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Das erste Mal
F
ür alle Erlebnisse gibt es das sagenhafte erste Mal, auf welches man
anschließend sein ganzes Leben lang gerne zurückblickt. Zum Schutz der
Psyche werden diese Erst-Erfahrungen im Gehirn oftmals chemisch
gebleicht, damit sie in der Rückschau positiv ausfallen. Auf diesen Effekt
zu vertrauen, wäre eine gute Übung für moderne Eltern, die das aber
oftmals nicht hin bekommen und deshalb sämtliche erste Male ihrer
Kinder nach Kräften steuern, damit diese garantiert schön ausfallen. Mir
wurde sogar von einer Mutter berichtet, die ihrem achtzehnjährigen Sohn
einen Besuch im Bordell buchte, nicht ohne Tage zuvor in gründlichen Auswahlgesprächen
die geeignete Partnerin ermittelt zu haben.
So weit sind wir noch nicht, aber immerhin habe ich meinen zwölfjährigen Sohn zu
seinem ersten Konzert begleitet. Ich besorgte auch die Karten. Es ging zu „Deichkind“, das ist
seine Lieblingsband. Wir betraten die Halle und ich suchte nach einem geeigneten Platz für
uns. Aus jahrzehntelanger Erfahrung weiß ich, dass man gut aufgehoben ist, wo das
Mischpult steht. Aber da gefiel es Nick nicht. Er wollte nach vorne. Weit nach vorne. Ich
versuchte ihm zu erklären, dass es dort ungemütlich werden würde. Speziell die Fans von
„Deichkind“ verwandeln sich bei Konzertbeginn in eine Herde Wasserbüffel. Das war ihm
egal, weil er selber einer ist, wenn es drauf ankommt.
Das Konzert fing an und Nick war vom ersten Moment an da. Ich stand daneben wie ein
Bernhardiner: begeistert, dabei zu sein und jederzeit zur Rettung bereit. Nick sang „Leider
geil“ mit, er kennt es auswendig. Wenn der Text Handreichungen für die Fächer Biologie,
Englisch und Erdkunde enthielte, wäre ich davon noch begeisterter. Zwischendurch hob ich
ihn hoch, damit er den Orkan auf der Bühne wenigstens phasenweise sah. Nick lud seine
Festplatte mit Eindrücken. Ich dachte derweil an mein erstes Konzert. „Kid Creole & The
Coconuts“. Auch eine große Party mit Verkleidungen und tanzenden Fans, die damals in
Trenchcoats erschienen. Die Anhänger von „Deichkind“ tragen Müllsäcke. Gerade als ich
dabei war, diese Entwicklung für mich selber soziologisch zu deuten, schrie mein Sohn:
„Ferris hat ein Schlauchboot“! Ich hob ihn hoch, damit er sehen konnte, wie Ferris über die
Häupter der Menschen fuhr. Ich weiß, dass er diesen Anblick niemals vergessen wird.
Nach einer Stunde verabschiedeten sich „Deichkind“. Nick sah verzweifelt zu mir nach
oben. „Das war’s schon? Meinst Du, die kommen noch mal wieder?“ Er war mitten im großen
wunderbaren Konzertspiel. Ich wusste natürlich, dass es noch lange nicht zu Ende war. In
Wahrheit bilden die Zugaben heute lediglich den zweiten Teil des Programms. Die Band zieht
sich um, die Leute draußen trinken was, dann geht es weiter. Jeder weiß das, außer beim
ersten Mal. Was für eine Aufregung und wie gerne hätte ich sie geteilt.
Dann kehrten „Deichkind“ zurück auf die Bühne. Nick beobachtete für zwanzig Minuten
einen Irren im Publikum, der seinen bemuskelten Leib offenbar in Tätowierschulen zum
Üben bereitstellt. Der Mann tobte mit freiem Oberkörper auf der Stelle, um sich dann
kreiselnd in die Menge zu schmeißen, die ihn immer wieder zurückwarf. Nick war betört und
seine Begeisterung steigerte sich wenig später zur Raserei: „Da ist ein riesiges Fass!“ krähte er.
Ja, das Fass. Sie haben es seit Jahren dabei. Jeder kennt es. Außer Nick. „Ob sie noch
„Remmidemmi“ spielen?“, fragte er besorgt. Das ist sein Lieblingslied. Ich ließ es offen, um
die Spannung zu erhalten, aber ich wusste: „Deichkind“ würden sich an eine alte Regel
halten, und die lautet: Es ist immer für irgendwen das erste und für irgendwen das letzte
Konzert. Und beide wollen den großen Song hören. Er kam ganz am Ende. „Die haben eine
Hüpfburg “ schrie Nick. Er explodierte vor Spaß und Freude. Krawall und Remmidemmi, er
war eins mit den Anderen, egal wie alt und groß sie waren.
Dann saßen wir im Auto, vollkommen nass geschwitzt. Ich fragte Nick, ob es ihm gefallen
habe. Da drehte er den Kopf zu mir, strahlte mich an und rief: „Wir ham Ferris! Und was habt
ihr?“ Ich verstand: Mit „ihr“ war ich gemeint. Ich gehöre jetzt nicht mehr zum „wir“ dazu. Und
es ist okay für mich. •
4. MAI 2015