ücherbriefe neue wiener

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ücherbriefe neue wiener
neue wiener
ücherbriefe
2/2007
Die Rezensionszeitschrift der Büchereien Wien
„Richard Powers hat mit Das Echo der Erinnerung sein bislang
bestes Werk vorgelegt, das in diesen Tagen mit dem National
Book Award bedacht wurde.“
Frankfurter Rundschau
„Ein Bilderbuchleckerbissen für Kinder – und
Erwachsene, die es im Herzen geblieben sind“
Giovanna Riolo, Zürich
Editorial ..........................................2
Belletristik .......................................3
Sachbuch ......................................14
Kinder- und Jugendbuch ..............25
2
„ich bin ein
Editorial“
...sagte das Editorial, das noch keines war. Es war sich durchaus bewusst, dass es mit dieser Aussage soeben ein Paradoxon geboren hatte. Wie nämlich konnte ein Editorial, das es gar nicht gibt, von sich behaupten, ein Editorial zu sein? Und noch fragwürdiger: Wie konnte ein nicht existierendes Editorial ein Bewusstsein haben - ein Bewusstsein obendrein, das nicht nur die eigene Existenz, sondern ausgerechnet die Nicht-Existenz betraf?
Nun, diese Fragen stellte sich das Editorial – und es musste an John Carpenters Science-Fiction-Parodie „Dark Star“ und den
dort unternommen Versuch eines Austronauten denken, eine Bombe von ihrer Nicht-Existenz zu überzeugen und sie damit an
der geplanten Selbstzündung zu hindern.
Während das Editorial also solchen und ähnlichen mentalen Abschweifungen frönte, drängte sich eine weitere, bei weitem
wichtigere Frage ins editorielle Gedankenspiel: Sollte ich, das Editorial einer Rezensionszeitschrift, nicht einen entsprechenden
Belang signalisieren – einen rezensionellen Belang, gewissermaßen?
Kaum gedacht, war diese Frage – verbunden mit der Nebenfrage, ob „rezensionell“ eine zulässige Begriffsableitung sei – aber
auch schon abgedrängt. Da ich ja doch (noch) gar kein Editiorial bin, dachte sich das Editorial, brauche ich in keiner Weise
von Belang zu sein. Mein einziger Belang ist meine Nicht-Existenz.
Und so lehnte es sich zurück, das Editorial, und fühlte sich in seiner Lage, die ja eigentlich eine Nicht-Lage war, durchaus
wohl. Seitdem wartet das Editorial, das keines war und noch immer keines ist, darauf ein Editorial zu werden. Doch es wartet
mit der Gelassenheit eines Editorials, das nichts zu verlieren hat, weil es (noch) nichts ist.
Das Nichts
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BelletristikBücher aus Österreich
Erdheim, Claudia: Längst nicht
mehr koscher. Die Geschichte
einer Familie
Wien: Czernin 2006. 417 S., € 24,80
Vermögend geworden durch Erdöl, kann
Moses Hersch aus Boryslaw im galizischen
Erdölgebiet allen seinen fünf Söhnen eine
gute Ausbildung finanzieren. Zwei von ihnen promovieren in Wien zu angesehenen
Medizinern, ein anderer baut sich ebendort eine Existenz als Kaufmann auf und
zwei weitere bleiben in Galizien. Mit der
Religion nehmen es die einen wie die anderen schon lange nicht mehr so genau.
Ihre gesellschaftliche Stellung und ihr
Ansehen helfen ihnen aber wenig gegen
den allgegenwärtigen Antisemitismus, der
ab 1938 im okkupierten Österreich und ab
1941 auch im von den Nazi-Armeen eroberten Galizien Staatsdoktrin wird. Diskriminierung, Verfolgung und Mord machen auch vor den Brüdern Erdheim und
ihren Nachkommen nicht Halt.
Claudia Erdheim lässt ihre Familiengeschichte 1945 mit der Befreiung durch die
Rote Armee enden. Sie schreibt diese Geschichte, die ja ihre eigene ist, nüchtern
und distanziert im Präsens und arbeitet
zeitgeschichtliche Dokumente und erhalten gebliebene Briefe ihrer Familienangehörigen ein. Nur beiläufig wird erkennbar,
dass es sich bei der weiblichen Hauptperson Tea, einer von Moses’ Enkelinnen, um
Claudia Erdheims Mutter Thea Erdheim
handelt.
Leider hat bei diesem packenden und
erschütternden Buch das Lektorat oft ausgelassen, sodass etwa aus dem österreichischen Nazibundeskanzler Seyss-Inquart
ein Seiss-Inquart wird.
Rudi Hieblinger
Riess, Erwin: Der letzte Wunsch
des Don Pasquale oder Giordanos Bitte
Salzburg u.a.: Otto Müller 2006. 392 S.,
€ 22,00
Von Joe Giordano, einem anonymen Fädenzieher aus Amerika, bekommt der rollstuhlfahrende Detektiv Groll den Auftrag, einem
todkranken alten sizilianischen Mafiaboss
seinen letzten Wunsch erfüllen: Don Pasquale möchte vor seinem Tod noch einmal
seine Enkeltochter Angelina sehen. Diese
befindet sich wohl behütet in einem Heim
für autistische Kinder in Triest. Um sie von
dort auf legale Weise nach San Cipirello zu
bringen, müsste man sich erst mit ihrem Vater, einem norditalienischen Polizeipräsidenten und Todfeind von Don Pasquale,
einigen. Eine Entführung Angelinas erscheint
also als der einzige Ausweg. Keine leichte
Aufgabe, denn wie wird das autistische
Mädchen auf diesen Plan reagieren?
In Triest eingelangt, kann sich Groll auf
die zahlreichen guten Verbindungen Don
Pasquales stützen. Auch mit Angelina
freundet er sich rasch an. Das Mädchen
scheint – abgesehen von einem Zählzwang – recht vernünftig zu sein. Die Dinge laufen gut und Groll kann sich sogar ein
wenig Urlaub gönnen, was seinen Auftraggeber Giordano zur Weißglut bringt.
Doch das Verhängnis naht in zweierlei Gestalt: Auf der einen Seite bekommt es Groll
mit zwei österreichischen Neonazis zu
tun, die hinter Angelina her sind, auf der
anderen Seite naht als ebenso überraschende wie unliebsame Unterstützung,
vom ungeduldigen Giordano auf den Weg
geschickt, „der Dozent“, bereits aus einem
früheren Roman als Grolls kongenial-kontroverser Partner bekannt. Das Ganze führt
zu einer wüsten Verfolgungsjagd quer
durch Italien, bis die Neonazis erledigt
sind und Don Pasquale seine geliebt Enkelin in die Arme schließen kann.
Das Geschehen wird aus der Perspektive Grolls erzählt, der die Handlung
mit zahlreichen Reflexionen aus seiner
Rollstuhlfahrer-Perspektive würzt. Dazwischen beleuchten die Kommentare Giordanos, der Grolls Fortschritte bzw. sein
Versagen beobachtet, das Geschehen aus
einer ganz anderen Perspektive. Sogar der
Schluss des Romans existiert in zwei Varianten.
Ein unterhaltsam-origineller Kriminalroman des österreichischen Autors.
Karin Claudi
Breitenfellner, Kirstin: Falsche Fragen
Innsbruck u.a.: Skarabaeus 2006. 231 S., € 19,90
Anhand der beiden Freundinnen Teresa und Maya, die sich seit Sandkistenzeiten kennen, beschreibt die Autorin in ihrem zweiten Prosaroman die völlig konträren Versuche zweier Frauen, dem Leben Gestalt, Sinn und
Zielrichtung zu geben. Maya scheint plötzlich ihre Gewissheit im Glauben gefunden zu haben,
während Teresa, Kreativdirektorin einer Werbeagentur, unverheiratet ihren Spaß mit ihrem
Freund Max, einem Lichtdesigner, genießt. Die eine folgt also ihren Lebensgenüssen, die andere ihrem Mann ins „Bergland“, die Heimat des Gipfelkults am Fuße des Himalaya. Dass es sich
bei Mayas neuem Glauben um den ziemlich obskuren „Gipfelkult“ einer Sekte handelt, die
ihre Erlösung durch außerirdische „Boten des Lichts“ erhofft, macht es für Teresa nicht gerade
einfacher, sich seriös mit Mayas neu gewonnener Religiosität auseinanderzusetzen. Nach Jahren der Trennung begegnen sich die beiden Frauen wieder.
Die Autorin bringt das Thema der „Parallelgesellschaft“ oder des „Clashs der Kulturen“ auf eine
persönliche Ebene, ohne dabei auf humorvolle Distanz zu verzichten. Ihre Protagonistinnen
sind keine leblosen Konstrukte, sondern Menschen mit Sympathien und Fehlern, deren unterschiedlichen Lebensläufe mit Interesse und Spannung zu verfolgen sind.
Willi Saar
Bücher aus ÖsterreichBelletristik
4
Unterrader, Sylvia: Distanzen
St. Pölten: Literaturedition Niederösterreich 2006. 142 S., € 17,90
Mathilda wurde vor Jahren verlassen, sie
trauert noch immer jenem Michael nach,
der sie wegen einer anderen Frau sitzen
ließ. Sie begibt sich auf die Suche nach
Margarete, die sie mit ihrer Lebendigkeit
beeindruckt hatte und die auch damals, als
die Beziehung in Brüche ging, aus ihrem
Leben verschwand. Margarete lebt mittlerweile in der Nähe von Florenz, wohin sie
sich zurückgezogen hat, um zur Ruhe zu
kommen, um zu sich zu finden. Sie ist von
Schuldgefühlen geplagt, war sie doch jene
Frau, derentwegen Michael sich von Mathilda trennte. Auch Vera, eine gemeinsa-
me Bekannte, ist auf der Suche nach einem Heim, das Geborgenheit vermittelt.
Bei ihr treffen schließlich die Verbindungen zusammen.
Die Niederösterreicherin Sylvia Unterrader ist eine interessante Vertreterin der
heimischen Gegenwartsliteratur. Ihre Sprache ist schnörkellos und präzise. Die Gefühlswelten werden authentisch vermittelt.
Die Figuren bleiben unscharf, sie sind als
Vertreterinnen von Frauentypen zu sehen.
Sie bleiben auf sich gestellt, sind auf der
Suche, ruhelos und ständig in Bewegung,
wollen einen Ort finden, an dem sie sich
zu Hause fühlen können. Das schmale
Bändchen, das leicht zu lesen ist, ist unspektakulär im positiven Sinn.
Monika Nebosis
Missetaten ums Eck
Komarek, Alfred: Narrenwinter
Innsbruck: Haymon 2006. 199 S., € 17,90
Der einstige Starreporter Daniel Käfer ist
arbeitslos. Deshalb übersiedelt er von
München ins Ausseer Land. Dort will er
ein Buchprojekt über den Fasching im
Salzkammergut realisieren. Er trifft einen
alten Feind aus der Schulzeit, der ihm die
Aussicht auf ein Verlagsprojekt eröffnet, in
dem der skeptisch reagierende Daniel Käfer im Mittelpunkt stehen soll. Als Käfer bei
einem Autounfall die Familie Köberl kennen und schätzen lernt, wittert er ein Geheimnis rund um eine Reihe eigenartiger
Vorgänge. Von Faschingstreiben, Masken,
Perchtenläufen und Trommelweibern umgeben, zieht er durch die Ausseer und
Ebenseer Lokalszene. Immer mehr umnebeln sich seine Sinne, immer skurrilere
Menschen scharen sich um ihn, immer turbulenter und verworrener nimmt Daniel
seine Umwelt auf. Er glaubt einem großen,
dunklen Geheimnis auf der Spur zu sein,
das die Köberls umgibt. Doch spielen ihm
seine Sinne nicht nur einen Streich?
Alfred Komarek hat nach dem Gendarmen Polt mit Daniel Käfer wieder eine
Kult-Figur entstehen lassen. Im vorliegenden dritten Roman rund um den Reporter
und Schriftsteller lässt er seinen Protagonisten, benebelt von Existenzängsten, Beziehungskisten, geheimnisvollen Geschichten und nicht zuletzt vom Alkohol
durch den Fasching im Salzkammergut
treiben. Nicht ganz zufällig erhält ein Meister der skurillen Literatur, der auch hier
gelebt hat, einen prominenten Platz in der
Geschichte: Fritz von Herzmanovsky.
Andreas Schleif
Rossmann, Eva: Verschieden
Ein Mira-Valensky-Krimi
Wien: Folio 2006. 244 S., € 19,50
Die „Magazin“-Reporterin Mira Valensky
bemerkt, dass ihre Freundin und Kollegin
Gerda Hofer von deren Mann, einem angesehenen Wiener Arzt bedroht wird. In
der Folge kommt es zwischen den beiden
zur Scheidung, Gerda fühlt sich ausgenutzt
und betrogen. Doch dann verunglückt der
Exmann tödlich und damit beginnt der eigentliche Kriminalfall, den Mira Valensky
unter tatkräftiger Mithilfe ihrer jugoslawischen Bedienerin Vesna aufklären kann.
Miras Recherchen führen sie quer
durch Wien – etwa in eine Arztpraxis, einen Steinbruch, und auch Gerda Hofer
bleibt nicht von Verdächtigungen verschont. Auch in diesem Roman vermischt
sich Kriminalistisches mit Kulinarischem,
die Spannung zwischen Leben und Tod,
zwischen Verbrechen und Aufklärung wird
durch die Miras Kocheinlagen aufgelockert. Private Probleme werden in den
Handlungsverlauf eingeflochten, und so
nebenbei heiratet Mira ihren Oskar.
Wie frühere Romane von Eva Rossmann ist auch dieser Krimi äußerst flüssig
geschrieben und spannend bis zur letzten
Seite: eine brillante Mischung aus Krimi
und Kulinarik in Form einer homogenen,
lesenswerten Mord(s)geschichte.
Gabriele Saul
Slupetzky, Stefan: Das Schweigen
des Lemming. Lemmings dritter Fall
Reinbek: Rowohlt 2006. 281 S., € 9,20
Leopold Wallisch, der „Lemming“, schlittert wider Willen in seinen dritten Ermittlungsfall. Ein Kriminalfall, der mit einem
strangulierten Pinguin im Schönbrunner
Tiergarten beginnt und mit zwei menschlichen Todesfällen, einem Selbstmord und
einem Unfall, endet.
Ein Pinguin muss sterben, weil ein Tierliebhaber – Pokorny, Nachtwächter im
Tiergarten, ehemaliger Kunstaktivist und
Kollege von Wallisch – zur Herausgabe der
von Studenten als Aktion geraubten und
ihm anvertrauten „Saliera“ gezwungen
werden soll. Die Kunststudenten hatten es
sich zur Aufgabe gemacht, den Kunstbetrieb ein bisschen aufzumischen. Der
Scherz wird Ernst, als der Wert des berühmten Salzfasses einen der Studenten
verführt, Kapital daraus zu schlagen ...
Wallisch, der den Pinguin bei seiner
Nachttour gefunden hat, kommt nur deshalb zu „seinem Fall“, weil der reiche Industrielle, Tierpate und Kunstmäzen Hörtnagel Interesse an der Pinguingeschichte
zeigt und ihn als Ermittler engagiert. Der
ahnungslose Wallisch hinkt den Entwicklungen hinterher, der Fall erledigt sich eigentlich fast von selbst. Die Verwicklungen
dazwischen, die Vielzahl der auftretenden
Wiener Originale, der Wechsel der detailreich geschilderten Schauplätze, schräge
Typen aus Kunst-, Politik- und Unterwelt
sowie die Verflechtungen zwischen Geld,
Politik und Wirtschaft, füllen in einer
manchmal amüsanten, manchmal auch
recht derben und breiten Sprache 281
nicht immer spannungsgeladene Seiten.
Der Autor wollte ein reales ungelöstes
Verbrechen mit literarischen Mitteln klären. Doch wider Erwarten wurde der Fall
überraschend gelöst. Trotzdem wurde das
Manuskript veröffentlicht – und sehr weit
weg von der Realität ist Slupetzky nicht.
Elisabeth Duchkowitsch
Belletristik Bücher aus Österreich
Wieninger, Manfred: Kalte Monde
Innsbruck: Haymon 2006. 240 S., € 18,90
Kalte Monde ist bereits der vierte Kriminalroman des Publizisten Manfred Wieninger
(Standard, FAZ) mit dem mäßig erfolgreichen „Diskont-Detektiv“ Marek Miert.
Miert lebt und ermittelt in Harland, einer
fiktiven Landeshauptstadt in der österreichischen Provinz (tatsächlich ist Harland
ein Ortsteil von St. Pölten).
Im aktuellen Fall wird Miert vom Mitarbeiter eines Parlamentariers als Bodyguard
angeheuert. Der zu beschützende Abge-
5
ordnete heißt Topf und ist Abgeordneter einer fremdenfeindlichen Law-and- OrderPartei. Mierts Ersparnisse sind so geschrumpft, dass er den Auftrag annimmt.
Gleichzeitig setzt ihn der Vorsitzende des
örtlichen Tierschutzvereins auf eine entlaufenen Katze an. Miert steigt auch hier ein.
Aber es wäre nicht Miert, wenn er diese
beiden Aufträge nicht ehebaldigst wieder
zurücklegen würde. Statt dessen verpflichtet er sich einer 83-jährigen Kommunistin
und Altersheiminsassin an, ihren seit
Kriegsende verschollenen Bruder ausfindig
zu machen.
Inzwischen holt ihn jedoch seine Vergangenheit als Polizist ein. Miert ist unter
äußerst unschönen Umständen aus dem Polizeidienst geschieden und jetzt brauchen
ein paar einflussreiche Persönlichkeiten gerade ihn um einen seiner ehemaligen Kollegen von der Karriereleiter zu schubsen.
Wieninger strapaziert schon sehr viele
Klischees, um die Zustände in der Provinz
darzustellen und auch sein Wortwitz wirkt
manchmal ein wenig bemüht, dennoch
ein unterhaltsamer, gut lesbarer und somit
empfehlenswerter Krimi aus Österreich.
Günther Badstuber
dessen Mutter. Alle zusammen versuchen
nun, das Rätsel des Testaments zu lösen
und kommen zunächst immerhin dem gesuchten Geschäftsmann auf die Spur ...
Eine durchaus ansprechende Lektüre,
die sich gut für sommerliche Lesestunden
eignet. Einen Sonderpreis für Originalität
sollte die Autorin noch für ihre Idee erhalten, Rembrandt und Wallenstein in ein und
demselben Roman vorkommen zu lassen.
Isolde Grabner
Gewürzhandel modernisieren will, bekommt jedoch unerwartete Konkurrenz
durch den angeblichen Müssiggänger und
Lebemann Robert Iserbrook, der als jüngerer Sohn nach Justus’ plötzlichem Tod das
väterliche Firmenimperium übernehmen
will ...
Die Hamburger Autorin Christa Kanitz,
die nach ihrem Psychologiestudium längere Zeit im Ausland lebte, bevor sie in Hamburg als Journalistin für den Südwestfunk
Baden-Baden und verschiedene Zeitungen
arbeitete, bleibt in Die Venezianerin ihrem
Thema treu: Nach dem vierbändigen Familienepos über die Hamburger Kaufmannsfamilie Stelling erscheint nun der erste
Band einer neuen Hamburger Familienchronik, in deren Mittelpunkt die ebenso
entschlossene wie geschäfttüchtige Silvana
Iserbrook steht, die mit allen Mitteln um
das Erbe ihrer Kinder kämpft und sich auch
durch Schicksalsschläge und Intrigen nicht
von ihrem Ziel abhalten lässt.
Neben der eigentlichen spannenden
und unterhaltsamen Romanhandlung vermittelt Kanitz ihren Leserinnen Wissenswertes über die Gepflogenheiten und das
Leben der hanseatischen Kaufleute im
Hamburg des 19. Jahrhunderts. Sie überzeugt dabei mit differenzierten und vielschichtigen Charakterschilderungen ihrer
ProtagonistInnen. Neben den Iserbrooks
werden auch wichtige leitende Angestellte
und das Dienstpersonal überzeugend dargestellt.
Dagmar Feltl
Anno dazumal
Glan, Katja von: Rembrandts
Garten
München: Nymphenburger 2006. 415 S.,
€ 23,60
Anstatt von seinem Vater wenigstens nach
dessen Tod die Anerkennung als einzig
wohlgeratener Sohn zu erfahren, sekkiert
der Verstorbene den jungen niederländischen Maler Marten auch noch mit einem
verklausulierten Testament. Nachdem diese Tatsache mit Freund Rembrandt in einer
Schenke bei ausgiebig Bier beweint worden ist, ist das vermaledeite Schriftstück
auch schon wieder weg. Von Marten im
Suff vergessen, hat es Rembrandt zuerst an
sich genommen, dann als Skizzenblatt
missbraucht – und im Anschluss dem porträtierten Geschäftsmann mit nach Stralsund gegeben.
Um an die erhoffte Erbschaft zu gelangen, bleibt Marten nichts anderes übrig,
als sich ebenfalls an die Ostsee zu begeben – im Jahr 1628 kein ungefährliches
Unterfangen, wird Stralsund doch von
Wallensteins Truppen belagert. Kaum angekommen, wird Marten auch schon überfallen und beinahe zu Tode geprügelt; zu
seiner Rettung erscheint aber glücklicherweise die Tochter der städtischen Hebamme, Flora. Flora und ihre Mutter Alwine
nehmen den Verletzten für die Dauer der
Belagerung bei sich auf, ebenso wie den
von Alwine vorgesehenen Heiratskandidaten für Flora, dazu ein vermeintliches
Waisenkind sowie im weiteren Verlauf
Kanitz, Christa: Die Venezianerin.
Die Gewürzhändler-Saga
München u.a.: Langen Müller 2006.
320 S., € 20,20
Hamburg 1815: Justus Iserbrook hat gemeinsam mit seinem Bruder Clemens und
seinen erwachsenen Kindern Moritz, Robert und Johanna ein florierendes Handelsunternehmen mit Gewürzen aufgebaut. Als sein ältester Sohn und Firmenerbe Moritz während seiner Reise nach
Hamburg bei einem Schiffsunglück ums
Leben kommt, zwingt Justus Iserbrook seine venezianische Schwiegertochter Silvana und ihre drei Kinder nach Hamburg
zu übersiedeln, da seine Enkel nach Justus’
Tod den Gewürzhandel erben sollen. Die
noch junge und schöne Italienerin willigt
schliesslich ein, um einem einsamen Leben als trauernde Witwe zu entgehen.
Silvana, die mit der Hilfe von Clemens
adliger Frau Mathilde den Iserbrook’schen
Anno dazumalBelletristik
6
Rutherfurd, Edward: Die Rebellen
von Irland
Aus dem Englischen
München: Blessing 2006. 766 S., € 25,70
Die Rebellen von Irland ist der zweite und
abschließende Teil der Dublin-Saga, in
welcher die Geschichte der Grünen Insel
an Hand von Familienportraits nachgestaltet wird – hier der Zeitraum von 1597 bis
1922. Im Mittelpunkt der Handlung stehen
die Mitglieder der Familie Walsh, welche
in einem Zeitalter, das von kämpferischen
Auseinandersetzungen zwischen irischen
Katholiken und protestantischen Engländern geprägt ist, eine gemäßigt tolerante
Position vertritt. Während andere Familien
(bekannt aus Die Prinzen von Irland, dem
ersten Band der Saga) an den Glaubenskriegen entweder skrupellos verdienen
oder sich darin bis zur Auslöschung aufreiben, gelingt es der Familie Walsh über die
Jahrhunderte, politisch, religiös und gesellschaftlich autonom zu bleiben, so dass sie
gegen Ende des 18. Jahrhunderts einen Sitz
im irischen Parlament inne haben. Sie gehören zu jenen Iren, die durch eine friedliche Politik die politische Abkoppelung von
England erreichen wollen (was erst durch
die Freiheitskämpfe von 1922 gelingt).
Edward Rutherfurd bleibt auch im vorliegenden Band seinem Erzählprinzip treu,
Geschichte in einzelnen Familienepisoden
realistisch nachzuzeichnen. Der Autor
deckt hier dem Thema gemäß in bester irischer Erzähltradition ein breites Spektrum
an Emotionen ab. Karten und Familienstammbäume erleichtern das Zurechtfinden in dem 760 Seiten starken Band.
Hermann Gamauf
Schweikert, Ulrike: Das Siegel des
Templers
München: Blanvalet 2006. 603 S., € 20, 60
Der Templerorden ist der zweite geistliche
Ritterorden, der in der Folge der Kreuzzüge entstanden ist. Er beschäftigt sich nicht
nur mit dem Kriegshandwerk, sondern ist
auch finanziell erfolgreich tätig und Inhaber von in ganz Europa ausgedehnten Besitztümern. Sein Reichtum und seine übernationale, nur dem Papst verantwortliche
Ideologie, wird dem Orden zum Verhängnis. Es ist eine Vielzahl historischer Roma-
ne knüpfen an alte Templerlegenden und
moderne Verschwörungstheorien an, doch
der vorliegende Band hat damit, dem Titel
zum Trotz, nur am Rande zu tun.
Hauptfigur ist das „Ritterfräulein“ Juliana von Ehrenberg, das sich, als Knappe
verkleidet und umgeben von vier männlichen, undurchsichtigen Büßern, auf einen
Pilgerweg begibt, um den Spuren des Vaters zu folgen, der als Mörder eine Bußfahrt unternehmen muss. Das Mädchen
hat Zweifel an der Schuld des Ritters und
möchte von ihm die Wahrheit erfahren.
Auf dieser langen und abenteuerlichen
Reise muss Juliana eine Vielzahl von
schwierigen Situationen meistern und gerät in eine lang geplante Verschwörung.
Der auf zwei Zeitebenen spielende
Roman, mit einer starken Frauenfigur als
dominierende Protagonistin, gibt einen interessanten Einblick in das mittelalterliche
Pilgerwesen, da der gesamte Reiseverlauf
bis nach Santiago viele Informationen beinhaltet. Die Charaktere sind eindringlich
gezeichnet und der historische Hintergrund
der manchmal nicht ganz realistisch wirkenden Geschehnisse ist gut aufbereitet.
Renate Zeller
Furcht und Schrecken
Higgins Clark, Mary: Weil deine Augen ihn nicht sehen
Aus dem Amerikanischen
München: Heyne 2006. 397 S., € 20,60
Die Frawleys sind erst kürzlich von New York in ein großes Haus in einer Kleinstadt übersiedelt. Das junge Paar mit den bezaubernden dreijährigen Zwillingen wurde wohlwollend in der Gemeinde aufgenommen und ist allgemein beliebt. Umso mysteriöser
erscheint es, als die beiden kleinen Mädchen aus dem Haus geraubt werden. Die in der Folge gestellte horrende Lösegeldforderung wird von Steve Frawley´s Firma nach einigem Zögern bezahlt. Doch nur eines der beiden Mädchen kommt frei. Ihre
Schwester hat die Entführung angeblich nicht überlebt.
Die Handlung bewegt sich auf mehren Ebenen, so dass die LeserInnen auf verschiedenen Fronten nah am Geschehen sind. Nach
dem reibungslosen Ablauf der Entführung und den routiniert beginnenden Ermittlungen, gerät die
sorgfältige Planung des Entführers plötzlich außer Kontrolle. Die junge Frau, welche die Kinder während der Zeit der Entführung betreuen soll, erweist sich als neurotisch und extrem unzuverlässig. Sie
beseitigt nicht nur einen der Mittäter, sondern behält auch eines der Mädchen, da ihr ein eigenes
Kind verwehrt blieb. Damit jedoch gerät sie in einen irritierenden Strudel von Komplikationen, der
ihre Fähigkeiten bei weitem überfordert. Schon bald empfindet sie das mittlerweile kranke Kind als
ungeheure Belastung ...
Wie die ermittelnden Agenten, tappen auch die LeserInnen im Dunklen, denn die Autorin hat ihre
verschiedenen Täter zu Beginn der Handlung mit Decknamen versehen. Erst nach und nach werden
die Verbindungen zwischen den Namen hergestellt. Vermischt mit parapsychologischen Phänomenen und aufgepeppt mit Überraschungsaktionen couragierter Einzelpersonen bleibt die Handlung bis
zum Schluss spannend. Wie sämtliche der zahlreichen Vorgängerbände der bekannten amerikanischen Autorin ist auch der vorliegende Krimi routiniert und unterhaltsam.
Elisabeth Schögler
BelletristikFurcht und Schrecken
Camilleri, Andrea: Die Passion des
stillen Rächers. Commissario
Montalbano stößt an seine Grenzen
Aus dem Italienischen
Bergisch Gladbach: Lübbe 2006. 253 S.,
€ 18,50
Eigentlich ist Commissario Montalbano
nach einer Schussverletzung und einem
dadurch bedingten Krankenhausaufenthalt
noch im Krankenstand und wird von seiner
Freundin Livia, die sich extra Urlaub genommen hat, umsorgt. Trotzdem bekommt
er den Auftrag, bei der Lösung eines komplizierten Falles zu helfen und Ermittlungen
anzustellen, was ihm gar nicht unrecht ist,
da er sich schon reichlich langweilt.
Auf einer abgelegenen Landstraße wird
das Moped einer jungen Studentin gefunden. Da sie nicht nach Hause zurückkehrt,
wo sie ihre todkranke Mutter pflegt, macht
ihr Vater eine Vermisstenanzeige. Bald
stellt sich heraus, dass sie entführt worden
ist. Der geforderte Betrag ist von ihrer Familie niemals zahlbar. Die Entführer versuchen die Ermittler auf eine falsche Fährte
zu locken, doch Montalbano vermutet die
Hintergründe zu Recht im Umfeld der
Familie.
Warum Commissario Montalbano ausgerechnet in diesem Buch an seine Grenzen stoßen sollte, wie der Titel der deutschen Übersetzung suggeriert, bleibt unklar. In gewohnter Manier löst der sizilianische Kriminalist den Fall, der diesmal ganz
ohne Mord und Totschlag und vollkommen unblutig und gewaltlos daherkommt.
Trotzdem ist auch diesem Roman des beliebten sizilianischen Autors Andrea Camilleri eine ziemliche Spannung nicht abzusprechen, auch einige fast philosophische Einschübe hemmen den Lesefluss
nicht. Ein kleines Meisterstück ist die seitenlange Beschreibung über die Funktion
einer Spinne und ihres Spinnennetzes .
Liesbeth Mansbart
Fielding, Joy: Träume süß,
mein Mädchen
Aus dem Englischen
München: Goldmann 2006. 415 S., € 20,60
Jamie Kellog ist knapp 30 Jahre alt und bekommt ihr Leben nicht wirklich in den
Griff – weder beruflich noch in Liebesdingen. Sie ist Single, träumt von der großen
7
Liebe und tröstet sich manchmal mit verheirateten Männern. Mutter und Schwester
halten sie für eine Versagerin und so fühlt
Jamie sich auch. Nach einem weiteren frustrierend gelaufenen Tag setzt sich Jamie in
eine Bar und begegnet dort Brad Fisher, einem charmanten jungen Mann, gut aussehend und liebenswert. Er überhäuft Jamie
mit Komplimenten und verwöhnt sie. Jamie fühlt sich geschmeichelt, begehrt, und
vor allem endlich von jemandem verstanden. Brad verführt Jamie, aber es bleibt
nicht nur bei einer Nacht. Der wunderbare Brad schlägt Jamie eine gemeinsame
Reise nach Ohio vor. Die romantisch veranlagte Jamie ist überglücklich, noch nie
hat sie sich so geliebt und geborgen gefühlt. Sie vertraut Brad blind und lässt sich
leidenschaftlich auf diese Liebesgeschichte
ein. Dass sie dabei ihr altes unglückliches
Leben hinter sich lässt, ist ihr ganz recht.
Doch es beginnt eine Fahrt in einen
Albtraum. Bald gibt Brads unberechenbares Verhalten, das hinter der liebenswürdigen Fassade auftaucht, ebenso Grund zum
Zweifeln wie seine seltsamen Auskünfte
über seine Vergangenheit. Aber wer denkt
schon, dass es sich hier um einen gewalttätigen Psychopathen handelt? Erst als alles außer Kontrolle gerät und Jamie nur
mehr als Brads Spielzeug fungiert, das er
sich mit grausamen Methoden gefügig
hält, muss sie erkennen, in welcher Gefahr
sie sich befindet.
In einer parallelen Erzählperspektive
wird die Geschichte von zwei Frauen, die
in der Mad River Road (so der Originaltitel
des Romans) wohnen, geschildert. Beide
sind dort hingezogen, um aus ihrem früheren Leben zu flüchten und leben dort mehr
schlecht als recht mit ihren Söhnen, beide
haben sie einiges zu verbergen. Bald wird
offensichtlich dass Brads Reise zu einer der
Frauen führt.
Die Autorin setzt gern Psychopathen
ein und versteht es Hochspannung aufzubauen und über lange Strecken zu halten –
Fielding-AnhängerInnen werden sich freuen. Ein temporeicher und dramatischer
Psychothriller mit überzeugend lebensechten Frauengestalten, in dem es um emotionalen Missbrauch und um weibliche Sehnsüchte und Ängste geht.
Claudia Sykora-Bitter
Cussler, Clive: Geheimcode Makaze
Ein „Dirk-Pitt“-Roman
Aus dem Amerikanischen
München: blanvalet 2006. 508 S., € 22,60
Der Pazifikkrieg der 40er-Jahre geht seinem Ende zu. In zwei U-Booten müssen
die Japaner ihre Geheimwaffe gegen die Amerikaner – eine Virenbombe, mit deren Hilfe sie einen Waffenstillstand zu erzwingen versuchten – zurücklassen. Als
ein südkoreanischer Geschäftsmann, der in Wirklichkeit ein nordkoreanischer
Spion ist, auf die Spur dieser Waffe kommt, heckt er einen teuflischen Plan aus.
Mit Hilfe der Bombe möchte er einen Großteil der amerikanischen Bevölkerung
vernichten, um im entstehenden Chaos Südkorea zu annektieren. Als die Amerikaner Wind von der Sache bekommen, tritt Dirk Pitt auf den Plan. Aufgrund seines Alters gibt er die Untersuchungen an seine Zwillingssöhne ab, die den Plan
der Nordkoreaner vereiteln sollen. Dirk und Summer
Pitt gelingt es in einer Reihe von spektakulären
Abenteuern, das Problem zu lösen. Am Ende des
Buches zeigt aber Dirk Pitt senior, dass er doch noch
nicht ganz zum alten Eisen gehört, und er rettet
schlußendlich wieder die Welt vor den Extremisten.
Clive Cussler, als Autor von Spannungsgeschichten
auf hoher See bekannt und beliebt, erzählt ein weiteres Abenteuer seines Helden Dirk Pitt, der altersbedingt langsam, aber sicher abtritt. Vielleicht
schrieb auch deshalb Cusslers Sohn Dirk erstmals an
einem seiner Romane mit.
Andreas Schleif
Furcht und SchreckenBelletristik
8
Jungstedt, Mari: An einem
einsamen Ort
Aus dem Schwedischen
München: Heyne 2006. 352 S., € 19,50
Kaum ist auf der Ostseeinsel Gotland nach
der blutigen Mordserie aus dem Vorjahr
Ruhe eingekehrt, wird das Urlaubsparadies erneut von einer bestialischen Gewalttat erschüttert. Doch das enthauptete
Pony bildet erst den Anfang einer rituell
motivierten Blutspur, die Kommissar Knutas und seine Kollegen beschäftigt. In seinem nunmehr dritten Fall bekommt es der
ambitionierte Kriminologe mit einer verschwundenen Archäologiestudentin zu
tun, deren Wiedererscheinen für Aufregung sorgt: Ist sie doch nackt an einen
Baum geknüpft – ertränkt, erhängt und mit
einem Messer malträtiert. Und während
die örtliche Mordkommission fieberhaft
nach dem Täter fahndet, gibt es schon bald
weitere Opfer ...
Spannend und aufreibend schildert die
gelernte Radio- und TV-Journalistin Mari
Jungstedt die blutrünstigen Ereignisse rund
um Kommissar Andres Knutas und knüpft
damit nahtlos an ihre beiden Reihen-Vorgänger an. 16 Tage umfasst die Handlung
des Psychothrillers, der, unterteilt in kurze,
mit dem jeweiligen Datum versehene
Kapitel, das grausame Geschehen bis zum
ersehnten Höhepunkt treibt.
Gänsehaut und Herzklopfen sind bei
der Lektüre dieses Buches garantiert, das,
glaubt man der Autorin, nicht das Letzte
seiner Art sein wird und zudem schon bald
auch via Fernsehen einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden soll.
Noch dieses Jahr wird der beliebte deutsche Schauspieler Walter Sittler die Rolle
des Kommissars in einer TV-Produktion
verkörpern. Doch nicht nur aus diesem
Grund sei An einem einsamen Ort allen
Krimifans empfohlen
Martina Rényi
Larsson, Åsa: Weiße Nacht
Aus dem Schwedischen
München: Bertelsmann 2006. 382 S.,
€ 20,60
Es ist Mittsommernacht in Jukkasjärvi, einem kleinen Ort nahe Kiruna, zweihundert Kilometer nördlich des Polarkreises,
als die Pastorin Mildred Nilsson gefunden
wird – aufgehängt unter der Orgel ihrer
Kirche. Sofort sind die Bilder des im
Polarwinter ermordeten Predigers Viktor
Strandgård wieder da. Und für die Anwältin Rebecka Martinsson werden Erinnerungen wach an die schlimmsten Stunden ihres Lebens: Bei den Ermittlungen zum Fall
Strandgård (in Sonnensturm, dem ersten
Kriminalroman von Åsa Larsson) hatte sie
in Notwehr drei Menschen erschossen.
Erst jetzt kommt der Zusammenbruch. Ihr
Chef will sie vor dem endgültigen Absturz
bewahren und schickt sie mit einem Kollegen nach Kiruna. Sie begegnet Pastor Stefan Wickström, Mildreds Nachfolger, entdeckt einen Safe mit Drohbriefen an die
ermordete Pastorin und wird mit dem Hass
konfrontiert, der Mildred wegen ihres Engagements für Frauen in Notlagen entgegenschlug. Kommissarin Anna-Maria Mel-
la, die Rebecka bereits kennt, hat ihren Urlaub abgebrochen und sieht sich einem
gefährlichen Gemisch aus enttäuschter
Liebe und hilflosem Hass gegenüber.
Dann verschwindet plötzlich Pastor Wickström und die Situation eskaliert …
Wie schon in ihrem ersten Roman so
gelingt es Åsa Larsson auch in Weiße
Nacht in einer präzisen und dichten Sprache (vielen Dank an Gabriele Haefs für die
Übersetzung aus dem Schwedischen!)
nicht nur einen spannenden Krimi, sondern auch ein Stück „große“ Literatur zu
schreiben. So werden Naturbeschreibungen, eine der schwierigsten Textgenres
überhaupt, zu einem wichtigen und unverzichtbaren Bestandteil der Erzählhandlung.
Thomas Pöltl
Kellerman, Faye: Und da war Finsternis
Aus dem Englischen
München: Bertelsmann 2006, 446 S., € 19,95
Die erfolgreiche amerikanische Autorin Faye Kellerman, ausgebildete Zahnärztin
und verheiratet mit Bestsellerautor Jonathan Kellerman, wurde vor allem durch
ihre Kriminalromane rund um das Ermittlerduo Lazarus/Decker bekannt. Während
diese Serie in ihrer Heimatstadt Los Angeles angesiedelt ist, wechselt sie mit ihrem jüngsten Opus, dem historischen Kriminalroman Und da war Finsternis, sowohl Schauplatz wie auch Genre.
Die Erzählung führt uns ins München des Jahres 1929. Die politisch aufgeheizte
Stimmung der späten Weimarer Republik bildet den Hintergrund der Ereignisse.
Am Eingang des Englischen Gartens wird eine Frauenleiche gefunden. Inspektor
Axel Berg identifiziert die mit einem Seidenstrumpf erdrosselte und zuvor vergewaltigte Frau als Anna Gross, Gattin eines wohlhabenden jüdischen Geschäftsmannes. Gross, der angibt, nichts von der nächtlichen Abwesenheit seiner Frau
bemerkt zu haben, wird von seinem Schwiegervater, einem Bankier, der stets gegen diese Verbindung war, der Tat bezichtigt. Berg ermittelt trotz politischen
Drucks seiner Vorgesetzten weiter und entdeckt, dass das mit kommunistischen
Kreisen sympathisierende Mordopfer in der Tatnacht mit einem Unbekannten ein
Kabarett besucht hatte. Eine kurz danach ebenfalls im Englischen Garten aufgefundene zweite Frauenleiche gibt Bergs Ermittlungen
neue Nahrung. Doch durch seine Weigerung, den
Juden Gross ohne Beweise der Anklage auszuliefern, gerät der politisch liberale Gross immer mehr
ins Visier der fanatischen Faschisten ...
Kellerman hat für dieses Buch eingehend recherchiert und kann mit einem plastischen Zeitbild beeindrucken. Ihr Inspektor Berg ist kein strahlender
Held, vielmehr ein Kind seiner Zeit, mit Mängeln
und Obsessionen, der seine Erfolge nicht zuletzt
den damals noch jungen Ideen der Psychoanalyse
verdankt. Dennoch ist der Plot nicht gerade überzeugend und verspricht mehr, als er letztlich hält.
Reinhard Stöger
BelletristikFurcht und Schrecken
McDermid, Val: Das Moor des
Vergessens
München: Droemer 2006. 536 S., € 20,50
Eine 200 Jahre alte Moorleiche und ein
verschollen geglaubtes Gedicht des englischen Dichters William Wordsworth sind
die Zutaten für den atmosphärisch dichten
Roman der Erfolgsautorin Val McDermid.
Im Lake District wird eine Moorleiche
mit auffälligen Tätowierungen aus der
Südsee entdeckt. Bei dem Toten handelt es
sich also wahrscheinlich um einen Seefahrer, und diese Tatsache gibt dem alten Gerücht neue Nahrung, dass Fletcher Christian, berühmter Meuterer auf der Bounty,
einst von der Insel Pitcairn geflohen ist und
seinen Lebensabend heimlich in seiner alten Heimat verbracht hat.
Als die junge Literaturwissenschaftlerin
Jane Gresham von dem Leichenfund in ihrem Heimatdorf erfährt, setzt sie alles daran, ihre Theorie zu beweisen, dass Fletcher
Christian nach seiner Rückkehr seinem Jugendfreund Wordsworth seine wahre Geschichte erzählt und der Dichter daraus
ein Gedicht gemacht hat, welches leider
verschollen ist. Als Jane endlich die Nachfahren jener Dienstmagd ausfindig macht,
der Wordsworth einst ein geheimes Dokument zur Aufbewahrung anvertraut hatte,
beginnt bei den alten Leuten das große
Sterben. Als auf sie selbst ein Anschlag verübt wird, muss sie erkennen, dass noch je-
9
mand anderer hinter dem Gedicht her ist,
und dieser jemand ist zu allem bereit ...
Gekonnt vermischt die Autorin Historie und Fiktion, allerdings hat McDermid
LiebhaberInnen blutrünstiger Kriminalromane schon spannendere Werke beschert.
Gabi Stolba
Nesser, Hakan: Die Fliege und die
Ewigkeit
Aus dem Schwedischen
München: btb 2006. 317 S., € 20,60
KrimileserInnen ist Hakan Nesser vor allem als Schöpfer von Kommissar Van Veeteren ein Begriff. Der skandinavische Autor
hat aber auch etliche andere Krimis geschrieben, einer davon ist Die Fliege und
die Ewigkeit. Er erschien bereits 1999 und
liegt jetzt in Übersetzung vor.
Der Bibliothekar Maertens lebt allein
und zurückgezogen. Seine Freizeit verbringt er damit, Klassiker abzuschreiben.
Zuweilen spielt er Schach mit einem Arbeitskollegen, gelegentlich trifft er sich mit
seiner Ex-Frau. Und er erhält regelmäßig
seltsame Anrufe ... Maertens hat Jahre im
Gefängnis verbracht. Nun ist er entlassen.
Doch die Vergangenheit holt ihn ein, als er
in der Zeitung vom Tod des bekanten Philosophen Tomas Borgmann erfährt. Tomas
war sein Studienkollege und Freund. Als
die Besten ihres Jahrganges hatten beide
Aussicht auf eine glänzende Zukunft.
Bis Maertens in das Haus ihres Professor eindrang und den gemeinsamen
Protegé im Bett erschlug. Während Tomas die Tochter des Ermordeten heiratete, wanderte Maertens ins Gefängnis.
Nun bittet die Witwe Borgmann den
Mörder ihres Vaters zu sich in ihr Haus
am Meer: Tomas hat seinen alten
Freund testamentarisch bedacht.
Zunächst lernen die LeserInnen
den trostlosen Alltag des Protagonisten
kennen. Erinnerungen an die Kindheit
und den Gefängnisaufenthalt vervollständigen das Bild einer düsteren Persönlichkeit. Dieses Bild wandelt sich,
als Maertens im Haus am Meer seine
Studienzeit Revue passieren lässt: Der
junge Student verfällt dem Charme seines skrupellosen Kollegen Tomas. Der
hat nur den eigenen Vorteil im Sinn
und schreckt nicht davor zurück, den
Freund ins Verderben zu schicken.
Wer sich durch den eher zähen
Anfang gelesen hat, wird mit aufkommender Spannung belohnt. Philosophische Exkurse halten diese jedoch im
Zaum. Langsam zeichnet sich ein mögliches Motiv für die Tat ab. Sowohl Täter als Opfer sind kaltblütig berechnend. Zwischen diese beiden gerät der
naive Maertens und bleibt als der Betrogene zurück.
Elisabeth Schögler
Peters, Elizabeth: Die Schlangenkrone
Aus dem Englischen
Berlin: Schröder 2006. 366 S., € 20,60
Luxor, Jänner 1922: Jahrelang musste das ArchäologInnenpaar Amelia Peabody und Radcliffe
Emerson auf eine der begehrten Grabungslizenzen im altägyptischen Theben warten. Endlich ist
es wieder soweit, da taucht eine exaltierte Schriftstellerin in das Haus am Nil auf. Sie drängt
Emerson die goldene Statue eines unbekannten Pharaos auf, die angeblich mit einem Fluch behaftet ist, bereits den Tod ihres Mannes verursacht habe und nun auch ihr gefährlich zu werden drohe.
Während Amelia das Ganze für einen Publicity-Gag hält und Emorson die Herkunft der Statue zu untersuchen beginnt, zieht das augenscheinlich immens wertvolle Stück zusehends nicht nur professionelle Neugier auf sich. Amelia muss schließlich erkennen, dass hinter der Schauergeschichte mehr
steckt als Aberglaube und Exzentrik und bald bewahrheitet sich wieder einmal ihr Motto: „Ein neues Jahr, eine neue Leiche“ ...
Auch in ihrem mittlerweile siebzehnten Amelia Peabody-Abenteuer verwöhnt Elizabeth Peters ihre Lesergemeinde weniger mit
Nerven zerfetzender Hochspannung denn mit der liebevollen literarischen Pflege ihrer doch recht skurrilen ProtagonistInnen.
Das britische ArchäologInnenpaar, das einander konsequent beim Nachnamen, seine Kinder nach ägyptischen Herrschergestalten und sogar den Zimmertiger „Die Große Katze des Re“ nennt, bietet seinen Fans auch diesmal bewährte Krimikost der
Marke „Agatha Christie light“: einen abenteuerlich-humorvollen Blick auf die Kolonial-Atmosphäre britischer „SalonArchäologie“ im Ägypten des frühen 20. Jahrhunderts – bekömmlich und nicht allzu scharf gewürzt.
Isolde Grabner
Furcht und SchreckenBelletristik
10
Silva, Daniel: Der Zeuge
Aus dem Amerikanischen
München: Piper 2006. 415 S., € 20,50
Daniel Silva war jahrelang CNN-Korrespondent. Seit einigen Jahren ist er erfolgreich mit seinen Büchern rund um den
israelischen Agenten/Killer Gabriel Allon.
Der Zeuge stellt den vorläufigen Abschluss
der lose zusammenhängenden Trilogie dar,
die mit Gabriel Allons Rekrutierung beginnt und den palästinensisch-israelischen
Konflikt mitsamt den Verwicklungen Österreichs und der Schweiz während des Naziregimes zum Thema hat.
Silvas Vorbilder liegen in der Spionageliteratur des Kalten Krieges. Trocken und
humorlos geht es in seinen Büchern zu,
und gerade dadurch wirkt sein Mix relativ
neu, obwohl er es definitiv nicht ist. Sein
Held Gabriel Allon ist kein Superagent,
sondern von inneren Zerwürfnissen gepeinigt und letztendlich nur eine Marionette
in einem viel zu großen Spiel.
In Der Zeuge wird Wien während eines Wahlkampfes, bei dem alles nach dem
Sieg einer rechtspopulistischen Partei aussieht, durch Attentate auf israelische Einrichtungen erschüttert. Der israelische Geheimdienst greift auf seinen besten Mann
zurück und beauftragt ihn eher inoffiziell
mit Recherchen. Allon beginnt in einer
Nazi-Vergangenheit zu wühlen, in der neben Österreich, der Schweiz und dem
Vatikan auch der CIA eine Rolle zu spielen
scheint. Schließlich sieht sich Allon auch
mit der Vergangenheit seiner eigenen
Mutter in einem Konzentrationslager konfrontiert. Eine spannungsgeladene Jagd
über drei Kontinente beginnt.
Erich Huber
Wesley, Valerie Wilson: Remember
Celia Jones. Ein Fall für Tamara Hayle
Zürich: Diogenes 2006. 270 S., € 20,50
Ihr neuester Fall bereitet der farbigen
Privatdetektivin Tamara Hayle Albträume:
Bei dem Mordopfer Celia Jones handelt es
sich nämlich um ihre beste Freundin aus
Jugendtagen. Eine kurze Zeitungsnotiz informiert Tamara Hayle über die Ermordung
ihrer Freundin und kurz darauf bittet deren
Sohn Cecil die Privatdetektivin den Fall zu
übernehmen. Die Polizei scheint sich bei
ihren Ermittlungen nicht allzu sehr anzustrengen.
Tamara übernimmt der alten Zeiten
wegen den Fall und erkennt bald, dass
Celias Liebesleben sehr turbulent gewesen
sein muss: Gebrochene Herzen pflastern
ihren Weg – doch wer wurde deswegen
auch zum Mörder? Tamaras Ermittlungen
führen immer mehr auch in ihre eigene
Vergangenheit zu ehemaligen Schulkollegen. Da wird plötzlich Celias Sohn erstochen, und wieder möchte die Polizei den
Fall so rasch wie möglich zu den Akten legen, doch Tamara steckt schon viel zu tief
in der Sache, um aufzugeben, auch wenn
sie sich dadurch selbst in Gefahr begibt.
In ihrem sechsten Fall ermittelt die Titelfigur wieder gekonnt mit Spürsinn und Einfühlungsvermögen, was den Romanen von
Valerie Wilson Wesley menschliche Tiefe
gibt und Bestandteil ihres Erfolges sind.
Gabi Stolba
Wood, Barbara: Gesang der Erde
Aus dem Amerikanischen
Frankfurt/M: Krüger 2006. 570 S., € 23,60
Die Geschichte beginnt um das Jahr 1150,
in dem eine Tochter des Schildkrötenclans
– ein friedliches, im präkolumbischen in-
dianischen Südwesten der heutigen USA
lebendes und Mais anpflanzendes Bauernvolk – von einem mächtigen Herrscher geraubt wird. Da dessen Herrschaftsgebiet
von lang andauernder Trockenheit heimgesucht wird und das Erdreich verdorrt, soll
sie die magischen Regenkrüge herstellen.
Rund 750 Jahre später entdeckt der Arzt
Faraday Hightower im Felsgestein des Chaco Canyon einen solchen Krug, kann dessen Ursprung und Sinn aber bis zu seinem
Tod nicht deuten. Erst seine Tochter, die
sein Verschwinden nie akzeptiert hat, ist
imstande, sich mit der spirituellen Kraft der
früher hier lebenden Menschen auseinanderzusetzen und ihnen nachzufolgen.
Der Inhalt von Gesang der Erde beschäftigt sich mit der Vergangenheit eines
Landes und seiner Bewohner als auch mit
der gegenwärtigen Zeit und bietet ein breites Panorama menschlicher Leidenschaften, das sich aus Liebe, Enttäuschung und
Mord zusammensetzt. Damit ist der Autorin wieder ein spannender und gut gestalteter Roman gelungen, der sich in die
Reihe ihrer erfolgreichen Publikationen
einfügt.
Renate Zeller
Reichs, Kathy: Hals über Kopf
Aus dem Englischen
München: Blessing 2006. 414 S., € 20,60
Die Anthropologin Tempe Brennan ist Krimi-Fans aus bisher acht Vorgängerbänden bestens bekannt. In diesem Fall hält sie auf einer Ferieninsel ein archäologisches Seminar ab, das durch den Fund einer recht frischen Leiche überschattet
wird. Bald tauchen immer mehr Leichen auf, die zunächst nur durch eine kleine
Wirbelverletzung miteinander in Verbindung stehen. Ein korrupter Bauunternehmer sowie der Arzt einer Ambulanz für Obdachlose scheinen die Hauptverdächtigen zu sein. Durch hartnäckige Recherchen, bei denen sie durch ihren angereisten Noch-Ehemann Pete und ihren Lover Ryan unterstützt wird, können schließlich alle Morde geklärt und der Mörder überführt werden.
In gewohnter Manier fesselt die Autorin durch die präzise, teils etwas zu detailreiche Schilderung der forensischen Methoden und
Untersuchungen. Die spannende Handlung wird
durch die Beziehungsprobleme, die die Protagonistin
mit ihren Männern durchlebt, unterbrochen. Auch die
Beschreibung der Krankheit ihrer Freundin bringt
menschliche Töne in den doch recht klinisch geschilderten Ablauf des Geschehens. Die Sprache ist oft ein
wenig zu reißerisch und gleitet zuweilen ins Klischeehafte ab.
Fans von rasanter Handlung und Filmen à la CSI werden dieses Buch jedoch mit Freude verschlingen.
Monika Nebosis
BelletristikKuss und Schluss
Cronenburg, Petra van:
Lavendelblues
Bergisch Gladbach: Lübbe 2006, 253 S.,
€ 7,95
Nachdem die beiden Freundinnen Estelle
und Dahlia mit ihrem Leben nicht mehr zurecht kommen, beschließen sie spontan,
ihre Bekannte Bruni in Südfrankreich zu besuchen, um für einige Zeit den Mühlen des
Alltags zu entfliehen. Doch Brunis Paradies
entpuppt sich bald als eine Mischung aus
Schönrednerei und Unwahrheiten.
Angeregt durch die positive Lebenseinstellung der Dorfbewohner und eingebettet in die mediterrane Gefühlswelt, erkennen die Frauen nach dem ersten Schock,
dass in jeder Niederlage auch der Keim
der Hoffnung steckt. Am Ende stehen unerwartete neue Perspektiven und die
Erkenntnis, dass wahre Freundschaft über
alle Hindernisse hinweghilft.
Lavendelblues in ein spritziger, moderner (Frauen-)Roman mit viel Gespür für
französische Lebenslust. Mit wunderbar
leichter Ironie und poetischen Sätzen verführt van Cronenburg die LeserInnen in
eine Welt, die trotz hausgemachter Probleme durchaus lebens- und liebenwert erscheint. Der geschilderte Ort steht gleichsam als Symbol für neuen Mut und eine
Aufbruchstimmung, die keine der drei
Protagonistinnen am Beginn für möglich
gehalten hätte. Trotz der Ingredienzien einer vermeintlich „leichten“ Lektüre besitzt
dieser Roman durchaus die Ambition, in
die Tiefe zu gehen und gängige Denkmuster zu hinterfragen. Eine gelungene Symbiose aus Unterhaltung und Anspruch.
Thomas Buraner
Mischke, Susanne: Liebeslänglich
München: Piper 2006. 296 S., € 17,40
Mathilde Degens Leben ist ein langer, ruhiger Fluss. Sie arbeitet als Lehrerin in einer
Privatschule, hat sich eine schöne Wohnung eingerichtet, nimmt private YogaStunden und für diverse körperliche Bedürfnisse steht auch jemand zur Verfügung,
jemand, der morgens wieder weg ist und
der ans allein Leben gewöhnten Frau beim
Frühstück nicht mehr im Weg ist. So weit,
so gut – so langweilig. Als Mathilde bei einem Arztbesuch dem Häftling Lukas Feller
begegnet, ändert sich das schlagartig.
Der charismatische Mann, der für einen Mord einsitzt (möglicherweise aber
auch mehrere begangen hat), bringt das
Gleichgewicht der bisher in sich ruhenden
Lehrerin gleich bei der ersten Begegnung
gehörig ins Wanken. Eben weil ihr Leben
bisher so gleichförmig verlaufen ist, lässt
sie sich auf das Spiel ein, beginnt einen
Briefwechsel, besucht Feller – und heiratet
ihn am Ende, allen Warnungen vor seiner
dunklen Vergangenheit und seinem dunklen Charakter zum Trotz. Was sie an ihrem
ruhigen, berechenbaren Leben hatte, wird
Mathilde recht bald bewusst, als Lukas
kurze Zeit nach der Hochzeit vor ihrer Tür
steht und einziehen will. Eine Entlastungszeugin ist aufgetaucht, ihr Mann wurde bis
zu einem neuerlichen Prozess auf freien
Fuß gesetzt – und plötzlich ist absolut
nichts mehr so, wie es war.
Aufwühlend und mitreißend zerlegt
Susanne Mischke das Leben ihrer Protagonistin, lässt die LeserInnen immer wieder
im Ungewissen. Bis zum wirklich originellen Schluss mörderspannend – kein Buch
zum Einschlafen!
Isolde Grabner
Paesel, Brett: Club der wilden
Mütter: Das Leben zwischen Windeln,
Sex und Margaritas
Aus dem Englischen
Berlin: Schröder 2006. 346 S., € 15,40
In ihrem Romandebüt beschreibt Brett
Paesel episodenhaft und sehr ehrlich, aber
auch witzig ihre Erlebnisse als Mutter – angefangen bei der Schwangerschaft über die
erste Zeit in der noch recht ungewohnten
Mutterrolle bis hin zur Geburt ihres zweiten Sohnes. Und obwohl die HollywoodSchauspielerin Paesel sicherlich nicht die
typische Mutter darstellt, erscheint sie ihren LeserInnen schon nach wenigen Seiten
als solche, denn auch sie wird von ganz
gewöhnlichen Ängsten und Problemen
heimgesucht. Dabei gelingt es ihr klar zu
machen, dass sie ihre Kinder trotz aller
Widrigkeiten wirklich liebt und es möglich
ist, neben der Mutterrolle ein eigenständiges Wesen zu bleiben. Manchmal mag das
zwar schwierig erscheinen, aber mit ein
bisschen Anstrengung ...
Club der wilden Mütter mag zwar
11
amerikanische Verhältnisse – und dort wiederum das Leben von SeriendarstellerInnen widerspiegeln –, doch viele Mütter
werden sich und Teile ihres Alltags mit
Kindern wiedererkennen.
Elisabeth Ghanim
Shakespeare, Nicholas: In dieser
einen Nacht
Reinbek: Rowohlt 2006. 535 S., € 23,60
Der englische Autor und Journalist Nicholas Shakespeare hat mit In dieser einen
Nacht einen „deutschen Wenderoman“
aus britischer Sicht geschrieben.
Am seinem 16. Geburtstag erfährt Peter
Hithersay von seiner Mutter, dass sein Vater
ein DDR-Dissident war. Trotz oder gerade
wegen seines Widerwillens gegen seine
deutschen Wurzeln, beschließt Peter, in
Hamburg Medizin zu studieren. Während
eines Kurzaufenthalts in der DDR lernt er
eine junge Frau kennen, mit der er, wie
einst seine Mutter mit seinem unbekannten
„Erzeuger“, eine einzige Liebesnacht verbringt. Im Überschwang der Gefühle verspricht er ihr, sie in die BRD zu schmuggeln, scheut aber schließlich doch davor
zurück und verleugnet sie sogar kurz vor
der Rückreise. Damit beginnt eine fast
zwanzigjährige Passion, denn er kann weder die Frau noch seine Feigheit in dieser
entscheidenden Situation vergessen. Es
sind jetzt zwei Menschen aus der DDR, der
Vater und die Geliebte, von denen er weder Namen noch Aufenthaltsort kennt, die
jedoch indirekt dafür sorgen, dass er sein
Leben auf der Suche nach ihnen mehr oder
weniger verpasst. Erst als ihn ein Zufall (der
nicht wirklich einer ist) Jahre nach dem Fall
der Mauer wieder in den Osten Deutschlands führt, gelingt es ihm mithilfe eines
ehemaligen Stasibeamten an den Akt seiner
Mutter zu gelangen – und in der Folge
nicht nur das Grab des Vaters, sondern,
ohne es zunächst zu merken, auch all das
zu finden, wonach er viele Jahre vergeblich
gesucht hatte.
Abgesehen von der Beschreibung einer
spannenden Suche, die man hoffend und
bangend mitverfolgt, hat Shakespeare
auch einen politischen Roman über die
DDR verfasst. Dabei ist die Perspektive des
Engländers besonders reizvoll.
Erich Snobr
Kuss und SchlussBelletristik
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Ungar, Claire: Ein schönes
Mädchen wie ich
Berlin: Schröder 2006. 236 S., € 15,40
In der Manier einer Ildiko von Kürthy erzählt Cláire Ungar in ihrem Debütroman
eine rasante, sehr moderne Story, die sich
um den von Männern beherrschten Medien- und Literaturbetrieb dreht.
Lena Liep hat gerade ihren ersten Roman über ihren Exmann, einst ihr Deutschlehrer, jetzt nur noch hartnäckiger, ge-
kränkter Verfolger, erfolgreich herausgegeben. Ihre erste Einladung zu einer Feier mit
Verlagsvertretern und Journalisten endet
jedoch gleich mit einer Katastrophe, als
der Kritikerpapst sie dreist anmacht und
Lena ihn unfreiwillig über eine Galeriebrüstung kippt. Am nächsten Tag ist sie bereits bei der Polizei vorgeladen, ein Produzent meldet sich und will aus ihrem Roman einen Film drehen, und als ihr Ex davon Wind bekommt, verlangt eine finanzielle Beteiligung. Als der Literaturchef ei-
ner Lokalzeitung nicht den versprochenen
Artikel über Lena druckt , bringt sie ihn in
eine unangenehme Lage. Nach einer weiteren Serie von Missgeschicken und anderen Turbulenzen wird die Situation brenzlig …
Claire Ungars Heldin ist modern, unabhängig und gewitzt. Ihr mitunter
schnoddriger Tonfall steht im Einklang mit
der Geschichte des flüssig und spannend
geschriebenen Unterhaltungsromans.
Birgit Hartl-Klasna
Lebensbilder
Baldursdóttir, Kristín Marja: Die
Eismalerin
Belgrano Rawson, Eduardo: Rosas
Stimme
Aus dem Isländischen
Frankfurt/M.: Krüger 2006. 460 S., € 19,80
Aus dem argent. Spanischen
München: Beck 2006. 382 S., € 19,90
Aus dem Englischen
Frankfurt/M: Suhrkamp 2006. 333 S.,
€ 20,40
Die bekannte isländische Autorin beschreibt in diesem Roman das schwere
Leben zweier isländischer Frauengenerationen am Beginn des 20. Jahrhunderts.
Nach dem frühen Tod ihres Mannes
verlässt die Witwe Steinunn ihren Bauernhof in Westisland und übersiedelt mit ihrer
Familie an die Nordküste, um für die schulische Bildung ihrer sechs Kinder Sorge zu
tragen. Der Plan geht dank der Disziplin
und des Zusammenhalts der gesamten
Familie auf. Es arbeiten alle in einer Heringsfabrik, um die Kosten für die Ausbildung der Kinder aufzubringen. Nur Karitas, die in all diesen schweren Jahren den
Haushalt geführt und als Wäscherin bei
reichen Leuten gearbeitet hat, ist noch
ohne Beruf. Dank ihres außerordentlichen
kreativen Talents erhält sie ein Stipendium
für die Kunsthochschule. Nach ihrer Rückkehr möchte sie Geld verdienen und eine
Galerie eröffnen, doch sie hat nicht mit
Sigmar gerechnet, der ihr Leben sehr
schnell in konventionelle Bahnen leitet ...
Wie in den bisherigen Romanen der
Autorin stehen die Frauenschicksale im
Vordergrund. Diesmal allerdings nicht in
der gewohnten ironischen und mit schwarzem Humor garnierten Weise, sondern in
Form einer bewegenden und dramatischen
Lebensschilderung. Trotz der manchmal etwas überzeichnet wirkenden Serie von
Schicksalsschlägen fesselt die Geschichte
dieser Familie bis zur letzten Seite.
Elke Simon
Ausgehend von Lebensläufen oder Episoden aus dem Leben von Protagonisten der
gescheiterten Invasion Kubas durch exilkubanische Truppen in der Schweinebucht,
entfaltet Belgrano Rawson eine Geschichte des karibischen Raums: eine von Erzähllust getriebene Geschichte von politischen
Abenteurern, von Marionetten der USA
und der United Fruit Company, eine Geschichte von kleinen Verlierern in Opposition zu den großen Diktatoren.
Meisterhaft gelingt dabei die Gegenüberstellung des Lebens der kubanischen
Rebellen mit dem Leben der Agenten „der
Firma“, beinahe witzig die Aufzählung der
Attentatspläne auf Fidel Castro. Der Autor
vermischt historische Ereignisse gekonnt
mit fiktiven Erlebnissen seiner kleinen
Helden. Virtuos konterkariert er bei der
Schilderung des Fluchtversuchs seiner
sympathischen Protagonisten Tony und
Rider aus Kuba Elemente des Schelmenromans mit der Widergabe der großen
Tragödie heutiger Boat People.
Am Ende des Romans hat man unzählige Schicksale und pralle Lebensgeschichten erlesen, die Machtpolitik der letzten
Supermacht und ihrer großen Unternehmen kennen gelernt und ist möglicherweise etwas verstört durch die vielen, manchmal nur angerissenen Episoden. Von Rosa,
der Sprecherin des Propagandasenders Radio Swan und Namensgeberin des Romans, verliert sich am Ende jede Spur.
Christian Jahl
Ruth Rothwax führt in New York ein überschaubares und geordnetes Leben. Sie telefoniert täglich mit ihrem 87-jährigen Vater
Edek in Australien, der nach dem Tod ihrer
Mutter ein wenig einsam ist. Ihre Eltern haben als einzige in ihren Familien Auschwitz
überlebt. Mit einem Schlag ändert sich
Ruths Leben, als Edek beschließt, nach New
York zu übersiedeln. Nach seinem Eintreffen macht er sich in Ruths Firma nützlich
und richtet ein ordentliches Chaos an. Aber
es kehrt bald Ruhe im Büro ein, weil Edek
plötzlich anderweitig beschäftigt ist. Zofia
und Walentyna, zwei Witwen, die Edek vor
Jahren in Polen kennengelernt hat, tauchen
auf. Und nun wollen die drei ein Lokal eröffnen, ein polnisches Lokal, spezialisiert
auf Klopse, „Klopse nicht von dieser Welt“.
Das Lokal wird ein ungeheurer Erfolg – und
die einstige Affäre zwischen Edek und Zofia
geht weiter ...
Die ProtagonistInnen des Romans sind
Lily Brett-LeserInnen aus Zu viele Männer
bekannt. Der Roman ist dicht, hat viele Facetten. Das Problem von Holocaust-Überlebenden und deren Kindern wird ebenso
behandelt wie das Phänomen Alterssex
und die Schwierigkeit der Nachgeborenen,
damit umzugehen. Was den Roman aber
besonders liebenswert macht, ist die einnehmende Zeichnung der Figuren und die
grosse Portion (jüdischen) Humors. Zu
Recht behauptet Chuzpe seinen Platz in
allen Bestseller-Listen.
Wolfgang Binder
Brett, Lily: Chuzpe
BelletristikLebensbilder
Delius, Friedrich Christian: Bildnis
der Mutter als junge Frau
Reinbek: Rowohlt 2006. 128 S., € 14,90
Rom 1943, mitten im zweiten Weltkrieg.
Eine schwangere deutsche Frau geht durch
die Stadt, um ein Konzert in einer evangelischen Kirche zu besuchen. Sie fühlt sich
verloren, ist eingeschüchtert durch die
fremde Umgebung, ist vorsichtig gegenüber deutschen Soldaten und italienischen
Schwarzhemden. Behütet wohnt sie in einem Schwesternheim. Ihr Mann, ein Pfarrer, dient an der Front in Afrika. Für einen
kurzen Moment haben sie beide schon geglaubt, sie entkämen der Trennung. Aber
kaum sind sie nach der Heirat in Rom angekommen, wird der Mann nach verlustreichen Schlachten sogar als Verletzter
eingezogen. Briefe halten die Verbindung.
Im Kopf hält sie Zwiesprache mit ihrem
Mann, während sie durch die Stadt geht.
Einmal mehr ein melancholisches
Mutter-Buch? Noch ein sentimentaler
Rückgriff auf eine längst vergangene Kindheit? F. C. Delius gibt sich in der Rückblende auffallend nüchtern und analytisch und
trotzdem sympathisch anschmiegsam. Er
schlüpft als Erzähler in seine Mutter, erzählt präzise aus ihrer Perspektive, was sie
in Rom an Alltag und Architektur wahr
nimmt, was sie innerlich umtreibt, was sie
fürchtet. In Summe ergibt die Rollenprosa
ein fein beobachtetes Bild über Rom im
Krieg, über politische Normalität und sich
anbahnende Zuspitzung, über die protestantischen Wurzeln einer Deutschen und
ihre Konfrontation mit dem Nationalsozialismus. Die enorme Pracht der römischen
Kirchenwelt irritiert sie. Schnörkellose, reiche Prosa in einem schmalen Band.
Alfred Pfoser
Khadra, Yasmina: Die Attentäterin
Aus dem Französischen
München u.a.: Nagel & Kimche 2006.
269 S., € 20,50
Amin Jaafari, israelischer Staatsbürger arabischer Herkunft, Chirurg in Tel Aviv, hat
sich angepasst. Er lebt mit seiner Frau, die
er über alles liebt, im Nobelviertel, unterhält keinen Kontakt zu seiner Verwandtschaft und ist trotzdem ein Bürger zweiter
Klasse. Nach einem Selbstmordattentat
operiert er den ganzen Tag und als er völlig übermüdet heimfährt wird er bei jeder
13
Strassensperre von der Polizei gedemütigt.
Endlich daheim, holt ihn ein Anruf ins
Krankenhaus zurück. Er soll die Leiche der
Attentäterin identifizieren – es handelt
sich um Sihem, seine Frau. Nach langen
Verhören wird auch den Israelis klar, dass
er mit dem Attentat nichts zu tun hat, ja
nicht einmal etwas davon geahnt hat.
Zuerst laufen all seine Reaktionen so ab,
wie sie wohl jeder, der einen geliebten
Menschen verliert, durchlebt. Aber bald
stellen sich weitere Fragen bei ihm ein.
Warum ist Sihem zur Fundamentalistin geworden, warum hat er nichts davon bemerkt. Auf der Suche nach Antworten fährt
er in ihren Heimatort, wo Sihem am Tag
vor dem Attentat gesehen wurde ...
Dieser in der Ich-Form geschriebene
Roman von Yasmina Khadra, der in Algerien Offizier der Streitkräfte war, ehe er
2000 nach Frankreich ins Exil ging, wird
mit Fortgang der Handlung immer dichter
und vielschichtiger. Es wird klar, wie weit
Israelis und Palästinenser voneinander entfernt sind. Er beschreibt die patriarchalischen Strukturen der palästinensischen
Clans, das Zusammenleben in den Städten, das kein Zusammenleben ist, die Räumungsaktionen der Israelis im Westjordanland und deren gezielten Tötungsaktionen
– und man lernt verstehen, was in Israel
vorgeht. Der Erfolgsroman soll demnächst
verfilmt werden.
Wolfgang Binder
Powers, Rrichard: Das Echo der
Erinnerung
Aus dem Amerikanischen
Frankfurt/M: Fischer 2006. 533 S., € 20,50
Karins Bruder Marc hat sich auf einem
Highway mit dem Auto überschlagen und
wurde schwer verletzt ins Krankenhaus
eingeliefert. Karin sucht ihn auf, will ihn
zum Leben ermuntern, das ist sie ihm
schuldig. Die alten Familiengeschichten
steigen hoch. Allerdings ist das, was sie
dann im Spital erlebt, für sie höchst erschütternd und irritierend. Er hält sie für
eine Feindin, für eine aggressive Doppelgängerin, die ihn nun bekämpft. Der Weg
zur Heilung ist denkbar kompliziert, und
zwar für alle Beteiligten
Das Echo der Erinnerung will zweierlei. Einerseits ist das Buch ein gut lesbarer,
etwas ausufernder amerikanischer Familienroman klassischer Prägung: mit starken
Charakteren, vielen biographischen Details und Nebenhandlungen sowie einem
Provinz-Schauplatz. Andererseits ist es
eine am Fall Marks orientierte Einführung
in die Gehirnphysiologie und gibt sich
stark medizinorientiert und philosophisch.
Das Echo der Erinnerung ist durchaus
sachlich gemeint: Powers stellt die Frage,
wie das Gehirn mentale Räume konstruiert, die oft gar nichts mit Wirklichkeit
und Wahrheit tun haben, einzig das Kriterium der Stimmigkeit steuert die Vorgänge im Hirn. Und er betont, wie zerbrechlich das Ich ist. Das Buch stellt große
Fragen, zeigt sich stark in der poetischen
Naturbeobachtung und dialogreichen
Charakterschilderung – und es baut sehr
geschickt seine Beschreibungen über die
Tücken der Erinnerungslandschaften ein.
Alfred Pfoser
Vámos, Miklós. Vom Lieben
und Hassen
Aus dem Ungarischen
München: Random House 2006. 316 S.,
€ 18,50
Als ob László Ramors Leben nicht schon
kompliziert genug wäre: Seiner Ehe ist die
Liebe abhanden gekommen und die Frau,
die er begehrt, hält ihn nur hin. Auch in
seinem Beruf als Komiker ist er nur mäßig
erfolgreich. Zu all dem kommt noch die
ständige Sorge um seine Mutter Piroska.
Diese ist seit vielen Jahren manisch-depressiv. Entweder ist sie stimmungsmäßig
ganz unten, dann muss Ramor fürchten,
dass sie sich etwas antun könnte, oder sie
ist manisch-aufgekratzt und voll unseligen
Tatendranges. Sie ist ihm vor allem eines:
peinlich.
Der Autor führt einen mittels langer innerer Monologe immer wieder in den Kopf
der Mutter, und besser als ihr Sohn erkennen die LeserInnen, welche beeindruckende Vitalität und welcher Lebenshunger
noch in dieser Frau stecken.
Dem bereits mit etlichen Preisen geehrten ungarischen Autor ist mit diesem
Roman eine eindrucksvolle Mutter-Sohn
Beziehungstudie gelungen. Die negativen
Gefühle der beiden Hauptpersonen finden
darin genauso Platz wie Momente grotesker Komik. Vor allem aber macht er die
große Liebe spürbar, die Muter und Sohn
verbindet.
Eva Janisch
Sachbuch
14
Literatur & Sprache
Haarmann, Harald: Weltgeschichte
der Sprachen. Von der Frühzeit des
Menschen bis zur Gegenwart
München: Beck 2006. 398 S., € 15,40
Rund 6400 Sprachen werden heute auf der
Welt gesprochen und jede von ihnen hat
eine Geschichte, die es lohnt zu kennen.
Und Harald Haarmann ist nicht bloß ein
Sprachwissenschaftler, der viele Fakten
über Entstehung, Entwicklung und das Verschwinden von Sprachen zusammengetragen hat, sondern auch ein guter Erzähler.
Er berichtet über die Entwicklung seiner
Zunft und spektakuläre Erkenntnisse der
Paläolinguistik. Demnach wissen wir aufgrund von DNA-Analysen, in welchen Migrationsschüben die Erde von den Menschen besiedelt wurde, welche Sprachen
sich wo verbreitet haben oder woran sich
Sprachenverwandtschaft festmachen lässt.
Migration und das Festhalten an bzw.
Aufgeben von kultureller Identität sind eng
miteinander verknüpft und gerade in der
globalisierten Welt von heute lassen sich
viele kontaktlinguistische Phänomene beobachten, die wiederum Rückschlüsse auf
untergegangene Sprachen zulassen. So befindet sich laut Haarmann das Englische
an einem ähnlichen Punkt wie das Lateinische vor dem Entstehen romanischer Nationalsprachen. Die aktuellen Trends heutiger Sprachentwicklung belegt er in seinem Abschlusskapitel mit statistischem
Material über die Weltsprachen.
Harald Haarmanns Weltgeschichte der
Sprachen ist ein faszinierendes Handbuch
mit viel Detailinformation und guter Überblicksdarstellung. Lediglich die grafischen
Darstellungen sind zum Teil zu klein, um
daraus tatsächlich Information zu gewinnen. Alles in allem aber ist der Bandin seiner kompakten Form konkurrenzlos.
Josef Mitschan
Limbach, Jutta (Hg): „Ausgewanderte Wörter“
Ismaning: Hueber Verlag 2007. 133 S., € 20,60
Wie jede andere Sprache nimmt auch die deutsche neues Wortgut auf, um Benennungslücken zu füllen. Der umgekehrte Weg ist uns weniger geläufig:
deutschsprachige Ausdrücke, die in verschiedene Sprachen ausgewandert sind.
Dies belegt der lehrreiche und unterhaltsame Band mit einer Auswahl der interessantesten Beiträge aus einer internationalen Ausschreibung. Die meisten der über
100 Begriffe stammen aus dem Englischen und Russischen. Eines der bekanntesten ist wohl das „butterbrot“ im Russischen, worunter allerdings ein belegtes
Brot zu verstehen ist. Aber auch Suaheli hat ein amüsantes Beispiel zu bieten:
„kaputti“ und „halbkaputti“ wird hier für nicht funktionstüchtig verwendet und
heißt auf Menschen angewandt ohnmächtig, bewusstlos. Manche ausgewanderten Wörter bleiben in ihrer Ursprungsfassung erhalten, wie „fernweh“ (spanisch),
andere ändern sich geringfügig, wie „schachmaty“ (ukrainisch), wieder andere
sind nicht mehr auf den ersten Blick erkennbar, wie „vigéc“ („Wie geht's“) im
Ungarischen, das einen von Tür zu Tür gehenden Verkäufer bezeichnet. Den „katzenjammer“ kennt man auch im Polnischen. Ein Blödmann ist auch im Französischen ein „blödmann“, und im Finnischen gibt es auch „besservisseri“ und
eine „kaffeepaussi“. „Lips“ und „Naps“ im Estnischen stehen für Schlips und Schnaps.
So unterhaltsam kann es sein, sich mit wandernden Wörtern zu beschäftigen. Mit Beiträgen von
Sprachexperten und farbigen Illustrationen zu
den ausgewählten Begriffen ist ein hochwertig
ausgestatteter Band entstanden, der einen wunderbaren Beitrag zur Sensibilisierung des Sprachbewusstseins darstellt und auf höchst amüsante
Weise Sprachgrenzen überschreitet.
Claudia Sykora-Bitter
Kämpchen, Martin (Hg): Indische
Literatur der Gegenwart
München: Text + Kritik 2006. 458 S.,
€ 32,90
Indien ist ein Land mit einer großen, mehr
als 3000 Jahre alten literarischen Tradition.
Aufgrund der unglaublichen Sprachenvielfalt kann jedoch nicht von einer indischen
Literatur gesprochen werden – vielmehr
gibt es mehrere Regionalliteraturen mit
durchaus unterschiedlichen Prägungen.
Jeder der 24 offiziellen Amtssprachen stellt
auch eine lebendige Literatursprache dar.
Dies veranschaulicht der durchaus imposante indische Buchmarkt: 12.000 Verlage
publizieren jährlich etwa 80.000 Titel.
Leider ist von diesem literarischen Reichtum nur wenig außerhalb des Landes bekannt, Übersetzungen hat es bis vor kurzem nur in einem spärlichen Ausmaß gegeben. Einen größeren Bekanntheitsgrad
haben hauptsächlich Autoren, die in englischer Sprache schreiben, wie zum Beispiel
Salman Rushdie, Arundhati Roy oder
Amitav Ghosh.
Spätestens jedoch seit der Frankfurter
Buchmesse 2006, die Indien als Gastland
präsentierte, wird die indische Literatur
auch im deutschsprachigen Raum verstärkt
wahrgenommen und vermehrt übersetzt.
Einen wichtigen Beitrag zu dieser Entwicklung leistet der längst überfällige
Band von Martin Kämpchen: Zum ersten
Mal wird in deutscher Sprache eine umfassende Einführung in die zeitgenössische
indische Literatur vorgenommen.
Drei ausführliche Überblickskapitel
von namhaften indischen und deutschen
Literaturwissenschaftlern skizzieren die
Entwicklung der indischen Literatur, die
wichtigsten Regionalliteraturen sowie die
englischsprachige Literatur Indiens. Danach folgen 20 Einzeldarstellungen der bedeutendsten modernen indischen AutorInnen, die ins Deutsche übersetzt wurden.
Diese Aufsätze sind einerseits gelungene
Einführungen zu Leben und Werk, andererseits enthalten sie wichtige Materialien.
Grundlage für dieses Buch ist das „Kritische Lexikon zur fremdsprachigen Gegenwartsliteratur“ von Heinz Ludwig Arnold;
die entsprechenden Artikel wurden für diese Publikation aktualisiert und erweitert.
Thomas Geldner
Sachbuch
Literatur & Sprache
Österreichisches Literaturarchiv:
die ersten 10 Jahre
Wien: Praesens 2006. 148 S., € 20,00
Im Jahr 2006 feierte das Österreichische
Literaturarchiv – eine der zehn Sondersammlungen der Österreichischen Nationalbibliothek – sein 10-jähriges Bestehen.
Die Ursprünge des ÖLA liegen jedoch viel
weiter zurück. Im Jahr 1989 ins Leben gerufen, führte es jahrelang ein Schattendasein. Erst 1996, mit der Bestellung von
Wendelin Schmidt-Dengler zum Sammlungsleiter und der Einrichtung der Räume
in der Wiener Hofburg nahm das ÖLA
endgültig seine autonome Tätigkeit auf.
Das mit der Gründung gesetzte Ziel,
nachhaltig zur dauerhaften Bewahrung,
wissenschaftlichen Erschließung und vor
allem auch zur Bewusstmachung der neueren österreichischen Literatur in der Öffentlichkeit beizutragen, hatte ein stetes
Anwachsen des vorhandenen Materials
zur Folge. So besitzt das ÖLA inzwischen
über 120 Bestände (www.onb.ac.at/sammlungen/litarchiv/index.htm).
Das vorliegende Buch trägt der beispielhaften Entwicklung des Archivs Rechnung und gibt Einblick in Entstehung,
15
Funktion und Alltag dieser Institution. Von
einer detaillierten Instituts- und Personalchronologie über Fragen der Erwerbsplanung und Editionspraxis bis hin zum
K(r)ampf der fachgerechten Datensicherung werden so die Freuden und Sorgen
der täglichen Arbeit beleuchtet.
Dem Buch liegt eine CD mit Hörbeiträgen von 21 LiteratInnen (Interviews, Privataufnahmen und anderes) bei.
Angelika Wimmer
Sick, Bastian: Der Dativ ist dem
Genitiv sein Tod
Folge 3: „Noch mehr Neues aus dem
Irrgarten der deutschen Sprache“
Köln: Kiepenheuer & Witsch 2006.
261 S., € 9,20
Bastian Sick hat wieder zugeschlagen und
beglückt seine Anhängerschaft mit weiteren gesammelten Zwiebelfisch-Kolumnen.
Wie in den beiden vorangegangenen Bänden ist der Ausgangspunkt seiner Texte
auch diesmal nicht die deutsche Grammatik selbst, sondern Beobachtungen aus deren alltäglichem Gebrauch.
Dabei lässt sich nicht immer so leicht
sagen, was richtig oder falsch ist, denn vie-
les aus der Umgangssprache hat im Laufe
der Jahre Gnade gefunden und ist nun offiziell, also laut Duden, neben der ursprünglichen Form erlaubt. Und bei Regionalsprachen ist ohnehin Toleranz gefragt,
wie Sick u.a. am Beispiel der unterschiedlichen Schreibung von Straßennamen
zeigt. Nach wie vor aktuell ist der Überlebenskampf des Genitivs, dem auch in diesem Band wieder ein Kapitel gewidmet ist.
Eine weitere Fundgrube stellt der Bereich
falsch benutzter Redewendungen dar.
Im Unterschied zu den ersten beiden
Bänden finden sich diesmal einige Kolumnen, in denen Sick der Anekdote den Vorzug gegenüber dem Lerneffekt gibt. So
widmet er z.B. ein Kapitel den mehr oder
weniger originellen Namen von Frisiersalons, ein anderes behandelt typische Aussprachefehler, die Deutsche im Spanischen
machen. Am Schluss stehen ein Deutschtest mit 60 Fragen und ein ABC, das gängige Fragen aus der Grammatik behandelt.
Auch wenn einige Kapitel in diesem
Band nicht ganz das halten, was die beiden Vorgängerbände versprochen haben,
ist dem Autor wieder ein vergnüglicher
Ausflug in die deutsche Sprache gelungen.
Georgia Latzke
Osberghaus, Monika: Schau mal! 50 beste Bilderbücher
München: dtv 2006. 232 S., € 14,90
Kurz vor der letzten Jahrtausendwende begann ein Boom der Bestenlisten. So, als wollte man sich vergewissern, dass die richtigen Kulturgüter in eine neue Zeit hinübergerettet werden, entstanden allerorten Publikationen über die besten, die größten,
die wichtigsten Werke. Heute ist diese Art der Kanonisierung ein eigenes Genre geworden, das sich zwischen literaturwissenschaftlichem Handbuch und persönlicher Lesebiografie angesiedelt hat und wohl auch eine kluge Werbepostille des Verlagswesens ist, das solcherart darauf hinweist, dass es „bleibende Werte“ produziert. Monika Osberghaus kennt den Buchmarkt
von verschiedenen Seiten: Sie war Buchhändlerin, hat als Übersetzerin ebenso gearbeitet wie als Literaturkritikerin und ist eine
ausgewiesene Kennerin der im deutschen Sprachraum erschienenen Kinder- und Jugendliteratur. Mit Schau mal! geht Osberghaus an die Wurzeln jeder Lesebiografie: zu den Bilderbüchern. Mit 50 ausgewählten
Bilderbüchern, die heute „moderne Klassiker“ zu nennen sind, will sie unentschlossenen
Eltern eine Handreichung geben, welche Bücher ihren 3- bis 6-jährigen Kindern „eine
Lichtung im Tag eröffnen“ können.
An wirklichen Klassikern hat Osberghaus nur den Struwwelpeter und Max und Moritz in
ihre Bestenliste aufgenommen – eine mutige Entscheidung, die sie sehr sachlich begründet
und, wie jedes der anderen Bücher auch, unter ein Motto stellt: „für Kinder, die Katastrophen lieben“ (Struwwelpeter) und „für Kinder mit Sinn für das Böse“ (Max und Moritz).
Osberghaus traut Eltern und Kindern viel zu. Sie vermittelt mit ihrer breiten Auswahl und ihren klugen Charakterisierungen eine große Bandbreite von Präsentationsmöglichkeiten.
Solcherart bekommen die LeserInnen sehr rasch Lust, diese Bücher gemeinsam mit einem
(ihrem) Kind neu zu erleben. Und dass dies mehr als einmal möglich sein sollte, weil die
Kinder es fordern werden, ist ein weiteres Auswahlkriterium der Autorin.
Eltern und PädagogInnen ist dieses erfrischende Buch uneingeschränkt zu empfehlen.
Josef Mitschan
Sachbuch
Literatur & Sprache
16
Thiele, Johannes (Hg.): Rotbuch
Deutsch. Die Liste der gefährdeten
Wörter
Wiesbaden: Marix 2006. 66 S., € 13,90
Das Rotbuch Deutsch ist ein Wörterbuch
und Wendebuch: Die eine Seite enthält
eine Sammlung von gefährdeten Begriffen
und die Kehrseite eine Liste an Wörtern,
die nicht mehr gebräuchlich sind. Ergänzt
wird dieser Teil um verschwundene Ausdrücke aus DDR-Zeiten.
Gefährdete Wörter sind für den Herausgeber Johannes Thiele Begriffe, die drohen, aus dem aktiven Wortschatz zu verschwinden. Dazu gehören z.B. die Worte
Tinktur (heute: Lotion), Tastatur (ersetzt
durch Keyboard) oder Schaffner (ersetzt
durch Zugbegleiter). Viele Ausdrücke werden ausführlicher erklärt, bei einigen sind
nur die Synonyme verzeichnet.
Wörter und Redewendungen geraten
in Vergessenheit, weil das von ihnen Bezeichnete zwar einst eine Rolle gespielt, in
der Gegenwart aber keine Bedeutung
mehr hat, oder aber weil sie durch Lehnund Fremdwörter (vor allem Anglizismen),
die modern klingen und international gebräuchlich sind, verdrängt werden. Warum jedoch Worte wie „abfällig“ als untergegangen bezeichnet werden, wird den
LeserInnen nicht zur Kenntnis gebracht.
Eine subjektive Momentaufnahme also, die zum Schmökern einlädt und zum
Nachdenken über den Gebrauch mancher
Phrasen anregt, ohne nostalgisch einzelne
Ausdrücke unter Artenschutz zu stellen.
Susanne Kappos
Thompson, Hunter S.: Königreich
der Angst. Aus dem Leben des letzten
amerikanischen Rebellen
Aus dem Amerikanischen
München: Heyne 2006. 479 S., € 10,30
Königreich der Angst ist die letzte Publikation des letzten amerikanischen Rebellen,
wie er im Untertitel ehrenvoll tituliert
wird. Das Buch lässt das bizarre Leben eines wahrhaft außergewöhnlichen Autors
Revue passieren. Hunter S. Thompson
(1937-2005) gilt als Enfant terrible der
amerikanischen Literaturszene. Er begann
seine Karriere als Sportjournalist, wechselte später als Reporter zum Rolling Stone
und wurde als Begründer des so genannten Gonzo-Journalismus zu einer Ikone
der Hippiebewegung. Darüber hinaus war
er ein politischer Aktivist, der sich nicht
selten mit der Obrigkeit anlegte und keinem Konflikt aus dem Weg ging.
Niemand hätte die ausgeflippte Geschichte des legendären Outlaws besser
erzählen können als Hunter S. Thompson
selbst. Drogen, Alkohol, Sex, Schusswaffen
und Sprengmittel spielten in seinem Leben
(und Sterben) eine nicht unwesentliche
Rolle. Episoden aus diesem Leben werden
mittels einer rasanten Collagetechnik erzählt. Königreich der Angst ist aber viel
mehr als nur eine Autobiographie; es ist
ein Porträt der USA der letzten Jahrzehnte
und vor allem eine schonungslose Abrechnung mit den gegenwärtigen Zuständen
unter George W. Bush.
Hunter S. Thompson verübte im Februar 2005 Selbstmord. Sein spektakuläres
Begräbnis, bei dem Johnny Depp die Kanone zündete, welche die Asche des Autors in den Himmel katapultierte, ist legendär. In die Höhe geschnellt sind seither
auch die Neuauflagen und Verkaufszahlen
der Bücher von Hunter S. Thompson.
Thomas Geldner
Wild, Bettina: Rafik Schami
Aus der Reihe „dtv portrait“
München: dtv, 2006. 188 S. 10,30 €
Rafik Schami wurde 1946 in Damaskus
geboren. In diesem Jahr begann die Unabhängigkeit Syriens von der Kolonialmacht
Frankreich. Aufgewachsen in einer christlichen Familie, soll Rafik Priester werden.
Auch wenn sich dieser Wunsch des Vaters
nicht erfüllen sollte prägen ihn die Jahre in
der Klosterschule vor allem in literarischer
Hinsicht. Er tritt der syrischen KP bei und
entwickelt sein literarisches Talent als Journalist. Daneben studiert er Chemie, muss
allerdings nach Abschluss des Studiums
Syrien aus politischen Gründen verlassen.
Er kommt nach Deutschland, wo er literarisch sehr aktiv wird und seit 1982 als freischaffender Schriftsteller lebt. Der größte
Erfolg wurde Rafik Schami mit dem 2004
erschienen autobiographischen Roman
Die dunkle Seite der Liebe zuteil.
Eine lesenswerte, mit Fotografien und
Info-Material strukturierte sowie einem Lebenslauf ergänzte Monografie.
Elke Simon
Pechmann, Alexander: Mary Shelley. Leben und Werk
Düsseldorf: Artemis & Winkler 2006. 309 S., € 25,60
Sie gilt als eine der Begründerinnen der Horror-Literatur, und trotzdem ist ihr
Name weit weniger bekannt als der ihres berühmtesten Werkes – Frankenstein.
Mary Shelley (1797-1851) stammte aus einer geisteswissenschaftlich hochkarätigen Familie. Im Alter von nur 16 Jahren verliebte sich Mary in den englischen
Dichter Percy B. Shelley und brannte mit ihm durch. Die nächsten Jahre waren
von Reisen geprägt, aber auch vom tragischen Verlust zweier Kinder und vom frühen Tod ihres Mannes.
Legendär ist der Sommer 1816, den die Shelleys gemeinsam mit Lord Byron und
John Polidori am Genfer See verbrachten. 1816 ist als das Jahr ohne Sommer in
die Geschichte eingegangen. Es war durchwegs kalt und verregnet und man vertrieb sich die Zeit mit dem Erzählen und Schreiben von Schauergeschichten. Das
Resultat dieser düsteren Tage war Frankenstein oder
Der moderne Prometheus, der heute als der erste
Science- Fiction-Roman der Weltliteratur bezeichnet wird, da er erstmals eine wissenschaftliche
Thematik in die Schauerliteratur, die sogenannte
gothic novel, einführte.
Der Literaturwissenschaftler Alexander Pechmann
hat das Leben von Mary Shelley sehr fundiert und
detailliert nachgezeichnet. Betont wird auch ihr literarisches Schaffen nach Frankenstein, das aber
heute nur noch selten gelesen wird. Dieses facettenreiche Werk vor dem Vergessen zu bewahren ist
eines der Ziele von Pechmann.
Thomas Geldner
Sachbuch
17
Kunst & Künstler
Dössel, Christine. Klaus Maria
Brandauer. Die Kunst der Verführung
St.Pölten: Residenz 2006. 366 S,. € 24,90
Klaus Maria Brandauer ist einer der wenigen Schauspieler, der sowohl im Theater
als auch im Film Außergewöhnliches vollbracht und dafür Weltruhm erlangt hat.
Dennoch sind die Meinungen über seine
Person sehr kontrovers. Während die einen, wie etwa der Filmemacher Skolimowski, behaupten, „keinem Regisseur kann
Schlimmeres passieren, als mit diesem
Schauspieler auf dem Set zu arbeiten“, ist
die Liste der Lobreden über ihn lang, angefangen von Isztvan Szábo (in dessen Oscar-gekröntem Film „Mephisto“ Brandauer
die Hauptrolle spielte) bis hin zu Schauspielschülern, die beteuern, Brandauer
würde für sie sein letztes Hemd geben.
Brandauers Schauspielerkarriere begann bereits mit 20 Jahren, als er wegen
der Eheschließung mit der früh verstorbenen Karin Brandauer die Schauspielschule
abbrach und sein erstes Engagement annahm. Sein Talent blieb nicht lang verborgen. Er schaffte es, all den klassischen Helden einen modernen Hauch zu geben, er
verlieh den Bühnenfiguren eine Natürlichkeit und menschliche Vielschichtigkeit,
die das Publikum von Anfang an in Bann
zog. Als Schauspieler ist er kein Chamäleon, das sich je nach Rolle ständig verwandelt, sondern er schöpft die verschiedenen Gestalten aus seinem eigenen Inneren. In den letzten Jahren hat sich Brandauer neben dem Unterrichten verstärkt
dem Regieführen zugewandt, eine Tätigkeit, in der ihm der Applaus nicht so mühelos zufällt, wie als Schauspieler.
Christine Dössel folgt der Lebenslinie
Klaus Maria Brandauers in großem Bogen.
Mehr interessiert sie die Kontroverse um
den Künstler und Theatermenschen – und
diesen hat sie mit all seinen Ecken und
Kanten, aber auch mit seinen Vorzügen
und Talenten gelungen dargestellt.
Eva Janisch
Furuyama, Masao: Tadao Ando
Köln u.a.: Taschen 2006. 96 S., € 6,99
Tadao Ando wurde 1941 in Osaka geboren. Als älterer Zwilling wuchs er der Tradition gemäß bei seiner Großmutter auf, in
deren Straße er Handwerker beobachtete,
manchmal sogar mitarbeiten durfte und
schon als Kind ein fundiertes Grundwissen
über Formen und Material erwarb.
Als Jugendlicher wurde er Boxer. Er
lernte dadurch, sich mit gezielten Strategien durchzusetzen. Man sagt, wenn er
sich für ein Projekt interessiert, arbeitet er
wie ein Besessener, um sich danach wieder völlig zu entspannen. Japanische Philosophie bzw. Religion prägen seine revolutionären, aber schlichten und asketischen, auf das Wesentliche beschränkten
architektonischen Formen (sein Material ist
Beton und Glas). Obwohl Ando nie studiert hat, ist er einer der Architekten mit
den meisten Architekturpreisen.
Der kleine Taschen-Band ist ausgezeichnet gestaltet, mit viel Information
über das private Leben des Architekten, sogar über sein offensichtlich sehr sympathisches Verhalten seinen Mitmenschen gegenüber. Seine zahlreichen im Band erwähnten Bauten sind ausführlich mittels
diverser Fotos und Plänen dokumentiert.
Bernadette Posch
Lanz, Peter: Falco
Wien: Ueberreuter 2007. 250 S., € 19,95
Peter Lanz, Inhaber der Gesellschaft, die
den Namen „Falco“ verwertet, wurde von
Falco schon 1986 zu dieser Biographie
authorisiert.
Die Jugendjahre der österreichischen
Popikone Hans Hölzel sind nicht zuletzt
durch die wiederkehrenden Aussagen seiner Mutter belegt und zeigen das Scheidungskind und seine schwierigen familiären Verhältnisse. Bei der Betrachtung seiner musikalischen Laufbahn tun sich indes
Lücken auf. Auch nennt der Autor seinen
Geschäfts- und Namensträger ab dessen
Kinderzeit immer „Falco“ und bringt
Nachbetrachtungen und Lebensgeschichte
ohne tieferen Sinn durcheinander.
Falcos Wechsel von Peter Ponger zu einem anderen Produktionsteam, das für
den „Amadeus“-Erfolg verantwortlich war
und die Probleme des Stars mit Ehe und
Familie werden so geschildert, wie man es
aus den Medien in Erinnerung hat. Die
Schilderung von Falcos Problemen mit
Drogen gehört schließlich zu den Tiefpunkten des Buches: Zu den Anfangsjah-
ren werden Aussagen „gegen Drogen“ zitiert, am Schlusspunkt der Karriere wiederum nur festgestellt, dass Falco lange Jahre
Drogenprobleme hatte, aber nie auf die
Hintergründe seiner Kokainsucht eingegangen. Aus Sicht einer Verwertungsfirma
verständlich, doch damit bleibt ein wesentlicher Teil von Falco ausgespart.
Was bleibt sind Bilder, Details über das
Leben eines der grössten österreichischen
Popstars, aber wenig Persönliches, Berührendes, wenig über seine Arbeit und sein
Talent, das ihn groß gemacht hat.
Beatrix Albrecht-Kammerer
Masanès, Fabrice: Gustave
Courbet. Der letzte Romantiker
Köln u.a.: Taschen 2006. 96 S,. € 6,99
Courbet wuchs in einer gutbürgerlichen
Familie in Ostfrankreich auf. Auf Wunsch
seiner Eltern studierte er ab 1837 Jura,
doch widmete er sich schnell mehr dem
Zeichnen und begann bereits nach einem
Jahr, Zeichenstunden bei Charles Antoine
Flajoulot zu nehmen. 1840 begann er dem
Schein nach in Paris Rechtskurse zu belegen, doch er nahm weiter Unterricht und
entwickelte seine Technik, indem er im
Louvre und anderen Museen die dortigen
Kunstwerke kopierte. Erst im Louvre entdeckt er seine wirklichen Vorbilder Tizian,
Vélazquez, Rubens und Rembrandt ...
Courbet behauptete , „dass die Malerei
eine gegenständliche Kunst ist, die ausschließlich reale oder existierende Objekte
abbilden sollte ...“ – und beeinflusste vor
allem die jungen Impressionisten. Er war
ein herausragender Vertreter des natürlichen Realismus, der Widersprüche und
Unstimmigkeiten innerhalb der Gesellschaft aufzeigte. Sein Stil war damals revolutionär – er arbeitete mit dunklen Farben
und kräftigen Pinselstrichen – ebenso wie
die Wahl seiner Themen. Er zeigte das
Leben einfacher Leute in einer unsentimentalen, direkten Art. Bereits zu Lebzeiten besaß er enormen Einfluss. Nach
der gewaltsamen Auflösung der Kommune
verbüßte er eine Strafe im Gefängnis, durfte dort aber malen.1872 wurde ihm der
Orden der Ehrenlegion angeboten, den er
aber ablehnte. Courbert starb am 31. Dezember 1877 in der Schweiz.
Walter Zberg
Sachbuch
Kunst & Künstler
18
Stadlober, Margit: Der Wald in der
Malerei und der Graphik des Donaustils
Wien u.a.: Böhlau 2006. 415 S., € 69,Die Kunst um die Wende des 15.
Jahrhunderts um Regensburg, Passau, Linz,
Krems und Wien wurde bislang als die so
genannte „Donauschule“ bezeichnet. Die
Autorin des vorliegenden Bandes schlägt
vor, den Begriff in Donaustil abzuändern.
Die Begründung dafür liegt in der Abwesenheit eines Lehrers. Die wichtigsten
Künstler des Donaustils sind Albrecht Altdorfer und Wolf Huber. Dass alle im Buch
genannten Künstler sich um die Entwicklung und Bewusstmachung von Landschaft
im Bild annahmen, ist eine Tatsache, für die
diverse Erklärungen angeboten werden.
Um 1480 gibt es die erste Nachtdarstellung in der deutschen Kunst, der Anblick dieses Gemäldes versetzte die Menschen in Angst. Die Darstellung der Landschaft gewann zunehmend ein Eigenleben,
die Entwicklung zu einem eigenen Genre
ist bereits abzusehen. Interessant ist, dass
sich bereits um 1500 eine Bedrohung der
Landschaft abzeichnete und deshalb die
Natur, besonders der bedrohte Wald, zu
einem Thema und Gegenstand verschiedenster Darstellungstechniken wurde ...
Ein informativer Band mit unzähligen
Quellenangaben und Registern. Die Bildbeschreibungen sind aufschlussreich und
tragen zu einem tieferen Verständnis der
Renaissancekunst im deutschen Raum. Irritierend und korrekturbedürftig sind allerdings einige irreführende Verweise im Text.
Bernadette Posch
Wolf, Norbert: Giotto di Bondone.
Die Erneuerung der Malerei
Köln: Taschen 2006. 96 S., € 6,99
Der berühmte Florentiner Maler Cimabue
entdeckte Giotto, als dieser gegen Ende
des 13. Jahrhunderts, als kleiner Junge, die
Schafe seines Vaters zeichnete, und zwar
so genau, wie es ihn nur die Natur gelehrt
haben könnte. Giottos Hauptwerk ist der
große Freskenzyklus in der Arena in Padua.
Er verwendete gemalte Architekturelemente, die dem Betrachter Nischen vortäuschen („trompe-l'oeil“). Masaccio und Michelangelo wurden direkt davon beeinflusst. Giottos gesamtes Werk behandelt
religiöse Themen. Sowohl in der Technik
als in der Farbgebung (er bediente sich da-
bei der Feigenmilch und des Eigelbs), trat
er als Neuerer auf: Er verlieh den Farben
Helligkeit und Klarheit. Als bedeutendste
Aspekte seines Schaffens gelten jedoch die
hohe Natürlichkeit und Lebhaftigkeit seiner Figuren, ebenso wie die Vorbereitung
der Perspektive. Giotto galt als Pionier der
modernen Malerei, als Vater der neueren
Kunst. Von seinen Zeitgenossen unterschied er sich durch die Schlichtheit und
Strenge seiner Formen sowie durch den
Humanismus, der in seine Werke einfloss.
Er vermochte in seinen Werken Dramatik
und Monumentalität zu einer klassisch
ausgewogenen Form zu verbinden.
Walter Zberg
Zimmermann, Claire: Mies
van der Rohe
Köln: Taschen 2006. 96 S., € 6,99
Der 1886 als Maria Ludwig Michael Mies
geborene Künstler begann seine Laufbahn
als technischer Ornamentzeichner, später
arbeitete er in einem Architekturbüro. Eine
für die Ausstellung unbekannter Architekten im Jahre 1919 eingereichte Arbeit
wird von Walter Gropius abgelehnt. Dessen ungeachtet nimmt er an weiteren Ausstellungen teil und gründet gemeinsam mit
anderen avantgardistischen Architekten die
Architektenvereinigung „Der Ring“. 1926
wird er Vizepräsident des Deutschen Werkbundes. Noch vor dem Zweiten Weltkrieg
nützt van der Rohe die in Amerika geknüpften Kontakte, um zu emigrieren. 1969 stirbt
er in Chicago.
Heute noch kaum vorstellbar sind die
revolutionären Ideen von Architekten wie
Mies van der Rohe: radikal vereinfachende
Formen, Reduktion auf das Wesentliche,
großzügigste Raumaufteilungen etc. Sein
Traum waren gläserne Hochhäuser, die er
dann auch in Amerika mittels Stahlkonstruktionen realisieren konnte. Interessant
zu lesen sind im Band auch die diversen
Streitigkeiten mit den Auftraggebern und
Auftraggeberinnen.
Mies van der Rohe war einer der Architekten, die den so genannten „International Style“ prägten, dessen Merkmale Einfachheit und große Glasfronten waren.
Zahlreiche weitere Beispiele mit Fotos und
Plänen runden den interessanten Band ab.
Bernadette Posch
Heimatland
Größing, Sigrid-Maria: Tragödien
im Hause Habsburg
Wien: Ueberreuter 2006. 207 S., € 19,95
Nach Schatten über Habsburg und Mord
im Hause Habsburg beschäftigt sich die
Autorin diesmal mit den Tragödien, deren
es über die Jahrhunderte mehr als genug
gegeben hat. Die Gründe dafür waren zumeist die rücksichtslose Heiratspolitik und
die fortschreitende Inzucht.
Größing beschränkt sich auf vier ziemlich bekannte Persönlichkeiten: Marie Antoinette, Leopoldine von Brasilien, Maximilian von Mexiko und Karl I., unserem
letzten Kaiser. Jeder bzw. jedem ist ein
ausführliches Kapitel gewidmet – beginnend mit Marie Antoinette und der Schilderung ihrer unbeschwerten Jugend in
Wien, welcher schwierige Ehejahre und
schließlich ein tragisches Ende auf der
Guillotine folgen. Das leitet über zu Franz
Josephs jüngerem Bruder Maximilian, der
sich, aus dessen Schatten heraustretend,
dazu drängen ließ, die mexikanische Krone anzunehmen – und letztlich erschossen
wurde. Ebenso wie Marie Antoinette und
Maximilian hatte Leopoldine in der Ehe
wenig Glück. Ihr brasilianischer Ehemann
Dom Pedro hat sie regelmäßig betrogen
und geschlagen, sie hatte unzählige Fehlgeburten, und starb noch bevor sie 30 war.
Ein typisches Schicksal der damaligen Zeit.
Das Buch endet mit einem Kapitel über
Karl I., auch er war ein Opfer der Umstände, auch er hatte eine ehrgeizige Ehefrau –
Zita von Bourbon-Parma – und wenig politisches Glück. Als er sich weigerte abzudanken, schickte man ihn mit seiner Familie ins Exil nach Madeira, wo er an einer
Lungenentzündung starb. Später wurde er
dann selig gesprochen – und man fragt
sich heute, wofür.
Tragödien im Hause Habsburg ist ein
gutes Buch Habsburg-Interessierte – und
eventuell auch ein Einstieg zum näheren
Kennenlernen der vorgestellten Personen.
Doris Wanner
Sachbuch
Heimatland
Kindermann, Dieter / Vogl, Gerhard:
Politik aus nächster Nähe. Österreichs
Geschichte in Geschichten
Wien: Kremayr & Scheriau 2006. 256 S.,
€ 22,00
Laut Wikipedia, der freien Internet-Enzyklopädie, ist die Anekdote eine der Kurzgeschichte und dem Schwank verwandte
literarische Gattung, die eine bemerkenswerte oder charakteristische Begebenheit
zur Grundlage hat. Um richtig zu wirken,
bedarf die Anekdote einer Pointe. TorbergBiograf Frank Tichy hält die Anekdote für
die „kongeniale Form zur Tradierung österreichischer Geschichtsbilder“. Und Bruno
Kreisky, der häufig aus Torbergs Tante Jolesch zitierte, meinte in seinen Memoiren:
„Es gibt für alles in Österreich eine Anekdote, ja, unsere ganze Geschichte lässt
sich auflösen in Anekdoten“. Grund genug
für die einschlägig erfahrenen Autoren
Kindermann und Vogl, die österreichische
Innenpolitik und das österreichische Wesen in Geschichten, Schnurren und Anekdoten auf den Punkt zu bringen.
Die G'schichtln über Politiker, Künstler, Medienleute, Kirchenvertreter, Spione
oder Galionsfiguren des Wiener Nachtlebens umreißen ein typisches Bild des Homo austriacus – mit seinem Hang zu Titeln
und Orden, seinem besonderen Verhältnis
zum Tod oder seinem Lieblingsmotto
Wein, Weib, Gesang. Keine österreichische Eigenheit bleibt ausgespart, niemand
und nichts ungeschoren, die Vielfalt der
bespöttelten Schwächen und Seltsamkeiten, aber auch der liebevoll unter die Lupe
genommenen Stärken, ist beeindruckend
und macht die Sammlung zu einem abgerundeten Kompendium – nicht nur für gelernte ÖsterreicherInnen. Kongenial auch
die Karikaturen (von „Ironimus“) zu dieser
Anekdotensammlung, die man nicht zuletzt durch ihre ungewohnte Aktualität zu
den besonders gelungenen zählen darf.
Franz Plöckinger
Mokrejs, Adi: Bergwanderatlas
Niederösterreich. 150 Bergwanderungen und viele Varianten
Wien: Schall 2006. 280 S., € 29,80
Nach Berggruppen und Tourengebieten
gegliedert, illustriert dieser Wanderatlas
Touren, die nicht nur für Wanderer, sondern auch für Mountainbiker, Nordic Wal-
19
ker und Schneeschuhwanderer interessant
sind. Es handelt sich um Halbtages- bis
maximal Tagestouren und ist ideal geeignet für die Planung eines Wochenendes im
Freien. Vor Beginn der eigentlichen Tourenbeschreibungen werden tabellarisch
die wichtigsten Parameter skizziert, Einzelheiten zur Kindereignung oder die Gefahren in den Bergen erläutert. Es folgt eine
detaillierte Tourenbeschreibung mit Hinweisen auf Sehenswürdigkeiten oder naturkundliche Besonderheiten. Neben den
zahlreichen Fotos vervollständigen Kartenausschnitte die Beschreibungen. Durch die
farblichen Hervorhebungen, etwa im so
genannten Beschreibungskopf oder auch
im Text, wirkt das Buch sehr bunt und lebhaft. Generell macht die moderne Aufmachung einen durchaus positiven Eindruck.
Andreas Heidenreich
Nelson, David L.: Wien für den
Musik-Liebhaber
Aus dem Englischen
Wien: Brandstätter 2007. 222 S., € 19,90
David L. Nelson ist wahrhaft ein Liebender, jedes Wort zeugt von seiner Liebe zur
Musik und zu der von ihm ernannten
Welthauptstadt der Musik. Und so liest
sich das Buch auf jeder Seite wie eine
Werbeschrift mit gut recherchierten Inhalten für Einheimische und BesucherInnen.
Der Beschreibung der ehemaligen sowie der aktuellen Aufführungsstätten in
Wien folgt ein Kapitel über die berühmtesten Orchester. Nicht fehlen dürfen natürlich die Wiener Sängerknaben mit ihrer
500-jährigen Tradition. Neben Gedenkstätten an Komponisten werden die wichtigsten Ausstellungsstücke sowie überlieferte Ereignisse, die sich an diesen Orten
abgespielt haben sollen, erwähnt. Mittels
Stadtplanausschnitten werden Spaziergänge beschrieben, die an Gedenkorten,
Wohnstätten und Gedenksteinen der großen in Wien lebenden Komponisten vorbeiführen. Am Ende dieses an Fakten überreichen Bands gibt es noch ein musikalisches Who's who und ein Verzeichnis mit
Adressen, Telefonnummern und Öffnungszeiten der wichtigsten Gedenkstätten.
Ein bißchen vermißt man lediglich die
Abgründe Wiens, die gar nicht zur Sprache
kommen, dem gelernten Wiener aber
durchaus bekannt sind. In diesem Sinne
doch wohl mehr ein Buch für Touristen.
Johanna Mitterhofer
Das große österreichische Gartenbuch
Wien: Ueberreuter 2007. 319 S., € 34,95
Redaktion: Elke Papouschek & Veronika Schubert
Besonderes Anliegen dieses Kompendiums ist es, HobbygärtnerInnen Ratschläge, Anregungen und Expertentipps von Gartenprofis sowie Pflanzenporträts mit
besonderem Bezug zu Österreich zu bieten. Die Besonderheiten von Klima und
Bodenverhältnissen in Österreich, die sich auf die Pflanzenwelt auswirken und
eine kurze Geschichte der Gartenkultur in Österreich sind einer Gliederung des
Landes in die vier Klimaregionen vorangestellt. In den höchst unterschiedlichen
Landschaften Österreichs gedeihen Pflanzen verschieden gut. Im zweiten
Kapitel werden Grundlagen der Gartengestaltung skizziert, ehe etwas detaillierter auf die besonderen Anforderungen von
Zier-, Kräuter-, Gemüse-, Obstgarten sowie
auf die Gestaltung von Balkonen und
Terrassen eingegangen wird. Der dritte
Abschnitt gibt Hilfestellung bei den im
Garten anfallenden praktischen Arbeiten,
von der Bodenbearbeitung übers Düngen bis
zur Bekämpfung von Schädlingen und
Krankheiten. Im Anschluss an die darauf folgenden Pflanzenportraits finden sich Glossar,
Register, kurze Autorenportraits, Literaturhinweise und für Hobbygärtner in Österreich
interessante Adressen.
Eva Fritschen
Sachbuch
Heimatland
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Praschl-Bichler, Gabriele: „Ich bin
bloß Corvetten-Capitän…“ Private Briefe Kaiser Maximilians und seiner Familie
Wien: Ueberreuter 2006. 239 S., € 19,95
Erzherzog Ferdinand Maximilian von
Habsburg, jüngerer Bruder von Kaiser
Franz Joseph, wird 1832 in eine große
Familie hineingeboren, in der Kinderliebe
nicht nur aus dynastischen Gründen gepflegt wird. In ihren Gewohnheiten sind
die Habsburger wie bürgerliche Familien,
die sich in Privatbriefen persönlich, fröhlich, um das Wohl der Kinder besorgt und
mit den kleinen Angelegenheiten des Alltags beschäftigt zeigen. Durch diese Briefe,
die nur privater Kommunikation dienen,
kommen viele unbekannte Details an die
Öffentlichkeit, z. B. über den Charakter
Maximilans, der eitel ist, Zeremonien und
auf ihn zugeschnittene Empfänge liebt.
Über die politischen Machenschaften
um Maximilians Mexiko-Regentschaft
wird im vorliegenden Buch nichts berichtet, es geht meistens um die Erzherzogin
Sophie und ihre Beziehungen zu ihren
Söhnen und ihrer Schwiegertochter Elisabeth, die sehr harmonisch und sehr friedlich verlaufen sein sollen. Der mit einfarbigem Bildmaterial ausgestattete Band der
bekannten Historikerin wird unter den
Habsburg-interessierten LeserInnen bestimmt Anklang finden.
Renate Zeller
Lehner, Gerald: Zwischen Hitler und Himalaya.
Die Gedächtnislücken des Heinrich Harrer
Wien. Czernin 2007. 303 S., € 24,40
Sieben Jahre in Tibet ist eines der weltweit erfolgreichsten Reisetagebücher aller
Zeiten. Sein Autor, der niemals wirklich geläuterte Nazi-Sympathisant Heinrich
Harrer, wurde schon zu Lebzeiten zur Galionsfigur des „unpolitischen“ Alpinismus
gekürt, obwohl Kritik selbst aus alpinistischen Kreisen an Harrers nie aufgearbeiteter Vergangenheit geübt wurde. Einer dieser Kritiker ist der österreichische Redakteur und Filmemacher Gerald Lehner. In seinem Buch zeichnet er den Lebensweg
des 2006 mit großem Pomp zu Grabe getragenen Harrer nach: Seit 1933 illegaler
österreichischer Nationalsozialist, Mitglied der SS, nach der triumphalen Erstdurchsteigung der Eiger-Nordwand Empfang bei Adolf Hitler; in Folge der Verhaftung
durch britische Behörden während einer Expedition; Flucht nach Tibet; Berater des
jugendlichen Dalai Lama; im Jahr 1952 Rückkehr nach Österreich – politisch wendig und vergesslich wie ein ehemaliger österreichischer Bundespräsident.
Lehner, der einräumt, lange Zeit vom Alpinisten und Reiseschriftsteller Harrer
(nicht zu Unrecht!) fasziniert gewesen zu sein, hat akribisch Archive gesichtet und
Harrer im persönlichen Interview behutsam mit dessen Vergangenheit konfrontiert,
aber auch auf die Endfassung der Verfilmung von Harrers Klassiker Sieben Jahre in
Tibet mit Brad Pitt einwirken können, was er auch, keineswegs uneitel, breit auswalzt. Hoch anzurechnen ist Lehner jedoch, dass er mit
dem noch immer grassierenden völlig kritiklosen DalaiLama-Kult, der ja auch ein Verdienst Harrers ist, aufräumt. Vieles verdankt der Autor den Vorarbeiten von
Rainer Amstädter, was er an Hand einer umfangreichen
Literaturliste, einer umfangreichen Link-Sammlung sowie zahlreichen Danksagungen dokumentiert.
Rudi Hieblinger
Schachinger, Marlen / Haubenberger, Sigrid: Wien. Stadt der Frauen.
Eine Reiseführerin
Wien: Promedia 2006. 240 S., € 17,90
Rauscher, Hans: Die Bilder Österreichs. Ikonen unserer Identität
Wien: Brandstätter 2006. 320 S., € 34,90
Der Journalist Hans Rauscher hat bereits eine Anzahl von Büchern, meist politischen Charakters, veröffentlicht. Der vorliegende Band versammelt kommentierte
Bilder zur österreichischen Geschichte: ein Bildmuseum. Hans Rauscher spannt
dabei einen umfassenden Bogen von den Staatssymbolen Österreichs, den Symbolen der Bundesländer zu den Schlüsselbildern unserer Geschichte. Von der
steinzeitlichen Venus von Willendorf bis zum EU-Beitritt Österreichs und seiner
Rolle in dem neuen Staatenverbund. Auf 320 Seiten
sind hier 1100 Jahre österreichischer Geschichte fein
aufbereitet dargestellt.
Das umfangreiche Bildmaterial wird durch kurze erklärende Texte kommentiert. Der prächtig gestaltete
Band ist eine gelungene Ergänzung zum Buch Österreich. Man schmökert mit Genuss darin und bekommt
dabei Lust auf vertiefende Lektüre.
Ein Bilderbuch für Erwachsene, das, so viel lässt sich
bereits jetzt sagen, in der heurigen Weihnachtssaison
sicherlich in guter Position ins Rennun gehen wird.
Maria Hammerschmid
Dieses Buch ist kein Reiseführer (pardon:
Reiseführerin) im herkömmlichen Sinn.
Nach Bezirken geordnet, werden Häuser,
Plätze und Denkmäler angeführt, die an
Frauen erinnern, die hier einmal gelebt,
gewirkt oder gearbeitet haben. Das sind
Clubs, Ausbildungsstätten wie z. B. Madame d’Oras ehemaliges Atelier in der Wipplingerstraße, das von Rahel Whiteread gestaltete Mahnmahl am Judenplatz u. a. m.
Zwei übergroße Buchstaben, nämlich K
und L, die 2006 an der Fassade des Hauses
Ebendorferstraße 7 angebracht wurden,
sollen die 1942 ermordete Käthe Leichter
in Erinnerung bringen.
Dieses Buch ist ein „Who is Who“ der
Wiener Frauengeschichte und verleitet zu
einer entsprechenden Spurensuche durch
Wien. Der Anhang bietet ein ausführliches
Personenregister, ein Straßenverzeichnis,
eine Bibliografie und ein Internet-Lexikon.
Marianne Valipour
Sachbuch
Heimatland
Schafranek, Hans: Sommerfest mit
Preisschießen. Die unbekannte Geschichte des NS-Putsches im Juli 1934
Wien: Czernin 2006. 356 S., € 24,60
Der Titel des Buches Sommerfest mit Preisschießen ist einem Funkspruch der österreichischen SA-Führung in München entnommen, mit dem sie den Gruppen im
Land das Signal zum Losschlagen gegeben
hat. Die Dynamik der Aufstandsbewegung
der SA bildet auch den Schwerpunkt der
Fragestellung Schafraneks.
Zwischen der von Theo Habicht dominierten Landesleitung der NSDAP und der
österreichischen SA-Führung bestand ein
konfliktbeladenes Konkurrenzverhältnis.
Parallele, abgeschottete Machtstrukturen
führten dazu, dass unabhängig voneinander Putschpläne entworfen wurden, von
denen die jeweilige „andere“ Seite nicht in
Kenntnis gesetzt wurde.
Die Putschisten in Wien wurden am
25.Juli 1934 von dem in die SA eingegliederten, aber noch immer eine eigene Politik verfolgenden Steirischen Heimatschutz
unterstützt. Obwohl das Scheitern des Putsches in Wien bereits nach wenigen Stunden offensichtlich war, wurde die SA-Führung in München von den Ereignissen
überrascht, geriet unter Druck und gab ihrerseits – gegen eine ausdrückliche Weisung Hitlers – das Kommando zum Losschlagen und mobilisierte auch die aus geflüchteten Nazis gebildete Österreichische
Legion, die aber aus außenpolitischen Erwägungen nicht zum Einsatz kam. In einigen Bundesländern kam es danach zu lokalen Erhebungen und blutigen Auseinandersetzungen ...
Der Kampf um die Staatsmacht in
Österreich sollte nach dem Scheitern des
SS-Putsches zugleich ein vergeblicher
Versuch sein, die Position der SA nur einige Wochen nach der Liquidierung von deren oberster Führung im sogenannten
Röhm-Putsch von neuem zu stärken.
Schafranek hat die Forschung über die
Ereignisse des Juli 1934 entscheidend bereichert. In akribischer Kleinarbeit rekonstruiert er anhand einer Fülle von ausgewerteten Quellen die wesentlichen Handlungsstränge und vermittelt mit seiner
spannend zu lesenden Arbeit, ergänzt
durch einen umfangreichen Dokumententeil, zugleich ein anschauliches und abschreckendes Bild von terroristischem
21
Aktivismus. Neben den Büchern von Gerhard Jagschitz (Der Putsch, 1976) und Kurt
Bauer (Elementar-Ereignis, 2003) kann
Sommerfest mit Preisschießen den Rang
eines weiteren seriösen Standardwerkes
zur Geschichte des NS-Putsches beanspruchen.
Heimo Gruber
Schall, Kurt: Klettersteig-Atlas
Österreich. Alle 200 Klettersteige und
Sportklettersteige
Wien: Schall-Verlag 2006. 440 S., € 29,90
Beim Einstieg in dieses Buch denkt man zunächst, man hat es angesichts der Informationen, die sich wie eine senkrechte Wand
vor dem Leser aufbauen, mit Schwierigkeitsgrad E zu tun. Hat man aber erst mal
die erste Seillänge, restriktive die Inhaltsübersicht und die Gebrauchsanweisung
hinter sich, erweist sich die Lesetour für
den Klettersteigfreund als äußerst erfrischend und die Vorfreude auf so manchen
Steig ist schwer zu bremsen.
Zunächst werden die Klettersteige
von leicht bis extrem schwierig sowie
die interessantesten gesicherten Steige
vorgestellt. Die äußerst gelungene Bestandsaufnahme erfolgte bis Juni 2006,
viele der Klettersteige werden hier also
erstmals präsentiert. In der Klettersteigübersicht werden vorweg Schwierigkeitsgrad, Höhenmeter, Kletterzeit, Zustiegszeit, Fun-Faktor, Sicherheitsfaktor
und Anforderungsprofil sowie die Tauglichkeit für Kinder angegeben. Anschließend werden sämtliche beachtenswerte Faktoren im Detail ausgeführt.
Neben Fotoaufnahmen und kleinen
Kartenausschnitten sind zweifellos die
zahlreichen Anstiegsskizzen ein Gewinn. Dadurch kann sich von zu Hause
aus auf maßgeschneiderte Touren vorbereiten. Der Verleger Kurt Schall präsentiert mit diesem Klettersteigführer
ein ausgezeichnetes Werk, das einer
momentan boomenden Modesportart
noch mehr Fans bescheren wird.
Stefan Lichtenegger
Sattmann, Alexander: Kärnten verstehen.
Geheimnisse – Besonderheiten – Anekdoten
Graz: Lykam 2006. 160 S. , € 14,90
„Kärnten is a Wahnsinn“ – so der sinnige Titel der Tourismusindustrie: Kärnten
zwischen Kameradschaftsbündlern und Wörtherseefilmen, zwischen Exilanten
wie Handke und Turinni, zwischen Karl Heinz Gasser und Jörg Haider. Alle diese
Verwerfungen zwischen diesen Parallelwelten und die Unberechenheit dieser
Grenzgänger machen es schwer, Österreichs tiefen Süden zu verstehen.
Der ORF-Journalist Sattmann beschreibt mit leichter Hand, aber stets mit Liebe
die bekannten und unbekannten Widersprüche seiner Heimat. Nach dem Motto
„Mundart bringt Sympathiepunkte“ erklärt er im Kapitel „Sproch und Gfühl“ den
Kärntner Dialekt. Nach einem vergnüglichen Sprachlehrgang wendet sich Sattmann einem strittigen Thema zu: den Kärntner Minderheiten. Mit vielen
Textbeispielen wie zum Beispiel einem langen
zweisprachigen Gedicht wird der zweisprachigen
Situation in Kärnten auf humorvolle Art Rechnung
getragen. Der Autor versteht es, heikle Themen
nicht nur besonnen darzustellen, sondern immer
wieder auch Anekdoten neben Fakten zu stellen.
Um wen es schließlich im Kapitel „Politik und Er“
geht ist klar ...
Ein gelungenes Buch mit mehr Tiefgang und Information als man zunächst vermutet. Sattmann
hat eine Menge Material zusammengetragen.
Vom Kochrezept bis zum Liedtext ist hier alles
versammelt – und von den historischen
Anekdoten gar nicht zu reden ...
Mike Stappen
Sachbuch
Heimatland
22
Speil, Rudolf: Klammen & Schluchten in Österreich. An tosenden Wassern
Graz: Leopold Stocker Verlag 2006.
303 S., € 17.90
Klammen und Schluchten, häufig in Kombination mit Bergtouren erwähnt, haben
etwas Unheimliches und Magisches, was
für manche gerade ihren Reiz ausmacht.
Im vorliegenden Fall sind sie Gegenstand
eines sehr persönlichen Wanderführers des
passionierten Wanderers Rudolf Speil.
Geschickt baut der Autor Legenden
und Erzählungen in die jeweilige Wanderung ein, mengt liebevoll persönliche Erlebnisse und Geschichten bei, was das
Buch so sympathisch macht. Immer wieder beschreibt Speil kleine Details, unauffällige, aber interessante Plätze oder Inschriften und kleine Kunstwerke, über die
der aufmerksame Wanderautor kurzweilige Geschichten zu erzählen weiß.
Äußerst dürftig beschrieben sind indes
Zufahrten und Zugänge; die den Beschrei-
bungen vorangestellten Karten, wenn man
die spartanischen Linienumrisse der jeweiligen Region denn so bezeichnen will, sind
schlichtweg umbrauchbar. Aber vielleicht
will der Autor es dem Entdecker von Klammen nicht so leicht und die Suche danach
zu einem Abenteuer machen.
Die leider nicht immer genau zuordenbaren Fotos des liebevoll erarbeiteten und
ansprechenden Buchs zeigen schließlich so
manche versteckte Schönheit des Landes.
Stefan Lichtenegger
Innen, sowie deren „ethnische Identifikationen“.
Eingebettet in die Betrachtungen unterschiedlicher Integrationsbestrebungen und
Sozialisationshintergründe zeigt sich am
Ende des Buches ein höchst heterogenes
Bild, das im Grunde keine allgemeinen
Schlüsse zulässt. Wie junge Muslime der
„Zweiten Generation“ mit ihren kulturellen und religiösen familiären Wurzeln umgehen und wie sich Sozialisation und
Identifikation auf die Integration auswirken
ist sehr unterschiedlich.
Bei dem vorgestellten Buch handelt es
sich um die Publikationsfassung einer Dissertation an der Universität Graz. Der empirische Teil der Untersuchung ist informativ und gut gearbeitet. Der theoretische Teil
lässt allerdings besonders hinsichtlich der
analytischen Zugänge zu Ethnizität, Integration und Identität einige der innovativeren Standardwerke aus dem interdisziplinären Umfeld vermissen.
Als eine der wenigen Arbeiten, die sich
empirisch mit dieser Thematik beschäftigen, ist das Werk besonders für Studierende und FachleserInnen dennoch empfehlenswert. Als Einführung für die allgemein
interessierten LeserInnen ist es jedoch
durch den streng formalen Aufbau und die
etwas sperrige Sprache weniger geeignet.
Peter Karall
auf die Zeit der ersten Christen. Der Autor
ist der Meinung, nur so könne das Neue
Testament überhaupt verstanden werden,
indem man die Zeit und das Denken der
damaligen Zeit versteht. Dabei möchte er
mit den LeserInnen kommunizieren, denn
nur so ist ein Lesen des Textes sinnvoll und
trägt zum besseren Verständnis bei.
Der Autor gibt zu Beginn des Buches
einen groben Überblick, der zur Einleitung
dienen soll und erste Einblicke in die Zeit
der ersten Christen liefert. Der Hauptteil ist
dem ursprünglichem Text gewidmet. Die
Evangelisten werden einzeln analysiert
und ihre Schreibweise gedeutet. Im
Anschluss werden Leben und Wirken der
Personen Jesus und Paulus durchleuchtet,
da sie die Schlüsselfiguren im Neuen
Testament und der frühchristlichen Zeit
sind.
Der „Begleiter“ muss dabei nicht von
Anfang bis Ende gelesen werden. Die
LeserInnen können sich Teilbereiche heraussuchen und quer durch das ganze
Buch lesen oder sich gezielt Informationen
holen. Der Autor empfiehlt den LeserInnen
allerdings auch, ein Neues Testament zur
Hand zu haben, da sein Buch eben nur ein
„Begleiter“ sein möchte und den Originaltext nicht ersetzt.
Stefan Schreiber bemüht sich um eine
einfache Schreibweise, ohne dabei sein
Fachwissen zu untergraben. Das Buch ist
auf jeden Fall nicht für Laien geeignet. Vorwissen ist sehr hilfreich, kann aber bei
gleichzeitiger Lektüre des „Neuen Testament“ ansatzweise kompensiert werden.
Fachinteressierten LeserInnen, vorzugsweise solchen, die sich mit der Materie eingehender beschäftigen, bietet das Buch also
eine Fülle von Informationen.
Jacqueline Kebza
Gott und die Welt
Ornig, Nikola: Die Zweite
Generation und der Islam in Österreich
Graz: Leykam 2006, 422 S., € 39,90
Fragen zu Identität, Religiosität und Integration ethnischer Minderheiten mit muslimischem Hintergrund in Österreich stehen
im Zentrum dieser Untersuchung.
Nach einer allgemeinen Einführung in
einige soziologische Theorien und Definitionen zu Kultur, Ethnizität und Identität
widmet die Autorin den bekannten Postulaten von Samuel Huntington und Edward Said rund um das konfliktäre Verhältnis „Islam“ und “Westen“ einen eigenen Abschnitt. Anhand der Arbeiten von
Bassam Tibi und Tariq Ramadan wird im
weiteren der allgemeine Versuch unternommen die Rollen, Möglichkeiten und
Probleme des Islam innerhalb Europas
auszuloten. Ein kurzer Abriss über die historische Entwicklung der Glaubensrichtung selbst, ihre verschiedenen Ausformungen und deren rezente rechtliche Stellung in Österreich runden den theoretischen Teil der Studie ab.
Der empirische Teil der Untersuchung
konzentriert sich auf die Lebenssituation
junger muslimischer Erwachsener der
„Zweiten Generation“. Unter dem Begriff
„Zweite Generation“ subsumiert die Autorin junge Menschen im Alter von 18 bis 30
Jahren, „deren Eltern aus einem mehrheitlich muslimischen Land nach Österreich
migriert waren und die selbst bereits in Österreich geboren wurden oder spätestens
im Volksschulalter nach Österreich gekommen sind“.
Anhand 33 ausführlicher Interviews
analysiert Nikola Ornig die unterschiedlichen Ausformungen und Bedeutungen von
Religion im Leben ihrer Gesprächspartner-
Schreiber, Stefan: Begleiter durch
das Neue Testament
Düsseldorf: Patmos 2006. 335 S., € 25,60
Das Buch Begleiter durch das Neue
Testament möchte genau dieses sein: ein
Begleiter, der aber vor allem Wert legt auf
die zeitgeschichtlichen Hintergründe, also
Sachbuch
23
Gott und die Welt
Uhl, Alois: Die Päpste und die
Frauen
Düsseldorf: Patmos 2006. 271 S., € 20,50
Wie schon in seinem vor zwei Jahren erschienenen Buch Papstkinder hat Alois Uhl
hier wieder einen brisanten Aspekt der
Kirchengeschichte aufgegriffen: die Rolle
und der Einfluss von Frauen im Leben von
Päpsten, deren Frauenbild und Umgang
mit dem anderen Geschlecht etc.
Es sind nicht gerade Heerscharen von
Frauen, die im Lauf der Kirchengeschichte
in Erscheinung treten. Andererseits sollte
die Wirkung der singulären Frauengestalten, die gerade in der frühen Papstgeschichte auftreten, nicht unterschätzt werden. Die
byzantinische Kaiserin Pulcheria nahm im
Jahr 451 am Konzil teil und gegen ihren
Willen konnten keine Beschlüsse gefasst
werden. Im 10. Jahrhundert machte die Senatrix Marozia ihren Einfluss geltend, erteilte Anordnungen, setzte schließlich sogar ihren Sohn zum Papst ein.
Auch ohne offizielle Machtstellung
konnten im Mittelalter einzelne Frauen zur
grauen Eminenz werden und eine charismatische Autorität ausüben. Besonders farbig waren die Beziehungen zwischen
Frauen und Päpsten in der Zeit der Renaissance. Es gab verheiratete Päpste, die im
Vatikan ein Familienleben führten, es gab
berühmte Papsttöchter wie Lucrezia Borgia
und Papstgeliebte wie Giulia Farnese. Eine
besondere Episode der Papstgeschichte,
die auch in der Literatur ihren Widerhall
gefunden hat, ist die Geschichte der angeblichen Päpstin Johanna aus dem 9.
Jahrhundert. Wichtiger als die Auflösung
eines historischen Rätsels ist für Uhl jedoch die Aussagekraft dieser Figur, in der
der Gegensatz zwischen Frau und Papst für
einen kurzen Moment suspendiert wird.
Der Blick auf die Gegenwart führt zu
einem ernüchternden Fazit. Dem mehrheitlich weiblichen Kirchenvolk steht eine
Leitung gegenüber, die zur Gänze aus
Männern besteht: Papsttum und Kirche –
eine anachronistische Männerbastionen.
Der Einfluss der Frauen ist heute sogar geringer als in den Anfangszeiten der Kirche.
Alois Uhl hat kein ketzerisches oder
polemisches Buch geschrieben, vermeidet
es aber auch, zu beschönigen. Seine Darstellung ist sachlich, ausgewogen und um
Verständlichkeit bemüht.
Wolfgang Chesnais
Gesund an Leib und Seele
Grönemeyer, Dietrich: Lebe mit
Herz und Seele. Sieben Haltungen zur
Lebenskunst
Freiburg: Herder 2006. 21 S., € 17,40
Nach den Publikationen Mensch bleiben
und Mein Rückenbuch bringt der deutsche
Radiologe und Mikrotherapeut Grönemeyer einen Beitrag zur Wertedebatte heraus, in dem er sieben Haltungen zur Lebenskunst thematisiert. Es ist ein sehr persönlich gehaltenes Plädoyer für bewusstes,
verantwortliches Leben in größtmöglicher
Lebensvielfalt – ein Eintreten für die Erhaltung von Werten, für den Respekt vor dem
Individuum in seinem jeweiligen Gedanken-, Gefühls-, und Kulturausdruck.
Lebe mit Herz und Seele ist ein Buch
gegen die zunehmende Mutlosigkeit und
Resignation und ein Mutmacher für Selbstbestimmung, Selbstverantwortung und Engagement. Darin inkludiert ist, dieses Leben auch zu entwickeln: selbst und mit anderen Perspektiven auch neue Lebensformen zu gewinnen, bis hin zur „globalen
Geschwisterlichkeit“, auch aus dem Wissensschatz anderer Kulturen zu lernen.
Nach seiner Einschätzung sind wir jedoch
nahe daran, unsere gemeinsame Lebensgrundlage, die Erde, zu zerstören ...
Der Appell für ein selbst gestaltetes
und selbst verantwortliches Leben gründet
sowohl auf Erkenntnissen aus seiner ärztli-
chen Tätigkeit, als auch auf persönlicher
Reflexion. Viele psychosomatische Befindlichkeitsstörungen haben ihre Ursache in
gebundener oder unaufgelöster Angst.
Grönemeyers ehrenwerten Ansätze zur
Reflexion des Lebenskunstwerkes erscheinen keineswegs unrichtig, doch zu moralisierend und von jenem pastoralen Tonfall
infiziert, der etwas einschläfernd wirkt.
Eine Mischung aus Sachinformation, Bekenntnisliteratur und Seminarleiterpädagogik, mit einem Schuß therapeutischer Intention. Ein zweifellos engagierter, um die
Sache bemühter Beitrag, der eben die Mühen der Erkenntnis stilistisch zu glätten
versucht und als Ergebnis einen Verhaltenskatalog von der Kanzel predigt.
Christa Mayer
Kiefer, Ingrid: Schlank ohne Diät.
Das Programmbuch
Leoben: Kneipp 2006. 214 S., € 19,90
Das Schlank-ohne-Diät-Programm, das ja
fast eine Marke ist, wurde vor über 20 Jahren an der Universität Wien entwickelt.
Laut Selbstdefinition des Ärzteteams (den
AutorInnen) ein „modernes, wissenschaftliches Lifestyle-Programm“. Dieses Gewichtsreduktionsprogramm – das Wort
Diät ist eigentlich nur am Buchdeckel zu
finden – besteht im Wesentlichen aus vier
Komponenten: Einstellung, Ernährung, Bewegung, Verhalten. Die Einschränkungen
werden GenießerInnen sehr entgegenkommen: Keine Verbote, Berücksichtigung
verschiedener Vorlieben, Unterstützung
durch „modernes coaching“ via Internet.
Kleiner Wermutstropfen: Ein Bisschen
bewegen oder Sport treiben sollte man
dann doch. Aber keine Angst: Es wird einem genau gesagt, wie viel Bewegung nötig ist, um eine Tafel Schokolade oder eine
Salamipizza zu „verbrennen“. Auch erfährt
man endlich die Vor und Nachteile seines
Ess-Typs.
Das Buch ist übersichtlich gestaltet mit
vielen Fotos von Leckereien, die man jetzt
nur mehr in Maßen genießen sollte. Ergänzend gibt es eine umfangreiche, schön gestaltete Kalorientabelle mit einer „Bewegungstabelle“ als Pendant. Von ÄrztenInnen verfasst, kommt das Buch streckenweise doch recht technisch und wissenschaftlich rüber, beibt aber immer lesbar.
Absolut empfehlenswert für GenießerInnen die mit ihrem Gewicht nicht zufrieden sind und denen immer noch nicht
in den Sinn gekommen ist, dass die Tafel
Schoko oder das Leberkässemmerl als
Betthupferl vielleicht an ihrem Übergewicht beteiligt sind! Die Experten der deutschen Stiftung Warentest bewerteten das
Buch sogar als „ausgezeichnet“.
Bernhard Waschak
Sachbuch
Gesund an Leib und Seele
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Kirshenbaum, Mira: Paare im
Zeitstress. Nähe und Verbundenheit
auch im hektischen Alltag schützen
Aus dem Englischen
Freiburg: Herder 2006. 256 S., € 17,20
Die Autorin setzt sich mit der Frage auseinander, wie man die Liebe in Paaren, die
zueinander passen, aber durch ihren Lebensstil auseinander zu driften drohen, lebendig und prickelnd erhalten kann. Kirshenbaum findet es traurig, dass sich viele
prinzipiell harmonierende Paare vom Alltagsstress unterkriegen lassen. In einer gelungenen Mischung aus Praxis- und Anschauungsbeispielen zeigt die Autorin Wege aus der Zeitkrise auf.
Ausgehend von der Problemschilderung und der damit verbundenen Definition von Zeit als gemeinsame Zeit der
Liebe bietet sie nachvollziehbare Handlungsanweisungen und Rezepturen an.
Manche der Merksätze und Anleitungen,
wie etwa „gut für sich selbst sorgen“, erweisen sich erst auf den zweiten Blick als
Mittel, mehr positive Energie in die Beziehung zu bringen, manche hingegen, wie
„nichts sagen, was der Beziehung schaden
könnte“ sind auf Anhieb einleuchtend.
Das Buch noch lesenswerter machen
die diversen „Guerillastrategien“ (etwa
LAL-„Lust auf Liebe“ ... ). Nach dem Motto
„Weniger ist mehr“ zieht sich folgende
Erkenntnis der Autorin als roter Faden
durchs Buch: „Für mich lässt sich diese
Erkenntnis kurz und prägnant in dem
Vorsatz zusammenfassen, die qualitativ
gute Zeit zu maximieren und die Zeiten zu
minimieren, die mit Dingen angefüllt sind,
die einfach sein müssen.“
Als weitere nützliche Tipps erweisen
sich schließlich die Anleitungen, die vermeiden sollen, dass Ärger in die Partnerschaft hineingetragen wird. Ärger verhindert Nähe, Ärger fordert Zeit, um Verletzungen heilen zu lassen, um Momente
der intimen Liebe stattfinden zu lassen
Aus der Masse der Ratgeber, die uns
glücklicher, reicher, klüger machen wollen, ragt dieser Ratgeber von Mira Kirshenbaum durch Themenwahl und Ausführung
meilenweit hinaus. Viele Paare wären
möglicherweise jetzt noch zusammen,
hätten sie dieses Buch gelesen.
Christian Jahl
Schlank ohne Diät für Kinder.
Programmbuch für Eltern
Leoben: Kneipp 2006. 165 S., € 19,90
Ein AutorInnenteam von führenden ExpertInnen der Ernährungswissenschaften,
Sportmedizin, Psychologie, Kinderkardiologie, Sozialmedizin, Psychotherapie beschäftigt sich in Schlank ohne Diät für
Kinder mit der Veränderung von Freizeit
und Konsumgewohnheiten.
Vor allem ungesunde Ernährung und Bewegungsmangel sind dafür verantwortlich,
dass heute in der industrialisierten Welt jedes vierte Kind als zu dick eingestuft wird.
Setzt sich dieser Trend fort, wird im Jahr
2010 die Hälfte aller Kinder übergewichtig
sein. Zu Maßnahmen für ein gesundes Leben kann man niemanden, schon gar nicht
Kinder, zwingen. In jedem Fall aber spielen
die Eltern, die das betroffene Kind beim
Programm durch Motivationsarbeit unterstützen sollen, eine entscheidende Rolle.
Einstellung, Ernährung, Bewegung und
Verhalten sind die vier Komponenten, auf
denen dieses Gewichtsreduktionsprogramm basiert. Es werden die möglichen
Ursachen für die Entstehung des Übergewichtes, aber auch die körperlichen und
seelischen Auswirkungen beschrieben. Zusätzlich gibt es wichtige Ernährungs- und
Bewegungsinformationen und ein Kapitel
über Essstörungen. Im zweiten Teil des Buches gibt es eine genaue Anleitung zum Erarbeiten, Erklären und spielerischen Erlernen des Programms. Für die Kinder gibt
es dazu ein spezielles Arbeitsheft.
Das Programm ist für Kinder und Jugendliche der Altersstufen 5–8 sowie 9 –14
Jahre konzipiert. Es basiert auf den wissenschaftlichen Ansprüchen einer professionellen Therapie auf drei Ebenen: der kognitiven, der emotionalen, sowie der aktionalen Ebene.
Hilde Steiner
Schneider, Sylvia: Wie Lebensmittel und Medikamente unsere Kinder krank machen.
Was Eltern dagegen tun können
Wien: Ueberreuter 2005. 138 S., € 14,95
Bei den meisten Kindern beginnt falsche Ernährung bereits in ganz jungen Jahren: Süßigkeiten werden als Belohnung eingesetzt, es werden Fertiggerichte konsumiert, und auch Fastfood steht regelmäßig auf dem Programm – schließlich wollen alle
Kinder die neuesten „Gadgets“ aus der „Happy Meal“-Tüte. Wer die Zutatenliste auch scheinbar
gesunder Lebensmittel durchliest, erlebt manch böse Überraschung. So enthält etwa eine
Kindermilchschnitte ungefähr ein Löffelchen voll Milch, aber jede Menge Zucker, und bei den
Fruchtzwergen ist es ca. eine halbe Erdbeere pro Becher.
Dass sich Kinder, vor dem Fernseher und dem Computer sitzend, zu wenig bewegen, macht die
Sache auch nicht besser. In der Pubertät, vor allem von Mädchen, drohen dann Essstörungen wie
Bulimie oder Magersucht, weil Medien ein völlig unrealistisches Frauenbild vermitteln.
Was also tun? An sich ist es ganz einfach: Kinder leben immer nur so gesund, wie sie es von den
Eltern vorgelebt bekommen: Fixe Essenszeiten, an denen die ganze Familie am Tisch sitzt (ohne
Fernseher im Hintergrund), viel Obst und Gemüse, Bewegung an der frischen Luft etc. Das alles
ist in der Praxis natürlich nicht immer leicht umzusetzten, aber Eltern, denen die Gesundheit ihrer Kinder am Herzen liegt, könnte dieses interessante Buch immerhin ein Ansporn sein.
Doris Wanner
Kinder- und JugendbuchBilderbücher
Browne, Anthony: Matti macht sich
Sorgen
Oldenburg: Lappan 2006. 32 S., € 13,30
Wenn Matti sich Sorgen macht, kann er
nicht einschlafen. Dabei scheinen diese
Sorgen – über Hüte, Schuhe, Wolken und
Regen – so harmlos zu sein. Aber was sich
bei Tag harmlos gibt, kann in der Nacht ein
Eigenleben entwickeln und sich endlos
vervielfältigen: In grau schattierten Bleistift- oder schwarzen Tuschezeichnungen
wandert eine Schuhkarawane unterm Bett
hervor, droht das Bett im Wasser unterzugehen oder sogar ein Riesenvogel den Buben zu entführen. Doch durch die weißen
Umrahmungen der Bilder auf fröhlich bunten Seiten wird die Angst für die BetrachterInnen unter Kontrolle gehalten.
Matti hingegen merkt, dass die Beschwichtigungen seiner Eltern die Angst
nicht vertreiben können. „Mach dir keine
Sorgen” zu sagen ist eben zu einfach. Nur
die Oma weiß mit Mattis Sorgen umzugehen: Sorgenpüppchen. Man muss ihnen
nur die Sorgen erzählen, in der Nacht
kümmern sie sich dann darum. Fall gelöst.
Aber Matti wäre nicht ein Meister im SichSorgen-Machen, würden ihm nicht Bedenken über die Überlastung der Sorgenpüppchen kommen. Mit einer humorvollen
Wendung wird Matti nun in die Position
des Beschützenden versetzt. Vervielfältigt
werden nicht mehr die beunruhigenden
Gegenstände der Nacht, sondern die Sorgenpüppchen für die Sorgenpüppchen und
so weiter und so weiter.
Browne schmückt seine Erzählung um
den guatemaltekischen Brauch mit dem
Kontrast zwischen Schwarz-Weiß und
fröhlichen Farben und erzielt damit ein
sehr freundliches Buch, das Sorgen ernst
nimmt und einen Weg zeigt, mit ihnen
umzugehen. Eine angenehme, beruhigende Geschichte schon für jüngere Kinder.
Ab 3 Jahren
Veronika Freytag
Egitz, Waltraud: Der Zottelbär
Ill. v. Eric Battut
Zürich: Bohem Press 2006. 32 S., € 13,90
In diesem in erster Linie in kräftigen Rotund Grüntönen gehaltenen Bilderbuch für
kleinere Kinder steht das Thema Toleranz
im Mittelpunkt. Ein neuer Waldbewohner
ist aufgetaucht: der Zottelbär. Dem kleinen
Bären ist das gar nicht recht, da er nicht
bereit ist, die Früchte seiner Himbeerhecke
mit dem Eindringling zu teilen. Mit lautem
Gebrüll verjagt er ihn. Um sicher zu gehen, dass der Zottelbär auch nie wieder
kommt, folgt er dessen Spur, um ihn für
immer zu verjagen. Auf dem Heimweg
trifft er jedoch den Zottelbären vor dessen
Höhle, als dieser gerade Nüsse in seinen
Honig rührt. Als der Zottelbär ihm verrät,
dass der Honig so besser schmeckt, er aber
noch viel besser schmecken würde, würde
man zusätzlich Himbeeren mit einrühren,
beschließt der kleine Bär, gemeinsam die
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köstlichen Himbeeren von seiner Lieblingshecke pflücken zu gehen.
Es ist dies eine leichtverständliche Fabel über die Toleranz Fremden gegenüber,
über eine Freundschaft, der man Zeit und
die Chance zum Entstehen geben muss.
Die ruhigen, durch gelungene Farbkompositionen überzeugenden Illustrationen geben der Landschaft Raum und lassen die
Akteure nur aus der Distanz erkennen, um
die jeweiligen Egos nicht zu sehr in den
Vordergrund zu stellen. Die in aller Unaufdringlichkeit vermittelte Botschaft dürften
bereits Kinder ab 3 bis 4 Jahren verstehen.
Ab 4 Jahren
Erich Snobr
Bansch, Helga / Heinz Janisch: Krone sucht König
Wien: Jungbrunnen 2006. 24., € 13,90
Zu Beginn und am Ende dieses Bilderbuches finden die kleinen LeserInnen nummerierte Bilder, mit denen sie Schritt für Schritt eine goldene Krone aus Papier basteln können. Doch diese Krone hat auch eine Geschichte: Auf ihrem Ruhekissen
liegend, beschließt sie, aus einem als Museum eingerichteten Schloss wegzufliegen und einen König zu suchen. Was sie draußen sieht, relativert ihren Wunsch
jedoch nach und nach: ein alter Mann, der im Park die Blumen kommandiert, ein
Postbote, der mit den Briefschreibern abrechnet, der Papa, der für sein Kind nur
noch Verbote hat, der kleine Bub am Fußballplatz, der seine Mitspieler dominiert,
ein Fisch, der unter Wasser die Farben diktiert ...
Nachdenklich fliegt die Krone wieder zurück ins Museum und gibt acht, niemandem mehr in die Nähe zu kommen: Es können hier alle in Gedanken kurz König
spielen, aber „das sollte genügen“.
Das Thema Macht und wie sie die Menschen verändert wird in Krone und König
kindgerecht präsentiert und zum anschaulichen Gegenstand möglicher durch das
Buch angeregter Gespräche. Symbolisiert die Krone die Macht – oder vielleicht
der kleine geringelte Fisch, der als „Maskottchen“ (mit braunem Lederrucksack
auf einem roten Fahrrad) durch das Buch führt? Oder sind sie es beide?
Das Buch ist Liebevoll bis ins kleinste Detail illustriert. Kräftige Farbtöne bilden
im Wechsel mit zarten Bleistiftstrichen
spannende Kontraste. Verschiedenste
Perspektiven verändern die Sichtweise beziehungsweise erweitern den Blickwinkel.
Die österreichische Illustratorin Helga
Bansch und der Autor Heinz Janisch haben bereits eine Vielzahl von Bilderbüchern miteinander veröffentlicht. Zuletzt
wurde ihr Bilderbuch Ein Haus am Meer
(mit dem LesePeter) ausgezeichnet.
Das thematisch und sinnlich anregende
Buch Krone sucht König ist geradezu prädestiniert für eine weitere Auszeichnung!
Ab 4 Jahren
Karin Kiraly
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Bilderbücher
Goethe, Johann Wolfgang von: Der
Zauberlehrling
Ill. v. Sabine Wilharm
Berlin: Kindermann 2006. 24 S., € 15,00
Endlich gibt es den Zauberlehrling in einer
Version für Kinder! Ist doch kaum ein Gedicht so hochdramatisch und gleichzeitig
so komisch. Der kindliche Wunsch, es
dem Meister gleich zu tun und die Geister
nach seiner Pfeife tanzen zu lassen, ist außerdem kaum so prägnant und vergnüglich
in Worte gefasst worden.
Mit der Reihe “Poesie für Kinder” erweitert der Kindermann-Verlag nun sein
Programm der “Weltliteratur für Kinder”,
in dem bekannte Texte der Weltliteratur im
Bilderbuchformat in Szene gesetzt werden.
Diesmal schafft Sabine Wilharm einen
wahrhaft magischen und dynamischen
Rahmen. Schon das Haus des Hexenmeisters sieht aus, als würde es nur durch ge-
heime Zauberkräfte zusammengehalten,
so instabil, schief und wackelig steht es da.
Nicht nur der Zauberlehrling freut sich
über die Abwesenheit des Hexenmeisters,
auch zwei kleine Kobolde begleiten unseren Helden durch sein Abenteuer, aber
während der immer verzagter und verzweifelter über die nicht zu stoppenden
Wassermassen wird, genießen die beiden
das Chaos offensichtlich. In seitenfüllenden, manchmal zweiteiligen Illustrationen,
die nur von schmalen Textbändern durchzogen werden, wirbelt der Besen durchs
Bild, ergießen sich simultane Wasserströme in alle nur erdenklichen Behälter, wird
das Match zwischen Besen und Zauberlehrling auch über ihre herangezoomten
Portraits mit den entsprechenden Mienen
ausgetragen. Turbulent und wild ist in den
Bildern ein Laufen und Fließen, der Zauberlehrling wird immer kleiner, die Besen
immer schneller, das Wasser immer allge-
Kunert, Günter: Josephine im Dunkeln
Ill. v. Jutta Mirtschin
Leipzig: leiv 2006. 17 S., € 13,30
Josephine, genannt Josi, ist ein aufgewecktes 6-jähriges Mädchen. So wie andere Kinder tollt sie gerne herum, spielt und freut sich ihres Lebens. Nur wenn es
anfängt dunkel zu werden, verwandelt sich Josi in ein ganz und gar ängstliches
Kind. Wahre Gruselfilme spielen sich da in ihrem Kopf ab. Es ist so schlimm mit
Josis Angst, dass ihre Eltern abends nicht mehr ausgehen können. Kein Kino,
kein Theater – stattdessen sitzen sie im Wohnzimmer und gähnen vor dem
Fernseher. Eines Tages nun kaufen die Eltern ein Haus am Stadtrand. Im großen
Garten kann Josi schön Gärtnerin spielen. Nach dem Abendessen bemerkt Josi,
sie ist ein wenig unordentlich, dass sie alle ihre Gärtnersachen draußen liegengelassen hat. So muss sie, obwohl es schon anfängt dämmrig zu werden, noch
einmal hinaus. Natürlich fängt Josis Phantasie wieder an bedrohliche Sachen
und schlimme Bilder zu produzieren. Auf der Flucht vor einer Riesen-Gruselspinne kommt sie zu einem flachen Haus mit einem niedrigen Fenster. Im
Zimmer steht ein Bett, darin liegt ein Mädchen. Auf der Suche nach Hilfe klopft
unsere Josi an die Fensterscheibe und sieht, wie das Mädchen vor ihr wie vor
einem Gespenst erschrickt.
Josi sieht sich und ihre Angst wie in einem Spiegel.
Sie weiß nun, dass die Dinge sich nur scheinbar
verwandeln, in Wirklichkeit aber gleich bleiben.
Josephine im Dunkeln thematisiert, von stimmigen
Bildern begleitet, ein bei Kindern verbreitetes
Gefühl. Kunert erzählt in einer poetischen, leichten Sprache, während die Illustratorin Jutta
Mirtschin großflächig mit dem Gegensatz helldunkel arbeitet. Die Grundstimmung des Buches
ist immer eine freundliche, warmherzige.
Maria Hammerschmid
Kinder- und Jugendliteratur
genwärtiger, bis der dicke Bauch und der
strenge Zeigefinger des Hexenmeisters für
Ruhe und Ordnung sorgen.
Sabine Wilharm ist eine großartige,
ganz köstliche Umsetzung von Goethes
Klassiker gelungen. So vergnüglich kann
Lyrik sein!
Ab 5 Jahren
Veronika Freytag
Schär, Brigitte / Ballhaus, Verena:
Geschichten vom Roll und vom Ruh
Zürich: Bajazzo Verlag 2006. 32 S.,
€ 14,30
Mit ihren Geschichten vom Roll und vom
Ruh legen Brigitte Schär und Verena Ballhaus ein ganz besonderes Bilderbuch vor.
Leise und poetisch und sehr philosophisch
kommen ihre ganz gewöhnlichen AlltagsGeschichten daher. Da gibt es zwei
FreundInnen, Roll und Ruh, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Roll, das
Kugelrunde, ist laut, agil und voller Tatendrang. Ruh, das Zarte, ist leiser, sanfter und
zurückhaltender. Und gerade in ihrer Gegensätzlichkeit ergänzen sie einander zu
einem Ganzen, das ohne das jeweils andere nicht auskommt.
Mal backen sie Kuchen, mal kugeln sie
ineinander verschlungen den Hügel hinunter, mal fürchten sie sich im Gewitter,
dann wieder streiten sie und sind böse miteinander – immer aber gehören sie zueinander, wie zur Gewitternacht der strahlend
klare Morgen gehört oder wie zum Streit
die Versöhnung.
Brigitte Schär gelingt es mit poetischer
Klarheit, die philosophischen Momente im
(Kinder-)Alltag darzustellen, die wir alle
kennen, die wir aber nicht immer so besonnen, unaufgeregt und gleichzeitig anregend reflektieren können, wenn wir mittendrin stecken. Und Verena Ballhaus setzt
die geschlechtslosen ProtagonistInnen
höchst originell in abstrakte Figuren um,
deren Empfindungen sich gekonnt in den
expressionistischen Bildwelten widerspiegeln, die sie zu den jeweils nur wenige
Sätze kurzen Geschichten entwickelt.
Ein wunderschönes, besonderes Bilderbuch, das sich sehr zum gemeinschaftlichen Lesen eignet und das zum DarüberReden und -Philosophieren einlädt.
Ab 5 Jahren
Andrea Hirn
Kinder- und Jugendliteratur
Bilderbücher
Schmid, Sophie: Feenzauber und
Schweineglück
München: Altberliner 2006, 14S., € 15,40
„Es war einmal eine gute Fee, die jahrein,
jahraus den Kindern ihre Wünsche erfüllte“ – Ganz märchenhaft beginnt Feenzauber und Schweineglück, doch die gute
Fee hat ihre Arbeit langsam satt. Es langweilt sie, immer nur die gleichen Wünsche
zu erfüllen, also fasst sie den Entschluss,
sich einen neuen Job zu suchen und geht
aufs Arbeitsamt. Dort gibt es freie Stellen
wie Schutzengel, Flaschengeist oder BöseOberhexe, und die gute Fee entscheidet
sich für den Posten der verwunschenen
Prinzessin, die auf den zu erlösenden Prinzen warten soll. Gleich an Ort und Stelle
wird sie in ein Schwein verwandelt und
muss nun auf einem Bauernhof auf den
Prinzen warten. Das Leben am Hof stellt
sich als gar nicht so unangenehm heraus,
denn kann sie im Schlamm baden, faul in
der Sonne herumliegen und sehr viel Zeit
mit dem für ein Schwein sehr attraktiven
Eber Toni verbringen. Eines Tages aber
kommt Prinz Eugen der Tapfere herangeritten. Doch die tatsächlich verwunschene
Prinzessin hält sich im Schlamm versteckt
und pfeift auf den Prinzen, da sie ihre
Liebe bereits gefunden hat. Und so lebte
sie mit dem Eber Toni „glücklich bis ans
Ende ihrer Tage“.
Das Bilderbuch spielt mit klassischen
Märchenrollen, doch die Illustrationen
sind ganz und gar stereo-untypisch. Die
gute Fee wirkt eher männlich, hat etwas
dümmliche Gesichtszüge und kleine,
knollenähnliche Flügel. Auch die anderen
Figuren wirken fast wie Karikaturen. Witzig sind außerdem kleine Details, wie etwa die Zählkarten am Arbeitsamt.
Sophie Schmid hat sowohl den Text als
auch die Illustrationen dieses sehr humorvollen Bilderbuchs geschaffen.
Ab 5 Jahren
Barbara Eichinger
Wittkamp, Frantz / Brosinski, Jenny:
Gute Nacht – oder: Der lange
Weg ins Bett
Zürich: Atlantis 2006. 32 S., €13,90
„Wer zu Bett geht, der braucht Zeit, denn
der Weg dahin ist weit / Wenn du Lust
hast, wach zu bleiben, will ich dir den
Weg beschreiben.“ Mit diesen Zeilen beginnt Frantz Wittkamps lyrische Reise ins
Reich der Träume, die erstmals 1988 erschienen ist und bis heute nicht an Faszination verloren hat.
Entlang von Häuserfronten, Parkanlagen, tiefen Tälern und hohen Brücken begeben sich die LeserInnen in eine wunderbar illlustrierte Traumlandschaft.
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Beginnend beim Cover bis hin zur letzten
Seite wird man in eine scheinbar schwerelose Welt gezogen, die sich in Form von
feinen Strichen, verspielten Details und
zart aquarellierten Farbflächen immer in
Leserichtung fortsetzt. Genaue BeobachterInnen können dabei immer wieder neue
Szenen und Geschichten erspähen, die
zwischen feinem Humor und Poesie changieren.
Sonderbare Tiere und schrullige Menschen reihen sich neben Märchenfiguren
und Zirkuspersonal, überdimensionale
Hunde oder Schiffe neben zierliche Häuser und Segelboote, eigenwillige Friedhöfe
und in Bewegung scheinende Serpentinen
neben riesige Blumen und einladende
Planschbecken. Dabei scheint sich das
Reimschema des Textes in der Dynamik
der Bilder wiederzufinden, die sich mit
schrägem Strich und einem steten Perspektiv- und Größenverhältniswechsel bemerkbar macht.
Gute Nacht oder Der lange Weg ins
Bett ist ein gelungenes Bilderbuch für Jung
und Alt, das viel Raum zum Schauen, Staunen und Weitererzählen bietet. Mit seinen
detailreichen, liebevoll gestalteten Illustrationen und den poetischen Textzeilen hebt
sich dieses Bilderbuch in faszinierender
Weise von anderen Produktionen ab.
Ab 4 Jahren
Martina Rényi
Visconti, Guido / Vignoli, Daniella: Der Wolf an der Leine
Aus dem Italienischen
Steyr: Ennsthaler Verlag 2005. 28 S., € 13,60
Bauer Osvaldo hat die fettesten Schafe und die größten Kohlköpfe. Eines Tages will er das fetteste Schaf und den größten Kohlkopf zum Markt bringen. Aber da gibt es auch einen Wolf ... Osvaldo fängt den Wolf und nimmt ihn mit , damit dieser nicht
die zurück bleibenden Schafe in seiner Abwesenheit fressen kann. Osvaldo kommt zu einem Fluss. Dort hat er ein kleines
Boot. Damit kann er aber nicht alle auf einmal hinüber bringen. Osvaldo überlegt, wie er es anstellen kann, ohne dass das
Schaf den Kohlkopf fressen kann, beziehungsweise der Wolf das Schaf. Nach einigem Nachdenken und einer Nacht voller
wirrer Träume gelingt es ihm, das Problem zu lösen. Eine kleine Überraschung in Form einer
Raupe erwartet ihn dann doch noch.
Das liebevoll illustrierte Buch ist ein gutes Vorlesebuch für Klein- beziehungsweise Kindergartenkinder, bei dem die VorleserInnen die erzählte Geschichte selber weiterspinnen können.
Die stilisierten Landschaften regen die Vorstellung der BetrachterInnen an. Sie haben nichts bedrohliches, da die Bilder bunt, sehr vergnüglich, und mit weichen und freundlichen Farben gemalt sind. Immer wieder wählt Daniella Vignoli andere Perspektive, und baut spannende Perspektive auf und witzige Details ein.
Und die Moral: Lass den Kopf nicht hängen, wenn du ein Problem hast, sondern denk darüber
nach, da es immer eine Lösung gibt – oder: auch dem größten Schlaukopf kann manchmal ein
ganz kleines Detail entgehen.
Ab 5 Jahren
Thomas Jürgens
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Kinder- und Jugendbuch
Kinderbücher
Creech, Sharon: Glück mit Soße
Ill. v. Rotraud Susanne Berner
Aus dem Amerikanischen
Frankfurt/Main: Fischer Schatzinsel 2006.
141 S., € 12,30
Die 12-jährige Rosie und der Nachbarjunge Bailey sind seit jeher miteinander
befreundet und nahezu unzertrennlich.
Doch wie in jeder Freundschaft gibt es
manchmal kleine Probleme, die aus Rosies
Sicht hier in zwei kurzen Episoden erzählt
werden.
In der ersten Geschichte, genannt
„Suppe“, ist Rosie sauer, weil sie mühsam
die Blindenschrift gelernt hat, um den blinde Bailey zu überraschen. Dieser reagiert
darauf jedoch sehr verstört und wütend.
Aber Rosie hat ja Granny Torelli, ihre italienischstämmige Großmutter, die nicht nur
gut und leidenschaftlich kochen, sondern
kann auch sehr gut zuhören kann. Sie
spürt, dass ihre Enkelin Probleme hat, teilt
ihr kleine Arbeiten beim Zuppa-Kochen zu
und erzählt so ganz nebenbei von ihrer
Jugend und ihren Problemen mit ihrem damaligen besten Freund, sodass Rosie nach
und nach schließlich den Grund für Baileys
seltsames Verhalten versteht. Die zweite
Geschichte „Pasta-Party“ funktioniert nach
demselben Prinzip. Rosie, Granny Torelli
und diesmal auch Bailey kochen gemeinsam und so ganz nebenher wird die Welt
wieder in Ordnung gebracht.
Die beiden Geschichten sind flott und
dialogreich gestaltet. Immer wieder sind
auch italiensche Wörter eingestreut, die
das Ganze sehr lebendig machen. Den
Rahmen der einzelnen Kapitel bilden
freundlich wirkende Illustrationen, die das
Buch optisch aufpeppen und Kochrezepte,
die wirken, als wären sie aus Granny Torellis persönlichem Kochbuch.
Ab 10 Jahren
Barbara Eichinger
Gray, Margaret: Prinzessin Rose
und der kluge Narr
München: dtvjunior 2006. 216 S., € 7,20
Prinzessin Rose ist die dritte Tochter des
Königspaares von Kuskus. Rose hat Hasenzähne und kurze Haare, aber dafür ist sie
ein ausgesprochen nettes und kluges Mädchen. Als Rose 16 ist kommt der arrogante
Prinz Petersilie auf Brautschau ins Königreich. Natürlich interessiert er sich nur
für schöne Prinzessinnen, und Rose
wünscht sich nichts mehr als die allerschönste zu sein. Ihre Patenfee erfüllt ihr
diesen Wunsch und alles läuft nach Plan,
doch auf dem Ball erkennt Rose, dass der
Prinz furchtbar langweilig ist, und schön
zu sein viel Arbeit bedeutet. Sie will wieder so aussehen wie vor ihrer Verwandlung, aber da man Wünsche nicht einfach
so zurück nehmen kann muss sie noch
eine Prüfung bestehen ...
Die Autorin spielt auf unterhaltsame
Weise mit den gängigen Klischees die normalerweise in Märchen vorkommen, und
zeigt den LeserInnen, dass schön sein allein nicht glücklich macht. Nicht nur unterhaltsam für Kinder!
Ab 9 Jahren
Doris Wanner
Henke, Carola / Hein, Sybille: Ich
bin eins und du bist zwei. Fröhliche
Zahlengeschichten und Gedichte
Freiburg: Kerle/Herder 2006. 80 S., € 14,30
Zahlen können faszinieren – und das nicht
nur in dem oft respektvoll anmutenden
Bereich der Mathematik. Also stellte Carola Henke Texte und Gedichte rund ums
Zählen von namhaften AutorInnen wie Leo
Tolstoi, Rotraut Susanne Berner, Peter
Härtling, Shel Silverstein, Cornelia Funke
und vielen mehr zusammen. Heraus kam
ein ansprechendes, abwechslungsreiches
und ideenreiches (Vor-)Lesebuch, das die
LeserInnen in fremde Welten, skurrile Situationen, alltägliche Geschichten und
nonsensgereimte Verszeilen entführt.
So lernt man bei der Lektüre dieses feinen Bandes unter anderem wie profitabel
das Teilen von Gänsen sein kann, welch
einfallsreiche Schimpfwörter Hasenväter
beim misslungenen Zählversuch der Kinderschar entweichen, oder wie gefährlich
manch grüner Hering lebt.
Begleitet werden die Texte von farbenfrohen Bildern der im Jahr 2005 mit dem
österreichischen Kinder- und Jugendliteraturpreis ausgezeichneten Illustratorin Sybille Hein. Mit seinen kurzen, in sich abgeschlossenen Geschichten, den humorvollen Gedichten und kurzen Rätseln sowie der mit schwungvollem Strich ge-
zeichneten Illustrationen spricht das Buch
Eltern wie Kinder an und macht auf diese
Weise ein erstes Kennen lernen namhafter
Kinder- und JugendautorInnen auf einfache Weise möglich. Die einzelnen Beiträge fordern zum Mitmachen auf und eignen
sich ebenso als Gutenachtgeschichten,
wie auch für PädagogInnen zum Einstieg
für themenbezogene Schwerpunkte. Eine
humorvolle Sammlung zum Blättern, Vor-,
Selber- und Immerwiederlesen.
Ab 5 Jahren
Martina Rényi
Hoffman, Marjon: Die Boskampi
Ill. v. von Barbara Scholz
Hamburg: Carlsen 2006, 206., € 12,40
Rik Boskamp ist ein 9-jähriger Junge, der
als Halbwaise nur mit seinem ziemlich
vergesslichen und etwas schusseligen
Vater aufwächst. Der kleine Rik hat es satt,
dass nicht nur er von den Schulfreunden
gehänselt wird, sondern vor allem sein
Vater! Illegal sieht er im Fernsehen einen
Mafiafilm, den er auch für Studienzwecke
noch heimlich auf Video aufnimmt. Er ist
begeistert: Alle haben großen Respekt und
die Mafiakinder bekommen zu jedem Geburtstag mindestens 100 Geschenke. Als
Riks Vater kurze Zeit später von seiner
Bank befördert wird, beschließt Rik, inspiriert von dem Mafia-Film, die einzigartige
Gelegenheit zu nutzen und alles anders zu
machen ...
Doch auch das Leben als Mafiakind hat
seine Tücken. Rik verstrickt sich immer
mehr in seine Mafia-Räubers-Geschichten.
Da hilft nur Gottes Fügung. Es gibt in der
Stadt ein italienisches Lebensmittelgeschäft,
geführt von der wunderschönen Gina. Sie
ist die Retterin für Rik und stellt seinen Vater
auf erfolgreiche Freiersfüße. So endet die
Geschichte nicht nur gut, sondern auch tatsächlich italienisch – einzig nicht mafiös.
Die zarten Schwarzweiß-Zeichnungen
von Barbara Scholz sind pointiert und witzig wie die mit viel Situationskomik, Verwicklungen und skurrilen Situationen gespikte Erzählung. Rik gewinnt nicht so sehr
durch Lügen, Angeberei und Erpressung,
als vielmehr durch Mut und intelligentes
Nutzen der Schwächen der Erwachsenen.
Ab 9 Jahren
Werner Kantner
Kinder- und Jugendliteratur
Kinderbücher
Koch, Karin: Emil wird sieben
Ill. v. André Rösler
Wuppertal: Hammer 2005. 47 S., € 9,20
Sieben ist ein magisches Alter und nicht
wenige Kinderbücher tragen diese Zahl im
Titel. Auch in Emil wird sieben ist der Titel
gut gewählt, obwohl er auf den ersten
Blick irreführend erscheint: Emils Mutter
ist geschieden und seit Jahren lebt sie mit
Emil allein zusammen. Emil würde sich
noch einen Bruder wünschen, aber daraus
wird wohl nichts, weil Mama keinen neuen Freund finden kann. Doch eines Morgens liegt ein fremder Mann neben Mama
im Bett. Das ist Emil auch wieder nicht so
ganz recht. Als der neue Freund namens
Robert dann noch langweilige Geschenke
macht und zum Abendessen Brokkoli mag,
ist er bei Emil völlig unten durch. Zu allem
Überfluss lernt Emils Vater eine neue
Freundin kennen. Doch die hat immerhin
einen Garten und eine siebenjährige Tochter! Nach einigen Konflikten gelingt es
auch Robert, sich mit Emil anzufreunden.
So endet das Buch versöhnlich an Emils
siebtem Geburtstag, zu dem sich alle zusammen im Garten von Papas Freundin
einfinden. Das mit dem Garten war übrigens Emils Idee. Und er wird noch viele
gute Ideen haben, jetzt wo er sieben ist ...
Eine Geschichte also über ein zeitgemäßes Thema, über die Entstehung und
Anfangsphase einer Patchworkfamilie. Der
Witz an dem Buch ist, dass die Geschichte
ohne Erzählerkommentar, also konsequent
aus Emils Perspektive erzählt wird. Dadurch ergeben sich eine Menge komischer
Effekte. Geschickt setzt die Autorin Dialoge
ein, sodass auch Sichtweisen der Eltern
zum Ausdruck kommen, die Emil vielleicht
noch nicht nachvollziehen könnte. Das
Buch ist in jedem Detail stimmig und mit
großem psychologischen Einfühlungsvermögen geschrieben. Nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene werden sich in diesen Figuren teilweise wieder finden können. Und für manche wird es aufschlussreich sein zu sehen, wie Emil die neuen
Partner seiner Eltern gleich viel eher toleriert, wenn er selbst mit gleichaltrigen
FreundInnen zusammen sein kann.
Die Zielgruppe des Buches sind Kinder
ungefähr in Emils Alter. Es ist zum Vorlesen
ebenso wie zum Selbstlesen geeignet.
Ab 6 Jahren
Wolfgang Chesnais
Schubiger, Jürg / Hohler, Franz:
Aller Anfang
Ill. v. Jutta Bauer
Weinheim/Basel: Beltz & Gelberg 2006.
125 S., € 17,40
Die große Frage um die Entstehung der
Welt bildet den Ausgangspunkt dieses kleinen aber feinen Ausnahmebändchens, das
34 fantasievolle Hin- und Hergeschichten
über die Schöpfung der preisgekrönten
Schweizer Autoren Jürg Schubiger und
Franz Hohler in sich vereint.
Da tummeln sich Kältehummeln und
bananenfressende Löwen, bezaubernde
spanische Nüsschen und gelangweilte
Zwetschkenkerne, emanzipierte Göttinnen
und medienpräsente Engel. Wir erfahren,
was Gott mit einer Kiste Erbsen zu tun hat,
wieso den Menschen früher eine Blumenwiese auf dem Kopf spross oder wie unser
Planet die Nasen verlor. Aber auch dem
Verschwinden der ersten Sprache, den
wirklich wahren Begebenheiten im Paradies
und der Identität des Teufels werden auf un-
29
terhaltsame, teils sarkastische, teils kritische
und ernste Weise Rechnung getragen.
Voller Einfallsreichtum, Poesie und
skurrilem Charme überbieten sich Schubiger und Hohler mit Anti-Mythen, Querverweisen und einprägsamen Bildern, die von
Jutta Bauer in Form von zahlreichen Collagen und Zeichnungen kongenial mit- und
weitergesponnen werden.
Aller Anfang vereint neue sowie bereits
publizierte Texte zum Staunen, Schmunzeln, Nachdenken und Weiterfabulieren –
für alle Menschen mit Sinn für Humor und
Lust an den vielfältigen Möglichkeiten von
Sprache und Illustration. Wer also immer
schon wissen wollte welche Risiken und
Nebenwirkungen der selbstgebackene
Traummann in sich bergen kann, wer im
Paradies wirklich die Hosen anhatte oder
wie es sich anhört, wenn Gott flucht, nehme dieses Bändchen zur Hand und lasse
sich in eine der bemerkenswertesten Neuerscheinungen dieses Herbstes fallen.
Ab 10 Jahren
Martina Rényi
Kühl, Katharina: Der Prinz von Pumpelonien. Ein Märchen zum Vorlesen
Ill. v. Ute Krause
Hamburg: Ellermann 2006. 125 S., € 13,30
Prinz Pumpel, der zukünftige 16te König des Königreichs Pumpelonien soll die
Prinzessin Pimpinella aus dem Nachbarkönigreich Pipinien heiraten. Doch dem
Prinzen sind königliche Marotten und Verpflichtungen piepegal, er hält nichts
vom Regieren, ihm macht es mehr Spaß, die königlichen Ställe auszumisten.
Außerdem ist er heimlich in Mariechen, die königliche Gärtnerin, verliebt. Doch
König und Königin wollen durch die Heirat mit der Prinzessin aus Pipinien die
ärmliche Staatskasse des Königreichs auffüllen. Während noch darüber diskutiert
wird, erwacht der pumpelonische Drache Fidibus aus seinem Schlaf und entführt
die Prinzessin Pimpinella. Doch Fidibus ist nicht der alles verschlingende böse
feuerspeiende Drache, für den ihn alle halten. Er träumt eigentlich nur von Gurkenmus und Himbeereiscremtorten. Fidibus schleppt die Prinzessin in seine
Höhle, doch das bereut er schnell, denn die verlangt von ihm Sauberkeit und
zwingt ihn zur Hausarbeit und gesittetem Verhalten. Während Fidibus in den
Wald trottet, macht sich Pumpel auf den Weg, um nach Prinzenart die Prinzessin
zu retten ... Kann er trotzdem Mariechen heiraten, obwohl sie keine Prinzessin ist? Werden die
Eltern einsehen, dass ihre Kinder nicht füreinander bestimmt sind? Bekommt Fidibus endlich seine Himbeereiscremetorte und wird ihn je eine
Prinzessin küssen und erlösen? Fragen über
Fragen. Doch je mehr man liest, umso mehr
Antworten kriegt man. Ein liebenswertes
Märchen mit viel Humor und deftiger Sprache
und jeder Menge witziger Illustrationen.
Hilde Steiner
30
Bilderbücher
Ludwig, Sabine: Hilfe, ich hab
meine Lehrerin geschrumpft
Ill. v. Isabel Kreitz
Hamburg: Dressler 2006. 240 S., € 12,40
Die Assoziation des Buchtitels zum lustigen
Unterhaltungsfilm ist eindeutig: „Hilfe, ich
habe meine Kinder geschrumpft“ In diesem
Fall ist es eine Lehrerin, die, geschrumpft
vor einem Lineal, einem Schulheft und einem Bleistift, bereits auf dem Cover vorgestellt wird. Auch im derart verkleinerten
Format ist sie das Abbild der autoritären,
lautstarken Lehrerinnenautoritätspersonen,
gekrönt von harten, schwarzen Brillenfassungen. Doch das Buch hebt sich von die-
sem ersten Eindruck ab – wie angenehm,
wie ungewöhnlich, wie großartig!
Wer wird dem 12jährigen Felix glauben, dass er die von allen gehasste Mathematiklehrerin auf die Größe von 15,3 Zentimetern geschrumpft hat? Er weiß ja selbst
nicht, wie das passiert ist! Aber das Problem steckt nun in seiner Jackentasche.
Und da schimpft sie noch immer lauthals,
die Mathematiklehrerin, obwohl sie ja leiser, weil kleiner geworden ist. Wie kann
Felix sie nur wieder groß bekommen? Auf
der Suche nach der Ursache der Verwandlung wird Felix immer mutiger und lässt
sich zunehmend weniger herumkommandieren. Vor allem aber stößt er auf eine un-
Kinder- und Jugendliteratur
glaubliche Geschichte, die vor 100 Jahren
geschehen sein soll: eine Katze, die eine
wichtige Rolle spielt, einen uralten Brief,
der von großer Bedeutung ist ...
Dieses Buch ist voller Spannung und
Situationskomik in ungewohnter Dimension – packend geschrieben, nicht, wie
vom Cover irrtümlich interpretiert, konventionell eine Geschichte abspulend.
Möge die Autorin weiterhin viel schreiben.
Denken Sie sich selbst positive und erhoffte Attribute für ein spannendes Kinderbuch
aus, haken Sie alle ab – und Sie kommen
diesem Buch sehr nahe!
Ab 10 Jahren
Werner Kantner
Sachbuch
Couprie, Katy / Louchard, Antonin: Die ganze Kunst
Hildesheim: Gerstenberg 2006, 256 S., € 16,40
Sie kennen wahrscheinlich die beiden SchöpferInnen des kleinen, kompakten
Bandes Die ganze Welt. Wenn ja, dann können Sie mit Bewunderung die Steigerung bei gleichem Format und, auf den ersten Blick, ähnlichem Aufbau bestaunen. Diesmal haben die französischen KünstlerInnen Katy Couprie und Antonin
Louchard mit einer Sondergenehmigung viele Nächte lang im Louvre, der größten Gemäldesammlung der Welt, fotografiert, arrangiert, nachgemalt und einfach
gespielt. Der Nike von Samothrake haben sie einen Vogelkopf aufgesetzt, der ertrinkenden Märtyrerin eine Anleitung zum Rettungsschwimmen beiseite gestellt,
das Floß der Medusa mit Playmobil-Männchen nachgebaut und neben einem
ägyptischen Mumienporträt eine Barbie-Puppe als Mumie eingewickelt. Schließlich steht Antonin, gekonnt verkleidet, sogar als Mona Lisa Modell.
Ähnlich einer fantastisch verfremdeten Rückblende zeigt Die ganze Kunst, wie
ein Kindertraum nach einem Museumsbesuch aussehen könnte. Das Konzept ist
so einfach wie bestechend: eine assoziative Aneinanderkettung von Bildern, ganz
ohne Text. Menschen sollen ein Leben lang lernen. Und Menschen lernen besonders lustvoll, wenn sie spielen. In diesem Buch wird mit Kunst auf eine himmlische Art und Weise gespielt. Und es bietet die Chance, die großen Werke der
Vergangenheit ohne Ehrfurcht kennen zu lernen.
Hier gibt es für alle etwas zu entdecken. Denn die völlig unterschiedlichen Assoziationsstränge sind für jede Alters- und Wissenslage ergiebig und überraschend
wie ein pralles Füllhorn. Die unglaublich heitere Grundstimmung macht dieses
Buch leicht zugänglich, ohne dabei die Kunstwerke ins Alberne, Oberflächliche
oder krankhaft Niedliche zu ziehen. Kunst
wird hier ganz nebenbei aufgenommen,
selbstverständlich, als Hintergrund oder Projektionsfläche, vielleicht als neue Realität. Die
ganze Kunst ist ein Meditations- und Assoziationsfeuerwerkbuch und zugleich die beste
Einführung in große Kunst (nicht nur) für
Kinder. Ein Heidenspaß mit großem Erkenntnisgewinn.
Ab 4 Jahren
Werner Kantner
Malherbe, Michel / Chabert
d'Hières, Anne: Religionen
Aus der Reihe „Entdeckungsreise mit
Fleurus“
Köln: Fleurus. 2006. 368 S., € 20,50
Bücher über Religionen für Jugendliche
gibt es nicht so zahlreich. Umso erfreulicher ist das vorliegende Buch. Die AutorInnen beschreiben darin nicht nur die
Hauptreligionen, sondern auch viele andere religiöse Ausrichtungen. Dabei beleuchten sie verschiedene Aspekte von Religion,
beschreiben deren Einfluss auf Kulturen
und bieten einen Blick auch von der Seite
der Ungläubigen.
Zunächst wird der Frage nachgegangen, warum es überhaupt Religionen gibt.
Dann begeben sich die AutorInnen auf die
Spuren alter Religionen aus der Vorgeschichte und der Antike. Ein großes Kapitel
wird dann den großen Weltreligionen gewidmet. Daneben werden kleinere Religionen vorgestellt und das Leben der Mystiker und Weisen auch aus der heutigen
Zeit erörtert. Schließlich werden noch universelle Fragen aufgeworfen und auch die
Schattenseiten von Religion thematisiert.
Die farbigen Abbildungen und Fotografien lockern die Informationen auf und laden zum Blättern ein. Alles in allem ein
packendes und perfekt für die Zielgruppe
der Jugendlichen ausgerichtetes Buch in
ansprechender Aufmachung.
Ab 13 Jahren
Kebza Jacqueline
Kinder- und Jugendliteratur
Sachbuch
Schmid, Ulrich: Wo Tiere und
Pflanzen leben. Unsere Lebensräume
entdecken
31
Wolff, Uwe/Hohmuth, Jürgen: Alles über Labyrinthe und Irrgärten.
Unterwegs mit Zeppelin und Kamera
Stuttgart u.a.: Gabriel 2006. 96 S., € 20,50
Ill. v. Berthold Faust
Stuttgart: Kosmos 2006. 48 S., € 10,30
Sachbilderbücher zum Thema Natur und
Lebensräume gibt es viele. Dieses hier besticht allein durch seine Aufmachung:
großformatig, edles Glanzpapier, detailgenaue und farbenprächtige Illustration,
übersichtliche, gut portionierte und informative Textinformation in harmonischer
Gestaltung.
Eine textlose Panoramaseite lädt zum
Betrachten und Träumen ein. Die folgenden
beiden Doppelseiten beschäftigen sich mit
dem Lebensraum im Allgemeinen und den
jeweiligen Bewohnern im Besonderen.
Jedem Lebensraum wurde eine eigene
Überschriftenfarbe und ein Symbol in Form
eines Tieres zugewiesen. Mit gleicher Farbe
sind auch interessante Fragen und deren sofortige kurze Beantwortung unterlegt. Diese
Aufteilung wird das ganze Buch über
durchgehalten und erweist sich als gute
Orientierungshilfe. Den Abschluss bildet
eine alphabetische Artenliste nach Kapiteln.
Der Text dieses Sachbilderbuchs ist
übersichtlich und transportiert die Information sowohl in Wortwahl als auch in
Länge in altergerechter Form. Der lesefreundliche große Druck erleichtert die Informationsaufnahme ebenfalls.
Ab 9 Jahren
Elisabeth Schögler
Dickins, Rosie: Kunst. Ein
Entdeckerbuch für Kinder
Ill. v. Uwe Mayer
Labyrinthe gehören zu den uralten Zeugen der Menschheitsgeschichte. Man findet
sie überall auf der Welt, sie sind ein uraltes Symbol für Werden und Vergehen.
Dennoch liegt ihre volle Bedeutung vielfach im Dunkeln. Irrgärten erfreuen sich
wachsender Beliebtheit und sind bereits Teil der Unterhaltungsindustrie geworden.
Der Fotograf Jürgen Hohmuth hat bereits zahlreiche Bücher über Irrgärten für
Erwachsene veröffentlicht. Die vorliegende Kinderversion steht diesen Büchern
um nichts nach, was Fotomaterial und Ausstattung betrifft. Kulturgeschichtliche
Zusamenhänge werden indes für Kinder nachvollziehbar erklärt. Durch die Unterteilung in übersichtliche Kapitel und die faszinierenden Fotos bereitet er das Thema kurzweilig und seriös auf. Interessant sind schließlich
auch die zwei Kapitel, in denen Hohmuth, der
für dieses Buch die ganze Welt bereist und Material gesammelt hat, seine Arbeitsweise erklärt.
Ab 12 Jahren
Viktoria Zwicker
verändert haben. In weiterer Folge werden
die wesentlichen Arten der Produktion erklärt und einzelne Künstler vorgestellt –
knapp und spannend formuliert, informativ und auf die interessanten Details konzentriert.
Die lockere Gestaltung und humorvolle kleine Illustrationen sorgen für Schwung
Jugendbuch
Hardinge, Frances: Die Herrin der
Worte
Aus dem Englischen
München: cbj 2006. 478 S., € 16,95
Würzburg: Arena 2006. 64 S., € 13,40
Bereits im Einleitungskapitel beschreibt
Rosie Dickins knapp, klar und unaufgeregt, worum es geht: knappe Erklärung
über den Begriff Kunst; kurzer Abriss darüber, warum Menschen KünstlerInnen werden; Anreißen der die Kunst begleitenden,
gesellschaftlichen Auseinandersetzungen.
Erstmals taucht das kleine Kunst-Quiz auf:
Eine Frage mit drei möglichen Antworten.
Alle Lösungen stehen, ausführlich erörtert,
am Ende des Buches.
30 berühmte Bilder aus 500 Jahren
Kunstgeschichte zeigen beispielhaft, was
Kunst alles sein kann oder wie sich die
Vorstellungen von Kunst im Laufe der Zeit
und Abwechslung. Ein tolles Buch, das auf
allen Ebenen Freude an Wissensvermehrung über Kunst bietet und in seiner
umfassenden Konzeption und lustvollen
Machart niemanden an Pädagogik denken
lässt.
Ab 11 Jahren
Werner Kantner
Mit ihrem Debüt ist der Engländerin Frances
Hardinge gleich ein großer Wurf gelungen.
Der an originellen Ideen und fantastischen
Details reiche Fantasyroman spielt, dem
Genre gemäß, in einem fiktiven Land zu einer fiktiven Zeit, nimmt aber geschickte
Anleihen in der europäischen Geschichte
des Mittelalters bis zum 18. Jahrhundert.
Mosca, 12-jährige Heldin des Romans,
lebt in einer in zahlreiche Zwergstaaten
zersplitterten Welt, in der Bücher nur nach
strengster Zensur geschrieben, verbreitet
und (nur von Männer!) gelesen werden
dürfen. Mosca jedoch beherrscht die Kunst
des Lesens und Schreibens, weil ihr Vater
es sie gelehrt hat. Mit 12 Jahren verwaist,
flieht sie aus ihrem engstirnigen, reaktionären Heimatdorf. Auf ihrer Reise schließt
sie ein Zweckbündnis mit dem Gauner
und Wortkünstler Clent, der sie aber am
liebsten los haben möchte. Wie sie ihre
abenteuerliche Reise mitten hinein in eine
riesige Verschwörung der Mächtigen führt,
ist absolut lesenswert ...
Trotz des historischen Kolorits ist
Hardinges Stil erfrischend, angemessen
modern, leicht lesbar und dennoch
sprachlich anspruchsvoll. Zwischen den
Zeilen blitzt immer wieder britischer
Humor durch sowie Geschichts- und
Gesellschaftskritik. Ihre Figuren sind von
den Haupt- bis zu den kleinsten Nebenfiguren perfekt durchkomponiert, stimmig
und authentisch. Ein absolutes Muss für
Fans des Fantasy- und Historien-Romans!
Ab 12 Jahren
Andrea Hirn
32
Horowitz, Anthony: Todeskreis
Aus dem Englischen
Bindlach: Loewe 2006. 286 S., € 17,40
Hauptperson dieses ersten Romans einer
fünfbändigen Reihe ist Matt, ein vierzehnjähriger Waise, der bei seiner Tante lebt
und durch äußerst unglückliche Umstände
auf die schiefe Bahn kommt. Im Rahmen
von Resozialisierungsmaßnahmen wird er
zu einer Pflegemutter geschickt. Doch in
dem einsamen Dorf, das von äußerst seltsamen Gestalten bewohnt wird, ereignen
sich bald seltsame Dinge. Matt möchte abhauen, doch so sehr er sich auch anstrengt, es gelingt ihm nicht. Die Straßen
führen ihn im Kreis, der Wald ist ein undurchdringliches Dickicht und Menschen
die dem Jungen helfen wollen, sterben auf
mysteriöse Art. Doch schließlich lernt Matt
einen jungen Reporter kennen, der zwar
zuerst nur eine interessante Story wittert,
ihm dann aber zur Flucht verhelfen kann.
Doch schon bald befinden sich die beiden
in höchster Todesgefahr ...
Schon auf den ersten Seiten zieht einen
dieser Roman in seinen Bann. Die Geschichte ist spannend und flüssig zu lesen.
Todeskreis in ein Gänsehaut erregender
Fantasy-Thriller, der einen gespannt auf die
vier Folgebände dieser Reihe warten lässt.
Elisabeth Ghanim
Skelton, Matthew: Endymion Spring.
Die Macht des geheimen Buches
Aus dem Englischen
München: Hanser 2006. 430 S., € 17,90
In Skeltons Debütroman geht es um ein
geheimnisvolles Buch, das seinen Weg aus
Gutenbergs Buchdruckerwerkstatt in die
Labyrinthe der Bibliotheken von Oxford
gefunden hat. Auf der Flucht vor dem gerissenen Johannes Fust, dem Vorbild der
Faust-Legende, hat es der stumme Druckerlehrling Endymion Spring in den Regalen der altehrwürdigen Gemäuer versteckt,
wo es 500 Jahre später der zwölfjährige
amerikanische Junge Blake entdeckt – besser gesagt, das Buch ihn entdeckt. Auf den
zunächst scheinbar leeren Seiten bilden
sich Wörter, die nur er sehen kann.
Während Blakes Mutter an einer Arbeit
über die Faust-Legende arbeitet folgen
Blake und seine Schwester dem Weg, den
ihnen das geheimnisvolle Buch zeigt, und
Jugendbuch
versuchen, es vor dem „bösen Schatten“
zu retten, der ebenfalls dahinter her ist,
ohne zu wissen, wer ihr geheimnisvoller
Gegner ist.
In eleganter, anschaulicher Prosa verknüpft der Autor die Geschehnisse im Oxford der Jetzt-Zeit und dem Mainz des 14.
Jahrhunderts. Die wenigen zarten Illustrationen sind an die Buchmalerei angelehnt
und das angenehme Schriftbild lädt sofort
zum Schmökern ein. Dieser historisch-magische Thriller ist in einer Startauflage von
50000 erschienen und Warner hat sich bereits die Filmrechte gesichert.
Birgit Sajn
Spindler, Christine: Love Takes a
Detour. Liebe auf Umwegen
Aus der Reihe „girls in love“
Berlin: Langenscheidt 2006. 159 S., € 8,20
Die vierzehnjährige Nike ist das einzige
weibliche Wesen unter fünf Männern:
Kinder- und Jugendliteratur
Vater, Opa und drei Brüder machen ihr das
Leben schwer. Das ist auch der Grund,
weswegen sie sich beharrlich gegen die
Liebe wehrt, obwohl ihr alle ihre Freundinnen in höchsten Tönen von Herzklopfen und Verliebtheit vorschwärmen.
Sie widmet sich lieber dem Chatten mit
ihrer Freundin Cathy in London, ein Umstand, der dieses Buch zu etwas Besonderem macht: Ganz selbstverständlich wird
der Dialog nun in englischer Sprache geführt, wechselt die Autorin übergangslos
von einer Sprache in die andere (für
schwierigere Wörter und typische englische Redewendungen gibt es Vokabelübersetzungen und Erklärungen).
Langenscheidts neue Fremdsprachenlektüre erscheint in der Reihe „girls in love“
und verbindet mühelos originelles, alltagsbezogenes Englischlernen mit einer netten
Liebesgeschichte, wobei gewisse EnglischGrundkenntnisse nicht hinderlich sind.
Ab 12 Jahren
Gabriele Saul
Wildner, Martina: Michelles Fehler
Berlin: Bloomsbury 2006. 281 S., € 13,40
Als Michelle am 15. März aufwacht, hat sie ein komisches Gefühl. Sie hat verschlafen – und ab diesem Zeitpunkt läuft alles schief. Als ob Michelle nicht schon Pech
genug hätte: Sie ist klein und gilt als Streberin, wird in der Schule schikaniert, und
von den getrennt lebenden Eltern ist ebenfalls keine Hilfe zu erwarten.
Doch am 15. März ist alles noch viel schlimmer: Genau 85 Fehler macht sie zwischen 7:23 Uhr und 15:57 Uhr. Sie werden im Buch allesamt durch Zwischenüberschriften und die genaue Uhrzeit nummeriert aufgezählt. Diesen Zahlenfimmel teilt
die Autorin mit der Protagonistin. Was Michelle nicht weiß: dahinter steckt ihr persönlicher Schutzengel-Sachbearbeiter vom Fehlerberechnungsamt. Dieses obskure
Amt wacht über die Geschicke der Menschen. Und Hr. Schmidt, Michelles Sachbearbeiter, hasst pubertierende Jugendliche im Allgemeinen und Michelle im Besonderen. Daher kommentiert er ihr Unglück mit schadenfrohem Gelächter, statt ihr zu
helfen. Die LeserInnen bangen und „laufen“ mit Michelle gegen Pech, Missverständnisse, Verleumdungen und Einsamkeit. Doch Schmidts Manipulationen sind erfreulicherweise nicht in allen Bereichen erfolgreich ...
Zentrale Themen des Buches sind die Frage, inwiefern
der Mensch sein Leben selbst beeinflussen kann oder
umgekehrt vom Zufall abhängt und der Gedanke,
dass wer Entscheidungen trifft, Fehler machen kann.
Michelle ist am Schluss ein Stück gewachsen. Nur einen Tag im Leben dieses zähen, selbstkritischen und
ein bisschen verrückten Mädels umfasst dieser Roman, minutiös aufgezeichnet und sehr gelungen sowohl aus Michelles als auch aus Schmidts Sicht erzählt. Ein starkes Mädchen mit einer realistischen
Geschichte – spannend und empfindsam präsentiert.
Ab 13 Jahren
Beate Wegerer