Leseprobe

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H
inter dem unbewachten Stadttor begann der Aufstieg. Vor
Freddy lag der Hügel, den er vom Haus von Taros Großmutter aus gesehen hatte. Seiner Erinnerung nach dürfte es
keine zehn Minuten dauern, bis die Spitze der Erhebung erreicht wäre.
Nach einer halben Stunde jedoch beschlichen ihn langsam Zweifel,
nur einen Hügel zu besteigen. Immer wieder versuchte er mit seinen
Augen die Dunkelheit zu durchdringen, um endlich den Gipfel erblicken zu können. Der Mond verschaffte ihm zwar eine gewisse Erleichterung, doch von einem Ende der Strapaze war nichts zu sehen. Vor
ihm schritten Taro und Wolfi unbeirrt einen schmalen Weg entlang,
der sich allmählich verbreiterte und – den Hinterlassenschaften nach
zu urteilen – bei Bergziegen beliebt war.
Um mit den beiden Schritt halten zu können, gab Freddy alles an
Kraft, was er in den Beinen hatte. Mit verzerrtem Gesicht stapfte er in
die Fußspuren der Voraneilenden, die langsam den Abstand vergrößerten. Nach weiteren Minuten verlor er dennoch vollkommen den
Kontakt. Taro und Wolfi waren weder zu sehen noch zu hören. Und
doch glaubte Freddy etwas wahrzunehmen. Er hörte Geräusche – wie
ein Schmatzen – und die kamen nicht von vorne.
Hinter sich blickte er auf die wenigen Lichter der Stadt, die aus der
Ferne aussahen wie Glühwürmchen. Aber da musste noch etwas sein.
Freddy verlangsamte seinen Schritt und blieb schließlich ganz stehen.
Er konzentrierte sich auf sein Gehör.
Nun herrschte eine unheimliche Stille. Freddys Instinkt ließ nur
ein kleines Glöckchen läuten, das er kopfschüttelnd ignorierte. Doch
sein Unterbewusstsein wollte sich bemerkbar machen.
Es war nur ein Schatten, den Freddy kaum wahrgenommen hatte,
als er eben daran vorbeigelaufen war. Schließlich lag dort nach seinem
Empfinden nur ein kleiner Felsbrocken. Doch nun begann sich der
dunkle Fleck zu bewegen. Im Gedanken, ein Tier aufgeschreckt zu
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haben, das sich nur behäbig bewegen konnte, griff Freddy nach seiner
Lampe.
Er ließ sie nur eine, vielleicht zwei Sekunden eingeschaltet. Dieser
Moment reichte ihm, um den Schrei seines Leben rauszubrüllen.
Vor seinen aufgerissenen Augen hatte sich eine kriechende Kreatur mit einer grauen Fratze gezeigt, die ihn mit leeren Augenhöhlen
anstarrte. Beine und Arme waren seltsam verwachsen und aus dem
lippenlosen Mund ragte ein einziger, riesiger Reißzahn, der aus dem
Oberkiefer wuchs.
Seine schmerzenden Beine waren vergessen, und er wollte gerade
den Berg hinaufstürmen, als Taro und Wolfi vor ihm auftauchten.
„Was ist los?“, rief Taro hektisch.
„Schnell weg … ein Monster!“, schrie Freddy panisch. Er deutete
auf das Wesen und packte Taro am Arm, um sie zur Flucht zu bewegen.
„Nur ein Schleicher“, lautete der kurze Kommentar von Wolfi, der
schnüffelnd vor der Kreatur stand.
„Ein Schleicher? Das Ding sieht aus wie ein Alien!“, brüllte Freddy,
der nicht verstand, wie ruhig sich die beiden verhielten. Rückwärtslaufend stellte er einen Sicherheitsabstand her, den er am liebsten auf
hundert Meilen vergrößert hätte.
Taro schüttelte verwundert den Kopf. „Vor so etwas musst du
keine Angst haben.“
„Ja, die knabbern dich nur an, wenn du schläfst oder langsamer
läufst als ein Stück Holz“, erklärte Wolfi. „Die kommen nur nachts
und suchen nach Nahrung. Weiches Fleisch mögen sie besonders!“
„Was heißt die … gibt es noch mehr davon?“, fragte Freddy entsetzt. Blitzschnell lag die Taschenlampe wieder in seiner Hand und er
leuchtete schweißgebadet in alle Richtungen.
„Sicher, davon gibt es viele Tausende“, bemerkte Taro verwundert.
„Gibt es in deiner Welt keine Schleicher?“
„Nein! Nein!“, brüllte Freddy. „Bei uns triffst du nachts Rehe und
Waschbären und stolperst nicht über schleichende Zombies!“
„Wie ich bereits sagte, vor denen brauchst du keine Angst haben.
Wir sollten weitergehen!“ Taro sah Freddy mit einem seltsamen Blick
an und schritt an ihm vorbei.
Doch der reichte Freddy, um zu wissen, was sie in ihm sah – das
Gegenteil von einem Helden.
Missmutig lief er hinter Taro her, die nun langsamer voranging.
Doch die Stimmung war auf einen Tiefstand gesunken. In Wolfis
Augen ohnehin ein Waschlappen zeigte ihm nun auch Taro, dass
er nur noch ein Anhängsel war. Obwohl es Freddy hin und wieder
gelang, zu ihr aufzuschließen, würdigte sie ihn keines Blickes mehr.
Stur die Augen nach vorne gerichtet, sprach sie nur einige Worte mit
Wolfi über die nächsten Schritte.
So erfuhr Freddy von dem Plan, bald ein Nachtlager aufzuschlagen. Da er die Schleicher noch bestens in Erinnerung hatte, war seine
Begeisterung gedämpft. Er war sich sicher, nicht schlafen zu können,
wenn um ihn herum diese Biester darauf warteten, ihn anzuknabbern.
Um nicht noch mehr in Taros Ungnade zu fallen, behielt er seine
Gedanken für sich. Dass es von diesen Kreaturen mehr als genug gab,
sah er an den Schatten, die sich im Schneckentempo bewegten. Er
glaubte ohnehin nicht mehr, dass es hier auch nur einen Stein gab, der
einfach nur ein Stein war.
In seiner Fantasie liefen ihm Bäume mit schwingenden Ästen
hinterher, die sie als Knüppel benutzten. Eichhörnchen, die ihm im
Blutrausch am Hosenbein hingen und Blumen, die ihre Blätter als
Giftpfeile benutzten.
Er registrierte nur noch im Unterbewusstsein, dass der Hügel hinter ihnen lag und Taro auf einen Wald zusteuerte.
Den Kopf voller Spukgestalten wirkte Freddy wie ein Roboter, der
nur dem einen Befehl folgte: Setze einen Fuß vor den anderen.
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