1 Die Beurteilung des Suizids im Wandel der Geschichte Dietrich v
Transcrição
1 Die Beurteilung des Suizids im Wandel der Geschichte Dietrich v
1 Die Beurteilung des Suizids im Wandel der Geschichte Dietrich v. Engelhardt (Lübeck) I. Vorbemerkung Das Thema "Suizid" ist keineswegs nur von aktueller Bedeutung, sondern durchzieht die gesamte Menschheitsgeschichte, wurde immer wieder aufgegriffen und löste in den vergangenen Jahrhunderten überaus unterschiedliche Reaktionen und Beurteilungen aus. Bereits in der Terminologie zeigt sich ein großes Spektrum: Selbstmord, Selbsttötung, Selbstvernichtung, Freitod, Suizid betonen jeweils spezifische Aspekte und stellen bereits abweichende Bewertungen dar, beziehen sich in ihrer Entstehung auch auf unterschiedliche Epochen. Über den Suizid, seine Voraussetzungen und Formen, seine Legitimationen und Interpretationen kann nicht im Rahmen einer Disziplin entschieden werden. Auch im historischen Verlauf ist die Selbsttötung zum Gegenstand verschiedener Wissenschaften gemacht worden: der Theologie, Jurisprudenz und Medizin, der Philosophie und Psychologie, der Kultur- und Sozialgeschichte. Ebenso haben Künste und Literatur den Suizid wiederholt zu ihrem Thema gewählt. Aus der Geschichte sind zahlreiche reale Beispiele überliefert, denen eine noch größere Anzahl namenloser Schicksale von Menschen, die ihr Leben aktiv beendet haben, zur Seite gestellt werden können. Erinnert seien aus der Literatur und Realität der Antike an Aias, Sokrates, Cato und Seneca, aber auch an die Frauen Deianeira, Phaedra, Iokaste, Dido, Lucretia, Kleopatra und Porcia. Sokrates und Seneca werden zu großen Vorbildern eines "philosophischen" Freitodes bis in die Gegenwart. Deianeira tötet sich aus Trauer, ihren Gemahl Herakles unwissentlich mit dem vergifteten Nessushemd den Tod gebracht zu haben; Phaedra erhängt sich, um ihre Ehre in der unerwiderten Liebe zu ihrem Stiefsohn Hippolytos zu retten; Iokaste beendet ihr Leben, nachdem sie 2 erfahren hat, daß sie mit Ödipus ihren eigenen Sohn geheiratet hat, der ebenso unwissentlich seinen Vater Laios erschlagen hat; Dido gibt sich den Tod aus Kummer, von Aeneas verlassen worden zu sein; Lucretia tötet sich nach der Vergewaltigung durch den römischen Königssohn Sextus Tarquinius; Porcia, die Frau des Brutus, der selbst im Jahre 42 v. Chr. Suizid begeht, bringt sich aus krankhafter oder psychotischer Verzweiflung um, wofür der autoaggressive Modus Verschlucken glühender Kohlen - spricht. Das Mittelalter kann trotz theologischer Verurteilung den Selbstmord nicht verhindern. Bewegend sind aus dem Alten Testament die Selbsttötungen von Simson und Saul. Im Neuen Testament erhängt sich Judas nach seinem verräterischen Kuß an Christus. In der Bibel wird nur von Männern berichtet, die sich umbringen, von Frauen werden Absichten und Versuche überliefert, die allerdings nicht zur Ausführung kommen. Charakteristisch für die Einstellung des Mittelalters zum Suizid ist Dantes Divina Commedia (1306-21), die im siebten Kreis der Hölle die Selbstmörder der Vergangenheit und Gegenwart versammelt. Vom Judentum, Islam und Hinduismus wird der Suizid ebenfalls verurteilt. Indische Witwenverbrennungen weisen auf Ausnahmen einer positiven Einschätzung des Selbstmords hin. Mehrfach kommt es zu Massenselbstmorden von Juden und Ketzern im Mittelalter. Berühmt und zugleich von der modernen Forschung für fraglich gehalten ist der kollektive Selbstmord von 960 Juden nach dem gescheiterten Widerstand gegen die Römer in der Bergfeste von Masada am 15. April 73 n.Chr., zu dem ihr Anführer Eleazar Ben Jair sie in seiner Abschiedsrede aufgefordert hat: "Wir haben die für morgen bevorstehende Einnahme der Festung offen vor Augen; frei aber bleibt uns die Wahl eines edlen Todes gemeinsam mit unseren liebsten Menschen" (Flavius Josephus, Der jüdische Krieg, 79-81 n.Chr.). Reich ist die Neuzeit an entsprechenden Dokumenten aus dem realen Leben und der Welt der Literatur: Shakespeares Ophelia, die an ihrer Liebe zu Hamlet (1600) verzweifelt; Romeos und Julias Doppelselbstmord (1595). Goethes Werther (1774), dessen Selbsttötung vielleicht weniger in der Zahl als in der Begehungsart zur Nachahmung anregt, auch wenn Madame de Staël in damaliger Zeit überzeugt ist: "Werther hat mehr Selbstmorde verursacht als die schönste Frau der Welt." Ottiliens Selbstmord in Goethes Wahlverwandtschaften (1809) durch Verzicht auf Nahrung 3 und Gespräch. Die zur Abschreckung verfaßten Biographien der Selbstmörder (1795/96) des Schriftstellers Christian Heinrich Spieß im Geist der Aufklärung. Heinrich von Kleist und seine Freundin Adolfine Vogel, die am 21. November 1811, zerbrochen am Zwiespalt zwischen alltäglicher Realität und den Idealen der Schönheit und Sittlichkeit, gemeinsam aus dem Leben scheiden. Die Dichterin Karoline von Günderode, die sich am 26.7.1806 mit einem Dolch am Ufer des Rheins aus unglücklicher Liebe ersticht. Der Selbstmord des Empedokles in literarischphilosophischer Deutung bei Hölderlin. Die vielen Frauen der realistische Literatur des 19. Jahrhunderts, die ihrem Leben ein Ende setzen: Anna Karenina (1873-76) bei Tolstoj, Effi Briest (1895) bei Fontane, Emma Bovary (1857) bei Flaubert. Der Freitod von Kirillov in Dostoevskijs Die Dämonen (1871/72) als einer Art von Gottesbeweis: "wenn es Gott gibt, so ist aller Wille sein und ohne seinen Willen kann ich nichts tun, wenn es ihn aber nicht gibt, so ist aller Wille mein und ich bin verpflichtet, eigenmächigen Willen zu beweisen", was für Kirillov das Leben selbst beenden heißt. Die Schriftsteller Montherlant und Hemingway bringen sich um, da sie mit dem Verlust ihrer Männlichkeit und literarischen Vitalität keinen Sinn mehr in ihrem Leben zu erkennen vermögen Die Schriftstellerinnen Virginia Woolf und Sylvia Plath begehen aus psychotischem oder neurotischem Leiden Selbstmord. Zu vielen bekannten und unbekannten Suiziden kommt es von verfolgten und gequälten Juden im Dritten Reich. Zahlreiche Selbsttötungen finden immer wieder in Kriegen und im Gefängnis statt. Der japanische Harakiri-Suizid dient als Beweis der Ehre. Wiederholt begehen Sektenanhänger kollektive Selbstmorde, die ebensowenig der Idee des "philosophischen" Freitodes entsprechen wie wohl auch nicht der Suizid von Jean Améry, der in seiner Studie Hand an sich legen - Diskurs über den Freitod (1976) weit beachtet für diese Möglichkeit und ihre Berechtigung plädiert hat. Aus diesen wenigen Beispielen wird die allgemeine oder genuin menschliche Natur des Selbstmordes offenbar, ganz unabhängig von seiner quantitativen Verbreitung und wertenden Beurteilung. Von Selbstmord kann im Tierreich nicht oder nur bedingt gesprochen werden; bei den verschiedenen Formen der Selbsttötung als Angriff oder Verteidigung, im Kontext der Fortpflanzung oder zum Erhalt des Stammes oder der 4 Gruppe fehlen bei den Tieren bewußte Intentionalität und Todesbewußtsein mit entsprechendem sprachlichen Ausdruck. Im folgenden Beitrag sollen wesentliche Konzepte und vor allem Bewertungen des Selbstmordes von der Antike bis in die Gegenwart vorgetragen werden. Auf empirische Berichte und statistische Daten soll ebenso nur am Rande eingegangen werden wie auf vergangene Ansätze der Prävention, Therapie und Rehabilitation. Hingewiesen sei aber auf die von der Forschung beobachteten Tatsachen, daß in islamischen, buddhistischen und hinduistischen Ländern die Selbstmordrate ungleich niedriger als in den europäisch-christlichen Ländern liegt, in diesen wiederum niedriger in den katholischen als in den protestantischen Länder und daß im übrigen erhebliche Unterschiede in der Suizidrate zwischen den Geschlechtern, Altersstufen, Jahreszeiten, historischen Epochen, Berufen und sozialen Schichten bestehen. In Motivation und Legitimation, im Grad der Freiheit oder Unfreiheit, in der Begehungsart wie in den sozialen Reaktionen zeigt sich in der Geschichte wie in der Gegenwart ein großes Spektrum an Fragen. Theologie, Medizin und Jurisprudenz wie Philosophie, Psychologie und Soziologie haben ihre jeweils spezifische Perspektive, aus der sie ihre Antworten auf jene Fragen geben. Daß der Selbstmord im historischen Verlauf und auch heute mit heftigen Auseinandersetzungen verbunden ist, läßt sich aus der Radikalität und Unwiderruflichkeit dieses Aktes unmittelbar einsehen. Der "erfolgreiche" Selbstmord kann nicht wiederholt oder verhindert werden. II. Antike Die Vielfalt abweichender Beurteilungen oder Bewertungen des Suizids manifestiert sich schon in der Antike und prägt bereits den ältesten Text der Menschheitsgeschichte über den Selbstmord, der sich in einem ägyptischen Papyrus über den Dialog zwischen einem Misanthropen und seiner Seele aus der Ersten Zwischenzeit (2280-2000 v.Chr.) findet. Pythagoras, Plato und Aristoteles wenden sich gegen die Selbsttötung, vor allem ohne "Erlaubnis der Götter" oder "Beschluß der Polis" und plädieren für eine harte 5 Bestrafung dieser in ihren Augen feigen und ehrlosen Tat. Der Leiche kann in der Antike eine Hand abgeschlagen werden, die dann für sich verscharrt wird. Auf Ablehnung stoßen bestimmte Suizidarten, so das Erhängen, die in heutiger Zeit häufigste Form des Suizids, weil auf diese Weise der Seele das Entweichen aus dem Munde erschwert wird. Auf der Insel Keos soll es eine verbreitete Sitte der alten und als - in sozialer oder eigener Einschätzung - "unnütz" geltenden Menschen gewesen sein, sich allein oder vielleicht sogar gruppenweise von einem Felsen ins Meer zu stürzen. Wer ohne staatlichen Richtspruch, qualvolles Unglück oder ausweglose Schmach sich vielmehr "aus Schlaffheit und unmännlicher Feigheit" umbringt, soll nach Plato "an unbebauten und namenlosen Plätzen ruhmlos" bestattet werden (Gesetze, ca. 347 v.Chr. IX, 873c-d). Der Selbstmord verstößt nach Aristoteles vor allem gegen die Gemeinschaft, aber auch gegen das Individuum (Nikomachische Ethik, 335-323 v. Chr.). Stimmt der Staat der Bitte um Selbstmord zu, gilt die Handlung aber als ehrenwert; wer sich umbringen möchte, muß seine Gründe vortragen, über die dann von den Behörden entschieden wird. Anders urteilen die Anhänger der stoischen und epikureischen Philosophie, die dem Menschen die Freiheit einräumen, sein Leben aktiv zu beenden - allerdings, was besonders von den Stoikern betont wird, nur unter bestimmten Voraussetzungen, die sich vor allem auf den Verlust des freien und vernünftigen Bewußtseins beziehen, wozu auch Krankheiten und Schmerzen führen können. "Nichts Besseres hat das ewige Gesetz geleistet, als daß es uns einen einzigen Eingang in das Leben gegeben, Ausgänge aber viele. Ich soll warten auf einer Krankheit Grausamkeit oder eines Menschen, obwohl ich in der Lage bin, mitten durch die Qualen ins Freie zu gehen und Widerwärtiges beiseite zu stoßen? Das ist das einzige, weswegen wir über das Leben nicht klagen können: niemanden hält es", heißt es bei Seneca (Moralische Briefe an Lucilius, 62-65 n.Chr.). Nach Plinius ist der Selbstmord nur dem Menschen, nicht aber der Gottheit möglich: "denn sie kann sich nicht selbst den Tod geben, selbst wenn sie es möchte, was sie den Menschen als bestes Geschenk in den so großen Mühen seines Lebens verliehen hat" (Naturkunde, 77 n. Chr.). Der Kaiser Marc Aurel hält den Selbstmord für gerechtfertigt, wenn dem Menschen der geistige Selbstvollzug nicht mehr möglich ist; in "Ruhe und Heiterkeit" solle man das 6 Leben von sich werfen, "ohne sich einzubilden, etwas Schlimmes zu erleiden" (Selbstbetrachtungen, 170ff n.Chr.). Der Philosoph Plotin gestattet den Selbstmord bei unerträglichen Schmerzen und beginnendem Wahnsinn (Enneades, 253-269 n.Chr.). Die Schule der Kyniker kann in der Selbsttötung sogar den höchsten Akt der Freiheit oder ein hohes Zeichen der Tugend erkennen. Der mögliche Zusammenhang von Selbstmord und Krankheit ist ein durchgehendes Thema der Geschichte und wird bereits in der Antike vertreten. Im Corpus Hippocraticum wird Epilepsie als Ursache des Suizids - mehr bei Frauen als Männern - angeführt. Ehelosigkeit soll ebenfalls über somatische Folgeerscheinungen - Erkrankungen des Blutes – zu Suizidversuchen führen; die entsprechende Prävention legt sich nahe: "wenn sie schwanger werden, genesen sie" (Die Krankheiten von den Jungfrauen). Auch der Mediziner Galen zählt zu den möglichen Ursachen des Selbstmordes eine "widernatürliche Aufwallung" der Körpersäfte. Unter der Bezeichnung "Euthanasie" wird in der Antike aber die Kunst des Sterbens verstanden mit dem Ziel eines glücklichen und ehrenwerten Todes ("mors felix et honesta"), nicht aber der Selbstmord oder die Tötung durch den Arzt. Eine Beihilfe des Arztes beim Selbstmord ("physician assisted suicide") bei infauster Prognose oder tödlicher Erkrankung ist aus der Antike nicht überliefert, wohl aber bei politisch Verfolgten - so bei Seneca, dem sein Arztfreund Statius Annaeus im Jahre 65 n. Chr. diese Unterstützung gewährt. Das staatliche Interesse am Selbstmord zeigt sich an den juristischen Reaktionen, die aus verschiedenen Ländern überliefert sind. Wer als Soldat den Suizid überlebt, kann im römischen Reich, wenn nicht körperliche oder seelische Erkrankung vorliegen, mit dem Tode bestraft werden. Individuelle Tugend und Staatswohl können in einen Konflikt geraten. Die ersten strengen Sanktionen des Staates werden von dem römischen Kaiser Hadrian im 2. Jahrhundert n. Chr. erlassen; selbst Sklaven, die den Selbstmord ihres Herrn nicht zu verhindern versuchen, werden mit dem Tode bestraft. Hadrians Arzt, den der Kaiser um Beihilfe bei seiner geplanten Selbsttötung gebeten hat, kann diesem Schicksal nur mit seiner eigenen Selbsttötung zuvorkommen. "Diese reine Seele, die kein Zugeständnis kannte, hatte 7 es fertiggebracht, ihrem Eid treu zu bleiben, ohne mir etwas zu versagen" (Yourcenar, Mémoires d'Hadrien, 1951). III. Mittelalter Im christlichen Mittelalter wird der Selbstmord - wie auch der Schwangerschaftsabbruch oder genauer die Tötung des Ungeborenen - abgelehnt. In der Bibel findet sich allerdings eine klare Verurteilung des Suizides nicht. Der altruistische Selbstmord, die eigene Tötung, um das Volk zu retten (Simson), und der Selbstmord als Beweis der Gläubigkeit (Märtyrer) werden sogar positiv eingeschätzt. Zu Beginn des Mittelalters sind die Standpunkte allerdings noch nicht einheitlich, der Tod Christi kann sogar - so bei den Kirchenvätern Tertullian und Origenes - als eine Art Selbstmord angesehen werden. Zunehmend etabliert sich aber die theologische Verurteilung des Selbstmordes. Der Mensch soll im Prinzip als ein Geschöpf Gottes sein Leben nicht eigenmächtig beenden dürfen. Der Mensch besitzt ein Nutzungs-, nicht aber ein Verfügungsrecht über seinen Leib; seine Gottebenbildlichkeit soll den Menschen vor dem Staat, vor den Mitmenschen und auch vor sich selbst schützen. Augustinus bezieht das 5. Gebot ausdrücklich auch auf den Suizid: "Denn wer sich selbst tötet, tötet auch einen Menschen." Auch eine drohende oder geschehene Vergewaltigung durch Selbstmord vermeiden oder sühnen zu wollen, kann nach dem Kirchenvater nicht anerkannt werden, "da die Heiligkeit des Leibes auch bei seiner Vergewaltigung nicht verlorengeht, wenn die Heiligkeit des Geistes bewahrt bleibt" (Vom Gottesstaat, 413-27 n.Chr., 1. Buch, Kap. 20 und 18). Wenn Augustinus in diesem Zusammenhang von "Irrgeistern", die den "eigenen Leib töten", oder die "wider sich selber wüten und toben" in diesem Zusammenhang spricht, wird im Geist der Zeit der Blick auf psychopathologische Voraussetzungen gerichtet. Im 6. und 7. Jahrhundert kommt es zu verschiedenen verurteilenden Konzilsbeschlüssen des Selbstmordes durch die Kirche. Das Zivilrecht folgt über lange Zeit diesen theologischen Entscheidungen; das Eigentum des Selbstmörders wird konfisziert, an seinem Leichnam werden physische Strafen vollzogen. In Frankreich steht das unter Ludwig XIV. im Jahre 1670 erschienene Strafrecht noch in dieser Tradition, die erst von der Französischen Revolution von 1789 aufgegeben 8 wird. In Preußen wird die Bestrafung des Selbstmörders bereits 1751 durch Friedrich II. aufgehoben, wozu es in vielen Ländern Europas erst im 19. und 20. Jahrhundert kommt (England 1961). Bei dem Scholastiker Thomas von Aquin werden - im Anschluß an Aristoteles und Augustinus - drei Gründe genannt, die eine Selbsttötung verbieten und die im weiteren Verlauf der Geschichte wiederholt in Zustimmung oder Ablehnung aufgegriffen werden: Verstoß gegen Gott, gegen die Gesellschaft und gegen sich selbst. Der Selbstmord sei darüber hinaus auch zu verwerfen, da mit ihm die Sühne unmöglich gemacht werde: "Sich den Tod antun, um den anderen Elendigkeiten dieses Lebens zu entgehen, heißt somit, zur Vermeidung eines kleineren Übels das größere hernehmen" (Summa Theologica, 1267-73). Nach Duns Scotus darf sich ohne Befehl Gottes niemand selbst töten, Giordano Bruno erklärt die Selbstmörder zur "Märtyrern Satans", Bonaventura hält den Selbstmord für einen unerlaubten Akt maßloser Selbstliebe. Ein beispielhafter Text für die Auffassungen des Mittelalters über den Selbstmord stellt Dantes Göttliche Komödie (1306-21) dar. Die Selbstmörder sind in die unterste Abteilung der Hölle verbannt, die aus dem siebten, achten und neunten Kreis besteht. Dort befinden sich die wirklich Bösen, die bewußt gesündigt haben und nicht nur aus Unwissenheit oder Unkeuschheit. Dabei ist den Gewalttätern, zu denen auch die Selbstmörder gehören, der obere siebte Kreis vorbehalten, da sie, verführt von heftiger Leidenschaft, weniger schwer gesündigt haben als die Betrüger und Verräter, die kalten Blutes ihre Vernunft mißbrauchten. Aufgeteilt ist der siebte Kreis selbst wieder in drei Stufen oder Ringe nach Art der verübten Gewalt. In der obersten Stufe halten sich die Mörder und Räuber auf, dann folgen die Selbstmörder und Verschwender, auf der untersten Stufe sind die Sodomiter versammelt. Im siebten Kreis befinden sich also diejenigen, die Gewalt entweder am Nächsten und seinem Hab und Gut, an sich und dem eigenen Hab und Gut oder schließlich an Gott verübt haben. Die Selbstmörder werden deswegen als niedriger oder verdammenswerter eingestuft als die Mörder, weil sie dem stärksten Trieb des Menschen, dem Selbsterhaltungstrieb, zuwidergehandelt haben und sich damit gegen ein Naturgesetz oder Gottes ausdrückliches Gebot vergangen haben. Die Strafe der Selbstmörder besteht darin, daß ihr Geist, den sie naturwidrig befreit haben, in einen 9 Baum oder Strauch gefesselt wird, an dessen Laub sich Harpyen weiden und unaufhörliche Qualen der Gewissenbisse bereiten: Nie wird nämlich der Geist der Selbstmörders mit ihrem Leib wieder vereint werden, da Gott nicht zurück gibt, was der Mensch sich selbst nahm; vielmehr müssen die Selbstmörder ihren Leib selbst an den Ort der Strafe hinschleppen und an den Baum hängen, an dem er ewig gefesselt oder eingekerkert ist. IV. Neuzeit In den ersten Jahrhunderten der Neuzeit wird zunächst weiterhin am Verbot des Selbstmordes festgehalten. Zunehmend werden aber von verschiedenen Denkern Legitimationen des Selbstmords vorgetragen. Gilt der Selbstmord im Mittelalter als ein sittliches wie juristisches Delikt, werden nun die Ebenen der Ethik und Jurisprudenz mehr und mehr auseinandergehalten. Die lateinische Form "suicidium" (sui = selbst und caedes = Mord) findet sich gedruckt zum ersten Mal in Thomas Brownes 1642 veröffentlichten Religio medici und wird dann auch in anderen Sprachen aufgegriffen, kommt aber bereits im ausgehenden 12. Jahrhundert in einer Handschrift von Gauthier (1177/78) des Klosters von Saint-Victor vor. 1643 ist die erste Nennung des deutschen Wortes "Selbstmord" bei dem Theologen Johann Conrad Dannhauer belegt. Das englische "suicide" ist in A New world of english words (1657, 21662) von Edward Philips mit klarer Ablehnung nachgewiesen: "a barbarous word, more appropriated derived from sus, a sow, than from the pronoun sui, as if it were a swinish part for a man to kill himself." 1752 erscheint "suicide" zum ersten Mal in der französischen Sprache (Dictionnaire de Trevoux). Thomas Morus rechtfertigt in seiner Utopia (1516) den Selbstmord und auch die aktive Euthanasie in aussichtslosen Erkrankungen unter Beihilfe des Arztes und priesterlicher wie staatlicher Erlaubnis: "Wen sie damit überzeugt haben, der endigt sein Leben freiwillig durch Enthaltung von Nahrung oder wird eingeschläfert und findet Erlösung, ohne vom Tode etwas zu merken." Auch Francis Bacon analysiert den Selbstmord in seinem Essay Of death (1607), ohne ihn zu verurteilen. Der Theologe und Humanist John Donne wendet sich gegen die verbreiteten Argumente gegen den Selbstmord in der 1608 verfaßten und zu seinen Lebzeiten bewußt von ihm nicht veröffentlichten Monographie Biathanatos (1648), setzt sich für eine 10 individuelle Beurteilung und christliche Güte ein und berichtet von eigenen suizidalen Neigungen seit seiner Jugend. Für Hobbes, Descartes und Spinoza stellt der Selbstmord einen Akt der Unfreiheit dar, da es dem Menschen fundamental um Selbsterhaltung geht. Das Gesetz der Natur verbietet es dem Menschen nach Hobbes, etwas zu tun, "was sein Leben vernichten oder ihn der Mittel zu seiner Erhaltung berauben kann" (Leviathan, 1651). Wer sich selbst tötet, sei "unvermögenden Gemütes" ("animo impotens"), heißt es bei Spinoza, da er "von Gründen, die seiner Natur widerstreben, ganz und gar überwunden" werde (Ethica, 1677, 4. Teil, propositio 18). Luther und Calvin lehnen den Selbstmord ebenfalls ab, sehen in ihm ein Werk des Satans. John Sym stellt die Verbindung zur Geisteskrankheit her (Lifes preservative against self-killing, 1637), unterscheidet zwischen direktem und indirektem Selbstmord und gibt im Blick auf spezifische Anzeichen Hinweise zur Prävention. Verständnis und Rechtfertigung findet der Suizid in jenen Jahrhunderten dagegen bei Montaigne, Montesquieu, Voltaire, Rousseau, Beccaria und Hume. Pro und Contra werden im Dialog von Pyrocles und seiner Geliebten Philoclea im Roman Arcadia (1590) des Schriftstellers Philip Sidney entfaltet; nicht die Argumente, sondern die Liebe Philocleas halten Pyrocles allerdings von seinem geplanten Suizid ab. Für Montaigne, der mehrfach in seinen Schriften und vor allem in den Essais (158095) auf den Selbstmord eingeht und von zahlreichen Schicksalen der Vergangenheit berichtet, ist der Tod "ein Mittel für alle Mühen", der sich auch wesentlich, was die Freiheit des Menschen angeht, von der Geburt unterscheidet; die Natur "hat uns nur einen Eingang ins Leben, aber hundert tausend Wege hinaus angewiesen." Zugleich lehnt Montaigne jeden leichtfertigen Umgang mit dem Selbstmord ab, der nur in äußersten Notfällen zu rechtfertigen sei. Montesquieu läßt in den Lettres persanes (1721) den Perser Usbek die juristische Bestrafung des Suizids kritisieren und die Auffassung der sozialen und religiösen Schuld zurückweisen, urteilt dagegen in anderen Schriften sehr viel zurückhaltender über die Berechtigung oder Freiheit des Suizids, weist auch auf historische Unterschiede der Verursachung hin: "Bei den Römern war diese Tat eine Wirkung der Erziehung und entsprang ihrer Denkweise und ihren Gewohnheiten. Bei den Engländern ist sie die Folge einer Krankheit, sie 11 hängt mit dem physischen Zustand des Organismus zusammen und mangelt irgendeines sonstigen Grundes" (De l'esprit des lois, 1748). Voltaire geht ausführlich im Essay Von Cato, dem Selbstmord und einem Buche des Abbés St. Cyranne, das den Selbstmord legitimiert in seinem Dictionnaire philosophique (1764) auf den Selbstmord ein, äußert Verständnis, lehnt juristische Strafen ab, hält Zusammenhänge mit Krankheiten für möglich und plädiert zugleich hier wie an anderen Stellen ausdrücklich für einen Verzicht auf die aktive Lebensbeendigung. "Liebenswürdigen Menschen steht es nicht an, sich das Leben zu nehmen, sondern nur ungeselligen Geistern wie Cato, Brutus", heißt es in einem Brief von ihm an den Engländer Crawford. Ebenso rät Voltaire Friedrich II. von Preußen vom Selbstmord ab. "Ich stimme zu, eine großartige Sache ist es nicht, inmitten von Trübsal für einen Augenblick zwischen zwei Ewigkeiten, die uns verschlingen, zu existieren; doch es obliegt der Größe Ihres Muts, die Last des Lebens zu tragen, und es bedeutet, wirklich König sein, wenn man die Fährnisse als großer Mann erträgt." (13.11.1757). Rousseau gesteht dem Menschen seinerseits das Recht auf Selbsttötung zu: "Wenn unser Leben ein Übel für uns und kein Gut für jemand ist, so ist es erlaubt, sich seiner zu entledigen", lenkt andererseits auf das pflichtgemäße Leben im Kreise der Mitmenschen. "Weißt Du nicht, daß Du nicht einen Schritt auf der Erde tun kannst, ohne dort irgendeine Pflicht zu finden, die es zu erfüllen gilt, und daß jeder Mensch der Menschheit schon dadurch nützlich ist, daß er ist." (Julie ou la nouvelle Héloïse, 1761). Der von dem Philosophen David Hume im Geist der Aufklärung verfaßte klassische Text On suicide erscheint erst 1783 nach seinem Tode; der Verfasser hat die geplante Veröffentlichung noch unmittelbar vor dem Druck offensichtlich aus Sorge über die zu erwartende Kritik verhindert. Für Hume stellt der Suizid weder eine Verletzung der Pflichten gegen Gott noch die Mitmenschen oder gegen den Selbstmörder dar. Der Suizid sei vielmehr ein Akt der Freiheit und könne "ohne irgend welche Schuld oder Tadel begangen werden" (S. 140). Die göttliche Gnade werde durch den Selbstmord nicht aufgehoben, mit ihm werde der Gesellschaft kein Leid angetan, sondern nur Gutes entzogen, auch der Verantwortung gegenüber sich selbst widerspreche diese Handlung nicht, da "Alter, Krankheit oder Unglück das 12 Leben zu einer Last und selbst schlimmer als seine Vernichtung machen können" (S. 148). Madame de Staël unterscheidet in ihrer Studie De l'influence des passions sur le bonheur des individus et des nations (1796) drei Arten von Selbstmord, den sie grundsätzlich billigt: der unmittelbar einleuchtende Selbstmord aus Liebe, der seltene philosophische Selbstmord und der Selbstmord des Verbrechers aus Reue. "In der Selbsttötung liegt etwas Empfindsames oder Philosophisches, das dem verderbten Menschen völlig fremd ist." Zurückhaltender fällt das Urteil der Französin in den Réflexions sur le suicide aus dem Jahre 1813 aus, in denen auch auf nationale Unterschiede hingewiesen wird. Von den Philosophen des Deutschen Idealismus um 1800 wird der Selbstmord dagegen wiederum entschieden verworfen. Kant erinnert noch einmal an die drei Gründe, die traditionell gegen den Selbstmord vorgebracht werden: die Verantwortung des Menschen für seinen eigenen Körper, seine Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft, seine Abhängigkeit von Gott. Das Verbot des Selbstmordes ergibt sich nach Kant aus ethischen und nicht aus juristischen Gründen. Der Selbstmord des Menschen bedeute im Prinzip eine "Herabsetzung seiner inneren Würde unter die Tierheit" und widerspreche dem kategorischen Imperativ, da er nicht die Grundlage eines allgemeinen Naturgesetzes abgeben könne (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 1785; Die Metaphysik der Sitten, 1797). In der Linie Kants lehnt auch Fichte den Selbstmord in seinem System der Sittenlehre (1798) ab: "Mein Leben ist die ausschliessende Bedingung der Vollbringung des Gesetzes durch mich ... Mithin ist mir schlechthin geboten, zu leben; inwieweit dies von mir abhängt ... Ich will nicht länger leben, heisst daher: ich will nicht länger meine Pflicht tun...es kann vom Menschen nichts höheres gefordert werden, als dass er ein ihm unerträglich gewordenes Leben dennoch ertrage." Das Individuum besitzt ebenfalls nach Hegel kein Recht zur Selbsttötung, da es die sittliche Idee zu verwirklichen habe. "Wenn der Staat daher das Leben fordert, so muß das Individuum es geben. Ohne diese Forderung, lediglich dem eigenen Willen folgend, hat der Mensch kein Recht zur Selbsttötung. Dieses Recht kann er nie 13 besitzen, denn er kann nicht über sich selbst richten" (Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1821, § 70). Arthur Schopenhauer, der die Bezeichnung "Freitod" prägt und in seinen Überlegungen auch auf den erweiterten Selbstmord eingeht, hält den Suizid nicht für die im Rahmen seiner Philosophie erstrebenswerte Verneinung des Willens als vielmehr seine Bejahung: "Denn die Verneinung hat ihr Wesen nicht darin, daß man die Leiden, sondern daß man die Genüsse des Lebens verabscheut." Wohl trifft diese positive Einschätzung nach Schopenhauer aber bei dem "aus dem höchsten Grade der Askese freiwillig gewählten Hungertod" zu, weil hier der Wille zum Leben wirklich zum Erliegen gekommen sei (Welt als Wille und Vorstellung, 1819/44, Teil I, § 69, vgl.a., Teil II, § 157-160). Eine zustimmende Einschätzung des Suizids findet sich bei Friedrich Nietzsche: "Viele sterben zu spät und einige sterben zu früh. Noch klingt fremd die Lehre: Stirb zur rechten Zeit" (Also sprach Zarathustra, 22. Rede, 1883). Der Selbstmord ist seit dem 19. Jahrhundert aber zunehmend nicht mehr nur ein Thema für Theologen, Philosophen und Dichter, sondern findet Beachtung auch bei Medizinern, Psychologen und Soziologen. Es kommt bei aller Fortführung des überlieferten Deutungs- und Bewertungsspektrums zu einer Akzentverschiebung von der theologisch-philosophischen auf die medizinische und psychosoziale Seite. Jean Etienne Dominique Esquirol (Des maladies mentales, 1838), Wilhelm Griesinger (Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, 1845) und Samuel Alexander Kenny Strahan (Suicide and insanity, 1894) sind mit ihrer Zurückführung des Selbstmordes auf Geisteskrankheiten, worauf im 16. und 17. Jahrhundert Paracelsus, Felix Platter, John Sym und Robert Burton bereits hingewiesen haben, repräsentative Beispiele. 1813 erscheint von dem Mediziner Friedrich Benjamin Osiander die Abhandlung Über den Selbstmord, seine Ursachen, Arten, medicinisch-gerichtliche Untersuchung und die Mittel gegen denselben. Jean Pierre Falret gibt in seiner Studie De l'hypochondrie et du suicide von 1822 auch statistische Daten an und unterscheidet fünf Ursachen des Selbstmordes im Spektrum von Biologie und Kultur. In der statistischen Ebene bewegen sich auch die Veröffentlichungen von Johann Ludwig 14 Casper (Über den Selbstmord und seine Zunahme in unserer Zeit, 1825), Gustave François Etoc-Demazy (Recherches statistiques sur le suicide, 1844) und Alexandre Brierre de Boismont (Du suicide, 1856). Enrico Agostino Morselli (1881) analysiert den Selbstmord bei Verbrechern (Il suicidio nei delinquenti, 1875) sowie in der Perspektive der Evolutionslehre (Il suicidio, 1879). William James (Is life worth living?, 1897) bringt den Suizid in eine Verbindung mit der Religion, insofern ihr Verlust zu seiner Ausbreitung beitragen soll. Eine klassische Bedeutung besitzt gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Studie Le suicide (1897) von Emile Durkheim, der sich in weitgespannter Weise mit dem Selbstmord auseinandersetzt und den Blick vor allem auf empirische Zusammenhänge lenkt, auch der Biologie, aber besonders der Gesellschaft. Hervorgehoben werden historischen Veränderungen und sozial-wirtschaftliche Verhältnisse, unterschieden werden die Typen des egoistischen, altruistischen und anomischen Selbstmordes, darüber hinaus werden praktische Folgerungen gezogen oder entsprechende Vorschläge gemacht. "Wenn heute mehr Menschen in den Tod gehen, so liegt das nicht daran, daß erschöpfendere Anstrengungen zur Lebenserhaltung nötig sind, noch daran, daß wir berechtigte Bedürfnisse nicht mehr voll befriedigen könnten, sondern daran, daß uns das Wissen verlorengegangen ist, wo die Grenze unserer berechtigten Bedürfnisse liegt und wir den Sinn unserer Anstrengungen nicht mehr einsehen" (1983, S.459). Das 20. Jahrhundert ist von unterschiedlichen Auffassungen und zahlreichen Initiativen bestimmt. Eine Synopsis biologischer, psychologischer und sozialer Dimensionen findet sich 1905 in der Schrift Über den Selbstmord des Psychiaters Robert Gaupp, der sich auch mit dem Massenmord beschäftigt. 1927 veröffentlicht Hans Rost eine Bibliographie des Selbstmords mit 3775 Titeln. Die medizinische Perspektive wird in Studien von Alfred Hoche (Vom Sterben, 1919), der den Begriff "Bilanzselbstmord" einführt und im Suizid ein "Privileg des Humanen" sieht, Kurt Schneider (Selbstmordversuche, 1933), Hans Walther Gruhle (Selbstmord, 1940) analysiert. Weite und anhaltende Resonanz gewinnen die Interpretationen des Selbstmordes in der Psychoanalyse - bei Freud, Jung, Adler und den weiteren Entwicklungen dieser 15 Bewegung. Nach Sigmund Freud kann Suizidalität den Endpunkt einer depressivmelancholischen Entwicklung als Wendung der Aggressivität gegen das Ich (Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, 1917) oder als Ausdruck des Todestriebes (Jenseits des Lustprinzips, 1920) darstellen; die sich in dieser Perspektive nahelegende Agressionsumkehr als präventiver Maßnahmen wird heute bei Psychologen kritisch beurteilt oder für überholt gehalten. Der Zwiespalt zwischen infantilen und primitiven Ansprüchen und Forderungen der Kultur kann nach Jung nicht nur zu Neurosen, sondern auch zum Selbstmord führen (Psychologische Typen, 1921). Alfred Adler sieht im Selbstmord wie in Neurosen Reaktionsformen auf kindliche Überschätzungen von Motiven oder soziale Herabsetzungen und Enttäuschungen (Selbstmord, 1937). Wichtige Anregungen verbinden sich mit den Forschungen und institutionellen Initiativen von Erwin Ringel (Der Selbstmord, 1953) nach dem 2. Weltkrieg in der Perspektive der Psychoanalyse von Alfred Adler, zu denen das Konzept des präsuizidalen Syndroms (Einengung, Autoaggression, Suizidphantasien) und die "Internationale Gesellschaft für Selbstmordverhütung" gehört. Auf philosophischer Seite stehen sich weiterhin abweichende Standpunkte gegenüber. Entsprechende Beiträge stammen von Scheler, Heidegger, Sarte, Jaspers, Camus, Löwith, Améry, Kamlah und vielen anderen. Max Scheler verurteilt den Suizid aus ethischen Gründen und hält ausdrücklich an der Bezeichnung Selbstmord fest: "Denn Handlungsintention auf Vernichtung von Person und Personenwert im Töten macht sein Wesen aus. Das gilt für die eigene wie die fremde Person; denn Fremdwert ist nicht höher als Eigenwert" (Der Formalismus der Ethik und die materiale Wertethik, 1913/16). Für Sartre ist der Suizid im Gegensatz zu Heideggers Interpretation "eine Absurdität, die mein Leben im Absurden untergehen läßt" (L'être et le néant, 1943). Nach Karl Jaspers, der ebenfalls die Bezeichnung Selbstmord im Gegensatz zu den verhüllenden Bezeichnungen Suizid und Freitod beibehalten will und als Psychiater auch Zusammenhänge mit der Geisteskrankheit im Auge hat, kann der Selbstmord "als Ausweg aus vernichtender Situation der Ausdruck der entschiedensten Eigenständigkeit" respektiert werden - "Aber es bleibt unser existentielles Schaudern" (Philosophie, Bd.2, 1932, S.300-314, vgl.a. Allgemeine Psychopathologie, S. 234f, 621f; Psychologie der Weltanschauungen, S. 291-293). Albert Camus kennt "nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den 16 Selbstmord", da sich an ihm die Frage des Daseinssinnes stelle; die Absurdität des Daseins könne durch die Beendigung des eigenen Lebens allerdings nicht überwunden werden (Le mythe de Sisyphe, 1942). Karl Löwith plädiert wie Wilhelm Kamlah (Meditatio mortis, 1976) und Jean Améry (Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod, 1976) für den Akt der Selbsttötung als Möglichkeit der Freiheit: "Der Hang zum Freitod ist keine Krankheit, von der man geheilt werden muß, wie von den Masern. Der Freitod ist ein Privileg des Humanen" (Die Freiheit zum Tode, 1966). Die Theologie des 20. Jahrhunderts setzt sich bei aller "Verurteilung" oder prinzipiellen Ablehnung des Selbstmordes für ein Verständnis und die Suche nach Hilfe ein – Unterschiede bestehen zwischen der katholischen und protestantischen Theologie. "Du mußt ja nicht, du darfst leben", heißt es bei Karl Barth (Kirchliche Dogmatik, 1965). "Den Verzweifelten rettet kein Gesetz, das an die eigene Kraft appelliert, es treibt ihn nur noch hoffnungsloser in Verzweiflung; den am Leben Verzweifelnden trifft nur die rettende Tat eines andern, das Angebot eines neuen Lebens, das nicht aus eigner Kraft, sondern aus Goethes Gnade gelebt wird", urteilt Dietrich Bonhoeffer (Ethik, 1949). "Die Kirche verweigert dem überlegten Selbstmörder ihr Begräbnis, gewährt es aber bei unbehebbarem Zweifel an seiner Zurechnungsfähigkeit", charakterisiert den katholischen Standpunkt im Lexikon für Theologie und Kirche in der 2. Auflage von 1964 bei gleichzeitigem Plädoyer für eine milde Bestrafung in Ländern, wo von der Justiz Reaktionen vorgesehen sind; in der neuesten Auflage ist dieser Passus fallengelassen. In ihrer Schrift Menschenwürdig sterben (1995) plädieren der katholische Theologe Hans Küng und der Germanist Walter Jens für die Möglichkeit der aktiven Sterbehilfe. V. Ausblick Geschichte entfaltet die Möglichkeiten des Menschen in seinem Denken, seinen Gefühlen und seinem Handeln – das trifft auch auf den Suizid und seine Beurteilung zu. An einige Traditionslinien und repräsentative Standpunkte wurde in diesem Beitrag erinnert, die zu einem besseren Verständnis des Selbstmordes in der Gegenwart beitragen können. Religiöse Orientierung und soziale Bindung, geistige Sinngebung des Daseins und individuelle Leidenstoleranz können als wesentliche Bedingungen der 17 Suizidvermeidung gelten. Körperliche Krankheit und seelischer Schmerz, wirtschaftliche Not und politische Verfolgung werden weiterhin Menschen in den individuellen oder kollektiven Selbstmord treiben. Die freie Selbsttötung ("Bilanzsuizid") wird von den empirischen Wissenschaften nicht ausgeschlossen, aber doch für sehr selten gehalten. Depression schließt Zurechnungsfähigkeit nicht zwingend aus. Nur zu oft begehen Menschen Selbstmord aus Verzweiflung und Einsamkeit, nur zu oft stellt diese Handlung einen Appell an die Umwelt dar und verlangt nach persönlicher Zuwendung und sozialpsychologischem Engagement. Prävention und Rehabilitation gehen mit ihren Initiativen von dieser Situation aus; Hilfe wird über Verurteilung gestellt. Theorie und Praxis des Suizids stehen nicht in einem Gegensatz; vom Dialog der Wissenschaften können Gegenwart und Zukunft ebenso angeregt werden wie von den Erfahrungen und Positionen der Vergangenheit. Quellen: Adler, Alfred: Selbstmord, in: Zeitschrift für Individ. Psychol. 15(1937)49-52. Alvarez, Alvarez: Der grausame Gott. Eine Studie über den Selbstmord, a.d.Engl. (1971), Hamburg 1974. Améry, Carl: Hand an sich legen - Diskurs über den Freitod, Stuttgart 1976. Aristoteles: Nikomachische Ethik, 3. u 5. Buch. Augustinus: Der Gottesstaat (I, 21 u. 26) Camus, Albert: Der Mythos von Sisyphos, a.d. Franz. (19 ), Reinbek b. Hamburg 1959. Durkheim, Emile: Le suicide, 1897, dt. Der Selbstmord, Neuwied 1973. Fichte Freud, Sigmund: Gaupp, Robert: Über den Selbstmord, München 1905. Hegel, Hume, David: Essays of suicide and of the immortality of the soul, 1777, in: Essays, moral, political, and literary, London 1889, S.60-72, erneut Indianapolis, S.577-589, 18 dt. Über Selbstmord, in: Dialog über natürliche Religion, über Selbstmord und Unsterblichkeit der Seele, Leipzig 1905, S. , auch in: Die Naturgeschichte der Religion, Hamburg 1984, S. Jung, Carl Gustav: Der Einzelne in der Gesellschaft, Freiburg i.Br. 1971, S.104. Kant, Immanuel Löwith, Karl: Die Freiheit zum Tode, in: Vorträge und Abhandlungen, Stuttgart 1966, S.274-289. Montaigne: Essais (2. Buch, Kap. 3) Montesquieu: Persische Briefe, 1721 (76-77). Montesquieu: Über die Ursachen der Größe und des Verfalls der Römer Montesquieu: Esprit des lois, 1740. Nietzsche, Friedrich: Vom freien Tode, in: Also sprach Zarathustra, 1.T. Platon: Gesetze (873c-d, IX, 12) Plinius: Naturkunde, Buch 2, V, 28f. Rousseau, Jean Jacques: Julie ou la nouvelle Héloïse, 3. Teil, 21. Brief. Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 1, § 68f., Bd.2, S.391, 492. Schopenhauer, Arthur: Parerga und Paralipomena, Bd. 2, § 157-160. Seneca: An Lucilius (Brief 70) Thomas von Aquin: Summa Theologica (3, 64, CV) Thomas von Aquin: De homicidio, in: Quaest. 74, Summ theol Wesley, John: Thoughts on suicide, 1790, in: The works, Bd. 13, 31979, S. Literatur Alvarez, Alvarez: Der grausame Gott. Eine Studie über den Selbstmord, a.d.Engl. (1971), Hamburg 1974. Améry, Carl: Hand an sich legen - Diskurs über den Freitod, Stuttgart 1976. Bayet, Albert: Le suicide et la morale, Paris 1922. 19 Bottke, Wilfried: Suizid und Strafrecht, Karlsruhe 1975. Brody, Baruch A., Hg.: Suicide and euthanasia. Historical and contemporary themes, (=Philosophy and Medicine, Bd. 35), Dordrecht 1989. Clemons, James T.: What does the Bible say about suicide, Minneapolis 1990. Ebeling, Hans, Hg.: Der Tod in der Moderne, Königstein i. Ts. 1979. Eser, Albin, Hg.: Suizid und Euthanasie als human- und sozialwissenschaftliches Problem, Stuttgart 1976. Farberow, Norman L.: Bibliography on suicide and suicide prevention, Maryland 1969. Farberow, Norman L.: Introduction: The history of suicide, in: Glen Evans u. Norman L. Farberow: The Endyclopedia of suicide, New York 1988, S. VII-XXVII. Fedden, Henry Romilly: Suicide. A social and historical study, London 1938. Geiger, Karl August: Der Selbstmord im klassischen Altertum. Historisch-kritische Abhandlung, Augsburg 1888. Grisé, Yolande: Le suicide dans la Rome antique, Paris 1982. Hammer, Felix: Selbsttötung - philosophisch gesehen, Düsseldorf 1975. Holderegger, Adrian: Suizid und Suizidgefährdung. Humanwissenschafliche Ergebnisse. Anthropologische GrundlagenFreiburg, i.Br. 1979. Hooff, Anton J.L. van: A longer life for "suicide", in: Romanische Forschungen 102(1990)(2)255-259. Inhofer, Matthias: Der Selbstmord. Historisch-dogmatische Abhandlung, Augsburg 1886. Jansen, Hans Helmut: Der Tod in Dichtung, Philosophie und Kunst, Darmstadt 1989. 2 Lungershausen, Eberhard, u. Josef Vliegen: Der Selbstmord als ein Problem der Philosophie und Theologie. Versuch einer geschichtlichen Deutung, in: Confinia Psychiatrica 12(1969)185-204. Mecke, Günter: Der tödliche Pfeil des Eros. Anstiftung zum Selbstmord in Antike und Gegenwart, Frankfurt a.M. 1995. Meynard, Léon: Le suicide. Étude morale et métaphysique, Paris 21966. Minois, Georges: Geschichte des Selbstmords, a.d.Franz. (1995), Düsseldorf 1996. Motta, Emilio: Bibliografia del suicidio, Bellinzona 1890. 20 Ringel, Erwin: Das Leben wegwerfen? Reflexionen über den Selbstmord, Wien 1978. Rost, Hans: Bibliographie des Selbstmordes, Augsburg 1927. Schadewaldt, Hans: Historische Betrachtungen zum Alterssuizid, in: Aktuelle Gerontologie 7(1977)59-66. Schmitt, Jean-Claude: Le suicide au Moyen Age, in: Annales (1976). Signori, Gabriele, Hg.: Trauer, Verzweiflung und Anfechtung. Selbstmord und Selbstmordversuche in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gesellschaften, Tübingen 1994. Stäudlin, Karl Friedrich: Geschichte der Vorstellungen und Lehren vom Selbstmord, Göttingen 1824. Wacke, Andreas: Der Selbstmord im römischen Recht und in der Rechtsentwicklung, in: ZRG, Romanistische Abteilung 97(1980)26-77. Wahl, Gunter, u. Wolfram Schmitt, Hg.: Suizid, 1998. Willemsen, Roger: Der Selbstmord in Berichten, Briefen, Manifesten und literarischen Texten, Köln 1986. Winau, Rolf, u. Hans Peter Rosemeier, Hg.: Tod und Sterben, Berlin 1984. in: Gabriele Wolfslast u. Kurt W. Schmidt, Hg.: Suizid und Suizidversuch. Ethische und rechtliche Herausforderung im klinischen Alltag, München: Beck 2005, S. 11-26.