Die Fingerhütin ruft
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Die Fingerhütin ruft
Ein fantastischer Krimi um zwei Freunde, die von dunklen Zeiten eingeholt werden S ommerferien ohne Erziehungsberechtigte in einem hübschen mittelalterlichen Städtchen könnten eine feine Sache sein. Sommerferien mit ganztägigem Mathematik-Intensivkurs besitzen nicht ganz so viel Charme. Dieser Meinung sind jedenfalls Lennart und Katja, die sich beide zu ihrem Verdruss in »Ingos Ferieninstitut« in Rottlingen wiederfinden, weil ihre Eltern sich – selbstverständlich übertriebene! – Sorgen um die schulischen Leistungen ihrer Sprösslinge machen. Da jedoch Lennart und Katja Figuren aus der Feder und Vorstellung Dietlof Reiches sind, brauchen sie sich vor einem Übermaß an Dreisatz und Langeweile nicht zu fürchten – eher vor anderen Dingen. Wie schon in Reiches Kinderromanen Geisterschiff und Keltenfeuer greift auch in der Hexenakte die Vergangenheit heftig und folgenreich auf die Gegenwart über. Katja lernt in ihrem Hotel, der »Sonne«, die Schriftstellerin Jenny Peper kennen, die das Mädchen einen Blick auf eine verstörende Recherchefrucht werfen lässt: Im Stadtarchiv hat die Autorin durch Zufall das Protokoll eines grausamen Hexenprozesses aus dem 16. Jahrhundert aufgestöbert. Lennart seinerseits wohnt für die Ferien bei Onkel und Tante, die gleich neben der »Sonne« das Restaurant »Hexenstube« betreiben. Der Name des Lokals soll an eine Ahnfrau der Familie erinnern, die als Hexe verbrannt wurde – schnell ist den beiden Mathematikstudenten wider Willen klar, dass es sich bei ihr um das Opfer des Prozesses handeln muss. Damit ist Lennarts Interesse an der Geschichte seiner Vorfahrin geweckt. Ein Interesse, das sich freilich nicht stillen lässt: Denn die eben noch so auskunftsfreudige Frau Peper klappt plötzlich zu wie eine Auster, will die Hexenakte nie gesehen haben und jagt die Kinder davon. Schon diese seltsame Reaktion würde bei intelligenten, neugierigen Zwölfjährigen den Detektivinstinkt wecken. Doch bald geht es nicht mehr nur um etwas spannende Ablenkung vom Nachhilfeunterricht, sondern um einen Auftrag aus dem Jenseits: Die »Fingerhütin«, die in Rottlingen das Opfer von Neid, Intrige, Willkür und unvorstellbarer Grausamkeit geworden ist, wendet sich an die Nachgeborenen und fordert Gerechtigkeit. Das wäre erschreckend genug (ein Einwand könnte lauten, dass die Kinder diese Manifestationen des Übernatürlichen mit einer unwahrscheinlichen Gelassenheit hinnehmen), doch es bleibt nicht bei Gefahren für die Psyche: Je mehr Katja und Lennart sich einmischen, je dringender sie versuchen, die wahre Geschichte der unschuldig Ermordeten ans Licht zu bringen, desto mehr verstricken sie sich in Rottlinger Machenschaften, die ganz und gar nicht historisch und ganz und gar nicht idyllisch sind. Aus der Geschichte gibt es kein Entkommen, lautet Reiches Botschaft. Zugleich ist das Wissen um die Vergangenheit eine gefährliche Sache, denn wenn man sie kennt, muss man sich zu ihr verhalten und kann Unrecht nicht auf sich beruhen lassen. Dass Reiche im Vorwort auf die echte Schreibschriftakte seiner eigenen Urahnin Anna Glauning aus Nördlingen verweist, die ihn zu dem Roman inspiriert habe, macht die Auseinandersetzung mit dem unerträglichen historischen Abschnitt der Hexenverfolgungen nicht allein für jugendliche Leser umso eindringlicher. Hanser Verlag, München 2007; 352 S., 17,90 € [D] (ab 12 Jahren)