende […] G. als Prinzip gerechter Regelung der Verhältnisse der Einzelnen untereinander und die austeilende […]G. als Grundlage der Regelung von Rechten und Pflichten des einzelnen gegenüber 8 Vgl.: Große, W.: Dürrenmatt. 143. Vgl.: Dürrenmatt, Friedrich: Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht nebst einem helvetischen Zwischenspiel. Eine kleine Dramaturgie der Politik. In: Gesammelte Werke. Band 7. Essays und Gedichte. Zürich: Diogenes, 1991. S. 619 – 707. Elisabeth Bauer: Die Gerichtsthematik im Werk von Friedrich Dürrenmatt. (tuduv – Studien Reihe Sprachund Literaturwissenschaften Bd. 28). tuduv Verlagsgesellschaft: München, 1990. Peter Schneider: „…ein einzig Volk von Brüdern“. Recht und Staat in der Literatur. Athenäum: Frankfurt am Main, 1987. 9 8 der Gemeinschaft[…]. Die subjektive G. ist das dem einzelnen zuteil werdende Rech,t also die Verwirklichung der objektiven G.10 Deutlich wird hier vor allem, dass es sich bei objektiver Gerechtigkeit um ein Ideal handelt, also um einen Zustand der angestrebt werden soll, der aber wahrscheinlich nicht völlig erreicht werden kann. Gerechtigkeit ist also, in juristischem Sinne, die gerechte Anwendung des Rechts im Verhältnis der Einzelnen zu einander und zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft. Im Bereich Recht ist vor allem die Definition im objektiven Sinne von Bedeutung, also Recht als die Gesamtheit der Rechtsvorschriften, durch die das Verhältnis einer Gruppe von Menschen zueinander, zu den übergeordneten Hoheitsträgern oder zwischen diesen geregelt wird. Im juristischen Sinne wird weiter zwischen gesetztem Recht (also der Rechtsnorm bzw. dem Gesetz) und Gewohnheitsrecht unterschieden. Die Rechtsquellen existieren als geschriebenes und ungeschriebenes Recht. Das effektiv in einer Gesellschaft geltende Recht wird als positives Recht bezeichnet und setzt sich aus gesetzten und nicht gesetzten Rechten (Naturrecht und Gewohnheitsrecht) zusammen.11 Im vierten Punkt der Definition des Begriffs Recht wird auf das Verhältnis zwischen Moral und Recht eingegangen. R[echt] und Moral (Sittlichkeit) decken sich nicht immer; die Moral wendet sich an die Gesinnung des Menschen, während das R. sein äußeres Verhalten regelt. Moralisches Verhalten ist – ebenso wie die Beachtung der Sitte – nur erzwingbar, soweit es auch von Rechtsvorschriften gefordert wird.12 Der Unterschied zwischen subjektivem Gerechtigkeitsempfinden und faktischem Recht wird hier verdeutlicht. Gerechtigkeit und Recht sind nicht bedeutungsgleich: Was jemand als gerecht empfindet, muss nicht auch den geltenden Rechtsnormen entsprechen und das gesetzte Recht muss ebenfalls nicht immer für jeden Einzelnen gerecht erscheinen. 10 Creisfelds Rechtswörterbuch. Hrsg. Von Klaus Weber. 18. Auflage. München: C. H. Beck, 2004. S. 541. (kursive Hervorhebungen im Original, hier unterstrichen). 11 Vgl. Ebd. S. 1055. 12 Ebd. S. 1056. (kursive Hervorhebungen im Original, hier unterstrichen). 9 Ich möchte noch kurz auf die Definition von Naturrecht eingehen, weil dieser Begriff im Hinblick auf Dürrenmatts Vorstellungen von Gerechtigkeit und Recht ebenfalls eine sehr große Rolle spielt. Naturrecht, im Sinne der Rechtsphilosophie, ist das Recht, das sich aus der menschlichen Natur ableitet und das demgemäß aus der reinen Vernunft, die allen Menschen eigen ist, erkennbar ist. Es ist daher für alle Zeiten gültig, von Raum und Zeit unabhängig und bildet somit den Gegensatz zum gesetzten Recht bzw. Gewohnheitsrecht. In juristischer Hinsicht sind hiermit vor allem die allgemeinen Grund - und Menschenrechte von Bedeutung, die nach dem Zweiten Weltkrieg große Wichtigkeit erlangt haben.13 Schwierig an der Frage des Naturrechts ist letztlich, wie jeder Einzelne es definiert, und inwiefern jedem Menschen die gleiche Vernunft zur Verfügung steht, um so über naturgegebene Rechte zu verfügen. Gerade die Pervertierung des Naturrechtgedankens spielt bei Dürrenmatt eine große und entscheidende Rolle. 2.2 Der „Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht“ Nun aber zu dem für Dürrenmatts Definition von Recht und Gerechtigkeit zentralen und bedeutendsten Text, den „Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht, nebst einem helvetischen Zwischenspiel“14 „[…]Du Narr! Was verstehst du von meiner Gerechtigkeit![…]“15 Diese Aussage Allahs gegenüber dem Propheten Mohammed möchte ich symptomatisch an den Beginn meiner Interpretation des Monstervortrags über Gerechtigkeit und Recht stellen. Allein an diesem Ausruf wird schon deutlich, dass für Dürrenmatt die Gerechtigkeit nicht zu durchschauen ist, die göttliche Gerechtigkeit vom einfachen Menschen nicht erkannt werden kann, und so eine scheinbare Ungerechtigkeit vielleicht 13 Vgl.: Ebd. S. 920. Dürrenmatt, F.: Monstervortrag. S. 619 – 707. 15 Ebd. S. 622. 14 10 doch eine göttliche Gerechtigkeit darstellt, ebenso wie eine scheinbare Gerechtigkeit ebenfalls ungerecht sein kann. Im Zentrum des Vortrags steht eine Geschichte aus Tausendundeiner Nacht, in der verdeutlicht wird, dass der Mensch nicht in der Lage ist, die göttliche Gerechtigkeit zu erkennen, und von seinem individuellen Blickwinkel aus eine eigene Idee davon entwickelt, ob ein Geschehen gerecht ist oder nicht. Allerdings ist es dem Einzelnen eben nicht möglich alle Hintergründe zu kennen. „Der Zufall bringt die Gerechtigkeit Allahs ins Lot, die Panne erweist sich als Schicksalsfügung.“16 Der Zufall ermöglicht in dieser Erzählung, dass ein Dieb sowie ein Vergewaltiger bestraft werden. Und der Verlust des Geldbeutels, sozusagen die Panne, erweist sich als Auslöser für die Verwirklichung der göttlichen Gerechtigkeit. Dennoch zeigt Dürrenmatt auf, dass diese göttliche Gerechtigkeit vor allem durch den Zufall immer auch gefährdet ist, indem er die Situation an der Quelle mit verschiedenen Beobachtertypen durchspielt. Verschiedene Eingriffe hätten die göttlicher Gerechtigkeit gefährden können: "[…] mit einem Gran Menschlichkeit hätten wir Tonnen an göttlicher Erhabenheit eingebüßt."17 Auch die göttliche Gerechtigkeit ist also dem Zufall unterworfen. In dieser Geschichte spielt nicht nur die letztlich einzige vollkommene Gerechtigkeit, die göttliche Gerechtigkeit, eine Rolle, sondern es klingt auch die Idee eines Faustrechts an, einer Art alttestamentarischen Gerechtigkeit, die nach dem Prinzip „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ agiert. Für unsere moderne Zeit ist dies nicht mehr angemessen und der Jurist Peter Schneider beurteilt dies ganz richtig: „Eine auf der Selbsthilfe des Verletzten beruhende Rechtsordnung ist eine primitive und unerhört gefährdete Rechtsordnung.“18 Dennoch spielt gerade der Gedanke der Selbsthilfe und somit der privaten Gerichtsbarkeit in Dürrenmatts Werken, vor allem auch in seinen Kriminalromanen, eine entscheidende 16 Knapp, Mona und Gerhard P.: Recht – Gerechtigkeit – Politik. Zur Genese der Begriffe im Werk Friedrich Dürrenmatts. In: Text + Kritik, Bd. 56 (1977). S. 23 – 40. S. 30. 17 Dürrenmatt, F.: Monstervortrag. S. 623. 18 Schneider, P.: Volk von Brüdern. S. 329. 11 Rolle im Prozess der Rechtsverwirklichung, gerade weil das Recht mit juristischen Mitteln oftmals nicht zu verwirklichen ist. Dürrenmatt versucht in seiner Rede diese Geschichte auf die moderne Zeit mit ihren verschiedenen Gesellschaftssysteme zu übertragen und entwickelt so die zentrale Metapher des Spiels.19 Er bezeichnet die bürgerliche Gesellschaft als „Wolfsspiel“ und die sozialistische Gesellschaft als „Gute – Hirte – Spiel“. In beiden Staatsformen stellen die Spielsteine, die Beute, also das Kapital dar, die im „Gute - Hirte – Spiel“ der Allgemeinheit und im „Wolfsspiel“ dem Einzelnen gehören. Dennoch braucht es in beiden Gesellschaftsformen sowohl Spielregeln als auch einen Schiedsrichter, der darauf achtet, dass die Spielregeln eingehalten werden. Diese Regeln verweisen auf den Gesellschaftsvertrag von Hobbes, wobei Dürrenmatt auch Spinozas Ansicht mit einbezieht, indem er die Notwendigkeit der Wahrung der Einzelinteressen des Individuums betont.20 Die Idee des Gesellschaftsvertrags, wie sie Hobbes entwickelt hat, setzt geradezu eine Gemeinschaft von Menschen voraus, was auch Dürrenmatt berücksichtigt: Die Gerechtigkeit ist eine Idee, die eine Gesellschaft von Menschen voraussetzt. Ein Mann allein auf einer Insel kann seine Ziegen gerecht behandeln, das ist alles.21 Deshalb versucht Dürrenmatt zunächst, den besonderen und den allgemeinen Begriff, den der Mensch von sich hat, darzustellen. Im besonderen Begriff „[…]sondert sich der Mensch von den anderen Menschen ab, […]hält […] an seiner Identität fest, […] sieht sich als Individualität.“ 22 Diesen besonderen Begriff, den der Mensch von sich macht, bezeichnet Dürrenmatt auch als „existentiellen Begriff“. Diesem Begriff entgegengestellt ist der allgemeine Begriff, den der Mensch von sich macht, indem er sich anderen Menschen zuordnet und sich so in eine Gemeinschaft einordnet. „In seinem allgemeinen 19 Vgl.: Kapitel Spiel Vgl. Bauer, E.: Gerichtsthematik. S. 152/153. 21 Dürrenmatt, F.: Monstervortrag. S.638. 22 Ebd. S. 639. 20 12 Begriff klammert sich der Mensch als Individualität aus.“23 Diesen Begriff bezeichnet Dürrenmatt auch als „logischen Begriff“. Diese beiden Begriffe des Menschen schließen sich gegenseitig aus und bilden ein Paradox, ebenso wie die zugehörige Definition von Gerechtigkeit. Die dargestellten Gesellschaftssysteme unterscheiden sich vor allem darin, welchen Schwerpunkt sie wählen. Dies ist auch davon abhängig, von welcher Idee des Menschen die beiden Systeme ausgehen; das Wolfsspiel hat die existentielle Idee des Menschen als Individuum zur Basis, wohingegen im Gute - Hirte - Spiel die Gemeinschaft die Basis bildet und somit die logische Idee des Menschen im Zentrum steht. Es gibt daher zwei Ideen von Gerechtigkeit, im Bezug auf die zwei Begriffe, die der Mensch von sich macht. Das Recht des Einzelnen besteht darin, er selbst zu sein: dieses Recht nennen wir Freiheit. Sie ist der besondere Begriff der Gerechtigkeit,[…] eine existentielle Idee der Gerechtigkeit. Das Recht der Gesellschaft besteht dagegen darin, die Freiheit eines jeden einzelnen zu garantieren, […] [indem] sie die Freiheit des Einzelnen beschränk. Dieses Recht nennen wir Gerechtigkeit, sie ist der allgemeine Begriff der Gerechtigkeit, eine logische Idee.24 Aufgrund der Betonung des Individualismus legt das Wolfsspiel den Schwerpunkt auf die größtmögliche Freiheit des Einzelnen, während das gute Hirte Spiel dadurch, dass es die Gemeinschaft betont, die Freiheit des Einzelnen zugunsten der größtmöglichen Gerechtigkeit für alle einschränkt. Diese Freiheit des Einzelnen ist mit der Macht gleichzusetzen, die der Einzelne an den Staat abtreten muss, um so Gerechtigkeit für alle in der Gemeinschaft zu garantieren. Die Problematik im Verhältnis des Einzelnen zu der Gesellschaft, besonders im Hinblick auf die Machtfrage und die Gefahr des Machtmissbrauchs, stellt auch in Elisabeth Bauers25 Monografie über die Gerichtsthematik im Werk Friedrich Dürrenmatts einen entscheidenden Punkt dar. Sie betont den Aspekt, dass die Macht eine große Rolle in der Verwirklichung von Gerechtigkeit spielt. „[D]ie Moral wird ein Vorrecht der 23 Ebd. S. 640. Ebd. 640. 25 Vgl. Bauer, E.: Gerichtsthematik. 160 – 193. (zur Machtfrage und zum Machtmissbrauch). 24 13 spielsteinreichen Spieler“26. Somit haben die Spieler, die das größte Kapital besitzen, einen entscheidenden Einfluss auf die Verwirklichung und Durchsetzung von Gerechtigkeit. Der Versuchung des Machtmissbrauchs kann nahezu niemand entgehen, was ebenfalls in Dürrenmatts Werken thematisiert wird. Gerade auch Gesetzeshüter neigen zu einer Hybris, neigen dazu, sich Rechte zuzugestehen, die ihnen vom Gesetz her nicht gegeben sind und nutzen so ihre Position zugunsten einer ungerechten Form der Selbstjustiz aus. Die Problematik der Machtfrage und des Machtmissbrauchs nimmt bei den Charakterisierungen auch eine wichtige Stellung ein Beide Spielsysteme, sowohl das „Wolfsspiel“ als auch das „Gute – Hirte – Spiel“, nähern sich einander an, weil der Staat laut Dürrenmatt in beiden Systemen zu mächtig geworden ist.27 Beide Spiele stehen vor der Problematik, dass sie eine Ideologie als Rechtfertigung für ihr System benötigen. Ideologien sind Ausreden, an der Macht zu bleiben, oder Vorwände, an die Macht zu kommen. Aber die Macht kann nur mit den Mitteln der Macht behauptet oder erobert werden: Mit der Gewalt. So rechtfertigen Ideologen nicht nur die Macht, sie verklären auch die Gewalt[…]28 Hier wird Dürrenmatts Ideologiekritik deutlich, die wie Mona und Gerhard P. Knapp anmerken an Karl Popper und den Wiener Kreis erinnert.. Es gibt keine gerechte Gesellschaftsordnung, weil der Mensch, sucht er Gerechtigkeit, mit Recht jede Gesellschaftsordnung als ungerecht, und sucht er Freiheit, mit Recht jede Gesellschaftsordnung als unfrei empfinden muß.29 Dieses Fazit muss erschreckend wirken, weil man immer einen Kompromiss eingehen muss und versuchen muss das Beste aus der jeweiligen Gesellschaftsordnung zu machen. Dürrenmatt betont, dass die einzige Chance nun darin liegt, dass der Mensch beginnt 26 Dürrenmatt, F.: Monstervortrag. S. 643. Vgl. Ebd. S. 634. 28 Ebd. S. 647. 29 Ebd. S. 669/670 27 14 vernünftig zu handeln. Jeder Einzelne muss bereit sein das Seine dazu zu tun eine gerechtere, bessere Gesellschaft zu schaffen, auch wenn letztlich nur die Gesamtheit aller Einzelnen die Gesellschaft verändern kann. „Die Gerechtigkeit ist zweifellos etwas Grandioses, Niezuerreichendes, doch dann handkehrum eine selbstverständliche Kleinarbeit.“30 2.3 Forschungsmeinungen Wie aber beurteilt die Forschung den Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht? Elisabeth Bauer31 setzt sich sehr detailiert mit dieser Rede auseinander und betont vor allem den Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft, den Dürrenmatt anhand der beiden Spiele verdeutlicht. Verbunden mit der Frage nach Macht und der Ideologiekritik sind diese Ideen zentral in ihrer Betrachtung zur Gerichtsthematik. Auch die Frage des Naturrechts, speziell in Form der Naturrechtsperversion, spielt in ihrer Monografie eine entscheidende Rolle und wird schon in ihrer Betrachtung des Monstervortrags angesprochen. Die Idee des Naturrechts ergibt sich aus einem stark individualistisch geprägten Menschenbild und gerade Dürrenmatts Charaktere neigen dazu das Naturrecht als Rechtfertigung für ihre Verstöße gegen das geltende Recht zu nutzen. Sie vergessen dabei, dass sie in eine Gesellschaft eingebunden sind. Der Aspekt der Naturrechtsperversion wie der damit verbunden Absolutheitsanspruch spielt auch eine wichtige Rolle in meinen Charakterisierungen. Vor allem bedeutsam sind sie natürlich im Hinblick auf Machtmissbrauch, der dazu führt, dass das Recht nicht beachtet wird. Auf den Zusammenhang zwischen Macht und Gesetz, den Dürrenmatt ebenfalls in seinen „Nachgedanken“ behandelt, werde ich abschließend noch kurz eingehen. 30 31 Ebd. S. 685. Vgl. Bauer, E.: Gerichtsthematik. S.150 – 156. 15 Mona und Gerhard P. Knapp hingegen betonen vor allem die politischen Betrachtungen Dürrenmatts im Hinblick auf die Frage, welchen Weg eine Gesellschaft gehen kann um Gerechtigkeit zu erreichen. In das Spannungsfeld eines letztlich immer individuell begründeten Rechtsdenkens tritt hier zum ersten Mal ganz explizit eine weiter ausgreifende Verantwortlichkeit: die des Einzelnen innerhalb eines gegebenen k o n k r e t e n S y s t e m s politischer und gesellschaftlicher Bezüge.32 Sie betonen daher weniger den dualistischen Begriff der Gerechtigkeit, sondern die Verantwortung des Einzelnen, die in der „[…]Emanzipation zur V e r n u n f t“33 liegt. Sie konzentrieren sich auf die Gesellschaftssysteme und das darin entwickelte „Freund – und Feinddenken“ und betonen die Undenkbarkeit einer moralischen Politik. Der Jurist Peter Schneider dagegen setzt einen anderen Schwerpunkt. Er vernachlässigt weitestgehend die philosophischen Aussagen, vor allem zu dem Begriff, den der Mensch von sich macht. Von einer juristischen Warte betrachtet, mag dies auch nicht von Bedeutung sein. Eine klare Aussage trifft er nur im Hinblick auf das unzureichende Selbsthilferecht; die beiden modernen Staatsformen kommentiert er nicht. Welche Antwort könnte man nun Allah auf die Eingangsfrage zur Analyse des Monstervortrags geben? Kein Mensch ist in der Lage die Gerechtigkeit voll zu verwirklichen oder voll zu erkennen, aber jeder Einzelne kann seinen Beitrag für eine Gesellschaft leisten, eine Gesellschaft, in der viele Einzelne danach streben gerechter und besser zu leben. Aufgrund der eigenen Widersprüchlichkeit wird der Mensch aber immer gezwungen sein, Kompromisse einzugehen und die scheinbar vollkommene göttliche Gerechtigkeit nie erreichen. 32 33 Mona und Gerhard P. Knapp: Recht – Gerechtigkeit – Politik. S. 23. Ebd. S. 34. 16 2.4 „Nachgedanken“ Abgesehen vom Monstervortrag äußert sich Dürrenmatt auch in den „Nachgedanken“34 nochmals über die Thematik Recht und Gerechtigkeit, im dritten Kapitel so vor allem über die Entstehung von Gesetzen und die Existenz von rationalen und irrationalen Rechten. Als Basis für die Rechtfertigung von Macht dienen unter anderem Gesetze und deshalb versucht Dürrenmatt zu analysieren wie Gesetze entstehen: Entweder stellen die Menschen die Gesetze aus der Erfahrung auf, die sie miteinander gemacht haben, und versuchen, den so eingespielten Zustand zu kodifizieren, oder sie glauben an einen göttlichen Ursprung der Gesetze oder entwerfen Gesetze, um eine Zusammenleben zu verwirklichen, das sie als ideal ansehen, dem sie aber noch nicht entsprechen. 35 Er stellt schließlich ein rationales Recht, das „an sich“ stimmen müsse, einem dogmatisiertem irrationalem Recht, das „in sich“ stimmig zu sein behauptet, gegenüber. Weiterhin sieht er es auch als Aufgabe der Justiz die Rechte an der Wirklichkeit zu überprüfen: Was Einstein über die Mathematik sagt, könnte auch über das rationale Recht gesagt werden, über die Justiz: Insofern sich ihre Gesetze auf die Wirklichkeit beziehen, sind sie nicht ›gerecht‹, und insofern sie gerecht sind, beziehen sie sich nicht auf die Wirklichkeit. So in sich logisch die Justiz auch ist, sie muß immer von der Wirklichkeit neu überprüft werden können.36 Sollte das Recht allerdings, aufgrund der empirischen Entwicklung, für sich den Anspruch erheben absolut zu werden und sich nicht mehr an der Wirklichkeit überprüfen, dann neigt auch das rationale Recht zur Dogmatisierung. Dürrenmatt selbst lehnt die Dogmatisierung ebenso wie Ideologien ab, denn sie basieren auf Glauben und nicht auf Wissen. Als Laie 34 Dürrenmatt, Friedrich: Nachgedanken. Unter anderem über Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit in Judentum, Christentum, Islam und Marxismus und über zwei alte Mythen. In: Gesammelte Werke. Band 6. Stoffe I - IX. Zusammenhänge. Zürich: Diogenes, 1991. S. 721 – 777. 35 Ebd. S. 744. 36 Ebd. S. 745. 17 glaubt er nicht direkt auf das dogmatische Recht Einfluss nehmen zu können, da Dogmen geglaubt werden müssen und nicht rational begründet sind.37 Letzten Endes stellt sich hier noch die Frage ob es überhaupt gerechte Gesetze geben kann und es wird sehr deutlich, dass Dürrenmatts Abneigung gegen Dogmen mit seiner Abneigung gegen Ideologien vergleichbar ist. Im sechsten Kapitel dieser „Nachgedanken“ äußert sich Dürrenmatt gleichfalls zu den Gedanken Gerechtigkeit und Freiheit, die ja bereits im Monstervortrag, den er zehn Jahre vorher verfasst hatte, angeklungen sind. Er untersucht das Verhältnis zwischen Gerechtigkeit und Freiheit, indem er die Schlagwörter der französischen Revolution, Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit, überdenkt. Die Gleichheit setzt er hierbei in den Kontext des Gesetzes, in Form der Gleichheit aller vor dem Gesetz, die die Freiheit so einschränken soll. Somit wird die Gleichheit für ihn zur Gerechtigkeit und dadurch zum notwendigen Gegenpol zur Freiheit. Zwischen diesen beiden entgegengesetzten Begriffen steht die Brüderlichkeit die Dürrenmatt mit der „Liebe des Menschen zum Menschen“38 gleichsetzt, somit also als Nächstenliebe bzw. Menschlichkeit als Regulativ einsetzt. Diese Form der Brüderlichkeit schafft einen elastischen Spielraum und somit ein mehr oder weniger stabiles Gleichgewicht.39 Hier wird veranschaulicht welche entscheidende Bedeutung Dürrenmatt der Menschlichkeit zugesteht, deren wichtigste Aufgabe er darin sieht, zwischen den beiden Extremen der Freiheit und der Gerechtigkeit zu vermitteln. Letzten Endes ist wohl nur die Brüderlichkeit in der Lage einen Kompromiss zu schaffen, der sowohl die größtmögliche Freiheit als auch die größtmögliche Gerechtigkeit für jeden Einzelnen und somit für die Gesellschaft an sich gewährleisten kann. 37 Vgl. Bauer, E.: Gerichtsthematik. S. 5. Dürrenmatt, F.: Nachgedanken. S. 756. 39 Vgl. Ebd. S. 756. 38 18 3. Dramaturgische Grundlagen 3. 1. Zentrale Motive Für die Darstellung der Figuren und ihrer Handlungsmöglichkeiten ist eine genauere Betrachtung einiger zentraler Motive vonnöten. Als wichtigste Motive möchte ich das Labyrinth, den Zufall, das Scheitern und das Spiel kurz näher erläutern, weil sie mir für die Darstellung der Figuren am wesentlichsten erscheinen. 3.1.1 Das Labyrinth Das Labyrinth ist ein zentrales Motiv in Dürrenmatts Werk. Ihren Ursprung hat dieses Symbol für die undurchschaubare Welt sicherlich in den mythologischen Erzählungen des Vaters.40 Obwohl er ein protestantischer Pastor war, erzählte er dem Sohn häufig die antiken griechischen Mythen. Auch die Welt der Kindheit auf dem Dorf hat Dürrenmatt in seinen Stoffen mit einem Labyrinth gleichgesetzt, umso stärker erfuhr Dürrenmatt den labyrinthischen Charakter des Lebens, als die Familie in die Stadt zog. […][D]ie Kornfelder und die Gänge im Tenn der Bauernhäuser wurden mir durch die Sage vom Minotaurus zum Labyrinth, und so war mir das Bild des Labyrinths vertraut, als ich noch im Dorf lebte, ich rettete es in die Stadt hinüber, fand es durch sie nicht nur bestätigt, sie aktualisierte es noch […] 41 Das Motiv des Labyrinths als stellvertretend für die Wirrnisse des Lebens, denen der Mensch hilflos ausgeliefert ist, hat Dürrenmatt nie losgelassen. Er bietet in seinen Werken keinen Ariadnefaden, der dem Menschen helfen würde den Weg aus dem Labyrinth zu finden, er sieht keine Möglichkeit für den Menschen über das Labyrinth hinauszublicken, es quasi zu überschauen. Der Mensch ist in das Labyrinth des Lebens, mit seiner wirren 40 Vgl.: Kreuzer, Franz: (Interview) (1982)In: Friedrich Dürrenmatt. Im Bann der Stoffe – Gespräche. 1981 – 87. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold u. a. Zürich: Diogenes, 1996. S. 121-167. S. 130. 41 Friedrich Dürrenmatt: Dramaturgie des Labyrinths. In: Text + Kritik. Band 56. 1977. S. 1-7. S. 1 19 und undurchschaubaren Beziehungen, hineingeworfen und es liegt an ihm weiterzugehen und den Weg zu suchen, trotz der Gewissheit, dass der Ausweg nicht auffindbar ist. Auch in den Kriminalromanen klingt dieses Grundbild mit. Grundsätzlich besteht die Aufgabe im Detektivroman darin, sich im Labyrinth der Hinweise zurechtzufinden und die entscheidenden herauszupicken. Noch deutlicher wird der labyrinthische Charakter allerdings in Dürrenmatts Roman „Justiz“, der insgesamt völlig verworren und labyrinthisch wirkt. Die Beziehungen zwischen den einzelnen Charakteren sind nicht zu klären, Späth ist hineingeworfen in dieses Labyrinth und kann sich zwangsläufig nicht darin zurechtfinden. Der einzige, der scheinbar in der Lage ist das Labyrinth zu überblicken und vielleicht sogar zu beherrschen, ist hier Isaak Kohler. Er wird zur mythischen Gestalt stilisiert, überlebt alle Beteiligten und wirkt übermenschlich. 42 Die Menschen im Lebenslabyrinth können sowohl Theseus, Minotaurus als auch Opfer sein. Dürrenmatt beschreibt die Erfahrung der Identifikation sehr ausdrucksstark in der Dramaturgie des Labyrinths: […]denn die Welt, in die ich hineingeboren wurde, war mein Labyrinth, der Ausdruck einer rätselhaften mythischen Welt, die ich nicht verstand, die Unschuldige schuldig spricht und deren Recht unbekannt ist. 43 Hier wird somit auch der Bezug zwischen Recht und Gerechtigkeit und der labyrinthischen Undurchschaubarkeit der Welt deutlich. Vielleicht ist es möglich einzelne Charaktere diesen Grundtypen - Minotaurus, Opfer oder Theseus - zuzuordnen. Was kennzeichnet also den Minotaurus (dazu ist auch Dürrenmatts Ballade zum Minotaurus von Bedeutung)? Vielleicht ist der Mensch grundsätzlich ein Minotaurus, der beide Seiten in sich trägt, das „Göttliche“ und das „Dämonische“. Sichtbar wird dies zum Beispiel in Bärlach, der sowohl als Kämpfer für die Gerechtigkeit, aber 42 Vgl. Auge, Bernhard: Friedrich Dürrenmatts Roman „Justiz“. Entstehungsgeschichte, Problemanalyse, Einordnung ins Gesamtwerk. (Germanistik, Band 27). Münster: LIT, 2004. S. 303 – 304. 43 Dürrenmatt, F.: Labyrinth. S. 6. 20 dennoch auch mit dämonischen Zügen 44dargestellt wird. Inwiefern diese These auf andere Charaktere zutrifft werde ich in den Charakterisierungen näher analysieren. Zunächst ist aber eine nähere Betrachtung wie Dürrenmatt den Minotaurus sieht vonnöten. Friedrich Dürrenmatt selbst entwirft in seiner Ballade zum Minotaurus45 ein ganz anderes Bild dieser Figur. Er stellt einen unwissenden Einzelnen dar, intensiviert die Bedeutung des Du, und verdeutlicht vor allem die Beziehung zwischen dem Minotaurus und seinen Spiegelbildern, genauso wie gegenüber seinem Opfer und seinem Mörder oder Richter, Theseus. Der Minotaurus ist hier in ein Spiegellabyrinth gestellt und so mit seinem eigenen Spiegelbild konfrontiert, kann sich beispielsweise auch als Gott der Spiegelbilder betrachten, weil sie ihn nachahmen. Als er auf ein Mädchen trifft, erkennt er, dass er nicht nur ein Einzelner ist. Unabsichtlich tötet er dieses Mädchen. Gerade in der abschließenden Begegnung mit Theseus verändert sich erneut seine Sicht der Dinge. Zunächst hält er ihn für ein Spiegelbild seiner selbst, erkennt dann aber den Unterschied, tanzt vor Freude um dieses Du, das ihm selbst ähnlich ist, und wird dann von Theseus ermordet. Der Minotaurus ist der unschuldig Schuldige, das Labyrinth schützt ihn und stellt nicht nur einen Schutz vor ihm dar. Am tragischsten erscheint, dass der Minotaurus die Strafe für die Schuld seiner Existenz trägt, ohne seine Schuld wirklich begreifen zu können. Letzten Endes ist so für Dürrenmatt der Minotaurus auch nur ein Opfer. Abschließend ist noch festzustellen, wie sich der Einzelne in diesem Lebenslabyrinth zurechtfinden kann, wie der Einzelne vielmehr damit leben kann. Jeder Versuch, die Welt, in der man lebt, in den Griff zu bekommen, sie zu gestalten, ist ein Kampf mit dem Minotaurus, daß man in diesem Kampf mit sich selber kämpft, leuchtet einem erst spät ein; gleichzeitig stellt dieser Kampf aber 44 Vgl. Dürrenmatt, Friedrich: Der Richter und sein Henker. Ein Kriminalroman. (1950) In: Gesammelte Werke, Band 4. Romane. Zürich: Diogenes, 1991. S. 9 – 117. S. 109 – 116. (Es handelt sich hier um das Henkersmal am Ende des Romans, dass die dämonische Seite Bärlachs eindrücklich vor Augen führt, dazu allerdings mehr bei den Charakterisierungen) 45 Vgl. Dürrenmatt, Friedrich: Minotaurus. Eine Ballade. (1985).In: Gesammelte Werke. Band 5. Erzählungen. Zürich: Diogenes, 1991. S. 427 – 447. 21 auch den ohnmächtigen Versuch des Minotaurus dar, das Labyrinth auf seine Weise zu begreifen.46 Deutlich wird hier der Kampf des Einzelnen, nicht nur gegen ein Kollektiv, sondern auch gegen sich selbst. Ein Kampf, dem man nicht entgehen kann, und den man auch nicht gewinnen kann. Gerade dies ist für die Charakterisierung von entscheidender Bedeutung, weil oft die gegensätzlichsten Charakteranteile in einer Figur vereint werden. Dieser Kampf ist eine Herausforderung, die das Bestehen der ohnehin labyrinthischen Welt noch erschwert. 3.1.2 Der Zufall Der Zufall ist in Dürrenmatts Dramaturgie von entscheidender Bedeutung. Dementsprechend umfangreich sind auch die Beiträge in der Forschungsliteratur, die ich in dieser Ausführlichkeit leider nicht wiedergeben kann. Zu verweisen vor allem im Bezug auf die Kriminalliteratur ist auf Bialik, Ulrich Profitlich und zuletzt auf Jan Jambor47, der die umfangreichste und detaillierteste Kategorisierung des Zufalls vorgenommen hat. Ich möchte in erster Linie die verbindende Funktion des Zufalls ins Zentrum meiner Aufmerksamkeit stellen, denn der Zufall ist für die Motive, für die Gerechtigkeit und für die Figurengestaltung von entscheidender Bedeutung. Daher betone ich die Auswirkungen auf die Figuren, auf die anderen Motive und zuletzt auf die Gerechtigkeit. 46 Dürrenmatt, F.: Labyrinths. S. 6. Vgl. hierzu: Jambor , Ján: Die Rolle des Zufalls bei der Variation der klassischen epischen Kriminalliteratur in den Bärlach – Romanen Friedrich Dürrenmatts. (Acta Facultatis Philosophicae Universitatis Prešoviensis : Monographia ; 76 = AFPhUP 172/253). Prešov: Filozofická fakulta Prešovskej univerzity, 2007. Profitlich , Ulrich: Der Zufall in den Komödien und Detektivromanen Friedrich Dürrenmatts. In: Zeitschrift für deutsche Philologie. 90 (1971). S. 258 – 280. Bialik , Włodzimierz: Der Zufall in den Detektivgeschichten von Friedrich Dürrenmatt. In : Studia Germanica Posnaniensia. 5 (1976). S. 37 – 61. 47 22 Ich möchte mit Dürrenmatts eigenen Ausführungen zu seiner Dramaturgie des Zufalls beginnen, die vor allem in den „21 Punkten zu den Physikern“48 als auch in den „Sätzen über das Theater“49 eine bedeutende Position einnimmt. Auch wenn diese theoretischen Schriften erst nach den ersten Kriminalromanen entstanden sind, ist der Zufall bereits im „Richter und sein Henker“ von zentraler Bedeutung. Gerade die Aspekte in den „21 Punkten zu den Physikern“ sind in der Forschungsliteratur eine wesentliche Basis für Dürrenmatts Verständnis vom Zufall als dramaturgisches Mittel: 3 Eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmst - mögliche Wendung genommen hat. 4 Die schlimmst - mögliche Wendung ist nicht voraussehbar. Sie tritt durch Zufall ein. 5 Die Kunst des Dramatikers besteht darin, in einer Handlung den Zufall möglichst wirksam einzusetzen. […] 7 Der Zufall in einer dramatischen Handlung besteht darin, wann wo wer zufällig wem begegnet. 8 Je planmäßiger die Menschen vorgehen, desto wirksamer vermag sie der Zufall zu treffen.50 Hier wird also der Zusammenhang zwischen planmäßigem Vorgehen, Zufall und Scheitern anhand der schlimmstmöglichen Wendung verdeutlicht. In den Kriminalromanen führt der Zufall allerdings nicht immer zur schlimmstmöglichen Wendung, ist aber dennoch keineswegs von geringerer Bedeutung. Gerade im „Richter und sein Henker“ steht die Wette darüber, ob der Zufall Verbrechen oder deren Aufklärung begünstige, im Zentrum.51 Die „21 Punkte zu den Physikern“ stellen natürlich nicht die einzige theoretische Aussage Dürrenmatts zum Zufall dar. „Auch das determinierteste Drama kommt, sieht man genau hin, ohne Zufall nicht aus. Der Zufall ist das nicht Voraussehbare. Bei den Alten erschien er als Schicksal“52 Hier wird nicht nur betont, dass der Zufall sich nicht einschätzen lässt, 48 Dürrenmatt, Friedrich: 21 Punkte zu den Physikern. (1962). In: Theaterschriften und Reden. Hrsg. Von Elisabeth Brock – Sulzer. Verlags AG Die Arche: Zürich, 1969⁹. S. 193 / 194. 49 Friedrich Dürrenmatt: Sätze über das Theater. (1970). In: Gesammelte Werke. Band 7. Essays. Gedichte. Zürich: Diogenes 1991. S. 118 – 153. 50 Dürrenmatt, F.: 21 Punkte. S. 193. 51 Vgl.: Dürrenmatt, F.: Richter und Henker. S. 67 - 73. 52 Dürrenmatt, F.: Sätze über das Theater. S. 142. 23 sondern die transzendente Idee des Zufalls als einer höheren Macht wird ebenfalls thematisiert. Auch zur schlimmstmöglichen Wendung äußert Dürrenmatt sich näher: Ein Unfall ist zuerst unwahrscheinlich, wird dann im Verlaufe der Zeit immer wahrscheinlicher, bis er zur Wirklichkeit wird; die Kette der Umstände, Zufälle usw. hat ihre schlimmstmögliche Wendung genommen. […] [W]eil die schlimmstmögliche Wendung die Wirklichkeit, d. h. den Unfall, so wie er sich ereignet, darstellt und nicht, wie er sich auch noch ereignen könnte. […] Ich muß deshalb gedanklich meiner Fiktion die schlimmstmögliche Wendung geben, ich muß den tödlichen Unfall beschreiben. Nur so bekommt meine gedankliche Fiktion auch eine ›existentielle‹ Berechtigung.[…] Durch die schlimmstmögliche Wendung, die ich einer dramatischen Fiktion gebe, erreiche ich auf einem merkwürdigen Umweg über das Negative das Ethische: die Konfrontierung einer gedanklichen Fiktion mit dem Existentiellen. 53 Hier wird die Verbindung mit der Wahrscheinlichkeitstheorie deutlich, ebenso die Ethische Komponente, die dem Ganzen eine noch größere Bedeutung geben soll, die der Zufall eben durch die auf ihn folgende schlimmstmögliche Wendung erlangt. Der Zufall zeigt so gerade mit der schlimmstmöglichen Wendung, wie begrenzt die Handlungsmöglichkeiten und Einflussmöglichkeiten des Einzelnen sind, und wie groß die Gefahr des Scheiterns ist. Wesentlich ist hier aber die Bedeutung, die der Zufall für die Figuren in den Kriminalromanen hat. Ich werde hier nicht so eingehend differenzieren, wie es Jambor tut, der einerseits den Einfluss des Zufalls auf die Figur untersucht, andererseits aber auch die aktive sowie die kontemplative Reaktion der Figuren auf den Zufall unterscheidet.54 Mir geht es vielmehr darum, einen Zusammenhang zwischen dem Einfluss des Zufalls auf die Figuren und die Reaktionen der Figuren darauf herzustellen. Ich unterscheide hier drei Formen der Stellung des Einzelnen zum Zufall. Eine Figur kann vom Zufall betroffen sein und wird so entweder zum seinem Nutznießer oder Opfer. 53 54 Ebd.: S. 150 -151. Vgl. Jambor, J.: Rolle des Zufalls. S. 143 – 150. 24 Teilweise ist es willkürlich, ob eine Figur durch den Zufall begünstigt oder im Erreichen ihres Zieles behindert wird. Dennoch kann der Einzelne entscheidend dazu beitragen, indem er einerseits versucht den Zufall in sein Denken und Handeln einzukalkulieren und sich andererseits bewusst ist, dass das Leben in seiner Gesamtheit eben nicht einer reinen Kausalität unterworfen ist. „Das Leben bleibt trotz dem Zufälligen formbar, das Individuum ein mehr oder weniger souveräner Akteur.“55 Da sich aber die Macht des Zufalls kaum korrekt einschätzen lässt, ist der Einzelne diesem gegenüber oft ohnmächtig und scheinbar ausgeliefert. Letztlich hat die Figur aber immer noch die Möglichkeit mit ihrer Reaktion auf den Zufall, egal wie unvorhersehbar und destruktiv dieser ist, der Handlung eine positive oder negative Wendung zu geben. Die Protagonisten, die scheitern tun dies, gerade weil sie den Zufall nicht in ihr Denken einbeziehen, und glauben die Welt wäre bis ins letzte planbar. „Im Zufall manifestiert sich für ihn [Dürrenmatt] die Freiheit des Einzelnen, und das meint auch die Freiheit zum Irrtum und zum irrtümlichen, zur falschen Handlung; denn auch sie markiert den Zufall.“56 Der Einzelne wird also nicht zum reinen Opfer sondern bleibt durchaus handlungsfähig und das Scheitern57 ist somit an die Figur gebunden und nicht direkt vom Zufall abhängig. Der Protagonist hat somit entscheidenden Einfluss darauf, ob er Nutznießer oder Opfer des Zufalls wird. Eine weitere Beziehung zwischen Figur und Zufall ist diejenige der Personifikation. Vereinzelt werden die Protagonisten zu Allegorien des Zufalls. Dies ist beispielsweise der Fall in der Figur des Gulliver im Verdacht, der als „deus ex machina“ auftritt und es so noch schafft Bärlach in letzter Minute zu retten. Aber nicht nur mythisch überhöhte Figuren, wie Gulliver der Ahasver, können zu einer Personifikation des Zufalls werden. Hier wäre als Beispiel Tschanz anzuführen, der durch seine Eifersucht einerseits der Zufall ist, der es verhindert dass Bärlach Gastmann mit juristischen Mitteln überführen kann, und andererseits gerade dadurch zur Waffe wird, die Bärlach gegen Gastmann einsetzt um ihn wenigstens zu vernichten. Die Figuren, die also zu einer Allegorie des Zufalls werden, können durchaus in ihrer Grundkonzeption sehr unterschiedlich sein. 55 Paganini , Claudia: Das Scheitern im Werk von Friedrich Dürrenmatt. "Ich bin verschont geblieben, aber ich beschreibe den Untergang". (Schriftenreihe Poetica , Band77). Hamburg:Kovač, 2004S. S. 153. 56 Arnold , Heinz Ludwig: Querfahrt mit Dürrenmatt. Göttingen: Wallstein Verlag , 1990. S. 35. 57 Vgl.: Kapitel Scheitern 25 Die dritte Art der Beziehung zwischen den Charakteren und dem Zufall besteht darin, dass die Figur nicht durch den Zufall beeinflusst wird, ja scheinbar außerhalb der Macht des Zufalls steht. Dr. Isaak Kohler wird oft als Beispiel genannt. Ich bezweifle allerdings, dass eine Figur völlig außerhalb des Zufalls stehen kann, denn der Zufall unterscheidet nicht, er trifft jeden und vor allem diejenigen die vielleicht von sich glauben über dem Zufall stehen zu können oder gar die Existenz des Zufalls leugnen; die Wirklichkeit trifft sie umso härter. Nun zu der Wirkung des Zufalls auf die anderen Motive, die ich hier betrachten möchte. Der Zufall fungiert nahezu als Bindeglied, das die einzelnen Motive verknüpft oder beherrscht, zumindest auf jedes Motiv und seine Gestaltung einen bedeutenden Einfluss hat. Gerade der Zufall dient dazu die Welt noch chaotischer und unberechenbarer zu gestalten. Ohne den Zufall wäre die Welt ein starres Schema rein kausaler Notwendigkeiten, ohne den Zufall wäre die Welt planbar bis ins letzte, eine geheimnisvolle, eine unmenschliche Welt.58 Dies zeigt deutlich die Notwendigkeit des Zufalls um die Welt komplex zu darzustellen. Gerade die Komplexität der Welt ermöglicht aber auch den Zufall, womit eine wechselseitige Bedingtheit von Zufall und Komplexität entsteht. Zwischen der großen Zahl der beteiligten Faktoren besteht eine noch viel gewaltigere Zahl von Interdependenzen.[…] [E]s ist nicht möglich, die Ausgangsposition aller beteiligter Figuren genau zu messen und zu beschreiben, die Persönlichkeit eines Menschen, sein Charakter, sein Wissen, seine emotionale Situation ist auch mit unendlich vielen Parametern nicht zu bestimmen und exakt zu quantifizieren.59 Somit verdeutlicht Bernhard Auge auch, dass eben eine Berechenbarkeit nicht möglich ist und schafft so eine Verbindung zur Chaostheorie, die verdeutlicht, dass ein komplexes System ins Chaos führen kann, so dass es zwar einen linear berechenbaren Bereich, aber 58 59 Arnold, H. L. : Querfahrt. S. 35. Auge, B. : Justiz. S. 365/366. 26 auch einen nicht linearen, nicht berechenbaren Bereich gibt. Somit gibt es keine vollständige Sicherheit, sondern nur eine statistische Wahrscheinlichkeit. 60 Das Motiv des Labyrinths und der Zufall begünstigen sich somit gegenseitig. Darüber hinaus gibt es auch Verbindungen zu dem Motiv des Spiels, denn nur der spielerische Umgang mit dem Zufall ermöglicht ein Bestehen der Welt. Edgar Marsch bringt den Zufall in Verbindung mit dem Motiv des Spiels und des Konflikts, und zeigt so den Zusammenhang.61 Außerdem stützt der Zufall, der von den Figuren selbst geschaffen wird,gerade das spielerische Element. In der „Panne“ beispielsweise werden gerade die Kausalität und der Zufall umgekehrt. Hier wird das Zufällige ins Absichtsvolle gedeutet. [A]us einem Zufall wird ein Fall konstruiert, unzusammenhängende Begebenheiten werden in kausale Zusammenhänge gebracht, die in der (fiktiven) Realität gar nicht gegeben sind, im Konstrukt der Verhandlung aber eine stimmige, runde, in sich geschlossene Sache ausmachen.62 Aus dem Spiel wird Ernst, aus dem Zufall Kausalität, aus dem Ungeordneten und scheinbar Unzusammenhängenden wird ein Zusammenhang konstruiert, der letztlich zum Selbstmord von Traps führt. Der Zufall wird so zum Spiel mit Möglichkeit und Wirklichkeit und für den Autor ein Mittel um eine Wirklichkeit zu schaffen, in der eben durch den Zufall das schlimmstmögliche Ende eintritt. Der Zufall führt ins Groteske, ins gerade noch Mögliche, gesteigert bis ins äußerst Unwahrscheinliche oder äußerst Banale.63 Hier wird erneut der Bezug zur Wahrscheinlichkeitsrechnung deutlich, denn der Zufall lässt sich eben nicht exakt vorhersagen. „[Dürrenmatts] paradoxe Logik des Zufalls läßt jedoch seine Eigenwelt zu einem Konglomerat stochastischer Abfolgen werden.“64 Gerade Dürrenmatts Beschäftigung mit den Naturwissenschaften wird an diesen Bezügen zur Chaostheorie und zur Wahrscheinlichkeitsrechnung sehr deutlich. 60 Vgl. Ebd. S. 359 - 364 Vgl. Marsch , Edgar: Die Kriminalerzählung. Theorie – Geschichte - Analyse. ( Modelle und Methoden) München: Winkler, 1972. S. 220 – 225. 62 Knopf , Jan: Friedrich Dürrenmatt. München: C. H. Beck, 1988⁴. S. 61. 63 Vgl. Auge, B. : Justiz. S. 350. 64 Bialik,W.: Zufall Detektivgeschichten. S. 61. 61 27 Zuletzt möchte ich noch auf den Einfluss des Zufalls auf die Gerechtigkeit eingehen, was sich komplex gestaltet, denn dabei muss auch der Aspekt der Schuld berücksichtigt werden. Zunächst möchte ich Dürrenmatts Einstellung zur Schuld verdeutlichen, denn er selbst sieht Schuld nicht mehr als eindeutig definierbar an: In der Wurstelei unseres Jahrhunderts, in diesem Kehraus der weißen Rasse, gibt es keine Schuldigen und auch keine Verantwortlichen mehr. Alle können nichts dafür und haben es nicht gewollt. […]Wir sind zu kollektiv schuldig, zu kollektiv gebettet in die Sünden unserer Väter und Vorväter. […]Schuld gibt es nur noch als persönliche Leistung, als religiöse Tat.65 Er stellt hier das Thema der Schuld, und die Bereitschaft des Einzelnen wirklich Verantwortung zu übernehmen, in Frage. Diesen Mangel an Schuld und Verantwortung sieht er prinzipiell als Problem unserer Gesellschaft und thematisiert diese Unklarheit über Schuld und Gerechtigkeit auch in seinen Werken, indem er den Zufall zu Hilfe nimmt. „Schuld und Gerechtigkeit erscheinen in der dargestellten Welt als fragwürdig, da die Verbrecher allesamt auf Grund von Zufälligkeiten zu Delinquenten werden[…]“66 Ira Tschimmel bezieht sich dabei auf des Beispiel das Edgar Marsch anfügt: Verschulden ist entweder Zufallsbedingt (Gastmann,) oder es ist durch Zufall vorbestimmt (Emmenberger), oder es ist arbiträr konstruierbar. In diesen Welten sind Schuld und Gerechtigkeit keine objektiven Größen mehr.67 Dennoch erscheint es mir wichtig zu betonen, dass der Einzelne nicht aus seiner Verantwortung entlassen werden kann, auch wenn der Zufall einen großen Einfluss darauf hat, ob der Einzelne zum Verbrecher wird oder nicht. Letztlich entscheidet jeder selbst, wie und in welchem Maß, er auf den Zufall reagiert, daher wird zwar Schuld und Gerechtigkeit zu einer subjektiven Größe, darf aber nicht vernachlässigt werden. Zahlreiche Verbrechen lassen sich in dieser zufallsbestimmten chaotischen Welt nicht mehr beweisen, so dass beispielsweise Bärlach im Richter und sein Henker Gastmann eines Verbrechens überführen musste dass dieser gar nicht begangen hat, und den eigentlich Schuldigen, 65 Dürrenmatt, F.: Theaterprobleme. S. 59. Tschimmel, Ira: Kriminalroman und Gesellschaftsdarstellung. Eine vergleichende Untersuchung zu Werken von Christie, Simenon, Dürrenmatt und Capote.(Studien zur Germanistik, Anglistik und Komparatistik Band 69). Bonn: Bouvier Verlag Herbert Grundmann, 1979.S.142. 67 Marsch, E. : Kriminalerzählung. S. 246. 66 28 nämlich Tschanz, laufen lassen musste. 68 Gerechtigkeit zu verwirklichen wird daher schwerer, weil es eben meist eine subjektive Gerechtigkeit ist, und eine objektive Wahrnehmung nicht mehr möglich ist. Dennoch kann der Zufall eine quasi göttliche Gerechtigkeit begünstigen. Waldmann sieht beispielsweise den Zufall ausschließlich in der Funktion als „Kryptoschicksal […][mit] göttlich – providentielle[r] Funktion“69 Er beschränkt den Zufall hier auf die reine Funktion die Ohnmacht des Menschen und seiner Vernunft zu erweisen, wobei diese Ohnmacht vor allem eine religiöse Ohnmacht der göttlichen Macht gegenüber sei.70 Diese Beschränkung auf den religiösen Bereich halte ich für zu eng, vielmehr erscheint mir der Zufall ein Zeichen unserer komplexen undurchschaubaren Welt zu sein, einer Herausforderung an den Einzelnen trotz des Zufalls gut handeln zu können, auch wenn die Folgen des Handelns nicht kausal berechenbar sind. Es liegt am Einzelnen den Zufall bestmöglich zu nutzen, seinen eigenen Anteil zu leisten und die Macht des Zufalls demütig einzukalkulieren. In der Ernstname des Zufalls und der demütigen Einkalkulierung sieht auch Elisabeth Brock Sulzer so die wahre Tragödie.71 3. 1.3 Das Scheitern Auch das Scheitern stellt ein zentrales dramaturgisches Motiv in Dürrenmatts Werk dar. In der chaotischen, von Zufällen beherrschten Welt ist es für den einzelnen ebenso wie für das Kollektiv schwierig nicht an den eigenen Plänen zu scheitern. Die Ausgangssituation der zufallsbestimmten chaotischen Welt ist trotzdem nicht ausschließlich für das Scheitern seiner Protagonisten verantwortlich. Doch zunächst zur Darstellung der scheiternden Gesellschaft, die gerade im Hinblick auf Dürrenmatts Gesellschaftskritik von großer Bedeutung ist. Beispielhaft wäre die Gesellschaft in Justiz zu betrachten: 68 Vgl. Bialik, W: Zufall Detektivgeschichten. S. 44. Waldmann, Günter: Kriminalroman – Anti-kriminalroman. Dürrenmatts Requiem auf den Kriminalroman und die Anti – Aufklärung. In: Der Kriminalroman I. Hrsg. von Jochen Vogt. München, 1971. S. 206 – 227. S. 222. 70 Vgl. Ebd. 222 – 223. 71 Vgl. Brock – Sulzer, Elisabeth: Friedrich Dürrenmatt. Stationen seines Werkes. Mit Photos, Zeichnungen, Faksimiles. Zürich : Verlag AG Die Arche, 1973⁴. S. 282 69 29 Keinen Raum für Gerechtigkeit gibt es des Weiteren in Justiz. Die dort angeklagte Gesellschaft ist dermaßen an Lüge und Betrug gewöhnt, dass Wahrheit und Gerechtigkeit in ihren Ohren unglaubwürdig klingen müssen. In das Scheitern der Gerechtigkeit legt Dürrenmatt seine Kritik an der modernen von Eigeninteressen geprägten Welt, in der eine nicht lohnende, keinen Gewinn bringende Justitia keine Chance hat sich durchzusetzen. 72 Die Gesellschaft an sich ist von ihrem Machtstreben korrumpiert, nur noch auf ihren eigenen Vorteil bedacht und dadurch nicht mehr daran interessiert Gerechtigkeit zu verwirklichen, was dazu führt, dass etliche Verbrecher nicht mehr verurteilt werden. Gerade der herrschende Opportunismus begünstigt diese Haltung und somit das moralische Scheitern der Gesellschaft. Von größerer Wichtigkeit ist hier aber das Scheitern des Einzelnen, das Dürrenmatt auch in den Kriminalromanen verdeutlicht. Wesentlich sind hier genau die Charakteristiken, die auch für den mutigen Menschen entscheidend sind. Wichtig ist vor allem die Wahrnehmung der Welt mit der Fähigkeit die Wirklichkeit zu reflektieren, und nicht in Lebenslügen zu fliehen. Vor allem Sturheit, Verbissenheit, ja vielmehr Fanatismus hindern den Einzelnen an der Erkenntnis der Wirklichkeit. 73 Natürlich muss dabei auch berücksichtigt werden, dass eine objektive Wahrnehmung der Wirklichkeit schon grundsätzlich sehr schwierig ist, weil der Einzelne nicht alle Faktoren kennt und sich immer nur ein subjektives Bild machen kann. Dennoch sollte er bestrebt sein die Welt so objektiv wie möglich zu betrachten. Claudia Paganini betont hier auch die Aufgabe der Helden, die eigene Position in der Welt richtig einzuschätzen sowie die eigenen Motive zu hinterfragen. Im Bezug auf die Richterfiguren ist die Frage nach der Motivation besonders bedeutend, da es nach außen Gerechtigkeit ist, die sie anstreben, aber letzten Endes meist egoistische Motive ihr Handeln beherrschen . Um nun aber nicht zu scheitern gibt es nach Paganini vier wichtige Elemente um die Spannung zwischen Innen und Außen, die den Akt der Einschätzung erschwert, zu 72 73 Paganini, C.: Scheitern. S. 148. Vgl. Ebd. S. 149 – 151. 30 überwinden.74 Die Verhältnismäßigkeit zwischen Ziel und Mittel, somit das äußere Wie einer Handlung, sind von Bedeutung. 75 Die Figuren müssen abwägen, ob das was sie zu tun bereit sind ihr Ziel rechtfertigt, oder ob die Mittel darüber hinausgehen, und somit das Ziel der Lächerlichkeit preisgeben. Weiterhin ist das innere Wie ihres Tuns entscheidend, also die Geisteshaltung der Figuren.76 Dies verweist zum einen auf die Motivation der Figuren aber vor allem auf die innere Haltung zu ihrem Ziel, es ist eine gewisse Leichtigkeit im Handeln gefordert, und die humorlose Verbissenheit wird getadelt. 77 Gerade die Gelassenheit und der Humor erscheinen mir für das Bestehen der Welt entscheidend zu sein, und gerade die Verbrecherfiguren sind in ihrer Haltung diesbezüglich oft die größeren Vorbilder als die fanatischen Gesetzeshüter. Nach dem äußeren Wie einer Handlung und der Geisteshaltung ist nun die Auswirkung von Bedeutung. Hierbei spielen Verantwortung und Schuld und die Abwägung von Aufwendung und Opfern genauso wie eine soziale Komponente, also die Orientierung an der Gesellschaft, eine Rolle. 78 Wichtig ist also, dass der Mensch sich nicht selbst absolut setzt, auch die Folgen seines Handelns betrachtet und so agiert, dass der Gemeinschaft im Ganzen kein Schaden entsteht, und nicht Unschuldige zu Opfern werden. Allerdings vernachlässigen gerade die Gesetzeshüter, die Richterfiguren, diesen Punkt in ihrem Fanatismus und ihrer sturen Ausrichtung auf ihr Ziel hin. Was insgesamt sehr wesentlich erscheint ist der letzte Punkt, den Claudia Paganini anführt, und der die Eigenverantwortlichkeit des Handelnden oder Scheiternden betont. Am Ende ist es der Betroffene selbst mit seiner Wahrnehmung, der für sich entscheiden muss, was scheitern ist.79 Darin liegt dann auch die Stärke des mutigen Menschen, wie er mit dem Scheitern umzugehen vermag, wie er es schafft trotz seines Scheiterns nicht zu verzweifeln und zu resignieren. Dies ist aber nur möglich, wenn man sich selbst relativieren kann und 74 Vgl. Ebd. S. 158. Vgl. Ebd. S. 158. 76 Vgl. Ebd. S. 159. 77 Vgl. Ebd. S. 160. 78 Vgl. Ebd. S. 160. 79 Vgl. Ebd. S. 161. 75 31 eine hohe Flexibilität besitzt. Die Welt zu bestehen ist nicht einfach, vor allem weil sie labyrinthisch ist und weil der Zufall eine große Rolle spielt, aber wie man mit dieser Welt umgeht bleibt jedem Einzelnen überlassen, und somit hat jeder selbst die Verantwortung für sein Scheitern. Flora Sotiraki dagegen betont eher den gesellschaftlichen Einfluss auf das Scheitern des Einzelnen.80 Natürlich ist es schwer sich in der Gesellschaft zurechtzufinden, aber allein die Gesellschaft verantwortlich zu machen heißt meiner Meinung nach auch, eine gute Ausrede für das Scheitern gefunden zu haben, die allerdings nicht dazu führt, dass man sich weiterentwickelt. Und letzten Endes ist jeder Einzelne ein Teil der Gesellschaft, und somit hat auch jeder Einzelne zumindest in begrenztem Maß eine Einflussmöglichkeit auf die Gesellschaft. Moralisches Versagen und Überbetonung des Intellekts mögen zwar durchaus gesellschaftlich begünstigt werden, aber der Einzelne ist immer noch in der Lage ein derartiges Ungleichgewicht zu erkennen und sein Möglichstes zu tun dieses zu beheben. Nur wenn jeder Einzelne anfängt, das Seine für eine bessere Gesellschaft zu tun, wird sich auch allmählich die Gesellschaft zum Besseren ändern. Und die wirkliche Kunst des nicht Scheiterns besteht gerade darin, sich trotz der widrigen Umstände zurecht zu finden und das Bestmögliche aus einer Situation zu machen. Und dies liegt meiner Meinung nach letzten Endes immer noch beim Einzelnen. Denn die Gesellschaft als Ganzes kann nicht verändert werden, wenn nicht der Einzelne bei sich selbst anfängt. Scheitern ist also nicht zwangsläufig, es zeigt aber auch die Begrenztheit des Menschen, die Schwäche, wenn es darum geht die Situation richtig einzuschätzen und angemessen zu handeln. Und somit bleibt dem Scheiternden nur sein Scheitern demütig anzunehmen, die eigene Schuld und Verantwortung auf sich zu nehmen, und daraus zu lernen um in einer ähnlichen Lage zukünftig anders handeln zu können. 80 Vgl. Sotiraki, Flora: Friedrich Dürrenmatt als Kritiker seiner Zeit. (Europäische Hochschulschriften / 01 ; 597). Frankfurt am Main u.a. : Lang, 1983. S. 15. 32 3.1.4 Das Spiel Das Spiel ist ein entscheidendes Element in Dürrenmatts Weltbild, vor allem auch in seiner Dramaturgie, und findet sich ebenfalls in den Kriminalromanen wieder. In den Kriminalromanen nimmt das Spiel, häufig als Darstellung des Konflikts zwischen Verbrecher und Richterfigur einen zentralen Raum ein. Dies kann in Form einer Wette auftreten, wie beim Richter und sein Henker, oder ein Billard - Spiel à la bande (dass zugleich auf die Vorgehensweise des Verbrechers Kohler hinweist) oder als gängigstes Motiv des Schachspiels zweier gegenüberstehender Akteure auftreten. In der Erzählung „Die Panne“ wird das Gerichthalten ja selbst zum Spiel. Aber auch im „Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht“ hat Friedrich Dürrenmatt ja die Gesellschaftssysteme in Form eines Spiels dargestellt. Die Darstellung eines Konflikts oder einer Situation als Spiel schafft einerseits ein gewisses Maß an Distanz und ermöglicht andererseits ein wenig Leichtigkeit und Unbedarftheit. In der Figur des Experimentators ist diese Lust am Spiel geradezu programmatisch enthalten. Allerdings kann das Spiel auch in Ernst umschlagen und so tödliche Folgen, beispielsweise für Traps, haben. Und das Spiel schafft Raum für verschiedene Möglichkeiten, weil es ja nicht ein wirklich objektiv erfassbare Wirklichkeit, sondern nur subjektive Ansichten gibt. Dürrenmatts Freude am Spiel wird auch an seiner Theorie des Gedankenexperiments deutlich: Ich denke die Welt durch, indem ich sie durchspiele. Das Resultat dieses Denkprozesses ist nicht eine neue Wirklichkeit, sondern ein komödiantisches Gebilde, in dem sich die Wirklichkeit analysiert wiederfindet, genauer, in dem sich der Zuschauer analysiert wiederfindet. Diese Analyse ist von der Einbildungskraft bestimmt, vom Gedankenexperiment, von der Spielfreude, Sie ist darum nicht streng wissenschaftlich, sie ist in vielem leichtfertig, doch gerade darum nützlich.81 Somit ist das Spiel bedeutend, nicht nur für Dürrenmatts Weltbild, sondern auch für die von ihm dargestellten Figuren. 81 Dürrenmatt, F.: Monstervortrag. S. 674. 33 3.2. Dürrenmatts dramaturgische Figurenkonzepte Dürrenmatts dramaturgische Figurenkonzepte sind, zumindest als Charakteranteile, für die Kriminalromane von Bedeutung. Die Nähe der Erzählungen und Romane zum Drama wird in der vielseitigen Bearbeitung des Stoffes der „Panne“ deutlich. Da aber ein epischer Text einer größeren Realitätsnähe bedarf, vor allem in den Charakterdarstellungen, werden diese dramaturgischen Konzepte modifiziert und liegen kaum in Reinform vor. In der Regel sind sie als eine Facette eines Charakters zu erkennen, oder exemplifizieren die Entwicklung eines Protagonisten. Von zentraler Bedeutung ist bei den Figurenkonzepten die Frage, inwieweit sich die einzelnen Typen eher als Individuen oder als Teile einer Gemeinschaft betrachten. Gerade hinsichtlich der Gerechtigkeitsvorstellung der einzelnen Figuren, ist diese Frage wichtig. Sie zu beantworten gestaltet sich durchaus als schwierig, da man immer in Betracht ziehen muss, wie die Gesellschaft ist, von der sich der Einzelne zum Beispiel abgrenzt oder deren Teil er ist. Da es keine ideale moralische Gesellschaft gibt, setzt sich oftmals gerade der für Gerechtigkeit ein, der seinen Individualismus betont und zum Außenseiter wird, weil er eben nicht Teil einer korrupten, moralisch verwerflichen Gruppe sein möchte. Dies scheint zunächst zwar Dürrenmatts Gleichsetzung von Individualismus und der Betonung der Freiheit zu widersprechen, doch wenn man den Gesellschaftsstatus mit einbezieht und somit den Individualismus als Chance zu einer freien Wahl für Gerechtigkeit sieht, wird dieser scheinbare Widerspruch nachvollziehbar. Somit gibt es auch Figuren, die sich zwar als Teil einer Gesellschaft definieren, aber sich trotzdem nicht für Gerechtigkeit einsetzen, weil die Gesellschaft an sich nicht nach Gerechtigkeit strebt. Gerade das Selbstbild der einzelnen Figuren, in Zusammenhang mit der Betrachtung der Gesellschaft, in der sie leben, verrät also viel über ihre Stellung zum Thema Gerechtigkeit. 34 Im Hinblick auf die vielseitigen Meinungen und Bezeichnungen in der Forschungsliteratur ist allerdings eine Abgrenzung der verschiedenen dramaturgischen Figurenkonzepte von einander nicht einfach. Ich versuche hier eine eigene, meiner Thematik angepasste, Unterscheidung zu finden, ohne dabei die Entwicklung und Beziehungen zwischen den Konzepten zu vernachlässigen, wobei ich mich nur auf die Figurenkonzepte konzentriere, die in den Kriminalromanen eine entscheidende Rolle spielen. 3.2.1 Der Mutige Mensch Der „mutige Mensch“ ist meiner Meinung nach ein Idealkonzept. Dürrenmatts Aussagen zu diesem Konzept lassen sich in den „Theaterproblemen“ finden: Gewiß, wer das Sinnlose, das Hoffnungslose dieser Welt sieht, kann verzweifeln, doch ist diese Verzweiflung nicht eine Folge dieser Welt, sondern eine Antwort, die man auf diese Welt gibt, und eine andere Antwort wäre das Nichtverzweifeln, der Entschluß etwa, die Welt zu bestehen, in der wir oft leben wie Gulliver unter den Riesen. Auch der nimmt Distanz, auch der tritt einen Schritt zurück, der seinen Gegner einschätzen will, der sich bereit macht, mit ihm zu kämpfen oder ihm zu entgehen. Es ist immer noch möglich den mutigen Menschen zu zeigen. Dies ist denn auch eines meiner Hauptanliegen. Der Blinde, Romulus, Übelohe, Akki sind mutige Menschen. Die verlorene Weltordnung wird in ihrer Brust wieder hergestellt, das Allgemeine entgeht meinem Zugriff.82 Dies ist die Kernaussage, die Dürrenmatt zum „mutigen Menschen“ trifft, zu einer Zeit, als er sich noch nicht in großem Ausmaß theoretisch über seine Werke geäußert hat. Ich teile hier auch Madlers83 Ansicht, dass diese Definition nicht eindeutig und klar ist. Dürrenmatt stellt hier nur fest, dass der „mutige Mensch“ versucht die Welt zu bestehen, nicht zu verzweifeln oder resignieren, sondern die verlorene Weltordnung im privaten wieder herzustellen. Voraussetzung dafür ist natürlich zunächst, dass der chaotische, labyrinthische Zustand der Welt erkannt wird, dass der Einzelne erkennt, dass er nur als 82 83 Dürrenmatt, F.: Theaterprobleme. S. 60. Vgl. Madler, Herbert Peter: Dürrenmatts mutiger Mensch. In: Hochland. 62 (1970). S. 36 – 49. S. 36. 35 Einzelner handeln kann, dass er aber auch einsieht, dass sein Unterfangen hoffnungslos ist, weil er als Einzelner die Welt nicht verändern kann. Er muss trotz der Aussichtslosigkeit seines Unterfangens handeln. Weitere wesentliche Aspekte des mutigen Menschen sind, meiner Meinung nach, auch die Fähigkeit zur demütigen Selbstannahme, die Akzeptanz der eigenen Verstrickung in Schuld sowie die Erkenntnis, dass auch der mutige Mensch an sich letztlich ein Mensch ist, und daher in seiner moralischen Handlungsfähigkeit beschränkt ist. Dennoch ist es bedeutsam, dass die Grundmotivation für den „mutigen Menschen“ eine moralische und sittliche sein sollte. Er sollte versuchen Gerechtigkeit und Menschlichkeit zu verwirklichen, verantwortungsbewusst handeln, sich nicht von egoistischen Absichten leiten lassen und das Wohl der Menschheit im Auge behalten.84 Die ‚mutigen‘ Menschen Dürrenmatts akzeptieren die moralischen Werte nicht nur verbal, deklarativ, sondern unterordnen sich diesen Werten in ihrem gesamten Verhalten. Sie sind Menschen, die diese Werte ernstnehmen.85 Dieser Ansicht stimme ich zu, denn Rache scheint für mich nicht die eigentliche Motivation des „mutigen Menschen“ zu sein, auch wenn Dürrenmatts Definition dies nicht wirklich klarstellt. Wenn der Mensch aus Rache heraus mutig handelt, gibt dies seiner Handlung eine andere Bedeutung, als würde er aus einem tiefen Gefühl für Gerechtigkeit heraus handeln. Gerade dies lässt sich aber auch nicht derart leicht trennen, weil gerade Charaktere, die von Rache getrieben werden, sich mit ihrem Streben nach Gerechtigkeit rechtfertigen. Der „mutige Mensch“ bildet die Basis, er war das erste Figurenkonzept zu dem sich Dürrenmatt, wenn auch nur beiläufig, auch theoretisch geäußert hat. Daher ist gerade dieses Konzept in der Forschungsliteratur zu entscheidender Bedeutung gelangt, wobei allerdings oftmals keine klare Definition bzw. Abgrenzung von anderen Figurenkonzepten 84 Vgl. Muhres , Michael: Dürrenmatts Begriff der Verantwortung. Frankfurt (Main): Uni. Diss. , 1974. S. 79 - 90. 85 Ebd. S. 87. 36 wie beispielsweise dem Narren erfolgt.86 Darüber hinausgehend denke ich allerdings, dass man gerade den mutigen Menschen als ein Idealbild betrachten muss, dem der reale bzw. realistisch gestaltete Charakter nicht voll, sondern nur in Teilen entsprechen kann. Ich teile daher auch Madlers Ansatz, dass von den vier genannten Charakteren nur der Bettler Akki dem Bild des mutigen Menschen entspricht.87 Dennoch betont er, dass das Thema des mutigen Menschen nicht auf diese Charaktere beschränkt sei, sondern dass es sich vielmehr leitmotivisch durch Dürrenmatts Arbeit ziehe. Hier muß vor allem jener Gestalten gedacht werden, die sich in Schuld verstrickt haben, diese Schuld aber nach allerlei Fährnissen nicht nur bekennen, sondern in ihrer ganzen ethischen Tiefe erfassen, so daß am Ende ihre Bestrafung durch die Welt zu einer bloßen Formalität wird, verglichen mit ihrem Streben nach wirklicher Gerechtigkeit und wahrer Erlösung.88 Dies geht unter anderem konform mit meiner Ansicht, dass sich gerade der mutige Mensch in Charakteranteilen meist finden lässt und betont zugleich den ebenfalls wesentlichen Aspekt der demütigen Selbstannahme und der Erkenntnis der Verstrickung in Schuld. Auch erscheint mir aber eine klarere Abgrenzung des mutigen Menschen vom Narren für notwendig, denn der mutige Mensch ist nicht automatisch ein Narr, sondern wird oft gerade durch seine Fehleinschätzungen zum Narren, was wiederum darauf hinweist, dass er nicht in der Lage ist die Welt in ihrem Chaos und ihrer Komplexität wirklich zu erfassen und angemessen zu reagieren. . Ich hatte bereits angesprochen, dass es wichtig ist, zu entscheiden inwieweit sich ein Charakter als Individuum oder als Teil einer Gesellschaft versteht um daraus auf seine Einstellung zur Gerechtigkeit zu schließen. Der mutige Mensch an sich wird oftmals zum Außenseiter, oder ist ein bewusster Einzelgänger. Gerade der Aspekt der 86 Vgl. Gutman, Claudia: Die Gestalt des Narren bei Friedrich Dürrenmatt. (Bielefelder Hochschulschriften; 12). Bielefeld: Pfeffer, 1974. (Gutman trennt nicht eindeutig zwischen dem mutigen Menschen und dem mutigen Narren, vgl. Kapitel Narr) 87 Vgl. Madler, H. P. : Mutiger Mensch. S. 48. 88 Ebd. S. 48. 37 Gesellschaftskritik, der Konfrontation des Einzelnen mit einer anonymen Masse wird von Josef Scherer betont. 89 Dieser sieht den „mutigen Menschen“ auch als eine Form der Zeitkritik, der Kritik an dem Verlust an Menschlichkeit und der Korruptheit der Welt.90 Der mutige Mensch sieht somit auch seine Individualität und grenzt sich bewusst von einer moralisch schlechten korrupten Gesellschaft ab und handelt trotzdem für die Gesellschaft und für das Ideal der Gerechtigkeit. Aber genau diese Außenseiterstellung kann, beispielsweise in den Kriminalromanen, dazu führen, dass der Einzelne sich nur noch in seiner Individualität wahr nimmt, gar keine Aufmerksamkeit auf die Gesellschaft richtet, und somit zum Machtmissbrauch verleitet wird. Gerade auf diese Weise entwickelt sich ein Charakter weg von dem Idealbild des mutigen Menschen und erliegt der Verführung der Macht und der Rache. Bärlach ist hierfür ein gutes Beispiel, weil er einerseits durchaus bestrebt ist einen Verbrecher zu stellen, dem mit juristischen Mitteln nicht mehr beizukommen ist; andererseits ist seine Motivation zunehmend primär Rache, und er wird zum Experimentator, der die Menschen wie Spielfiguren zu seinen Zwecken benutzt. Der mutige Mensch ist somit als Idealkonzept von entscheidender Bedeutung, auch für die anderen Figurenkonzepte, weil er der Verzweiflung in der Welt die Möglichkeit zur Hoffnung entgegensetzt. Mutige Menschen besinnen sich wieder auf sich selbst, finden Halt in sich selbst, beschränken sich aufs Mögliche, finden zurück zu Liebe, Gerechtigkeit und Geborgenheit und stellen der Verzweiflung die Hoffnung entgegen.91 3.2.2 Der Narr In der Forschungsliteratur zu Dürrenmatt findet oft keine klare Trennung zwischen dem „mutigen Menschen“ und dem „Narren“ statt. Letzten Endes ist die Entwicklung vom mutigen Menschen zum Narren einerseits eine schlimme, wenn nicht die 89 Vgl. Scherer, Josef: Der mutige Mensch. Versuch einer Deutung von Dürrenmatts Menschenbild. In: Stimmen der Zeit, Monatsschrift für das Geistesleben der Gegenwart. 169(1961/62). S. 307 – 312. S. 208. 90 Vgl. Ebd. S. 311 - 312 91 Vgl. Madler, H. P.: Mutiger Mensch. S. 49. 38 „schlimmstmögliche“ Wendung, andererseits aber auch eine realistischere Gestaltung dieses Typus. Ich kann hier weder auf die literarische Basis zur Narrenfigur noch auf eine tiefere Betrachtung zu Humor und Groteske eingehen, sondern will vielmehr einen kurzen Überblick über die verschiedenen Narrenfiguren bei Dürrenmatt in Bezug auf seine Kriminalromane geben und eine knappe Idee ihrer Funktion für dieselben rekapitulieren. Auch Dürrenmatts Unterscheidung zwischen dem ironischen und dem komischen Helden muss daher notwendigerweise vernachlässigt werden. Dürrenmatts Narrengestalten wollen eine komplexe Welt nach ihren Ideen und Plänen gestalten und verändern, ihr Vorgehen wird aber immer durch nicht erklärbare Ereignisse, durch Mißgeschicke und Pannen ad absurdum geführt. So ist das Narrentum Ausdruck der Erfahrung, irrationalen Mächten hilflos ausgesetzt zu sein.92 Der Einzelne, der seinen Individualismus betont und sich gegen ein Kollektiv stellt, wirkt oftmals gerade in den Augen des Kollektivs als Narr. Dennoch muss er nicht zwangsläufig auch mutig sein. Viele Narrenfiguren scheitern an ihrer fehlerhaften Einschätzung der Welt und der Wirklichkeit. Sie glauben die Welt mit ihrem Verstand bewältigen zu können und müssen dann scheitern, vor allem am Zufall. Gerade die realistisch gestalteten Charaktere in den Erzähltexten können nicht mehr wirkliche Helden sein. Das Scheitern wird, ebenso wie die Konfrontation mit einem Kollektiv in Form einer anonymen Macht, zu einem bestimmenden Charakteristikum für den Narren. An der labyrinthischen, chaotischen und undurchschaubaren Welt kann der Einzelne, der sich für Werte einsetzt, letzten Endes nur scheitern. Diese Welt kann mit Hilfe der Vernunft nicht mehr bewältigt werden und so scheitert der planvoll vorgehende Mensch meist am Zufall und wird in seinem Scheitern zum Narren. 92 Gutman, C.: Gestalt des Narren. S. 19. 39 Sigrun Gottwald unterteilt die Narren in wahnsinnige Narren (beispielsweise Matthäi), idealistische Narren (beispielsweise Bärlach und Fortschig in „Der Verdacht“) und schließlich den mutigen Narren, den sie als Weiterentwicklung des mutigen Menschen betrachtet.93 Ihrer Meinung nach ist „[d]er Held […] ein Narr, weil er trotz seiner Einsicht in die Geringheit seiner Erfolgschancen weiterkämpft, gegen alle Hoffnung hofft.“94 Natürlich wird der Einzelne, der einem Kollektiv gegenübersteht und sich für Werte einsetzt, lächerlich, aber nicht jeder mutige Mensch scheitert, weil er die Welt nicht durchschauen kann. „Der Mut, sich der eigenen Verantwortung zu stellen, erlaubt dem Menschen ein gewisses Mass an Würde, sogar Heldentum[…], selbst im Scheitern.“95 Der Narr wird zur Randfigur, er steht außerhalb der Gesellschaft und beharrt trotzdem nicht nur auf seiner Freiheit, sondern setzt sich gerade als mutiger Narr oft für Gerechtigkeit ein. Um die Paradoxie der menschlichen Lage, um die dieser Situation immanente Spannung darzustellen, um die Narrheit des Menschen zu verdeutlichen, für den das Dasein einem ewigen Auf und Ab gleichkommt, wählt Dürrenmatt häufig das Motiv des Sysiphos […] oder das des Don Quichote[…] So wie Sysiphos vergeblich einen Felsblock einen Hügel hinaufzuwälzen versucht und trotz aller Mißerfolge nie aufgibt, so wie Don Quichote trotz aller Niederlagen, die ihn lächerlich erscheinen lassen, an einem längst überlebten Rittertum festhält, ebenso bekennen sich Dürrenmatts Figuren zu Werten, für die in einer undurchschaubaren Welt kein Platz mehr zu sein scheint, die unzeitgemäß wirken.96 Gerade durch die Außenseiterposition erhält der Narr eine gewisse Distanz, allerdings führt seine Kritik an der Gesellschaft schnell zu einem Urteilsspruch so dass sich der Narr zum Richter erhebt.97 Gerade dieses Umkippen in die Richterrolle ebenso wie die Spielfreude, betont Claudia Gutman sehr ausführlich: 93 Vgl. Gottwald , Sigrun R.: Der mutige Narr im dramatischen Werk Friedrich Dürrenmatts. (New Yorker Studien zur neueren deutschen Literaturgeschichte ; 3). New York u.a.: Lang, 1983. S. 69 – 88. 94 Ebd. S. 90 – 91. 95 Ebd. S. 212. 96 Gutmann, C.: Gestalt des Narren. S. 53-54. 97 Vgl. Gottwald, S. R.: Der mutige Narr. S. 309. 40 Daß Dürrenmatts Narren an der Verwirklichung der Gerechtigkeit scheitern, selbst schuldig werden und unversehens von der Rolle des Richters in die des Gerichteten fallen, erinnert in der Konstellation an den Umschlag des Spiels in Ernst.[…] Der häufig auftretende, paradox erscheinende Umschlag, das Umkippen des Spiels in die Wirklichkeit oder der Richterfunktion in die Rolle des Opfers ist für die Gebrochenheit des Narren bestimmend: Der Narr macht sich zum Richter oder zum Leiter eines Spiels, das heißt, er versucht zu handeln. Aber er muß feststellen, daß die Führung des Prozesses oder des Spieles ihm entgleitet, sich verselbständigt, ihn gar überwältigt und zum Scheitern verurteilt. Er wird zum Opfer, zu demjenigen, mit dem gespielt, dem der Prozeß gemacht wird, ja den die Maßlosigkeit des Anspruches zum Verbrecher werden läßt. Stets macht er die Erfahrung, daß sein Handeln sinnlos ist, daß er allein zum Ausharren verdammt ist. Immer wieder muß er seine engen menschlichen Grenzen im Spiegel einer göttlichen Allmacht erkennen und seine Niedrigkeit annehmen.98 Zum einen verdeutlicht so das Narrentum die Begrenztheit des Menschen, vor allem die Begrenztheit der Menschlichen Vernunft. Zentral hier im Prozess des Lächerlichwerdens ist vor allem das Scheitern, besonders auch das Scheitern am Zufall. Maßlosigkeit, Selbstüberschätzung und Fanatismus können gerade den eigentlich „mutigen“ Menschen zum Narren werden lassen, weil er erkennen muss dass er seine hochgesteckten Ziele nie erreichen kann. Der Narr ist somit eine realistischer gestaltete Version des mutigen Menschen, zumindest der „mutige“ Narr. Nicht jeder Narr ist prinzipiell ein „mutiger“ Mensch, denn er hat nicht immer den vollen Überblick über die chaotische labyrinthische Welt, die schlimmstmögliche Wendung des Narren kann so auch die zum Mitmacher sein. Bevor ich aber zum Mitmacher komme möchte ich noch abschließend bemerken, dass gerade der Humor und der Narr als eine Form der Objektivierung, des Distanzgewinnens äußerst wichtig ist. Nur wenn man sich selbst nicht zu wichtig nimmt kann man etwas bewirken, wenn man einsieht und erkennt, dass die eigenen Möglichkeiten begrenzt sind und bereit ist, die eigene Schwäche anzuerkennen und anzunehmen. Gerade dies gelingt allerdings dem Narren und vor allem dem „mutigen“ Narren nicht immer. 98 Gutmann, C.: Gestalt des Narren. S. 73. 41 3.2.3 Der Mitmacher Wir machen alle mit, auch der Schreibende, ob wir nun mit der Welt zufrieden sind, in der wir stecken , oder gegen sie protestieren, Pläne entwerfen, sie zu ändern, uns engagieren […]. Wir machen mit, weil wir sind[…]99 Mitmachen an sich muss also nicht negativ sein, sondern stellt vielmehr die Basis unseres Menschseins dar. Der Mensch als Teil einer Gemeinschaft, Teil eines Kollektivs macht mit. Wie sich dieses Mitmachen gestaltet, ob mit oder gegen die persönliche Überzeugung, vor allem vor dem Hintergrund des Status der Gesellschaft, in der der Mensch mitmacht ist somit entscheidend dafür ob das Mitmachen positiv oder negativ zu bewerten ist. Dürrenmatt führt somit den positiven Mitmacher, der aus seiner Erkenntnis der Notwendigkeit heraus mitmacht, der aus seiner Überzeugung heraus aktiv handelt, auch wenn er letztlich getäuscht werden kann, an.100 Allerdings gibt es auch den negativen Mitmacher, der nicht engagiert ist, der aus egoistischen Motiven heraus mitmacht und sich entweder nicht um seine Erkenntnis kümmert oder gegen seine Erkenntnis handelt. Als Grund hierfür nennt Dürrenmatt ein fehlendes moralisches Sensorium und betont so das Nihilistische am negativen Mitmacher. Als schlimmsten Fall sieht er den Intellektuellen, der trotzdem mitmacht.101 Wichtigstes Unterscheidungskriterium zwischen dem positiven und dem negativen Mitmacher stellt die Moral dar: „Moral ist nicht schon die Erkenntnis des Notwendigen. Moral ist das Verwirklichen dieser Erkenntnis.“102 Einige Mitmacher sind letztlich diejenigen, die nicht versuchen in der Welt zu bestehen, sondern die stattdessen verzweifeln und resignieren. „Mit dieser Gestalt des ‘negativen Mitmachers’ hat die Entwicklung von Dürrenmatts Welt- und Menschenbild 99 Dürrenmatt , Friedrich: Der Mitmacher. Ein Komplex. Nachwort zu einer Komödie. (1976) In: Gesammelte Werke 7. Essays Gedichte, S. 159-401. S. 167. (Hervorhebung im Original kursiv, hier unterstrichen) 100 Vgl. Ebd. S. 168. 101 Vgl. Ebd. S. 168 /169. 102 Ebd. S.169. 42 gewissermassen eine schlimmstmögliche Wendung genommen.“103 Natürlich ist der Mitmacher eben nicht nur der Gegenpol zum „mutigen Menschen“ oder „mutigen Narren“ sondern vielmehr das grundlegende Konzept, das den Menschen bestimmt. Ob dieser sich nun in eine moralisch positive oder negative Richtung bewegt bleibt dem Einzelnen überlassen. Dürrenmatt sieht die Handlungsmöglichkeiten und Position des Menschen zu ihrem Scheitern folgendermaßen: Liegt in der Verzweiflung noch ein Aufbegehren, wenn auch ein ohnmächtiges […] liegt im Verrücktwerden ein ›Sichbefreien‹ ein ›Entschwinden in eine andere Dimension‹, so wird in der Selbstaufgabe der ›Nullpunkt‹ erreicht,[…]so gerät jener, der den Nullpunkt erreicht, in eine Schwerelosigkeit, in eine absolute Gleichgültigkeit, sein Handeln oder Nichthandeln geschieht zufällig.104 Vielleicht liegt für Dürrenmatt darin gerade der Weg die Welt zu bestehen, eben nicht zu verzweifeln, aber auch nicht sich in die Verrücktheit, ins Narrentum zu flüchten, sondern sich vielmehr selbst nicht mehr wichtig zu nehmen, sich aufzugeben. Allerdings wird der Einzelne gerade durch diese völlige Selbstaufgabe handlungsunfähig und wieder zum Spielball des Zufalls und moralische Werte verlieren an Bedeutung, weil sie - wenn überhaupt - nur zufällig erfüllt werden können. Über die Konzeption hinausgehend, dass ein Mitmacher entweder positiv, also im Einklang mit seiner Erkenntnis, oder negativ, also gegen seine Erkenntnis handelt, sehe ich noch eine dritte Form des moralisch bedenklichen Mitmachens, die nicht direkt angeführt wird. Ich spreche von Menschen, die nicht nur resigniert haben, sondern die sich grundsätzlich gar keine Gedanken darüber machen, was sie tun, und ob ihr Handeln moralisch vertretbar ist oder nicht, diejenigen, die ihrer Umwelt gegenüber von Gleichgültigkeit gekennzeichnet sind und sich gar keine Meinung über die Gruppe bilden, bei der sie mitmachen. Diese Gedankenlosigkeit scheint mir annähernd so schlimm zu sein wie das „moralisch negative Mitmachen“, weil alleine schon die mangelnde Bereitschaft 103 104 Gottwald, S. R.: Der mutige Narr. S. 244. Dürrenmatt, F. : Mitmacher. S. 182. 43 sich mit der Welt, in der dieser Typus lebt, auseinanderzusetzen völliges Desinteresse an moralischen Werten signalisiert. Grundsätzlich ist hier oftmals eine Entwicklung zu erkennen. Der Versuch ein „mutiger Mensch“ zu sein macht den Einzelnen zum „Narren“ und führt in die Resignation bzw. das „Mitmachen“. Sich aus dem Status des „Mitmachens“ wieder zu befreien gestaltet sich allerdings als äußerst diffizil und gelingt kaum. 3.2.4 Der Experimentator Dieses Personenkonzept habe ich der Forschungsliteratur - genauer Bernhard Auges Monografie zu „Justiz“ - entnommen, weil es meiner Meinung nach auch eine entscheidende Rolle für die Kriminalromane spielt. Mit dem ›Experimentator‹ ist eine Person gemeint, die die Welt als Versuchsobjekt behandelt, als ein Testfeld ihrer Macht und ihres Intellektes. Allen von Dürrenmatts Figuren durchgeführten Experimenten gemeinsam ist, daß mit ihnen die Mechanismen ergründet werden sollen, nach denen die menschliche Gesellschaft – und damit die Welt – funktioniert. 105 Ich möchte gerne über den Hauptaspekt des Experiments hinausgehen und das Element des Spiels - denn gerade die Experimente laufen häufig auf spielerischer Ebene ab - zusätzlich betonen. Ebenfalls beschränke ich die Bezeichnung „Experimentator“ nicht ausschließlich auf die Verbrecher in den Kriminalromanen, sondern versuche zu verdeutlichen, wie leicht sich ein Mensch dazu verführen lässt seine Macht zu missbrauchen und mit seinen Mitmenschen wie mit Spielfiguren zu agieren. Davor sind auch die eigentlichen Bewahrer von Recht und Gerechtigkeit nicht gefeit, immer wieder kommt es zu Machtmissbrauch und dazu, dass Gerechtigkeit mit allen Mitteln erreicht werden soll. 105 Bernhard Auge: Justiz. S. 298. 44 Das Element der Spielfreude habe ich ja bereits beim Narren angesprochen,106 und das Spiel wird hier zu einem verbindenden Element. Der „[…] Umschlag des Spiels in Ernst ist kennzeichnend für das Handeln der Narrengestalten Dürrenmatts. Ihnen gleitet das Spiel aus der Hand, sie werden zu Opfern ihres eigenen Spiels.“107 Nicht so der Experimentator, er betrachtet sich primär als Individuum, betont somit seine eigene Freiheit und glaubt über allem und vor allem über der Gesellschaft und der chaotischen, labyrinthischen Welt zu stehen. Und meist ist er in den Kriminalromanen damit erfolgreich, zumindest bis zu einem gewissen Grad. Oftmals gelingt es gerade den „Experimentatoren“ die Gerechtigkeit mit banalen Mitteln zu hintergehen und die Justiz als Farce zu entlarven.108 Meiner Meinung nach kann auch der „mutige Mensch“ oder der „Narr“ leicht zum „Experimentator“ werden, wenn er sich selbst zu wichtig nimmt, die eigene Individualität überbetont, sich von Fanatismus und Rache leiten lässt und die Gesellschaft an sich völlig aus den Augen verliert. Wenn Rache zum Antrieb wird, ist die Entwicklung zum Spieler, der keine Rücksicht auf eventuelle Opfer nimmt, nicht mehr weit entfernt. Somit zeigt sich, dass diese vier Figurenkonzepte nicht nur für die Kriminalromane von Bedeutung sind, sondern dass sie auch untereinander sehr eng mit einander verknüpft sind. Der Übergang von einem Figurenkonzept in ein anderes ist oft ein fließender und zeigt unter anderem neben der Ambivalenz auch die Entwicklung der Figuren auf. 106 Vgl. Gutmann, C.: Gestalt des Narren. S. 73. Ebd. S. 65. 108 Vgl. Auge, B.: Justiz. S. 302. 107 45 4. Charakterisierung als Richter, Henker, Verbrecher, Opfer und Mitläufer Dürrenmatts Werk erinnert an ein Gericht. Immer wieder sind Richter da, immer wieder auch Henker; und vor allem sind da diejenigen, die sich mit dem Richter oder Henker auseinandersetzen müssen, die ihre Schuld bekennen oder abstreiten, solche, die ihren Tod annehmen und solche, die sich als nicht – betroffen erklären. Dabei sind die Rollen nicht säuberlich getrennt. […] 109 Im Kriminalroman sind vor allem die Figurentypen des Richters, Henkers, Verbrechers und Opfers ebenso wie der Mitläufer von entscheidender Bedeutung. […]hinter diesem vordergründigen, stereotypen Personal verbergen sich, abstrakter gesprochen, ethische und moralische Kriterien wie Gut und Bös, Schuld und Sühne, Unrecht und Gerechtigkeit und um solches hat Dürrenmatt nicht bloss in seinem «Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht» sondern letztlich in sämtlichen seiner Werke gerungen.110 Das Gericht ist aber nicht nur ein Urteilen und dient nicht nur zur Darstellung verschiedener Rollen, „es ist in allen seinen Formen, ein Versuch, in der Wurstelei und Gestaltlosigkeit Ordnung zu schaffen, die Tatbestände klarzulegen, die Geister zu scheiden.“111 Inwieweit die Figuren es schaffen Ordnung in das Labyrinth des Lebens zu bringen, wo sie scheitern, und vor allem wie sich die Figuren verändern, wie die Ambivalenz der Figuren ersichtlich wird, spielt hier eine ebensogroße Rolle wie die individuelle Einstellung zur Gerechtigkeit. Dürrenmatts Helden sind immer auch Opfer112, Schuld und Zufall spielen gleichfalls eine wichtige Rolle bei dem Versuch Gerechtigkeit zu verwirklichen. Am wesentlichsten erscheint mir - neben dem Blick auf die Gerechtigkeitsvorstellung - auch 109 Oberle , Werner: Grundsätzliches zum Werk Friedrich Dürrenmatts. In: Der unbequeme Dürrenmatt. (Theater unserer Zeit ; 4). Basel u. a.: Basilius Presse, 1962. S. 9 – 29. S. 18 110 Müller, Felix: Der Anhauch des Nichts. Friedrich Dürrenmatts Kriminalromane. In: Schweizer Monatshefte für Politik, Wirtschaft, Kultur. 7(1979). 545 – 558. S. 545 111 Oberle, W.: Grundsätzliches. S. 18. 112 Vgl. Ebd. S. 18. 46 die Frage, wie sich diese Figuren in Dürrenmatts dramaturgisches Figurenkonzept einordnen lassen und wie gerade die Vielschichtigkeit und Mehrdimensionalität der Figuren zum Ausdruck kommt. Eine Abgrenzung ist hier oftmals schwierig und so soll dies nur als Versuch einer groben Einteilung der wichtigsten Charaktere aus Dürrenmatts Kriminalromanen gesehen werden, da natürlich nicht alle Figuren, besonders nicht alle Nebenfiguren in Betracht gezogen werden können. 4.1 Richter Die Richterfiguren in Dürrenmatts Kriminalromanen lassen sich nicht völlig einheitlich erfassen und charakterisieren, es gibt einige Gemeinsamkeiten, ebenso wie einige Ausnahmen; grundsätzlich sind die verschieden Richterfiguren sehr individuell konzipiert. Zunächst zu dem Hintergrund, aus dem die meisten Richterfiguren stammen. Sie haben meist einen Bezug zum Rechtssystem, da sie entweder einen polizeilichen oder juristischen Hintergrund haben. Bärlach befindet sich im „Richter und Henker“ noch im Kriminaldienst als Kommissär113, ebenso wie Dr. Matthäi zu Beginn im „Versprechen“. Matthäi weist aber zugleich auch noch einen juristischen Hintergrund auf114, der auch bei Spät115, dem Rechtsanwalt in „Justiz“, von Bedeutung ist. Auch die Richterfiguren in der „Panne“116 waren lange im Justizdienst tätig. Allerdings sind sie mittlerweile pensioniert, wie auch Bärlach im „Verdacht“. Einzige Ausnahme ist der Rächer Gulliver, der ohnehin als mythische Figur eine Sonderstellung einnimmt. Grundsätzlich ist also bei den Richterfiguren davon auszugehen, dass sie die geltenden Normen und Rechte kennen, und somit Unkenntnis der Rechtssituation ihr normbrechendes Verhalten nicht rechtfertigt. 113 Dürrenmatt , F.: Richter und Henker. S. 13. Friedrich Dürrenmatt: Das Versprechen. Requiem auf den Kriminalroman. (1957) In: Gesammelte Werke 4. Romane. Zürich: Diogenes, 1991. S. 421 – 575. S. 432. 115 Dürrenmatt , Friedrich: Justiz . Roman. (1985) In: Gesammelte Werke 4. Romane. Zürich: Diogenes, 1991. S. 577 – 802. S. 583. 116 Dürrenmatt , Friedrich: Die Panne. Eine noch mögliche Geschichte. (1955) In: Gesammelte Werke 5. Erzählungen. Zürich: Diogenes, 1991, S. 267 – 326. S. 278. 114 47 Dennoch missachten die Richterfiguren das Gesetz, sie verdrehen und brechen die geltenden positiven Gesetze, maßen sich selbst ein Recht an, das ihnen von der Justiz her nicht zusteht, und werden somit selbst zu Schuldigen. Dass sie über mutmaßliche Verbrecher117 richten, die teilweise von der Justiz nicht verfolgt werden können, spricht sie noch lange nicht von ihrer moralischen Verantwortung und ihrer Mitschuld frei. Durch ihr eigenmächtiges Handeln und Richten machen sich die Figuren eines Machtmissbrauchs schuldig, sie missbrauchen ihre Position im Justizsystem, die sie einnehmen oder eingenommen hatten, maßen sich an selbst Gerechtigkeit verwirklichen zu können, besser als dies die Institution Justiz zu tun in der Lage ist. Ihre Strafen sind strenger; sehr oft verhängen sie die Todesstrafe, und werden teilweise selbst zu Henkern. Dass diese Haltung nicht mit dem positiven Gesetz in Einklang steht und sogar gefährlich ist, betont auch Peter Schneider: „Eine auf der Selbsthilfe des Verletzten beruhende Rechtsordnung ist eine primitive und unerhört gefährdete Rechtsordnung.“118 Gemeinsam ist diesen Richterfiguren darüber hinaus, dass sie sich mit ihrer Absicht, Gerechtigkeit verwirklichen zu wollen, rechtfertigen. Allerdings gibt es auch egoistischere Motivationen wie beispielsweise Rache, die in vielen Fällen die Haupttriebfeder sein dürfte. Diese egoistische Motivation zeigt sich unter anderem in Bärlachs Spielnatur, seinem Verlangen nach Rache an Gastmann sowie seiner Abenteuerlust, seinem Wunsch sich selbst nochmal zu beweisen im „Verdacht“. Gulliver sieht sich selbst als Verwirklicher einer höheren, nahezu göttlichen alttestamentarischen Gerechtigkeit. Durch seine mythisch überhöhte Darstllung, und weil er selbst beinahe zum Mordopfer des KZ Arztes wurde, kann man ihm dieses Handeln zugestehen. Es ist sogar Teil seiner Darstellung als Ahasverfigur, dass er göttliche Gerechtigkeit in Form einer alttestamentarischen Gerechtigkeit zu verwirklichen sucht. 117 118 Teilweise fallen den Richterfiguren, in ihrem rücksichtslosen Vorgehen, auch Unschuldige zum Opfer. Schneider, P.: Einzig Volk von Brüdern. S. 329. 48 Gulliver – Ahasver kämpft für die Gerechtigkeit, die für einen guten Zweck zerstört […]Dies bestätigt den göttlichen Auftrag Gullivers, der weder die von Menschen ausgearbeiteten Gesetze noch die Interpretationen des göttlichen Gesetzes, noch die Polemik über Gut und Böse berücksichtigt, sondern lediglich das Gesetz Mosis als einziges anerkennt.119 Gerade die alttestamentarische Gerechtigkeitsvorstellung im Sinne von „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ entspricht der Rechtsverwirklichung, wie sie die Richterfiguren ausüben. Die Richter in der Panne dagegen sind in erster Line getrieben von ihrer Lust an Unterhaltung, haben hauptsächlich ästhetische Gründe für ihr Gericht halten, und genießen vor allem die Freiheit von den geltenden Gesetzen, die sie jetzt als Pensionierte in ihrem Gerichtsspiel erfahren. Die Richter sind keine Gerechtigkeitsfanatiker, im Spiel setzen sie fort, was ihnen in Wirklichkeit gar nicht mehr zukommt: die Entscheidung über das Geschick eines Menschen.120 […]Es sind eigentlich pensionierte, entmachtete Instanzen, die mit dem Menschen spielen sooft er ihnen Gelegenheit dazu gibt. 121 Sie sind vielmehr geprägt von ihrer „intellektuellen Langweile“122, die sie dazu veranlasst - in Form eines Spiels - Gericht zu halten, über jeden, der ihnen in die Hände fällt. Zufällig wird so auch Traps zu ihrem Opfer. Spät versucht sich dagegen primär mit seinem Wunsch nach Gerechtigkeit zu rechtfertigen, allerdings ist seine Hauptantriebsfeder für seine versuchte Ermordung Kohlers wohl eher in Rache und verletzter Eitelkeit zu sehen, weil mit ihm gespielt wurde. Die Ausrede des Handelns um Gerechtigkeit willen bleibt eine Ausrede. Je größer sein finanzieller Ruin und sein beruflicher Abstieg sind, desto verbissener ist sein Wille Kohler zu ermorden. Es geht ihm eigentlich nicht um Gerechtigkeit, entscheidend sind Trotz und Dickköpfigkeit.123 119 Brandner, Veronique: Der andere Dürrenmatt. (Zeitschrift für Germanistik ). 3(1996). S. 21/22. Schuster, Ingrid: Dreimal die „Panne“: Zufall, Schicksal oder „moralisches Resultat“?. In: Zu Friedrich Dürrenmatt. Armin Arnold (Hg.). (LGW 60). Stuttgart: Ernst Klett, 1982. S. 160 – 172. S. 164. 121 Ebd. S. 167. 122 Tschimmel, I.: Kriminalroman und Gesellschaftsdarstellung. S. 112. 123 Auge, B.: Justiz. S. 287. 120 49 Nach Dr. H.s Ansicht hat er ohnehin mit der Deckung von Daphnes Mörder jedes Recht auf diese Form der privaten Gerichtsbarkeit verwirkt, „[s]o ein Gerechtigkeitsfanatiker müsse selber gerecht sein […]“124. Die private Gerichtsbarkeit wird von Dr. H. scharf verurteilt: „Wenn jedoch einer auf eigene Faust Gerechtigkeit ausübern wolle, gehe es verdammt unmenschlich zu.“125 Matthäi ist rücksichtslos -wie viele Richterfiguren - bringt Unschuldige in Gefahr und hält stur an seiner Logik und seiner Falle fest. Er ist gekennzeichnet durch den „zwanghaften Drang seine logischen Hypothesen an der Wirklichkeit zu beweisen“126 Er ist kein Richter im eigentlichen Sinne, denn es ist anzunehmen, dass er den Verbrecher wohl der Justiz übergeben hätte. Als er die Falle stellt und Annemarie illegitim als Köder einsetzt, ist er bereits nicht mehr im Polizeidienst, und überschreitet somit seine Kompetenzen. Die Gerechtigkeitsvorstellung dieser Richter und Rächerfiguren orientiert sich also nicht oder nur sehr wenig an den geltenden Normen und Gesetzen, sondern überschreitet sie vielmehr. Aufgrund dieser individuellen Gerechtigkeitsvorstellung ist es auch wichtig das Selbstbild dieser Figuren zu betrachten. In gewisser Weise sind oder werden alle Richter bzw. Rächerfiguren zu Außenseitern der Gesellschaft. Sie haben wenig soziale Kontakte, sind typische Einzelgänger und eben auch Einzelkämpfer127. Den Höhepunkt dieser Darstellung findet man im Juden Gulliver, der dadurch, dass er eigentlich für tot erklärt ist, neben seiner mythischen Darstellung als Ahasver auch jenseits der weltlichen Ordnung und Gesellschaft steht. Somit wird deutlich, dass diese Figuren eher den Individualismus, und somit die Freiheit betonen anstelle einer allgemeinen Gerechtigkeit. Sie erheben ihre individuellen Vorstellungen von Gerechtigkeit, die zumeist strikter als das gesetzte Recht sind, über alles andere, auch wenn sie ihr Urteil nicht immer vollstrecken. Sie wollen Gerechtigkeit verwirklichen wo die Justiz versagt und nutzen ihre Freiheit für die 124 Dürrenmatt, F.: Justiz. S. 760. Dürrenmatt, F.: Justiz. S. 759. 126 Tschimmel, I.: Kriminalroman und Gesellschaftsdarstellung. S. 117. 127 Auch die Richter aus der Panne sind Einzelkämpfer und stellen sich mit ihrem Gerichtsspiel außerhalb der Gesellschaft, auch wenn sie natürlich im engeren Sinne nicht völlig allein vorgehen. 125 50 Gesellschaft. Somit wäre ihr Individualismus noch positiv zu deuten, allerdings neigen sie dabei zu Übertreibung. Sie nehmen ebenso wie die Verbrecher, die sie bekämpfen göttliche Macht und Grausamkeit in Anspruch, rechtfertigen sich mit naturrechtlichen Begründungen und versuchen Gottes absolute Gerechtigkeit zu verwirklichen, die allerdings für den Menschen nicht fassbar ist. 128 Dennoch ist ihr Verhalten moralisch nicht akzeptabel, wenn auch teilweise nachvollziehbar, weil es sicherlich aus einem Ohnmachtsgefühl aus der Erfahrung heraus entsteht, dass das geltende Recht nur bedingt in der Lage ist, Gerechtigkeit zu verwirklichen. Die von ihnen angewandten Mittel stehen kaum in einem ausgewogenem Verhältnis zur ihrem Ziel, was auch dafür sorgt, dass sie teilweise scheitern. Sympathisch werden sie nur, wenn sie wie Bärlach, sich ihrer eigenen Schuld bzw. Mitschuld bewusst werden und aus einem Gefühl der Demut heraus handeln. Wo allerdings die Lust am Spiel überwiegt, wo die Richter weniger die Gerechtigkeit als vielmehr Rache wollen, werden sie unmenschlich und nähern sich gerade den Figuren an, die sie verurteilen, was ebenfalls ihre moralische Ambivalenz129 illustriert. Wie bereits mehrfach betont, nimmt der ewige Jude Gulliver, der als Ahasver, quasi als Stellvertreter Jehovas die göttliche Gerechtigkeit zu verwirklichen sucht, eine Sonderrolle ein. Er steht jenseits der Welt, und durch seine mythische Darstellung kann sein Verhalten gerechtfertigt werden, vor allem angesichts des Leids, das er stellvertretend für sein Volk erlitten hat.130 Veronique Brandner sieht hier den Ahasver Mythos verwirklicht und indem sie Emmenberger mit dem Teufel und Bärlach mit Christus gleichsetzt sieht sie hier das Ende des Mythos darin, dass Ahasver Christus vor dem Teufel rettet und somit seine Schuld zumindest teilweise gesühnt hat.131 Meiner Meinung nach ist er die einzige Richterfigur die wirklich mythisch überhöht wird. Auch wenn in der Forschungsliteratur häufig von der Mythisierung des Detektivs gesprochen wird, wie dies in der Tradition der Gattung des Kriminalromans üblich ist, sehe ich die Richterfiguren eher als menschlich 128 Vgl. Bauer, E.: Gerichtsthematik. S. 181, S. 196, S. 198. Die moralische Ambivalenz der Detektivfiguren wird in der Forschungsliteratur häufig thematisiert unter anderem bei Ira Tschimmel; Vgl. Kapitel Verbrecher (zu den Richterfiguren als Verbrecher) 130 Vgl. Brandner, V.: Andere Dürrenmatt. S. 18. 131 Vgl. Ebd. S. 28. 129 51 gestaltet an. Bärlach beispielsweise besitzt zwar intellektuelle Stärke, aber auch er ist nicht in der Lage alles zu durchschauen, und gefährdet durch seine Fehleinschätzung, vor allem durch seine Selbstüberschätzung im „Verdacht“ auch den Schriftsteller Fortschig (und wird so mitschuldig an dessen Tod), wie auch seinen Freund Dr. Hungertobel, der nur durch das Eingreifen Gullivers gerettet werden kann. Durch seine Krebserkrankung ist er schon im „Richter und Henker“ nur bedingt handlungsfähig, und verfällt im „Verdacht“ völlig in die Ohnmacht. Auch Matthäi weist Defizite auf, obwohl er als rational herausragender Kriminalist geschildert wird, ist es gerade seine mangelnde Emotionalität und sein stures Festhalten an der Logik, das ihn letztlich in den Wahnsinn treibt und ihn dazu verleitet unschuldige Menschen leichtfertig in Gefahr zu bringen, indem er beispielsweise das Mädchen Annemarie als Köder einsetzt. Auch die Richter in der „Panne“ haben ihre Defizite, sie sind pensioniert und alt, haben gerade eben schwere Krankheiten überstanden, und sind zwar im Spiel stark - das Spiel ist sozusagen ein Gesundbrunnen132 für sie geworden - aber wenn das Spiel dann in Ernst umschlägt, sind sie durchaus mit der Situation überfordert. Spät schließlich scheitert auch an seinem Charakter. Er mag zwar intelligent sein, aber es gelingt ihm nicht Kohler des Mordes zu überführen oder ihn wirklich zu rächen, er erlebt wie die anderen Figuren einen sozialen Abstieg und wird zunehmend handlungsunfähig und letztlich nur lächerlich. Gerade weil die Richterfiguren in einigen Bereichen scheitern, nicht in der Lage sind die Wirklichkeit objektiv einzuschätzen und entsprechend zu handeln, ebenso wie ihre Mittel dem Ziel anzupassen, oder die Auswirkungen ihres Handelns zu berücksichtigen, sind sie eher menschlich und keineswegs mythisch überhöht. Wie also lassen sich die Richterfiguren hinsichtlich Dürrenmatts dramaturgischer Figurenkonzepte einordnen? Abgesehen von den Figurenkonzepten können sie zunächst mit Theseus gleichgesetzt werden, der auch Richter und gleichzeitig sogar Henker über den Minotaurus ist und mit List und Täuschung vorgeht. Viele Richterfiguren nutzen Täuschung um ihre Ziele zu verwirklichen. 132 Dürrenmatt, F.: Panne. S. 293. 52 Die Figuren, die sich wirklich primär für Gerechtigkeit einsetzen und weniger stark von egoistischen Motiven geprägt sind, weisen durchaus Züge des mutigen Menschen auf. „Der Detektiv wird im aussichtslosen Kampf für die Gerechtigkeit und gegen das Böse zum ‘mutigen Menschen’“133. Zu nennen wäre hier vor allem Bärlach im „Richter und sein Henker“, oder auch im „Verdacht“. Er versucht sich dieser chaotischen Welt zu stellen und das seine für eine gerechtere Welt zu tun, ist sich aber gleichzeitig auch seiner Mitschuld bewusst und fähig zur demütigen Selbstbescheidung. Er hat den Mut zu handeln, trotzdem er die Sinnlosigkeit seines Handelns einsieht. Allerdings wird er auch schnell zum Narren, vor allem im Verdacht wo er zunehmend nicht in der Lage ist, die Situation angemessen und richtig einzuschätzen und durch seine Selbstüberschätzung und die Unterschätzung seines Gegners nicht nur sich, sondern auch andere in Lebensgefahr bringt. Seine Spielleidenschaft dagegen rückt ihn in die Nähe der dämonischen Verbrechergestalten, und bringt ihn somit auch in die Nähe der Experimentatoren.134 Matthäi dagegen wirkt gerade durch seine logische Herangehensweise wie ein Mensch, der mutig versucht diese Welt zu bestehen. Allerdings fehlt es ihm an der nötigen Einsicht, dass seine Handlungsmöglichkeiten beschränkt sind, er verbeißt sich in seine Sturheit und lässt keinen Raum für alternative Möglichkeiten offen. Gerade dies und sein emotionales Defizit beweisen, dass er eben nicht in der Lage ist die Welt wirklich richtig einzuschätzen und angemessen zu reagieren, vor allem seine Emotionslosigkeit, seine fehlende Mitmenschlichkeit sprechen nicht für die Einordnung als mutiger Mensch; er wird vielmehr zum Narren. Der Rechtsanwalt Späth würde sich selbst sicher gerne als mutiger Mensch sehen, wirkt auch zu Beginn, wenn es um die private Gerichtsbarkeit geht, wie ein solcher und wird beispielsweise von Auge als „verhinderter mutiger Mensch“135 eingeordnet. Allerdings kristallisiert sich im Laufe des Romans immer mehr heraus, dass er vielmehr ein Mitmacher ist, gar nicht erkennt wie sehr er gelenkt wird, bzw. als er dies erkennt, ist es eigentlich schon zu spät. Er will ein Teil der Gesellschaft sein, anerkannt werden, und 133 Auge, B.: Justiz. S. 284. Vgl.: Kapitel Verbrecher/dämonische Figuren 135 Auge, B.: Justiz. S. 290. 134 53 gerade diese Motivation bringt ihn neben seiner fehlenden Einsicht in die Zustände der chaotischen Welt weg vom Personenkonzept des mutigen Menschen und lässt ihn schließlich als Mitmacher oder Narren zurück. Die Richter aus der Panne hingegen scheinen vor allem Spaß am Spiel mit Gerechtigkeit zu haben, für sie ist ihr Gericht halten eher eine Form des Vergnügens und der Unterhaltung. Sie handeln jetzt im Privaten, weniger aus einem Gefühl für Gerechtigkeit sondern nur aus Freude an der Macht und am Rätselspiel. Sie berücksichtigen nicht, was sie mit ihrem Spiel anrichten können und wären daher gerade aufgrund der Spielleidenschaft in die Kategorie der Experimentatoren einzuordnen. Gulliver lässt sich hier sehr schwer einordnen, einerseits scheint er aufgrund seiner mythischen Darstellung über allem zu stehen und alles zu erkennen. Er ist auch in der Lage, die Situation in der Bärlach sich im „Verdacht“ befindet richtig einzuschätzen und kann so letzten Endes auch seine göttliche Gerechtigkeit verwirklichen. Im Grunde wäre er also als mutiger Mensch zu bezeichnen, wobei man seine Sonderstellung als mythisierter Charakter auf jeden Fall berücksichtigen muss. Zuletzt wäre noch zu beachten wie diese Richterfiguren und die Motive in Zusammenhang stehen. Gerade die Richterfiguren scheinen oftmals vom Zufall begünstigt zu sein, wie beispielsweise Bärlach im Richter und sein Henker, oder sie sind gar eine Personifizierung des Zufalls wie es der Jude Gulliver für Bärlach im Verdacht ist. Bärlach beispielsweise ist in der Lage den Zufall in sein Denken einzukalkulieren und kann daher noch relativ angemessen und gut reagieren; er ist sowohl in der Lage den Zufall zu nutzen, als auch selbst einen scheinbaren Zufall zu kreieren um so beispielsweise Tschanz zu täuschen.136 Matthäi dagegen ist nicht in der Lage den Zufall in sein Denken einzubeziehen, weil er 136 Jambor, J.: S. 159 -197. 54 seines es mit Logik erfassbaren Weltbildes widerspricht, und daher scheitert er unter anderem an seiner mangelnden Erkenntnis des Zufalls. Die Richter in der Panne hingegen nutzen den Zufall, der ihnen Traps bringt, für eine angenehme Abendunterhaltung, auch wenn hier der Zufall in Form der Panne von Traps weniger sie in ihrem Richten betrifft als vielmehr zum fatalen Zufall für Traps wird. Für Spät hingegen spielt der Zufall kaum mehr eine Rolle. Spät selbst ist nicht in der Lage den Zufall zu nutzen, er legt sich schließlich seine eigene Vorstellung der Ereignisse zurecht. Diese Flucht in eine Lebenslüge ist auch ein Zeichen seines Scheiterns. Er wird durch die zufälligen Begegnungen mit dem Ehepaar Knulpe, Lienhard und dem Treffen mit Hélène in seiner eigenen Entscheidung derart beeinflusst, dass er zum Mitmacher wird und somit schließlich allmählich zugrunde geht. Die chaotische labyrinthische Struktur der Welt ist beinahe allen Figuren, mit Ausnahme vielleicht von Matthäi bewusst. Matthäi glaubt er könne die Welt „beherrschen wie ein Techniker“137, und ist nicht in der Lage sein Weltbild zu revidieren. Alle Figuren erfahren die Macht des Chaos, das die eigenen Pläne durchkreuzt, und andererseits aber auch ermöglicht, dass sie richten können ohne dagegen selbst gerichtet zu werden. Bei den Richterfiguren spielt das Motiv des Scheiterns eine entscheidende Rolle. Ursprüngliche Absichten werden durchkreuzt, die Figuren scheitern an ihrer mangelnden Erkenntnis der Welt, und somit an sich selbst. Auch wenn Bärlach in den Kriminalromanen scheinbar den Sieg davonträgt, ist es dennoch eher ein Pyrrhussieg, weil er selbst nicht mehr lange zu leben hat, bzw. nur durch die Einwirkung des mythischen Gulliver gerettet werden konnte. Matthäi scheitert auch nicht am Zufall sondern an seiner fehlenden Einsicht in die Welt und vor allem an seiner Sturheit. Die Richter in der Panne scheitern dahingehend, dass der Verurteilte das Spiel als solches ernst genommen hat, und sie somit mit den Folgen ihres Urteilsspruchs konfrontiert werden. Sie kalkulieren die Folgen ihres Urteils nicht ein. Spät letztlich scheitert und wird zum Narren, weil er unfähig ist die Welt zu durchschauen, angemessen und richtig zu reagieren, und bleibt schließlich 137 Dürrenmatt, F.: Versprechen. S. 505. 55 ebenso wie Matthäi dem Alkohol verfallen und, wenn auch nicht völlig verrückt, so durchaus verblödet zurück. Die Richterfiguren sind für die Kriminalromane von essentieller Bedeutung, zeigen aber neben einigen Ähnlichkeiten durchaus Unterschiede in der Darstellung. Die Sinnlosigkeit, Hoffnungslosigkeit und Aussichtslosigkeit des Richtens wird zunehmend mehr betont und findet in „Justiz“ einen traurigen Höhepunkt. Nur Bärlach kann sich auf ein Ausnahmerecht, auf ein Staatsnotrecht 138 berufen und somit ist sein Verhalten im „Richter und Henker“ zumindest ansatzweise gerechtfertigt, alle anderen Richterfiguren handeln entgegen der geltenden positiven Gesetze. Es ist nicht Sache des Menschen Gerechtigkeit verwirklichen zu wollen, die absolute Gerechtigkeit, die göttliche Gerechtigkeit kann bestenfalls von mythischen Gestalten umgesetzt werden, denn der Einzelne kann die Folgen seines Handelns nicht in allen Fällen überblicken, und richtet so mit seinem Wunsch nach Gerechtigkeit und der oftmals geübten privaten Gerichtsbarkeit mehr Ungerechtigkeit an, als er Gerechtigkeit wiederherstellt. In dieser chaotisch, labyrinthischen, von Zufällen geprägten Welt gibt es keine von Menschen hergestellte Gerechtigkeit mehr. 4.2 Henker Da die Richter oft nicht selbst tätig werden benötigen sie Ausführungsorgane, und die Henkerfiguren spielen hierbei eine große Rolle. Die Macht der Henker 138 Vgl. Schneider, Peter: Die Fragwürdigkeit des Rechts im Werk von Friedrich Dürrenmatt. Vortrag gehalten vor der Juristischen Studiengesellschaft in Karlsruhe am 20 Juni 1966. (Juristische Studiengesellschaft Karlsruhe Schriftenreihe Heft 81). Karlsruhe: Verlag C. F. Müller, 1967. S. 21. 56 begründet sich darin, dass Justitia zurücktritt und das Gericht ausgesetzt wird. So wird der Henker zur schärfsten Parodie des Gerichts, zu einer Parodie im Bereich der Verzweiflung. 139 Henkerfiguren sind nicht nur durch die Richterfiguren bedingt; es gibt auch unabhängige Henker und Henker, die von Verbrechern missbraucht werden, wofür Emmenbergers Henker beispielhaft sind. In der chaotischen Welt sind diese Figuren besonders wichtig. Auch die Henker werden immer wirklicher, und mit ihnen die Heimsuchungen, die Strafgerichte. […]Die schuldige Welt ruft selbst dem Strafgericht, züchtet es selbst, gebiert selbst die Henker.140 Dies wirft die Frage auf, inwieweit die Henker für das, was sie tun, zur Verantwortung gezogen werden können. Teilweise werden sie zu ihren Taten getrieben wie Tschanz, teilweise haben sie kein Bewusstsein über Recht und Unrecht wie der Zwerg, oder sie sind zu naiv und unwissend wie Traps. Unabhängige Henker sind kaum zu finden, meist sind es Richterfiguren die selbst auch die Henkersfunktion innehaben oder zumindest planen. Als Beispiel wäre hier Gulliver zu nennen, der die von ihm verhängten Urteile in seiner Rolle als „Richter nach eigenen Gesetzen […], der nach eigener Willkür richtete, freisprach und verdammte, unabhängig von den Zivilgesetzbüchern und dem Strafvollzug […]“141, wie auch Spät, der das Todesurteil über Kohler, den „gerechten Mord“142, selbst ausführen will. Er wird zum Mitläufer und Mitmacher, ist mitschuldig am Tod Dr. Bennos, verschafft den wahren Mördern von Daphne ein Alibi. Das geltende Gesetz wird von ihm permanent umgangen, aber er ist in seiner eigenständigen Handlungsmöglichkeit eingeschränkt, weil er von Kohler als Werkzeug benutzt wurde. Er ist also nicht nur in gewisser Weise ein unabhängiger Henker, weil er Richter und Henkerfunktion vereint, sondern wird eben auch 139 Emmel, Hildegard: Das Gericht in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts. Bern: Francke, 1963, S. 157. 140 Oberle, W.: Grundsätzliches. S. 22. 141 Dürrenmatt, Friedrich: Der Verdacht. Ein Kriminalroman. (1951) In: Gesammelte Werke 4. Romane. Zürich: Diogenes, 1991. S. 119 – 265. S. 155. 142 Dürrenmatt, F.: Justiz. S. 584. 57 von Kohler für seine Zwecke - das heißt für die erneute Untersuchung seines Falls missbraucht. Er ist motiviert durch das Streben nach gesellschaftlicher und sozialer Akzeptanz. Weil er aus dem juristischen Bereich kommt, kann man ihn nicht von der Schuld frei sprechen, und bedingt erkennt er seine eigene Schuld an. Trotzdem ist er wohl in erster Linie als Rächer und Richterfigur von Bedeutung. Bei diesen Figuren fällt also ihre Henkersfunktion mit der Richterfunktion zusammen und ist nur ergänzend zur Richterfunktion zu betrachten. Traps dagegen kann bedingt auch als eigenständiger Henker gesehen werden, er wurde von niemandem genötigt oder gar gezwungen an sich selbst das Todesurteil zu vollstrecken, wobei man die Richter nicht völlig von ihrem Einfluss auf Traps frei sprechen kann. Sein Selbstmord kann zwar als „geistige Panne“143 eingeordnet werden, dennoch ist er Opfer eines Spiels, „[…]ein betrogener Betrüger - ein Raubritter, der sich im Lebenskampf zwar gut behauptet hat, den aber ein Zufall einem Garagisten und ‘Ortsgöttern’ in die Hände liefert.“144 Sein Selbstmord kann vielleicht auch als Flucht aus dem Mitmachertum bewertet werden, doch gerade damit will er ja erneut von den Richtern anerkannt werden und somit ist sein Selbstmord weniger Befreiung als erneutes Mitmachen um zu einer bestimmten Gesellschaft zu gehören. Völlig unabhängig von den Richterfiguren kann man ihn also doch nicht sehen. Er wäre sozusagen als Zwischenposition zwischen einem unabhängigen Richter und der folgenden Gruppe, der von Richtern abhängigen Henker, zu sehen. Verantwortung und Schuld für ihr Handeln tragen jedenfalls die unabhängigen Henkersfiguren ganz allein. Die von den Richterfiguren abhängigen Henker sind im Grunde die Werkzeuge für deren ungerechtfertigten Urteile. Tschanz ist hier das wichtigste Beispiel, er wird von Bärlach so sehr in die Ecke gedrängt und instrumentalisiert, dass ihm gar keine andere Wahl mehr bleibt als Gastmann und seine beiden Diener zu ermorden. Tschanz Tod mag zwar wie 143 Holdheim, Wolfgang: Der Justizirrtum als literarische Problematik. Vergleichende Analyse eines erzählerischen Themas. : Berlin: Walter de Gruyter & Co, 1969. S. 95. 144 Schuster, I.:Dreimal Panne. S. 165. 58 eine freiwillige Unterwerfung unter Bärlachs Urteil wirken145, dennoch teile ich nicht die Ansicht, dass er das Ausmaß seiner Schuld bzw. seines persönlichen Versagens nicht ertragen kann146. Dies ist sicher nur am Rande eine Bedingung für seinen Tod, der meiner Meinung nach eher einer Flucht vor den Konsequenzen seines Handelns gleichkommt. Er ist nicht bereit seine Schuld einzusehen und macht Bärlach auch einen entsprechenden Vorwurf: „Und ich, der ich nur ihren Willen ausführte, ob ich wollte oder nicht, bin nun ein Verbrecher, ein Mensch den man jagen wird!“ 147 Dennoch muss er auch selbst die Verantwortung für seine Taten übernehmen, denn er war schon ein Verbrecher bevor ihn Bärlach für seine Zwecke missbraucht hat. Getrieben sind gerade diese Henkersfiguren, wie beispielsweise auch Pilet in der „Panne“, aus ihrem Wunsch zur Gesellschaft gehören zu wollen. Sie besitzen kein moralisches Sensorium sondern wollen dazu gehören, und ihr Mitmachertum sorgt letzten Endes auch dafür, dass sie zumindest teilweise zugrunde gehen. Sie sind außerdem nicht oder nur begrenzt in der Lage zu erkennen, dass mit ihnen gespielt wird, dass sie für die Richterfiguren im Grunde nur als Schachfiguren agieren. Den labyrinthischen Charakter der Welt und ihre eigene Verstrickung in Schuld nehmen sie selbst kaum wahr. Letzten Endes bleiben sie in der Regel zu einem bloßen Werkzeug degradiert. Zu Werkzeugen werden auch die Henkersfiguren, die von den Verbrechern abhängig sind oder zumindest von den Verbrechern zu ihren Taten getrieben werden. Neben Gastmanns Dienern, von denen man nicht weiß inwieweit sie in den Vollzug seiner Verbrechen verstrickt sind, sind hier vor allem Emmenbergers Henker in der Klinik Sonnenstein von Bedeutung. Dr. Marlok beispielsweise ist ein schuldiger Henker, weil sie sehr wohl weiß, worauf sie sich einlässt und dass ihr Handeln ungerecht ist, allerdings ist sie durch ihre Morphiumsucht, die ihr eine Flucht in eine optimale Welt ermöglicht, dazu getrieben so zu handeln. Allerdings zeigt sie nicht den geringsten Willen sich aus ihrer Mitmacherrolle zu Vgl. Wieckenbeck, Ernst Peter: Dürrenmatts Detektivromane. In: In: Text + Kritik. Bd. 56 (1977). S. 8 – 19. S. 10. 146 Vgl. Paganini, C.: Gestalt des Narren. S. 25. 147 Dürrenmatt, F.: Richter und Henker. S. 115. 145 59 befreien. Ihre Haltung ist bedingt durch ihre Resignation im Bezug auf die Möglichkeit in dieser Welt noch etwas verändern zu können. Dennoch wirkt sie noch sehr stark im Vergleich zu den anderen Henkerfiguren, weil sie durch ihren Doktortitel Emmenberger zumindest ebenbürtig ist. Zu ihrer Rolle als Mitmacher werde ich mich später genauer äußern. Auch Schwester Kläri ist schuldig, wobei sie sich eine Philosophie zurechtgelegt hat, die ihr Handeln erklärt und gutheißt. Sie kümmert sich nicht um bestehende Rechte sondern lebt ganz nach ihrer eigenen Vorstellung. Sie ist zwar gewissermaßen ein Werkzeug Emmenbergers, aber durch ihre Eigenständigkeit und ihre eigene Einstellung zu ihrer Rolle ist sie ein sehr bewusster Henker, der seine Rolle bereitwillig erfüllt. Gerade daraus ergibt sich ihre Schuld, dass sie ihr Handeln erkennt und nicht gezwungen ist so zu handeln - sie könnte beinahe als unabhängiger wenn auch gemütlicher Henker148 gesehen werden. Der Zwerg ist die einzige Henkersfigur die wirklich schuldlos ist, weil man ihn mehr als Opfer sehen kann, und nur bedingt als Täter. Seine physiologische Existenz lässt auf ein fehlendes Rechtsbewusstsein schließen, er ist nicht in der Lage sich mitzuteilen, und hat kaum die Möglichkeit sich aus seiner Henkersrolle zu befreien, die Rettung gelingt ihm nur durch Gulliver. Er ist die Verkörperung des Minotaurus nach Dürrenmatts Verständnis, der schuldlos Schuldige, der naive Einzelne und völlige Außenseiter der Gesellschaft. Er wird ja von Gulliver selbst auch als Minotaurus bezeichnet149. Spät vermag sich aus dem chaotischen Gewirr von Beziehungen nicht mehr zu befreien. Dies ist für viele Henkerfiguren zutreffend. Sie sind in der labyrinthischen Welt gefangen, sehen keinen Ausweg, ja suchen vielmehr in den meisten Fällen gar nicht nach einem Ausweg. Sie sind getrieben durch ihr Mitmachertum, also dem Streben nach sozialer und gesellschaftlicher Akzeptanz, durch die Sucht und letzten Endes geprägt durch Resignation, nur Kläri ist aus Überzeugung zum Henker geworden. Sie sind nicht oder nur 148 149 Vgl. Dürrenmatt, F.:Verdacht. S. 207. Vgl. Ebd. S. 261. 60 in Ausnahmefällen bereit, die Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen. Sie lassen sich lenken, lassen zu, dass man mit ihnen wie mit Schachfiguren spielt. Sie haben resigniert, haben aufgegeben, ja haben vielleicht nie wirklich versucht sich aus ihrer Stellung zu befreien. 4.3 Verbrecher Die Verbrecher und dämonischen Figuren lassen sich in drei Gruppen unterteilen. Die erste Gruppe möchte ich als mythische Verbrecher bezeichnen, die zweite als dämonische Gesetzeshüter und die dritte als triviale Verbrecher. Eine entscheidende Rolle wird auch die Analyse der Beziehung zwischen den mythischen Verbrechern und den Gesetzeshütern einnehmen, da sich diese Beziehung oftmals als ein faustischer Pakt darstellt. Es gibt die Verbrecher, die stellvertretend für eine Philosophie stehen und dementsprechend oft fast überlebensgroß und mythisch wirken. Zu dieser Gruppe wären die Verbrecher Gastmann, Emmenberger und Kohler zu rechnen. Eine entsprechend dämonische, verbrecherische Nebenfigur, die allein durch ihre Darstellung als Zwergin mythisch erscheint, ist Monika Steiermann. Diese mythischen Verbrecher werden oftmals mit dem Teufel gleichgesetzt oder anderweitig dämonisch dargestellt. Dies verleiht ihnen etwas Unnahbares betont aber gleichzeitig ihre bedrohliche Macht. Gastmann erscheint beispielsweise gerade durch seine Ruhe und Gelassenheit als bedrohlich, wohingegen Emmenberger ganz eindeutig mit dem Teufel 150assoziiert wird. „Dürrenmatts Verbrecher sind Nihilisten.“151 Sie ignorieren meist die Normen der Gesellschaft, stellen sich über diese und meist auch über die Gesellschaft in der sie leben. Gerechtigkeit interessiert sie nicht, sie sehen sich vor allem als Individuen und betonen 150 151 Vgl. Ebd. S. 141 157,160, 177, 224, 226, 232. Müller, F.: Anhauch des Nichts. S. 552. 61 ihre Freiheit so sehr, dass sie sich somit aus der Freiheit heraus das Recht nehmen Verbrechen zu verüben. Exemplarisch ist hier Emmenbergers Einstellung zu Freiheit und Gerechtigkeit: Es gibt keine Gerechtigkeit – wie könnte die Materie gerecht sein – es gibt nur die Freiheit, die nicht verdient werden kann – da müßte es eine Gerechtigkeit geben –, die nicht gegeben werden kann – wer könnte sie geben –, sondern die man sich nehmen muß. Die Freiheit ist der Mut zum Verbrechen weil sie selbst ein Verbrechen ist. 152 Emmenbergers Einstellung zur Freiheit kommentiert auch Elisabeth Brock Sulzer näher: Dass Freiheit ihre Schranke an der Freiheit des Nächsten findet und daß es also wirkliche, unbeschränkte Freiheit nur durch Verletzung der Freiheit des Nächsten geben kann, das denkt und lebt dieser «Höllenfürst» bis zum Ende.153 Am bedeutendsten sind diesbezüglich Gastmann und Emmenberger. Gastmann einerseits der aus Zufall oder besser nebenbei zum Verbrecher wird, hedonistische Züge aufweist und vielmehr nur das tut was ihm gefällt eben aus einer Laune heraus.154 Durch die Wette mit Bärlach wird er zum Verbrecher, zum Experimentator, der mit den Menschen wie mit Schachfiguren operiert und dabei keine Skrupel zeigt. Emmenberger dagegen ist eher durch seinen Sadismus geprägt, er genießt es seine Opfer zu quälen, allerdings zieht er eher den Lustgewinn daraus, dass sich seine Opfer freiwillig auf die Qual einlassen als aus dem Akt der Quälerei an sich. Er ist fasziniert davon was Menschen bereit sind für einen Funken Hoffnung zu tun, und nutzt dies schamlos aus, er versteht es die Menschen zu manipulieren und für sich zu nutzen, und ist somit auch als Experimentator zu betrachten, der sich außerhalb der Gesellschaft platziert. Kohler dagegen ist nicht ganz so überlebensgroß und mythisch gezeichnet, seine eigentliche Motivation für sein Verbrechen wird nicht klar, es können auch die Wirtschaftsinteressen sein, andererseits spricht vieles auch dafür, dass er es genießt à la bande zu operieren und so seine Mitmenschen zu manipulieren und in den Tod zu treiben. Diese Verbrecher sehen ebenso wie die 152 Dürrenmatt, F.: Verdacht. S. 252. Brock - Sulzer, E.: Friedrich Dürrenmatt. S. 275. 154 Vgl. Paganini, C.: Scheitern. S. 27. 153 62 skrupellosen Gesetzeshüter die Welt als ihr Spielfeld an und nehmen sich noch mehr als diese das Recht heraus selbst die Spielregeln aufzustellen bzw. sogar ohne Spielregeln zu agieren. Das Machtverlangen dieser Verbrecherfiguren ist enorm groß. Dass sie trotz ihrer mythischen Überhöhung teils scheitern - Ausnahme ist hier Kohler, der scheinbar siegt liegt vor allem an dem Zufall, der sie letztlich, obwohl sie ihn in ihr Denken einzukalkulieren vermögen, noch zur Strecke bringt, ebenso wie die Richterfiguren, die diesen dämonischen Verbrechergestalten Einhalt gebieten und dadurch allmählich selbst dämonische Züge aufweisen. Sie sind sich ausnahmslos über die Gefahr im Klaren, die der Zufall für ihre Handlung bedeutet, sind sich bewusst, dass es kein „indizienloses Verbrechen“155 gibt. Allerdings sind ihre Verbrechen kaum im typischen Sinne motiviert, wirken vielmehr zufallsbestimmt, und gerade dies macht eine Überführung dieser Verbrecher durch die Justiz umso schwieriger. Dahingehend zeichnen sie sich durch große Gelassenheit aus, weil sie sich selbst im Grunde nicht zu wichtig nehmen. Sogar dem Tod begegnen sie (jedenfalls Gastmann) mit Humor156, was ihnen eine menschliche Größe verleiht. Ebenso wie sie über der Gesellschaft zu stehen scheinen, stehen sie scheinbar auch über dem Labyrinth des Lebens157, sind intelligent und lange in der Lage sich ihren Verfolgern zu entziehen. Mit juristischen Mitteln können sie nicht mehr zur Strecke gebracht werden. Die Freiheit zum Verbrechen verleiht ihnen auch eine übergroße Machtposition, die sie geschickt für ihre Zwecke zu nutzen wissen. In diesem Fall stehen sie auch den Richterfiguren nahe, die ihre Macht ausnutzen und missbrauchen und so selbst zu Verbrechern werden. Somit komme ich zur Gruppe der Gesetzeshüter und der Figuren die sich vorgeblich für Gerechtigkeit einsetzen, und dabei auch die Normen missachten und Gesetze brechen oder zumindest umgehen und sich als skrupellos erweisen. Dazu wären die Richterfiguren Bärlach, Matthäi und Gulliver zu rechnen. Mit Abstrichen und einer gewissen Einschränkung ist auch Spät zu dieser Gruppe zu zählen. Die enge Beziehung und die 155 Dürrenmatt, F.: Verdacht. S. 242. Vgl. Dürrenmatt, F.: Richter und Henker. S. 104. 157 Vgl. Auge, B.: Justiz. S. 303. 156 63 Ähnlichkeit mit den mythisch überhöhten Verbrecherfiguren, vor allem im Bereich des Machtmissbrauchs, habe ich bereits ausgeführt. Die Gesetzeshüter sind allerdings generell von den bestehenden Normen und Gesetzen überzeugt, erkennen deren Grenzen an, aber überschreiten sie auch, wenn sie keine andere Möglichkeit mehr sehen in dieser Welt zu bestehen. Sie rechtfertigen ihren Einsatz mit der Gerechtigkeit, haben allerdings meist auch egoistische Motive wie ich bereits im Richterkapitel angeführt habe. Leichtfertig benutzen sie andere für ihre Zwecke, missbrauchen ihre Macht und werden so zu dämonischen Figuren. Dies ist vielleicht als Beispiel dafür zu sehen, dass in jedem Menschen auch eine dämonische dunkle Seite lauert, die bei entsprechenden Gegebenheiten zum Vorschein kommen kann. Interessant ist hier auch Veronique Brandners Ansicht über Bärlach : Er hat es geschafft, was die meisten Menschen erfolglos versuchen: er hat das Böse in sich getötet. Damit hat er einen Teil von sich getötet, einen Teil, der vom anderen nicht trennbar ist. Er hat sich selbst zum Tode verurteilt. Es bleibt nur noch ein gebückter, trauriger, hinkender Bärlach übrig, dem nun etwas fehlt. 158 Dennoch bezweifle ich diese Ansicht, denn Bärlach ist schon todkrank, bevor er Gastmann vernichtet hat, und er greift ja gerade zu ungerechten Mitteln um sein Ziel zu erreichen. Meiner Meinung nach hat er das Böse in sich nicht besiegt, sondern bestenfalls angenommen und akzeptiert. Beispielhaft für Bärlachs dämonische Seite ist hier vor allem das dämonische Henkersmal gegen Ende im „Richter und Henker“ zu sehen: […]ein Dämon, der einen unendlichen Hunger stillt. An der Wand zeichnete sich, zweimal vergrößert, in wilden Schatten seine Gestalt ab, die Kräftigen Bewegungen der Arme das Senken des Kopfes, gleich dem Tanz eines triumphierenden Negerhäuptlings.159 Wichtig ist also vielmehr sich dessen bewusst zu werden, die nötige Schulderkenntnis zu besitzen, und den Kampf gegen diese dämonische Natur - also gegen sich selbst - auch 158 159 Brandner, V.: Andere Dürrenmatt. S. 35. Dürrenmatt, F.: Richter und Henker. S. 110. 64 aufzunehmen. Dies kann auch mit dem Bild des Minotaurus gleichgesetzt werden, der auch im Kampf gegen sich selbst steht, und sowohl Schuld als auch Unschuld in sich vereint. Hier zeigt sich, daß gut und Böse im Menschen untrennbar sind. Beide Kräfte sind im Menschen verschieden stark. Das absolut Gute gibt es beim Menschen nicht, das absolut Böse dagegen ist denkbar, man nehme Gastmann, Emmenberger oder Monika Steiermann. 160 Gerade die Beziehung mit den Verbrecherfiguren ist hier interessant und verdeutlicht die faustische Anlagen im Menschen. Gerade auf den teuflischen Pakt zwischen den Verbrechern und den Gesetzeshütern möchte ich noch genauer eingehen. Zwischen Gastmann und Bärlach bildet die Wette diesen faustischen Pakt. Die Folge dieser Wette ist, dass Gastmann zum Verbrecher wird und somit auch Bärlach schuldig wird. Bärlachs Biederkeit hat Gastmann in Versuchung geführt diese Wette zu bieten, und Bärlach hat die Wette angenommen.161 Letzten Endes ist es dieser Pakt, der Bärlach zum Richter über Gastmann macht: Unser Spiel können wir nicht aufgeben. Du bist in jener Nacht in der Türkei schuldig geworden weil du die Wette geboten hast, Gastmann, und ich , weil ich sie angenommen habe Es ist mir nicht gelungen, dich der Verbrechen zu überführen, die du begangen hast, nun werde ich dich eben dessen überführen, das du nicht begangen hast. Ich bin der einzige, der dich kennt, und so bin ich auch der einzige, der dich richten kann. Ich habe dich gerichtet, Gastmann, ich habe dich zum Tode verurteilt. Du wirst den heutigen Tag nicht mehr überleben. Der Henker den ich ausersehen habe, wird heute zu dir kommen. Er wird dich töten, denn das muß nun eben einmal in Gottes Namen getan werden. 162 Die Unterhaltung mit Emmenberger im „Verdacht“, der auf der Suche nach einem Glaubensbekenntnis ist, und die Reaktion Bärlach auf Emmenbergers Forderung wurde vielseitig gedeutet. Mit einer Antwort würde Bärlach einen Pakt mit dem Teufel eingehen.163 Manche interpretieren sein Schweigen als ein eigenes 160 Brandner, V.: Andere Dürrenmatt. S. 37. Vgl. Dürrenmatt, F.: Richter und Henker. S. 67 – 71. 162 Ebd. S. 99/100 163 Vgl. Brandner, V.: Andere Dürrenmatt. S. 27. 161 65 Glaubensbekenntnis164 Wieder andere sehen sein Schweigen aus Trotz, aus einer verstockten Resistenz, letztlich vielleicht als Darstellung eines fehlenden transzendentalen Hintergrunds.165 Oder sie beurteilen ihn als „Gerechtigkeitsfanatiker, der um jeden Preis seine starre, die ehemals humane Intention längst ins Gegenteil verkehrende Auffassungen, dass es in der Welt gerecht zugehe, durchsetzen will und auch über Leichen geht.“ 166 Dadurch ist er ebenso unmenschlich wie Emmenberger. Diese Erklärung scheint mir am nachvollziehbarsten, denn er gefährdet durch sein Schweigen nicht nur sein Leben, sondern auch das seines Freundes Dr. Hungertobel. Somit verdeutlicht diese Haltung auch seine dämonische, unmenschliche Seite. Das Verhältnis zwischen Kohler und Spät ist ebenfalls eine Art Teufelspakt. Spät geht diesen Pakt ein, der Zufall treibt ihn dazu, obwohl er ahnt dass er gefährlich für ihn sein kann. Und selbst als er dann die Unterlagen an Stüssi Leupin verkauft, geht er wieder einen Pakt ein, der nichts mit moralischem und gerechtigkeitsorientiertem Handeln zu tun hat. Man fragt sich wer nun wirklich die Schuld trägt: Kohler weil er den Auftrag gab, oder Spät, weil er den Auftrag annahm, von dem er ahnte er könnte sein Leben ruinieren. Als er Kohlers Auftrag annimmt, schließt er einen Pakt mit dem Teufel […]167 Schließlich gibt es die Nebenfiguren, die nicht die gleiche verbrecherische dämonische Größe haben, und vorwiegend aus minderen Motiven zu Verbrechern werden. Hierzu zählen schließlich Schrott, Tschanz, und Trapps. Sie entsprechen eher dem traditionellen Bild eines Verbrechers, aus sozialen oder wirtschaftlichen Motiven, oder wie im Fall Schrott - Verbrechen als Triebtat. Sie sind zwar bis auf Schrott sicher auch für ihre Verbrechen verantwortlich zu machen, aber teilweise ist es gerade die Gesellschaft, die ihnen die Verbrechen ermöglicht oder sie in diese Rolle drängt. Gerade weil es eben keine soziale und wirtschaftliche Gleichstellung aller gibt, wird es immer Verbrechen aus 164 Vgl. Wieckenbeck: Dürrenmatt Detektivromane. S. 12. Vgl. Hapkemeyer , Andreas: Höll' und Teufel. Ein Motivkomplex im Werk Friedrich Dürrenmatts. (Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft / Germanistische Reihe . Band 56). Innsbruck: Inst. für Germanistik, 1998. S. 115. 166 Knopf, J.: Friedrich Dürrenmatt. S. 58. 167 Brandner, V.: Andere Dürrenmatt. S. 39. 165 66 Eifersucht und Neid geben. Diese Verbrecher sind nicht in der Lage den Zufall in ihr Denken und Handeln einzukalkulieren, sie stehen am Rande der Gesellschaft und sind nicht in der Lage das Lebenslabyrinth zu überblicken. Gerade deshalb scheitern sie in den Kriminalromanen ausnahmslos. Teilweise sind sie vielmehr Opfer als Täter, Opfer einer Gesellschaft, die sie nicht anerkennt. Dass sie aber den Weg des Verbrechens wählen, macht sie schuldig. Im Grunde sind sie sich ihrer Verbrechen auch bewusst, was aber nicht dazu führt, dass sie ihr Verhalten ändern oder bedenken. Teilweise mag auch dies daran liegen, dass sie in der Gesellschaft erleben, dass sie mit ihren Verbrechen zumindest zunächst weiterkommen. Tschanz erhält Anerkennung für seine Ermittlungen, Trapps einen besseren Posten. Außer Schrott, der zufällig bei einem Autounfall umkommt, bringen sich diese Verbrecher meist selbst um (wenn man davon ausgeht, dass Tschanz Tod auch ein Selbstmord und kein Unfall war). Dies geschieht aber weniger aus einer Schulderkenntnis heraus, als aus der Angst vor den Konsequenzen, womit der Selbstmord als Flucht angesehen werden kann, oder aber aus dem Wunsch anerkannt zu werden (wie bei Traps). Letzten Endes sind sie keine Experimentatoren, sondern Narren, oder weitaus häufiger einfach nur Mitmacher. Es zeigt sich also, dass Gut und Böse im Menschen nahe bei einander liegen und oft nicht eindeutig zu trennen sind. 4.4 Mitmacher / Mitläufer „Wir machen alle mit…“168 so sagt jedenfalls Dürrenmatt. Wenn aber in der Forschungsliteratur vom Mitmacher gesprochen wird, ist meist nur der moralisch negative Mitmacher gemeint. Da wir alle irgendwie mitmachen, gilt hier mein primäres Interesse den Figuren die mitmachen, obwohl sie andere Überzeugungen vertreten, oder die Mitmachen und sich gar keine Gedanken um ihr Mitmachen machen. Als Beispiel für 168 Dürrenmatt, F.: Mitmacher. S. 167. 67 einen moralisch positiven Mitmacher füge ich Dr. H. an, der zwar mitmacht aber in gewissen Grenzen versucht seine eigenen Ideen zu verwirklichen Alle Figuren sind mehr oder weniger in ein Geflecht einer Gesellschaft eingebunden. Wenn sie nicht zum freiwilligen oder unfreiwilligen Außenseiter werden, so sind sie zwangsläufig Mitmacher. Entscheidend sind hier die Nebenfiguren, also im Richter und Henker beispielsweise der Untersuchungsrichter Lucius Lutz und der Oberst und Nationalrat von Schwendi. Beide sind durch politischen Opportunismus geprägt. Lutz hält zwar mehr von der modernen Kriminalistik, ist aber nicht in der Lage die Umsetzung derselben durchzusetzen. Er lässt sich schnell von seinem Parteifreund von Schwendi überzeugen, dass Gastmann in Ruhe gelassen werden muss.169 Viele Figuren im Richter und Henker, beispielsweise Charnel, der die Trinkgelder Gastmanns an seine Verlobte hinnimmt ohne zu hinterfragen ob da mehr dahintersteckt170, machen aus Bequemlichkeit mit. Nicht mehr mit zu machen würde für etliche Figuren einen Verlust an sozialer und gesellschaftlicher Anerkennung ebenso wie einen finanziellen Verlust bedeuten. Gerechtigkeit interessiert sie nicht, die meisten hinterfragen gar nicht, ob das was alle tun wirklich auch gerecht ist. Auch im Verdacht gibt es diese Mitmacherfiguren allerdings weniger aus dem Opportunismus, als aus der Resignation heraus. Dr. Marlok ist hier ein gutes Beispiel für jemanden der mitmacht, gegen Ihre eigenen Überzeugungen, weil sie erlebt hat, dass ihre Überzeugungen sie nur ins Verderben gestürzt haben und sie jegliche Hoffnung ihre Überzeugungen verwirklichen oder umsetzen zu können verloren hat. “ Ich war wie Sie entschlossen, Kommissär, gegen das Böse zu kämpfen bis an meines Lebens seliges Ende.“171 Ich ließ jede Hoffnung fahren. Es ist Unsinn, sich zu wehren und sich für eine bessere Welt einzusetzen. Der Mensch selbst wünschte seine Hölle herbei, bereitet 169 Vgl. Dürrenmatt, F.: Richter und Henker. S. 58. Vgl. Ebd. S. 44. 171 Dürrenmatt, F.: Verdacht. S. 218. 170 68 sie in seinen Gedanken vor und leitet sie mit seinen Taten ein. Überall dasselbe, in Stutthof und hier im Sonnenstein172. Sie macht mit weil sie aufgegeben hat, letztlich nicht nur ihre Überzeugungen sondern vor allem sich selbst; nur mit Morphium gelingt es ihr das Leben zu ertragen. Hungertobel ist ein Mitmacher insofern als er weg schaut, nicht bestrebt ist dem Verdacht, den er geschöpft hat weiter nach zu gehen, sicher aus Angst vor den Konsequenzen und aus Angst vor seiner eigenen Courage. Sogar seinen Bericht über die Episode in der Hütte relativiert er mehrmals.173 Der Schriftsteller im Richter und Henker dagegen ist jemand der hinschaut, der den Menschen auf die Finger schaut, aber eben abgesehen von seinem Schreiben auch nicht handelt oder eingreift, sondern sich vielmehr auf seine Beobachterposition beschränkt. Er sei eben auch eine Art Polizist sagte er, aber ohne Macht, ohne Staat, ohne Gesetz und ohne Gefängnis hinter sich. Es sei auch sein Beruf, den Menschen auf die Finger zu sehen.174 Auch die Opfer Emmenbergers, im KZ und jetzt im Klinikum Sonnenstein sind einerseits bereit einen Teufelspakt mit dem Arzt einzugehen, sie sind somit Mitmacher, weil sie mit sich spielen lassen, aber vor allem sind sie Opfer eines Arztes der skrupellos ihre verzweifelte Lage ausnutzt. Fortschig dagegen ist einer der wenigen positiven Mitmacher, auch wenn er sich auf das Darüber reden konzentriert und sich in Belanglosigkeiten verliert. Aber er ist bereit auch unkonventionelles zu sagen und riskiert dafür sogar sein warmes Mittagessen. Den Mut aber entsprechend zu handeln findet er nicht oder nur begrenzt, wie in seiner Selbstdarstellung deutlich wird: Die Schweiz schuf mich zu einem Narren, zu einem Spinnbruder, zu einem Don Quijote, der gegen Windmühlen und Schafherden kämpft. Da soll man für die Freiheit und Gerechtigkeit und für jene andern Artikel einstehen, [… ]und eine 172 Ebd. S. 219. Vgl. Ebd. S. 142/145. 174 Dürrenmatt, F.: Richter und Henker. S. 81. 173 69 Gesellschaft hochhalten, die einen zwingt, die Existenz eines Schlufis und Bettlers zu führen.175 Letzten Endes bleibt ihm also auch nur Resignation und Lächerlichkeit. Auch im Versprechen gibt es Mitmacherfiguren. Der gesamte Polizei - und Juristenapparat ist durch Opportunismus und unlautere Methoden geprägt. Sie suchen nicht nach dem wirklich Schuldigen, sondern bringen den Verdächtigen zu einem Geständnis. Auch Frau Heller und Annemarie werden zu Mitmachern. Zunächst wissen sie zwar nicht, dass sie mitmachen, aber als sie dann erkennen was los ist, bleiben sie trotzdem bei Matthäi und stürzen sozial noch weiter ab. Begründbar ist dies, ohnehin dadurch, dass sie von der Gesellschaft nicht anerkannt, ja nur vertrieben werden. Sie haben es schwer sich im Leben einzufinden. Auch Frau Schrott schweigt über das Verbrechen ihres Mannes, weil sie mitmacht, weil sie nicht von ihrer Schwester verurteilt werden will. Ihre gesellschaftliche Stellung und die Akzeptanz aus ihrem Umfeld sind ihr wichtiger als die Verwirklichung von Gerechtigkeit. Erst auf dem Sterbebett bringt sie dem Mut auf darüber zu sprechen. Traps in der Panne ist auch Mitläufer. Er lebt in der Geschäftswelt, handelt nach deren Prinzipien, ohne sie zu hinterfragen, und besitzt auch kaum ein moralisches Bewusstsein. Letzten Endes ist ihm gleichgültig, was mit seinen Mitmenschen passiert, er ist nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht und passt so perfekt in die rücksichtslose, opportunistische Geschäftswelt. Durch das Anerkennen seines "Verbrechens", wächst er zwar einerseits über sich selbst hinaus und befreit sich aus seinem Mitmachen in der Geschäftswelt, andererseits ist sein Selbstmord und sein Anerkennen seines Verbrechens allerdings nur eine andere Form des Mitmachens, denn er möchte ja von der Richtern anerkannt und geschätzt werden, und so treibt er das Spiel, bei dem er mitmacht auf die Spitze, so dass es schließlich in Ernst umschlagen muss. 175 Dürrenmatt, F.:Verdacht. S. 181/182. 70 Späth in Justiz ist erneut ein eher zwiespältiger Charakter. Er ist auf der einen Seite durch seinen Willen an der Gesellschaft teilzuhaben geprägt, andererseits erkennt er aber - leider zu spät - sein Mitmachen und kann sich dann nicht mehr wirklich daraus befreien. „[A]ls er seine Ergebnisse an Stüssi – Leupin verkauft, hat er sich zum zweiten Mal kaufen lassen“176 Er strebt nach gesellschaftlicher und sozialer Anerkennung und ist für diese Anerkennung allzu schnell bereit seine Überzeugungen und seine Skepsis über Bord zu werfen. Dass er letzten Endes sein Mitmachen aufgibt, vor allem wie er es aufgibt, passiert einerseits zu spät und andererseits versucht er auch daraus noch Profit zu schlagen. Als er dann letztlich gescheitert ist, zumindest gesellschaftlich und finanziell bleibt ihm nur noch die Rache, aber seine Gleichgültigkeit moralische und ethische Werte betreffend wächst zunehmend; er bleibt ein Mitmacher und vermag sich daraus, trotz seines scheinbaren Mutes, nicht mehr zu befreien, er ist schon zu weit abgestürzt. Auch Stüssi – Leupin ist ein opportunistischer Mitmacher, der aus der Situation Erfolg und Kapital zu schlagen versteht. [W]enn es seine, Stüssi – Leupins, Leidenschaft sei, auch Schuldige aus dem Haifischrachen der Justiz zu retten …, so nicht um die Justiz zum Narren zu halten. Ein Rechtsanwalt sei kein Richter, ob er an die Gerechtigkeit und an die aus dieser Idee deduzierten Gesetze glaube oder nicht, sei seine Sache, das sei letztlich eine metaphysische Angelegenheit,[…]aber als Rechtsanwalt habe er zu untersuchen, ob ein von der Justiz erfasstes Subjekt von ihr als schuldig oder unschuldig betrachtet werden dürfe, gleichgültig, ob es schuldig oder unschuldig sei.177 Auch das Ehepaar Knulpe lässt sich bereitwillig auf Kohlers Angebot ein und somit genau wie Spät kaufen. Dr. H. letztlich ist eines der wenigen Beispiele für einen positiven Mitmacher, einen Mitmacher, der eher dem mutigen Menschen nahe steht. Im Grunde ist sein Verhalten moralisch am ehesten vertretbar, auch wenn er sich genau wie die Richterfiguren oft nicht an das Gesetz hält, so übt er doch nicht Selbstjustiz indem er einen Verbrecher ermordet oder einen Henker dazu bringt einen Verbrecher zu töten. Vielmehr hält er, zumindest in „Justiz“, sogar andere davon ab einen Mord - und sei er auch noch so gerecht - zu 176 177 Auge, B.: Justiz. S. 295. Dürrenmatt, F.: Justiz. S. 754 -755. 71 begehen.178 Er macht mit, ist anerkanntes Mitglied im Polizeidienst, und offenbar sicher auch ein wenig Opportunist, er bleibt dezent im Hintergrund aber er spinnt auch seine Fäden wo er es für nötig hält. Er lebt seine eigenen Überzeugungen von Gerechtigkeit im Rahmen der Gesellschaft aus, so weit es ihm denn möglich ist. Dies zeigt sich auch darin, dass er kaum von egoistischen Motiven getrieben ist, sein Handeln findet meist im Verborgenen statt, und man glaubt ihm sein Vorgehen für eine höhere Gerechtigkeit, auch wenn er dabei mal einen Verbrecher laufen lassen muss.179 Er ist insofern ein „mutiger Mensch“, weil er sich für seine Werte und Ideale einsetzt und versucht sie so weit wie möglich zu verwirklichen, er erkennt seine Grenzen sehr genau, und überschreitet sie nicht. Da er allerdings im Grunde zu wenig aktiv wird, ist er nicht zu den Rächerfiguren zu zählen und vielleicht als ein gemäßigter „mutiger Mensch“ einzuordnen. Er handelt so wie der mutige Mensch nur handeln kann ohne dabei selbst zum Narren zu werden. Indem er sich selbst nicht so wichtig nimmt und wenig Starrsinn beweist sondern die Flexibilität hat angemessen auf die jeweilige Situation einzugehen, ist er im Grunde am erfolgreichsten vor allem, was moralische Integrität betrifft. Seine Resignation die absolute Gerechtigkeit betreffend kann man leider nur allzu gut nachvollziehen. Nicht alle Mitläuferfiguren müssen demnach negativ gezeichnet sein. Es gibt die seltenen Fälle der mutigen Mitmacher, die ihr moralisches Sensorium nicht vernachlässigen aber auch nicht mit den Kopf durch die Wand gehen wollen, und dadurch letztlich am erfolgreichsten bleiben. Dennoch ist es natürlich schwierig im Labyrinth der Lebensumstände seinen eigenen Platz in der Gesellschaft zu finden,180 und somit wird man zum Mitmacher, weil man sich zwar nicht wehrt, und teilweise aber auch gar nicht hinterfragt, was man tut. Wer nämlich nachdenkt und hinterfragt, wer kritisch ist, muss 178 Indem er die Patronen vertauscht Beispielsweise wenn er jeden zehnten laufen lässt Vgl. Dürrenmatt, F.: Justiz. S. 758. 180 Vgl. Bauer, E.: Gerichtsthematik. S. 187 179 72 auch irgendwann zumindest in Grenzen zum Handeln kommen, sonst ist er nicht besser als der gedankenlose Mitmacher. 4. 5 Opfer Wo Richter, Henker und Verbrecher existieren muss es natürlich auch Opfer geben. Hier ist zum einen zwischen schuldigen und unschuldigen Opfern zu unterscheiden, außerdem ist wichtig festzustellen, ob und inwieweit die Opfer versuchen sich aus der Opferrolle zu befreien, oder wo sie in ihrer Rolle verharren, weil sie nicht den Mut haben sich zu sich selbst zu bekennen. Oftmals werden gerade die Figuren zu Opfern, die zum Machtverzicht bereit sind, aber eben nicht wegen moralischer Gründe auf die Macht verzichten. Als Unschuldige Mordopfer wären Schmied, Gritli Moser, Fortschig, Nehle und von Gunten zu nennen181. Im Bezug auf Justiz müsste man Daphne und Benno, im Bezug auf die Panne Gygax - zumindest mit Abstrichen - ergänzen. Manche dieser unschuldigen Figuren haben eine reine handlungsauslösende Funktion. Ulrich Schmied182 beispielsweise tritt nur als Vorbildcharakter in Erscheinung und auch das nur in der Rückschau. Von Bedeutung ist darüber hinaus nur sein Doppelleben, weil er für Bärlach als Dr. Prantel an Gesellschaften teilgenommen hat. Auch Gritli Moser führt gewissermaßen ein Doppelleben, weil sie sich ihren Eltern nicht anvertraut, insofern man bei einem Kind überhaupt von einem Doppelleben sprechen kann, und auch ihre Ermordung dient vor allem der Handlungsauslösung. Fortschig hingegen ist aus Gutgläubigkeit und Fahrlässigkeit zum Opfer geworden183. Er kümmert sich nicht um Bärlachs Warnung, prahlt vielmehr damit nach Paris gehen zu wollen, und schafft so die Gelegenheit zu seiner Ermordung. „ Seine Unfähigkeit sich selbst kritisch zu hinterfragen bringt ihn auch um die Möglichkeit sich weiterzuentwickeln 181 Vgl. Götting, Ulrike: Der deutsche Kriminalroman zwischen 1945 und 1970. Formen und Tendenzen. Wetzlar: Kletsmeier, 1998. S. 154. 182 Vgl. Dürrenmatt, F.: Richter und Henker. S. 22. 183 Vgl. Tschimmel, I.: Kriminalroman und Gesellschaftsdarstellung. S. 102. 73 und dazuzulernen“ 184 was zwangsläufig zu seinem Scheitern führen muss. Insgesamt versucht er aber wenigstens ein mutiger Mensch zu sein, auch wenn er eher ein idealistischer Narr ist, und sich selbst auch als Don Quichote sieht, und bezeichnenderweise gegen Belanglosigkeiten, wie beispielsweise Verkehrspolizisten, wettert. Nehle allerdings wird zum Opfer, weil er eine grundsätzliche Ähnlichkeit mit Emmenberger hat, und weil er sich kaufen lässt, denn ohne Emmenberger hätte er den Abschluss als Mediziner gar nicht geschafft. Dass er letzten Endes Opfer wird, weil er ein Mitwisser ist, kann er nicht mehr verhindern. Aber er hat sich bereitwillig auf einen Teufelspakt eingelassen und Emmenberger eine zweite Identität verschafft und stirbt weil er als Doppelgänger nicht mehr benötigt wird. Insgesamt sind die Opfer Emmenbergers, egal ob im KZ Stutthof, oder in der Klinik Sonnenstein unschuldig. Sie treten als eine Gruppe tödlich verzweifelter Menschen auf, die sich an den letzten Strohhalm der Hoffnung klammern obwohl sie wissen, dass ihre Chancen zu überleben minimal bis quasi nicht existent sind. Nehle [gemeint ist Emmenberger im KZ] operierte nur Juden , die sich freiwillig meldeten, die genau wußten, was ihnen bevorstand, die sogar, das setzte er zur Bedingung, den Operationen beiwohnen mußten, um die vollen Schrecken der Tortur zu sehen, bevor sie ihre Zustimmung geben konnten , nun dasselbe zu erleiden.185 Sie sind Versuchsobjekt, vor allem die Patienten im Sonnenstein freiwillig. Paradox ist hier vor allem, dass sie ihren Peiniger sogar als „Erbonkel“186 in ihren Testamenten bedenken. Verzweiflung, und ein letzter Funke Hoffnung treibt sie dazu zu Opfern zu werden. Aber sie zeigen eindrücklich was Menschen bereit sind für die Hoffnung und die Freiheit zu tun - wie Gulliver deutlich vor Augen führt: Wie muß der Mensch sie lieben, daß er alles zu dulden gewillt ist, sie zu bekomen, so sehr, da er auch damals in Stutthof freiwillig in die flammendste Hölle ging, nur um diesen erbärmlichen Bankert von Freiheit, zu umarmen, der ihm da geboten 184 Paganini, C.: Scheitern. S. 35. Dürrenmatt, F.: Verdacht. S. 159/160. 186 Ebd. S. 129. 185 74 wurde. Die Freiheit ist bald eine Dirne und bald eine Heilige, für jeden etwas anderes.187 Und gerade dadurch werden sie zum interessanten Anschauungsobjekt und Experimentierfeld für Emmenberger. Von Gunten im Versprechen, wird Opfer seiner Vorgeschichte seines Daseins als sozialer Außenseiter, und Opfer der Vorurteile der Gesellschaft die ihn umgibt. Er versucht sich anfangs noch zu wehren, aber irgendwann hat er nicht mehr die Kraft den bedrängenden Verhörmethoden zu widerstehen, und ergibt sich mehr oder weniger freiwillig in sein Schicksal. Er wurde von Matthäi im Stich gelassen, und dieser hat auch bedenkenlos mit seinem Leben gespielt als er anbot ihn den Mägendorfern auszuliefern. Er hat im Grunde keine Chance sich aus seiner Opferrolle zu befreien, da ihm nicht geglaubt wird, da er seine Vergangenheit und seine soziale Position nicht mehr verändern kann und wird somit als Unschuldiger verurteilt und zum Opfer. Sein Selbstmord kann als Machtverzicht188, aber eben aus Schwäche und nicht aus moralischen Gründen betrachtet werden. Er dient zur Darstellung eines ungerechten Polizeiapparats und verdeutlicht Matthäis rücksichtsloses Vorgehen. Andererseits weist er aber auch die alltägliche menschliche Schwäche, und somit die Tendenz zur Flucht, auf. Gygaxin der Panne ist im Grunde nicht völlig unschuldig, sein ungesunder Lebenswandel begünstigt seinen Herzinfarkt. Durch sein skrupelloses Verhalten, die Vernachlässigung seiner Ehefrau und den Betrug mit Traps Frau provoziert er geradezu dass ihm das gleiche wiederfahren könnte. Er hätte sich durchaus daraus befreien können, wenn er nicht als Mitmacher in der Geschäftswelt existiert hätte, sondern bewusster gelebt hätte. Auch Daphne in Justiz hätte sich nicht auf das Spiel der Repräsentanz von Monika Steiermann in der Öffentlichkeit einlassen müssen. Gewissermaßen kann sie mit Nehle verglichen werden, denn sie spielt eine Rolle und zieht ihre Vorteile daraus, bezahlt aber den Pakt mit der dämonischen Monika Steiermann letztlich mit dem Leben. Finanzielle 187 188 Ebd. S. 160. Vgl. Bauer, E.: Gerichtsthematik. S. 226. 75 Absicherung und ein guter Lebensstandard sowie gesellschaftliche Anerkennung waren ihr wohl wichtiger als moralische Integrität. Hier wird ihr Status als Mitmacher sehr deutlich. Dadurch dass Spät ihren Mördern ein Alibi verschafft erweist er sich letzten Endes als völlig ungeeignet um Gerechtigkeit zu verwirklichen. Benno ist zwar unschuldig, doch indem er sich umbringt, flieht er statt sich der Situation zu stellen. Seine Chancen nicht als Mörder Winters verurteilt zu werden sind zwar sehr gering, weil er ein geeignetes Motiv189 hätte, aber somit erweist er auch, dass er nicht an eine gerechte Justiz glauben kann. Und gerade dieser Charakteranteil des Fliehen Wollens macht ihn zum Opfer. Er hat nicht den Mut aufzubegehren und sieht sich ruiniert, noch bevor überhaupt ein Urteil gesprochen wurde. Letzten Endes wird er auch Opfer des à la bande Spiels von Dr. h. c. Isaak Kohler. Schuldige Opfer sind natürlich die Verbrecher Gastmann, Emmenberger, Tschanz und Schrott. Im Grunde ist ihre Ermordung die Strafe für ihr selbstherrliches Verhalten für die Freiheit die sie sich selbst zugestehen, und die notwendige Konsequenz ihres verbrecherischen Verhaltens. Auch Traps ist nicht völlig unschuldig, durch sein Mitmachen in der skrupellosen Geschäftswelt wird er zu einem geeigneten Opfer der Richter, letzten Endes ist er aber sein eigenes Opfer. „Der Selbstmörder Alfredo Traps ist bestenfalls ein verspielter Ödipus.“190 Somit werden seine Lächerlichkeit und seine Darstellung als Narr betont. Denn letzten Endes hat er sich freiwillig entschieden bei dem Spiel mitzumachen, und niemand hat ihn gezwungen sich umzubringen. Winter war ein Ehebrecher und Vergewaltiger. „ [D]er liebe selige Winter war Sand im Getriebe ein rückständiges Element[…]“191 zwar nicht gleichermaßen schuldig wie die großen Verbrecherfiguren Gastmann und Emmenberger, aber auch nicht völlig unschuldig. 189 Vgl. Dürrenmatt, F.: Justiz. S. 745. Holdheim, W.: Justizirrtum. S. 105. 191 Dürrenmatt, F.: Justiz. S. 636. 190 76 Dass Kohler nicht mehr zum Opfer wird, wie die großen Verbrecher Gastmann und Emmenberger, zeigt aber auch Dürrenmatts Konsequenz im Zuendedenken seines Stoffes, eben den Verbrecher nicht mehr zu bestrafen, weil es in dieser chaotischen Welt nicht mehr möglich ist jedes Verbrechen zu bestrafen und über jeden Verbrecher zu richten. Im Grunde wird bestenfalls von Gunten ein Opfer der Justiz. Dennoch geschieht diesen Figuren Unrecht, die wenigsten können sich dagegen wehren oder versuchen es überhaupt erst. Andererseits zeigen gerade die schuldigen Opfer, die wie Gastmann das Todesurteil demütig und mit Humor und Gelassenheit hinnehmen, die größtmögliche Kompetenz im Hinblick auf das Bestehen der Welt. Die Opferrollen sind notwendig um das Unrecht zu zeigen, das zwangsläufig geschieht. Aber gerade der verschwindende Wille sich aus dieser Rolle zu befreien, oder das sich selbst zum Opfer machen ist das eigentlich erschreckende an diesen Figuren, die doch einen großen Teil unseren Gesellschaft widerspiegeln. Viel zu oft wird ja nicht einmal der Versuch unternommen sich zu befreien, zu leicht wird diese Rolle letzten Endes angenommen. 77 5. Zusammenfassung - Fazit In der Beschäftigung mit Dürrenmatts Kriminalromanen wurde deutlich, dass auch dramaturgische Motive eine entscheidende Rolle spielen, und somit diese Romane mehr als nur Unterhaltungsliteratur sind. Die Figuren stehen im Zentrum; mit ihrer Widersprüchlichkeit und Mehrdeutigkeit. Sie lassen sich, genau wie Dürrenmatt selbst, nicht festlegen. Sehr deutlich wurde auch, dass die eigentlichen Gesetzeshüter eine dämonische Seite aufweisen und Verbrecher teilweise doch eine Vorbildfunktion haben können. Die Figuren entwickeln sich, sind mutige Menschen, Narren und Experimentatoren gleichermaßen. Sie sind so verschieden, wie ihre Vorstellungen von Gerechtigkeit. Und auch diesbezüglich ist eine Einordnung nicht ganz leicht, nicht jeder der den Individualismus betont verhält sich ungerecht, und nicht alle die im Rahmen einer Gemeinschaft agieren tun dies moralisch gerecht. Letzten Endes ist deutlich geworden, dass sich Gerechtigkeit, vor allem in einer absoluten Form nicht mehr verwirklichen lässt. Man findet sie nur, wenn man den Menschen seiner Freiheit völlig beraubt, also beispielsweise im Gefängnis, oder im geschützten Rahmen eines Waisenhauses. Der Mensch selbst ist aufgrund seiner Schwäche, aufgrund seines Mensch – Seins, nicht in der Lage diese Gerechtigkeit zu verwirklichen. Auf die Frage wie man in einer derart chaotischen, labyrinthischen, ungerechten Welt leben kann, gibt Dürrenmatt keine klare Antwort. Ziel sollte es für jeden Einzelnen sein, nicht zu verzweifeln, das Seine für eine bessere Gesellschaft zu tun, aber sich dabei selbst nicht zu wichtig nehmen und sich auch immer den Humor und die nötige Gelassenheit im Angesicht des Scheiterns zu bewahren. Dies mag unmöglich klingen, es ist jedenfalls eine enorme Herausforderung, der sich jeder stellen sollte. Denn nur wenn jeder Einzelne versucht die Gesellschaft zu verbessern, kann sich auch der Grundzustand der Welt zum besseren und gerechteren verändern. 78 Literaturverzeichnis: Primärliteratur: Dürrenmatt, Friedrich: Der Richter und sein Henker. Ein Kriminalroman. (1950) In: Gesammelte Werke, Band 4. Romane. Zürich: Diogenes, 1991. S. 9 – 117. Dürrenmatt, Friedrich: Der Verdacht. Ein Kriminalroman. (1951) In: Gesammelte Werke 4. Romane. Zürich: Diogenes, 1991. S. 119 – 265. S. 155. Dürrenmatt , Friedrich: Die Panne. Eine noch mögliche Geschichte. (1955) In: Gesammelte Werke 5. Erzählungen. Zürich: Diogenes, 1991, S. 267 – 326. 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