Wie aus Pixelklumpen ganze Universen wurden

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Wie aus Pixelklumpen ganze Universen wurden
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FEUILLET ON
F R A N K F U RT E R A L LG E M E I N E Z E I T U N G
Wie aus Pixelklumpen ganze Universen wurden
lle künstlichen Paradiese –
und die Welt ist voll davon –
haben denselben Geburtsfehler. Im Vergleich zur echten
Welt da draußen sind sie immer zu klein, zu eng, zu beschränkt. Da,
wo ein offener Horizont ins Weite locken
sollte, steht immer eine Wand. Im besten
Fall ist sie mit barocken Fresken bemalt,
manchmal aber auch nur mit billiger Fototapete beklebt. Miniaturversionen der
Welt funktionieren nur als geschlossene
Systeme. Schon der Garten Eden war von
einer Mauer umgeben, wie jeder durchschnittliche Freizeitpark. Utopische Städte, wie sie sich die frühe Neuzeit ausmalte,
lagen grundsätzlich als Inseln in fernen,
nur schwer zugänglichen Ozeanen. Und
Aufenthalte an Orten der Weltflucht enden fast immer mit Vertreibung.
Es zieht brutale Strafen nach sich, die
Offenheit des Universums freiwillig gegen
synthetische Ersatzwelten einzutauschen
– seien es verräucherte Opiumhöhlen
oder abgedunkelte Wohnzimmer voller
Elektrosmog, in denen nur ein Fernsehbildschirm und die Dioden elektronischer
Geräte leuchten. Platons alter Vorwurf gegen die Höhlenbewohner, die den Anblick
der Sonne scheuten und stattdessen an die
Wand projizierte Trugbilder bewunderten, trifft mit voller Wucht all die lichtscheuen Mediennutzer, die seit der Verbreitung der ersten Commodore-64-Heimcomputer in den frühen achtziger Jahren
am helllichten Tag die Rollläden herunterließen, um literweise Zitronentee zu trinken und ihre digitalen Stellvertreter durch
die Katakomben verlassener Raumstationen zu steuern.
Nichts bringt die Ausweglosigkeit der
virtuellen Ersatzwelten besser zum Ausdruck als die Tatsache, dass Computerspiele lange Zeit hauptsächlich in Fluchten
von Korridoren spielten. Die Urform aller
Korridorspiele war „Pac-Man“ (1980), ein
zweidimensionales Telespiel, bei dem der
Spieler ein auf einen Mund reduziertes Kugelwesen durch ein kleines Labyrinth lenkte, wobei es darum ging, möglichst viele
Punkte zu verzehren und selbst nicht von
den in den Gängen spukenden Monstern
verspeist zu werden. Der Korridor ist das
Symbol einer Welt, in der es keine Willensfreiheit gibt, sondern nur die Wahl zwischen zwei Impulsen: Flucht und Angriff.
Wer im Labyrinth von „Pac-Man“ auf der
Stelle verharrte, um vom Daseinskampf
auszuruhen und an einer Kreuzung über
die vier möglichen Wege zu meditieren,
vielleicht aber auch nur, um eine neue Packung Schokochips aufzumachen – der
war eine sichere Beute der Todesmonster.
Auch in den ersten dreidimensionalen
Spielen blieb der Korridor die wichtigste
architektonische Grundform. Das liegt sicher daran, dass Korridore leicht zu programmieren sind: Sie bestehen im Zweifelsfall lediglich aus vier Linien, die in einem gedachten Fluchtpunkt zusammenlaufen. Außerdem schränken Korridore
durch ihre Tunnelform die Bewegungsfreiheit ein, und sie lassen das Geradeauslaufen als natürliches, alternativloses Verhalten erscheinen. In den Tiefen der Korridore lauern meistens namenlose Gefahren,
die die Alarmzentren des Gehirns beschäftigen – so dass die Vorstellung, eine detailreiche Außenwelt zu durchstreifen und
sich an ihrer potentiellen Unendlichkeit
zu erfreuen, abwegig erscheint. Korridore
führen auf Korridore, die wiederum in anderen Korridoren münden.
Das Universum der Korridorspiele ist
labyrinthisch, düster und ebenso weit von
der Freiheit entfernt wie von der Sonne –
es ist ein einziger Kerker, der jenem Bild
ähnelt, das sich die pessimistischen Denker der Gnosis im frühen Mittelalter vom
Erdendasein machten. Aus dem korrupten Diesseits, das den Gnostikern zufolge
von einem bösen Baumeistergott zusammengefügt wurde, gab es kein anderes
Entkommen als den Tod, der ins Himmelreich führte. Im klassischen Videospiel dagegen ist auch dieser Ausweg verbaut:
Der Tod bringt bekanntlich keine Erlösung – er zwingt nur dazu, in ewigen Reinkarnationsschleifen immer dieselben
Gänge entlangzulaufen und dort immer
denselben erbärmlichen Kreaturen zu begegnen.
Damit keine Zweifel aufkommen: Es
gibt brillante Korridorspiele, vom Klassiker „Doom“ (1993) bis hin zum Ego-Shooter „F.E.A.R.“ (2005). Aber trotzdem wirft
gerade dieses Genre immer wieder die Frage auf, warum Heerscharen junger und oft
hochbegabter Männer ihre besten Jahre
damit verschwenden, in unterirdischen Minen und havarierten Raumschiffen, irgendwo an den Rändern des Universums,
gegen Ausgeburten der Hölle zu kämpfen.
Nun kann man an eine ganze Reihe klassischer Orte erinnern, die in ihrer Höhlenhaftigkeit den abgedunkelten Jugendzimmern der Gamer ähnelten. Die Kulturgeschichte hält jede Menge solcher Schmuddelecken bereit, auch wenn dort keine Kabel auf dem Boden herumlagen. Zum Beispiel die Schreibstuben, in denen sich die
Mönche des Mittelalters beim Schein
schwacher Kerzen ihre Augen verdarben.
Oder die klassischen Gelehrtenzimmer, in
denen der Staub auf den Büchern das Einzige war, was von Zeit zu Zeit aufgewirbelt
wurde. Kultur reifte eben meistens nicht
im prallen Sonnenschein heran, sondern in
ungesunden Bibliotheken, Büros, Labors
oder schrammeligen Untergrundclubs. Die
Brutstätten des Neuen sahen immer schon
lebensfeindlich aus – und das gilt eben
auch für die elektronischen Spielhöhlen.
Aber alle Vergleiche helfen nicht weiter: Die lichtfernen, tunnelförmigen Computerwelten, die hinter dem Monitor lie-
A
Was verstehen Spieler
wie du und ich von den
Freuden des freien Räuberberufs? Erst als die
Erfinder keinen Handlungsfaden mehr durch
das digitale Labyrinth
legten, wurde Freiheit
am Bildschirm möglich.
Von Andreas Rosenfelder
von jeweils einem Spieler gesteuert wurden und als Schläger dienten.
So sah ein geschlossenes System aus,
das lediglich am linken und rechten Bildrand Ausgänge hatte. Durch die konnte
der Ball verschwinden, was dem Spieler
der Gegenseite einen Punkt verschaffte.
Es gab kein Außen in dieser Welt, so wie
auch ein Tennisplatz, eine Theaterbühne
oder eine Geisterbahn kein Außen besitzt,
das irgendetwas anderes verheißen könnte als die banale Konsequenz, dass das
Spiel aus und vorbei ist.
In der zweidimensionalen Ära der Videospiele war die Begrenzung der Spielewelt meistens identisch mit der des Monitors. Mehr als einen Bildschirminhalt
konnten die damaligen Arbeitsspeicher
schlichtweg nicht fassen. Bei frühen Spie-
kürzer, „Walkthru“ – also eine Anleitung,
die, wörtlich übersetzt, den „Durchmarsch“ durch ein Spiel ermöglicht. Der
Walkthrough, der meistens von Gamern
erstellt und über das Internet oder andere
Kanäle verbreitet wird, ist das komplementäre Gegenstück zu jenem Skript, das sich
die Entwickler eines Spiels ausdenken. Es
ist, wenn man so will, der offengelegte Wille der Götter, deren Wege im elektronischen Spielbetrieb halt doch meistens
nicht unergründlich sind.
Für passionierte Gamer ist es immer
das Eingeständnis eines Scheiterns, diese
billige Abkürzung zum Ziel zu nehmen.
Nur der mühselige und steinige Weg des
verzweifelten Suchens führt zur Erlösung.
Andererseits ist das Nachschlagen im
Walkthrough die konsequente Reaktion
weniger vollständig vermessen und kann
auch nicht weiter wachsen. Speichermedien dagegen verdoppeln ihr Fassungsvermögen dem Mooreschen Gesetz zufolge
etwa alle achtzehn Monate. Vielleicht ist
das der Hauptgrund, warum die scheinbar so beschränkten Welten, die Mikroprozessoren entsteigen, zurzeit oft mehr
Freiheit versprechen als das reale Dasein.
Im Digitalen gibt es noch unausgelotete Räume, während das analoge Universum gealtert, immer öfter verbraucht
und abgenutzt erscheint – fast wie ein altes Telespiel, das schon ein paarmal zu
oft durchgespielt wurde. Die Bodenschätze sind aufgezehrt, die Umwelt ist zerstört, und auch die Offenheit der Lebensführung, von der alle Aufbruchsbewegungen des zwanzigsten Jahrhunderts
Auch, was den Fahrstil angeht, überließ
GTA 3 dem Spieler die Entscheidungshoheit. Man konnte an roten Ampeln halten
und sich zum Abbiegen einordnen, man
konnte sich aber auch mit Vollgas durch
den Gegenverkehr schlängeln oder über
den Bürgersteig brettern und dort eine
Spur von verkehrstoten Fußgängern zurücklassen. Für das Geldverdienen gab es
verschiedene Möglichkeiten: So ließ sich
unter leichter Gewaltanwendung ein Taxi
aneignen, um als ehrlicher Taxifahrer
sein Brot zu verdienen und Fahrgäste von
einer Ecke der Stadt an die andere zu befördern. Man konnte natürlich auch dem
lukrativeren System von Missionen und
Nebenmissionen folgen, das die Entwickler dem Spiel eingepflanzt hatten und das
im Wesentlichen die einschlägigen Karrie-
„Assassin’s Creed“ heißt das jüngste Open-World-Game: Der Spieler bewegt sich als Assassine zwischen den Fronten der Kreuzfahrer und Sarazenen und erlebt das Dilemma desjenigen, der keiner Seite angehört.
Handarbeit: Entwurfszeichnung zu
„Assassin’s Creed“
gen und ihre Besucher dazu zwingen, als
unerlöste Geister wie auf Schienen den immergleichen Parcours zu durchlaufen – sie
verkörpern all das, wovon sich die Außenwelt abhebt. Der Instinkt sitzt tief, nicht
nur bei Feinden der Spielekultur, sondern
auch bei den Eingeweihten: Nur draußen
ist echte Offenheit, nur dort wartet das
wirkliche Leben. Alles andere bleibt Ablenkung, Zeitverschwendung, Surrogat.
Und so ist es fast unmöglich, kein schlechtes Gewissen zu haben nach einem mit Eishockeyspielen gegen den Computer verdaddelten Sommerabend.
Aber irgendetwas an diesem Bild
stimmt längst nicht mehr. Es ist etwas Neues und Anderes herangewachsen in den
Dunkelkammern, in denen die Freaks und
die Nerds mit ihren künstlichen Welten experimentierten. Die Größenverhältnisse
haben sich verändert. Unbemerkt sind die
animierten, elektronischen Universen expandiert. Die jämmerlichen Pixelklumpen, die sich über die grünen Monitore der
Computersteinzeit bewegten, haben sich
durch Zellteilung vergrößert und ausdifferenziert. Übervölkerte Städte und ganze
Kontinente sind in den verbesserten Rechnern der letzten Jahre gereift – und die
Grenzen der digitalen Paradiese rückten
immer weiter nach außen, um schließlich
fast mit dem Horizont zu verschmelzen.
Man muss sich die Anfänge der Geschichte der Computerspiele in Erinnerung rufen, um die Ausmaße dieser
klammheimlichen Revolution zu erkennen. In „Pong“, das 1972 von Atari veröffentlicht wurde und dessen erste Vorform
aus dem Jahr 1958 stammt, flog ein weißer Punkt wie in Zeitlupe über den Bildschirm und titschte zwischen zwei beweglichen Linien am Bildrand hin und her, die
len wie „Pac-Man“ oder „Donkey Kong“
war also jedes Level auf genau einem Bildschirm untergebracht – und alle Öffnungen in seinen Grenzen, die das Bild umfassten wie ein Rahmen das Gemälde, waren nur Scheinausgänge.
Wenn man in „Pac-Man“ den Gang
wählte, der rechts aus dem Bild herausführte, schwebte man durch den Tunnel
auf der linken Seite wieder ins Bild hinein. Ähnliches galt für „Donkey Kong“,
wo man in Gestalt des italienischen
Klempners Mario eine Frau aus den Armen eines Gorillas befreien musste, der
sich auf die oberste Ebene eines Baugerüsts geflüchtet hatte und von dort mit Ölfässern auf den Retter warf: Hier gab es jeweils eine Leiter, die nach oben aus dem
Bildschirm hinausragte. Sie diente dem
Gorilla als Fluchtweg, wenn der ritterliche Handwerker am Ende jedes Levels
die höchste Plattform erreicht hatte, so
dass alle Mühe umsonst war, jedenfalls
bis zum Erreichen des finalen Levels. Die
Ladepause, die den Aufstieg ins nächste
Level ankündigte, erinnerte an das Umblättern einer Buchseite – und das Durchqueren der Bildschirme gemahnte an das
Lesen, nur dass die schrägen Ebenen des
Baugerüsts, die auch Zeilen sein könnten,
von unten nach oben und in abwechselnder Richtung abgearbeitet wurden.
Natürlich gab es auch in den frühen Jahren der Computerspielekultur schon Spiele,
die das Versprechen einer offenen Welt enthielten, indem sie ein gefühltes Hauptmerkmal des echten Lebens simulierten – nämlich Wahlfreiheit. Es war die AdventureGattung, in welcher der Anschein kultiviert
wurde, jede Geschichte habe einen offenen
Ausgang. Schon die frühen Text-Adventures – wie das von Informatikern 1979 zum
Spaß erfundene Fantasy-Spiel „Zork“ – lebten von der Illusion, sie seien auf jede mögliche Handlung des Spielers vorbereitet: Auf
dem Bildschirm tauchte ein Beschreibungstext auf, der das Szenario schilderte, und
darunter blinkte erwartungsvoll ein Cursor,
der auf die Anweisungen des Spielers wartete. Tatsächlich verstand der Rechner meistens nur simple Kommandos wie „Open
Door“ oder „Ask Man“. Dieses Minimum
an sprachlicher Macht über die Dinge genügte schon, um zu vergessen, dass man
sich nur an Flussdiagrammen entlangbewegte, die der auf einer wabbeligen FloppyDisc gespeicherte Algorithmus festlegte.
Dass sich die Entwickler späterer Adventure-Spiele immer absurdere Zusammenhänge zwischen Gegenständen, Personen und Handlungsweisen ausdachten, ändert nichts an der vollkommenen Geschlossenheit dieser Universen, in denen
der Sinn und Zweck jeder Kleinigkeit bis
ins Letzte determiniert ist. Die alten Abenteuerspiele haben nicht mehr Handlungsfreiheit als eine Schnitzeljagd.
Deshalb gehört zum Genre des Adventures der sogenannte „Walkthrough“ oder,
auf das Gefühl, ohnehin nur einem geheimen Masterplan folgen zu müssen, um die
Gnade der Befreiung zu erfahren und endlich aus dem Gefängnis eines scheinbar
ausweglosen Levels erlöst zu werden.
Wozu eigene Erfahrungen machen, wenn
sowieso jeder Schritt in einem von den
Programmierern erdachten Drehbuch vorgezeichnet ist?
Das Gefühl des Eingesperrtseins, des
unerlösten Festklebens an einer sinnlosen
Raum-Zeit-Stelle kennt jeder, der Lebenszeit mit Computerspielen verbracht hat.
An einem frühen Morgen nach durchspielter Nacht, wenn man in „Tomb Raider 3“
(1998) zum dreiundzwanzigsten Mal versucht, mit der hübschen Archäologin Lara
Croft auf einen Felsen zu springen, von
dem man die Lianen erreichen könnte, an
denen man über den von Krokodilen bevölkerten Wassergraben schwingen könnte – dann merkt man plötzlich, dass all die
tausend Variationen, die man durchprobiert, die kleinsten Schritte nach links
oder rechts, mit denen man die ideale Absprungposition zu erreichen versucht,
dass all diese Fortschritte, die das stundenlange Wiederholen rechtfertigen, gar keine Fortschritte sind.
In diesem Moment holt einen die erschreckende Erkenntnis ein, dass sich die
ganze Zeit leise summend eine tote CDRom im Laufwerk dreht, von der der Rechner die immergleichen digitalisierten Informationen abliest. In solchen Momenten schrumpft die Spielewelt, der man
wertvolle Schlafstunden und noch wertvollere Denkkraft geopfert hat, auf eine
kleine silberne Scheibe zusammen, die
man im Sonderangebot eines Elektronikmarkts gekauft hat.
lektronische Spiele ähneln weniger dem christlichen Paradies als seinem griechisch-heidnischen Gegenstück, dem Hades, in welchem die Toten dazu
verurteilt waren, dieselbe Handlung immer wieder zu vollziehen, bis in alle Ewigkeit. Wenn jemand den vielbeschworenen Mythos von Sisyphos nachvollziehen
kann, dann ist es ein Spieler, der in „Tomb
Raider 3“ zum vierundzwanzigsten Mal
an einem Felsvorsprung abrutscht und
trotzdem wieder an den letzten Sicherungspunkt zurückkehrt, um den idealen
Weg durch diesen verfluchten Level zu
finden.
Die Grenzen elektronischer Welten
sind die Grenzen des zur Verfügung stehenden Speichermediums, und das ist immer endlich. Andererseits: Dieser Umstand gilt auch für die Lebenswelt, in der
wir uns täglich bewegen. Und mehr noch
für die Erde, den Schauplatz des menschlichen Daseins. Im Gegensatz zu elektronischen Datenträgern ist der Erdkreis seit
dem neunzehnten Jahrhundert mehr oder
E
schwärmten, ist fragwürdig geworden.
Karrieren wirken mehr oder weniger vorgezeichnet, und die meisten außergewöhnlichen Erfahrungen sind entweder
schon gemacht oder irgendwo in der Literatur oder im Fernsehen erschöpfend abgehandelt.
Während die reale Welt zu schrumpfen
scheint, haben die künstlichen Paradiese
ihre Grenzen schleichend nach außen verschoben – ganz wie die Wüsten. Nur sind
die elektronischen Welten längst keine lebensfernen Einöden mehr. Was in Korridoren begann, wuchs sich aus zu Städten,
später zu Inseln, ganzen Kontinenten und
zuletzt zu vollständigen Nachbildungen
des Erdballs. Die Grenzen der virtuellen
Welten, die ursprünglich mit dem Rechteck des Monitors zusammenfielen, sind
allmählich mit dem Horizont verschmolzen. Und der ist immer ein sichtbares Zeichen dafür, dass die Welt hinter ihm noch
weitergeht.
Wie fand der offene Horizont in die
Welt der Computerspiele? Es waren seltsamerweise nicht die durchgeplotteten
Adventures, sondern Spiele ohne Handlung, die den Spieler zumindest scheinbar
aus der Knechtschaft digitaler Codes befreiten. Handlung reduziert den Spielraum für Entscheidungen, so wie es ein
Dramentext oder ein Filmdrehbuch tut.
Das liegt vor allem daran, dass jede Handlung einen Anfang und ein Ende besitzt
und dass alles, was dazwischen geschieht,
nur der Verbindung dieser beiden Spannungspole dient. Im realen Leben sind
diese Positionen nie eindeutig bestimmbar: Das Gefühl, im Alltag in eine offene
Zukunft hineinzuleben, rührt gerade daher, dass so etwas wie ein Plot allenfalls
in besonders filmreifen, wie ausgedacht
wirkenden Momenten durchscheint. In
der Spielekultur gilt: Nur da, wo jede
Handlung fehlt, kann sich wirklich Unvorhersehbares ereignen.
Erst das Genre der Open-WorldGames schickte den Spieler ganz ohne digitalen Ariadnefaden durchs Labyrinth
des Lebens. Das erste und wichtigste
Spiel, das seine Spieler im großen Stil frei
herumlaufen ließ, war die vom schottischen Studio Rockstar Games entwickelte Serie „Grand Theft Auto“. Sie handelt
von einer freien Verbrecherkarriere in einer korrupten Großstadt – und auch hier
schuf erst der dritte Teil eine sich in alle
drei Dimensionen erstreckende offene
Welt, die düstere Metropole Vice City.
Der 2001 erschienene Spiele-Bestseller
GTA 3 bot ein bis dahin ungeahntes Maß
an Bewegungsfreiheit: Die Entwickler
schleusten eine Menge von Fahrzeugen jeder Bauart und Größe durch die Straßen
von Vice City und erlaubten dem Spieler,
jedes dieser Fahrzeuge durch eine simple
Funktionstaste zu kapern – nur in Ausnahmefällen war grobe Gewalt gegen widerspenstige Fahrer nötig, und selbst dann
reichten meistens ein paar Faustschläge.
Fotos Ubisoft
restufen einer Mafialaufbahn umfasste –
von demütigenden Laufburschendiensten
bis zu den ganz großen Waffen- und Drogendeals. Auch dieser Weg war zwar vorgezeichnet wie in einer Broschüre des Arbeitsamtes, er war aber keinesfalls vorgeschrieben. Das Phantastische an GTA 3
war, dass man dergleichen Masterpläne
zum ersten Mal einfach auch komplett vergessen konnte, um mit einem geklauten
Auto das Hafenviertel abzufahren – das
Radio aufgedreht mit Gangsta-Rap oder
italienischen Opern, je nachdem, ob man
den Wagen einem Rapper oder einem italienischen Mafioso geklaut hatte.
n diesen Momenten, in denen die
für die äußerliche Realität zuständige Physik-Engine des Spiels Wetter
und Tageszeiten im Zeitraffer über
den Himmel jagte und rosiges Morgenlicht in zerfetzte Wolkenhimmel übergehen ließ, um gleich danach die ersten
Tropfen auf die Straße fallen zu lassen – in
diesen Augenblicken konnte man alle Karrierepflichten vergessen, die auf dem Radar blinkenden Punkte ignorieren, die jeweils Haupt- oder Nebenjobs anzeigten,
man konnte das Auto an einer schäbigen
Lagerhalle parken und den Sonnenuntergang hinter den Hochhäusern der Stadt beobachten. Solche Momente der reinen
Kontemplation, des sinnlosen Nichtstuns
waren der Beweis dafür, dass man frei geworden war. Die düsteren Korridore, in denen alles einmal angefangen hatte, mochten in den Eingeweiden des Hafens noch
existieren und mit irgendeiner Nebenmission auf den Spieler warten, aber sie waren
längst nicht mehr die ganze Welt. Die Höhle war verlassen worden, und der Blick in
die Sonne tat den Augen nicht weh. Wenn
man eine glückliche Stunde erwischte und
kein hohes Fahndungslevel besaß, dann
gab es nicht einmal Polizeisirenen, die einen aus dem Moment der Versenkung herausrissen und zum Gejagten machten, wie
es einst die mit den Augen rollenden Monster in „Pac-Man“ taten. Dieser Augenblick,
erlebt in der endlichen Welt eines in einer
künstlichen Stadt angesiedelten Computerspiels, er könnte ewig andauern.
Es gibt das richtige Leben im falschen,
und es gibt dort wahre Erfahrung – selbst
wenn man, während man in Vice City in
die Sonne starrt, an einem Monitor mit 60
Megahertz Taktfrequenz sitzt, draußen
tiefste Nacht herrscht und man im Grunde
schon viel zu müde ist, um noch mehr Zeit
an den Ausläufern eines Industriegebiets
zu verplempern. Doch der Moment war es
wert, er bleibt einzigartig, auch wenn er
sich scheinbar nur dem glücklichen Zusammenspiel von Arbeitsspeicher, Prozessor und Graphikkarte verdankt. In Wahrheit ist er ein Freiheitsbeweis.
I
Gekürzter Vorabdruck des ersten Kapitels aus dem
Buch Digitale Paradiese. Von der schrecklichen
Schönheit der Computerspiele, das am 10. März
bei Kiepenheuer & Witsch erscheint.