Berliner Szenen

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Berliner Szenen
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TAZ.DI E TAGESZEITU NG
Berlin Kultur
FREITAG, 3. JU N I 2016
Sammeltaxi für eine Oper
VERWEIS
Shelly und all
ihre Poeten
Heute Abend soll man in die alte
Akademie der Künste im Hanseatenweg gehen und Lyrik hören. Das
Poesiefestival beginnt und wird ab
19 Uhr mit der „Nacht der Poesie“
eröffnet. Charles Simic schaut
vorbei, den sollte man ja sowieso
ständig hören. Caroline Bergvall
macht, wenn wir die Ankündigung
richtig verstanden haben, Cut-up
mit Marcel Proust und Unica Zürn.
Douleymane Diamanka verschmilzt
orale Traditionen aus der Sahelzone mit moderner französischer
Ästhetik. Uljana Wolf und Gerhard
Falkner stellen neue Texte vor. Und
vieles mehr. Klingt echt gut, das
Programm. Shelly Kupferberg moderiert. Außerdem erscheint extra
für diesen Abend eine Anthologie
mit den deutschen Fassungen der
Texte zum Nachlesen.
BERLI N ER SZEN EN
DI E POLIZEI
Autoritär vulgär
„Mit diesem Schrottfahrrad
können Sie nicht weiterfahren“,
sagt mir der Polizist, der Fahrräder am Eingang des Gleisdreieck
kontrolliert. Zählt „Schrottfahrrad“ als Beleidigung? Oder gar
Diskriminierung?
Ich fühle mich jedenfalls beleidigt, als er mir das sagt. Um
Zeit zu gewinnen, mache ich ein
„Verstehe-ich-nicht“-Gesicht.
„Sie können mit diesem
Schrottfahrrad nicht weiterfahren!“, schreit er mich jetzt an.
„Das ist kein Schrott!“, schreie
ich zurück, denn strategisch zu
denken geht jetzt nicht mehr.
Der Polizist ist jung. Seine
Uniform steht ihm gut. Ich kann
in seinen Augen sehen, dass es
ihm Spaß macht, diesen autoritären Ton vor seinen älteren
KollegInnen zu verwenden. Er
strahlt.
„Das ist kein Schrott!“, wiederhole ich.
Er hält still. Ich bin g
­ espannt
darauf, was jetzt kommt.
„Wissen Sie, manche Leute
machen aus Scheiße Bonbons“,
Sie können mit diesem Schrottfahrrad
nicht weiterfahren!
sagt er und guckt dabei triumphierend eine Kollegin an.
„Und manche sind fantasielos
und vulgär“, antworte ich.
Ich habe nur – genauso wie
er – „manche Leute“ gesagt, also
habe ich niemanden beleidigt.
Und er hat angefangen.
Er sagt aber eine Weile nichts.
Das Wetter ist schön, man
hört spielende Kinder und Musik aus dem Park. Eigentlich
könnten wir uns – er und ich –
darüber freuen. Doch sein Status und meine Vorurteile gegenüber Beamten erlauben uns das
nicht.
Der Polizist meint, ich solle
endlich weitergehen und das
Schrottfahrrad schieben. Sollte
ich auf die Idee kommen, nach
einigen Metern wieder aufzusteigen, würde ich von ihm eine
fette Anzeige kriegen. (Mit Autogramm?)
„Trotzdem schönen Tag“, sagt
er. Zu spät! Ich hatte gerade akzeptiert, dass eine menschliche
Ebene zwischen uns nicht möglich ist. Ich grüße nicht zurück.
LUCIANA FERRANDO
MUSIKAUSTAUSCH Heute Belgrad, demnächst Istanbul: Die Komische Oper schickt einen Bus längs der
ehemaligen Gastarbeiter-Route und lässt dabei von Fern- und Heimweh singen und erzählen
VON ANNIKA GLUNZ
„Su gibi gidin, su gibi gelin“ –
Wasser, das fließt, bahnt sich
immer irgendwie einen Weg
zum Ziel. Im Sinne dieser frei
übersetzten türkischen Redewendung wurde am vergangenen Wochenende der „Operndolmus“ der Komischen Oper
traditionsgemäß mit einer ordentlichen Ladung Wasser verabschiedet.
Der Tourbus, der seinen Namen aus der türkischen Bezeichnung für Sammeltaxis bezieht,
macht heute in Belgrad Station – beladen mit fünf OperndarstellerInnen, Instrumenten
und Bühnenequipment. Er ist
auf dem Weg entlang der ehemaligen Gastarbeiterroute, wird
noch in Sofia halten, bis er am
7. Juni in Istanbul ankommt.
Die Route beschreibt die Strecke, auf der diverse aus der Türkei stammende Familien, die
als „Gastarbeiter“ in verschiedenen Ländern Nordwesteuropas beschäftigt waren, sich von
Anfang der 70er bis zum Anfang
der 90er Jahre in den Ferien auf
den Weg in die Heimat machten.
Die komplette Opernaufführung, die mit allem Drum und
Dran an jeder Station aus dem
Bus gezaubert wird, feierte vor
ihrem Reiseantritt erst einmal
im Kreuzberg-FriedrichshainMuseum ihre Premiere. Thema
des türkischsprachigen Musikdramas ist die Hin- und Hergerissenheit zwischen Fern- und
Heimweh und die Frage nach
dem „Wo bin ich zu Hause?“. Dieses Thema wird auf sehr temperamentvolle und lebendige Art
und Weise von Johannes Dunz
(Tenor) und Julia Domke (Sopran) aufgegriffen, deren Gesang
von einer Violine, einem Kontrabass und einem Bajan begleitet werden.
Der Operndolmus wurde nach türkischem Brauch mit einer großen Ladung Wasser verabschiedet Foto: Lia Darjes
Häufig verlassen sie
die Bühne, um das
Publikum aktiv in
das Geschehen mit
einzubeziehen
Die Besetzung ist auf ein Minimum reduziert, die Stücke, die
gespielt werden, sind allesamt
aus großen Opern entnommen
und für wenige Instrumente
umgeschrieben. Diese Reduktion tat dem Ganzen jedoch keinen Abbruch, eher im Gegenteil:
Juri Tarasenók ist so sehr eins
mit seinem Bajan, dass man den
Eindruck hat, es würden gleich
mehrere Instrumente auf einmal gespielt, Arnulf Balhorn
gibt auf dem Kontrabass auch
gern zwischendurch Trommel­
einlagen, und Andreas Bräuti-
gam fidelt sich lachend mit seiner Violine durch die Aufs und
Abs der Stimmungen, während
Julia Domke und Johannes Dunz
gesanglich und schauspielerisch
einwandfrei strahlend über die
Bühne wirbeln.
Die Idee des „Operndolmus“
ist nicht neu – der Bus ist schon
seit der Spielzeit 2012/13 unterwegs. Allerdings trat das Ensemble bisher nur in Berliner Kiezen
auf, in denen viele Menschen
aus verschiedenen Kulturkreisen leben.
Man merkt deutlich, dass den
DarstellerInnen herzlich wenig
an einer frontalen Bühnensituation gelegen ist: Häufig verlassen sie die Bühne, um das Publikum aktiv in das Geschehen
mit einzubeziehen. Die Freude,
die das Ensemble auf der Bühne
ausstrahlte und die ohnehin
schon ansteckende Wirkung auf
Unversehens
politisch: Os Mutantes
aus São Paulo und ihr
Psychedelic-Rock im
Club Marie Antoinette
Geschichte wiederholt sich vielleicht doch. Vor etwas über 50
Jahren gab es in Brasilien einen
Militärputsch, der auch enormen Einfluss auf das kulturelle
Leben des Landes hatte. Stars
der Tropicália-Bewegung wie
Caetano Veloso und Gilberto
Gil galten plötzlich als Dissidenten und mussten letztendlich das Land verlassen. Auch
die wohl eigenwilligste Band in
diesen auch für Brasilien ziemlich aufregenden späten Sechzigern, Os Mutantes aus São Paulo,
gehörten nun zu den erklärten
Gegnern der Militärregierung,
die sich an die Macht geputscht
hatte.
Aktuell geht es in Brasilien
erneut drunter und drüber. Die
bis vor Kurzem noch regierende
Präsidentin Dilma Rousseff, eine
Linke, hat sich in undurchsichtige Bestechungsskandale verwickelt und ihr Amt hat nun der
als Übergangspräsident gehandelte Michel Temer inne, der als
politisch konservativ gilt. Schon
reden viele in Brasilien von einem erneuten Putsch.
1968 veröffentlichten Os Mutantes ihr gleichnamiges Debüt,
das bestimmt zu den fünf feins-
ten Psychedelic-Rock-Platten aller Zeiten zu zählen ist. Seitdem
sind sie nicht dieselben geblieben. Von der Originalbesetzung
ist nurmehr Sänger Sérgio Dias
Baptista übrig geblieben. Aber
die Band weiß immer noch, was
sie ihrem Ruf schuldig ist.
Im ausverkauften Club Marie
Antoinette spielt die Band ein
wildes Set, und die vielen Brasilianer im Publikum werden
andauernd aufgefordert, die
verteilten Papierschilder hoch-
Ihr Debüt von 1968
zählt bestimmt zu
den fünf feinsten
Psychedelic-RockPlatten aller Zeiten
zuhalten: Auf denen wird der
brasilianische Interimspräsident unmissverständlich aufgefordert, doch bitte einfach wieder abzuhauen. So schwappte
auf einem kleinen Rockkonzert
unerwartet ganz schön viel von
den aktuellen Verhältnissen in
Brasilien nach Berlin.
Auf rein musikalischer Ebene
konnte die Band die vollendete
Schönheit ihrer frühen Alben,
vor allem ihres Debüts, natürlich live nicht adäquat vermitteln. Vielleicht war das angesichts der politischen Bedeutung des Konzerts aber auch gar
Belgien verabredet an einer
ganz bestimmten Tankstelle in
Süddeutschland. Da es damals ja
aber noch keine Handys gab, waren wir darauf angewiesen, dass
uns jeweils unterwegs nichts dazwischenkam. Und so haben wir
dann manchmal drei, vier Stunden lang an der Tankstelle aufeinander gewartet.“
Im Laufe des Abends wurde
immer deutlicher, dass große
Teile des Publikums ebenfalls
auf längere Erfahrungen mit der
Gastarbeiterroute zurückblickten, sodass immer mehr Geschichten zutage kamen und ein
freudiger, herzlicher Austausch
innerhalb des Publikums entstehen konnte.
„Su gibi gidin, su gibi gelin“ –
wer so viel Freude bei der Aufführung von Opern an den Tag
legt, der wird sich mit Sicherheit
einen Weg bahnen.
LOKALPRÄRI E
Bitte die Schilder hoch
BRASILIEN
das Publikum hatte, verstärkte
sich so noch, und alle fünf DarstellerInnen bewiesen große
Spontaneität und Improvisationstalent, als es darum ging,
auch unerwartete Reak­tio­nen
des Publikums mit in das Bühnengeschehen einfließen zu lassen.
Fester Teil des Programms ist
der Einbezug von Zeitzeugen.
Nach dem Ende der Aufführung
berichtete ein Teilnehmer, dessen Eltern als Gastarbeiter nach
Deutschland gekommen waren,
von seinen Erfahrungen auf der
Gastarbeiterroute: „Ich bin in
Neukölln aufgewachsen und da
das ganze Jahr über nicht rausgekommen. Bis auf einmal pro
Jahr, wo wir dann aber für eine
Strecke auch gleich drei Tage
lang unterwegs waren. Wir haben uns dann immer mit anderen Familien aus Holland oder
nicht so wichtig. Dass die meisterlichen Songs von „Os Mutantes“ live recht rumpelig klingen,
liegt jedoch auch daran, dass die
Platte, ähnlich wie „Sgt. Pepper“
von den Beatles, eine formvollendete Studio-Trick-Platte ist,
voller Effekte, genial in Szene gesetzt von Brasiliens George Martin, von Rogério Duprat. Ohne
dessen Zauberkünste klingen Os
Mutantes zwangsläufig verhältnismäßig wenig elegant.
Mit Samba und Bossa Nova
hatte die Band schon damals
noch weniger am Hut als die
anderen Künstler der Tropicália, aber nun scheinen auch die
letzten Spuren brasilianischer
Volksmusik getilgt worden zu
sein. Os Mutantes spielen ein
reines Rockkonzert, mit sehr
viel Fuzz auf der Gitarre, mit
Anleihen an die gute alte angloamerikanische Psychedelic und
natürlich mit Referenzen an die
Beatles und Jimi Hendrix, schon
damals die wichtigsten Impulsgeber für Os Mutantes.
„Foxy Lady“ von Jimi Hendrix
wird kurz zitiert und „Eleanor
Rigby“ von den Beatles als Coverversion im Stile einer Punkband als Zugabe vorgetragen.
Vielleicht ist das ja auch wieder vor allem eine politische
Geste. Punk als Sound der Revolte und des Widerstands anzubieten, und dazu bitte nochmals alle im Publikum die Schilder in die Höhe: „Temer, hau ab!“
ANDREAS HARTMANN
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