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Die Verarbeitung der Pygmaliongeschichte in Agnes und Ruby Sparks
Begleiter: Elke Huwiler
Zweitbegleiter: Anna Seidl
Datum afgifte: 19.06.2015
Datum mondeling examen: 23.06.2015
Inhaltsangabe
Einleitung
2
Zusammenfassung Agnes und Ruby Sparks
6
Pygmalion in der Antike
8
Der Pygmalionstoff im Mittelalter
14
Der Pygmalionstoff vom 16. - 19. Jahrhundert
19
Der Pygmalionstoff im 20. und 21. Jahrhundert
23
Der Pygmalionstoff in Agnes
26
Der Pygmalionstoff in Ruby Sparks
33
Abschließende Analyse von Agnes und Ruby Sparks
40
Fazit und Ausblick
44
Literaturliste
47
Erklärung
49
Einleitung
Wer heutzutage Filme oder Dramen sieht, hat die Chance, eine Verarbeitung früherer Auflagen zu
sehen. Es existiert Intertextualität zwischen Werken, was in diesem Fall heißt, dass die neueren Texte
sich auf die älteren beziehen. Es gibt beispielsweise viele, fast unzählbare Überarbeitungen von
Shakespeare-Stücken: Amerikanische Filme wie 10 Things I Hate About You und She´s the Man sind
nur einige davon. Auch aus der Antike kommen viele solcher Geschichten, die in späteren Zeiten zu
neuen Stücken verarbeitet worden sind. Homers Odyssee ist davon nur ein Beispiel. 1
Auch Ovids Metamorphosen wird oft verwendet. Einer William Shakespeares Grundlagen für sein
Romeo and Juliet war zum Beispiel die Geschichte von Pyramus und Thisbe. Auch eine weitere
Geschichte aus Ovids Metamorphosen, das Stück Pygmalion, findet sich in vielen Werken wieder.
In Ovids Pygmalion erschafft der zypriotische Pygmalion eine Statue einer Frau aus Elfenbein. Er hasst
die Propoetiden, Frauen, die Venus' Göttlichkeit verweigerten und danach zu Prostituierten wurden,
und formt deshalb eine Statue die perfekter ist als eine wirkliche Frau. Die Statue ist sehr schön und
sieht realistisch aus. Sie ist so schön, dass Pygmalion sich in sie verliebt, obwohl er wegen seiner
Erfahrungen mit den Propoetiden eigentlich keine Frauen mag. Er kleidet die Statue und gibt ihr
Geschenke. Bei einem Opfer an Venus wünscht er sich eine Braut, die der Statue ähneln soll. Er traut
sich nicht nach dem zu fragen, was er wirklich wünscht: dass die Statue selbst lebendig wird. Als er
wieder zuhause ist, bemerkt er, dass seine Statue lebendig geworden ist und Venus seinen wirklichen
Wunsch beantwortet hat. Er heiratet danach die Statue und bekommt ein Kind mit ihr, das Paphos heißt.
Galatea, Pygmalions Braut 2, könnte eine geformte Frau genannt werden. Pygmalion hat sie selbst
geschaffen, sie ist so wie er sie erdacht hat. Dieses Motiv, das der geformten Geliebten oder der
geformten Frau, wird danach noch oft verwendet. Nach Dörrie sind Gegenstände mythischer
Erzählung, wie der trojanische Krieg, aber auch Pygmalion, selbst in 3000 Jahren fast unverändert
geblieben, aber ihre Deutung hat sich oft verändert, meist in exemplarischer Weise. 3 So auch
Pygmalions Geschichte, die im Laufe der Jahrhunderte noch häufig in anderen Werken wieder
aufgenommen wurde. Rousseaus Verarbeitung der Pygmaliongeschichte ist eines dieser weit bekannten
Werke. In dieser Version macht Pygmalion Galatea selbst lebendig, ohne Hilfe von Aphrodite oder
1
2
3
Frank Groothofs De Thuiskomst van Odysseus aus 1996 ist davon ein Beispiel.
Die Staue wird bei Ovid noch nicht Galatea genannt, diese Name bekommt die Statue erst später bei Rousseau. In dieser
Arbeit wird deswegen nur ab Rousseau dieser Name für die Statue benutzt.
Heinrich Dörrie: Pygmalion. Ein Impuls Ovids und seine Wirkungen bis in die Gegenwart. Hrsg. von der RheinischWestfälischen Akademie der Wissenschaften. Westdeutscher Verlag:Opladen 1974, S. 8.
2
Venus wie es bei Ovid geschah.
George Bernhard Shaws Pygmalion geht auch zurück auf Ovid: Der Sprachwissenschaftler Henry
Higgins möchte das arme, ungebildete Blumenmädchen Eliza Doolittle aufgrund einer Wette so
unterrichten, dass sie für eine Herzogin gehalten werden könnte. So formt auch er eine Frau.
Das Motiv ist noch immer aktuell und ist also auch in gegenwärtigen Werke wiederzufinden.
In dieser Arbeit wird unter die Lupe genommen, inwiefern zwei gegenwärtige Werke, der Film Ruby
Sparks (2012) und Peter Stamms Roman Agnes (1998), als Verarbeitung der Pygmaliongeschichte
betrachtet werden können.
In Agnes wird das Leben einer jungen Frau teils bestimmt vom Ich-Erzähler: Agnes bittet den IchErzähler, eine Geschichte über sie zu schreiben, und verhält sich danach immer mehr wie
vorgeschrieben durch die Geschichte. In Ruby Sparks findet der junge Autor Calvin Weir-Fields eines
Tages plötzlich ein Mädchen in seiner Küche, das er selbst geschrieben hat. Sie brät Eier und hat keine
Ahnung davon, dass sie aus seiner Geschichte stammt. Seine fiktive Freundin ist Wirklichkeit
geworden.
Diese Arbeit untersucht die zwei gegenwärtigen Werke als Überarbeitungen der Pygmaliongeschichte.
Es ist also eine Untersuchung nach Intertextualität. In dieser Arbeit wird aber nicht nur auf die
ursprüngliche Ovid-Fabel fokussiert, um die Intertextualität zu untersuchen. Nach Essaka Joshua
basieren Adaptationen der Pygmaliongeschichte oft auf jüngeren Versionen des Mythos und nicht
ausschließlich auf Ovid. 4 Wenn eine Interpretation dieser Werke nur auf Ovid basiert wäre, blieben
andere Werke unbeleuchtet, obwohl sie zur Pygmaliongeschichte gehören. Das Motiv, eine schon
lebendige Frau durch Bildung weiter zu formen, anstatt eine Statue lebendig zu wünschen, gehört
beispielsweise bereits zur Pygmaliongeschichte, auch wenn dieses Motiv bei Ovid nicht anwesend war.
Deswegen ist es wichtig, sich nicht nur auf Ovid zu konzentrieren, und werden mehrere Versionen
beleuchtet. Um untersuchen zu können, inwiefern die zwei gegenwärtige Werke die
Pygmaliongeschichte verarbeiten, wird deswegen auch in Betracht gezogen, wie der Pygmalionstoff
bisher literarisch verarbeitet worden ist. Im zweiten Teil des von Jean de Meun geschriebenen
Rosenromans, einer mittelalterlichen Geschichte, findet sich die Pygmaliongeschichte beispielsweise
auch wieder. Teils laüft die Geschichte parallel an Ovids Erzählung aus den Metamorphosen. Jean de
Meuns Pygmaliongeschichte ist länger als das 59 Strophen zählende Werk von Ovid und stellt
Pygmalion als talentierten Künstler dar. Ovid stellt ihn nur als zypriotischer Mann vor, der eine Statue
4
Essaka Joshua: Pygmalion and Galatea: the history of a narrative in English Literature. Aldershot: Ashgate 2001, S. xix.
3
macht und dessen Beruf nicht erwähnt wird. Doch der Meun'sche Pygmalion könnte auch eine wichtige
Vorlage für Agnes und Ruby Sparks sein. Eventuelle Abweichungen dieser späteren Werken vom
Ovidstoffes gehören also schon auch zur Pygmaliongeschichte. Ein weiteres Beispiel hiervon könnte
sein, dass Shaws Eliza Doolittle, im Gegensatz zu Pygmalions Statue, einen eigenen Willen hat und
nicht nur dem von Higgins folgt. Dies spiegelt sich in Ruby Sparks wider, die zwar von Calvin
geschöpft ist, jedoch selbst bestimmen will, was sie macht. Die zwei gegenwärtige Werken sollten also
auch danach beurteilt werden, ob sie mit weiteren literarischen Werken im Pygmalionkontext
übereinstimmen oder ob sie davon abweichen. Danach kann untersucht werden, was sie damit
bewirken.
In dieser Arbeit wird pro Zeitalter erwähnt, wie die Pygmaliongeschichte sich entwickelt hat, und
werden die gegenwärtigen Werke der Pygmaliongeschichte, mit Bezug auf diese Entwicklungen, in
Verbindung gebracht. Anschließend werden die zwei Werke selbst untersucht und ihre Wirkung im
Pygmalion-Kontext betrachtet.
Die Forschungsfrage ist also zweifach:
Inwiefern können Ruby Sparks und Agnes als gegenwärtige Verarbeitungen der Pygmaliongeschichte,
einschließlich der Entwicklungen im Werk, gesehen werden?
Was bewirken die Verarbeitungen in Ruby Sparks und Agnes als neuere Werke im Pygmalion-Kontext?
Pro Werk werden einige wichtige Passagen ausgearbeitet. Anhand dieser Passagen werden Ruby Sparks
und Agnes im Kontext des Pygmalionstoffes betrachtet.
Der Pygmalion-Kontext kann expliziter oder eher implizit im Text anwesend sein. Die Untersuchung
hat deswegen einen intertextuellen Charakter.
Intertextualität ist kein festes System mit nur einer Definition. Es gibt mehrere Ansätze für
Intertextualität. Einer davon ist der des Bakhtin, der das Konzept von Dialogizität gegenüber
Monologizität in Texten hervorhob, aber dabei vor allem auf intratextuelle, nicht auf intertextuelle
Bezüge fokussierte. Julia Kristeva hat den wirklichen Begriff der Intertextualität geprägt. Sie definiert
Intertextualität wie folgt:
Wir nennen jene textuelle Inter-Aktion INTERTEXTUALITÄT, die sich im Innern eines
einzelnen Textes produziert. (…) Intertextualität [ist] eine Annahme die angibt, in welchem
Maße ein Text die Geschichte liest und sich in ihr einschreibt. 5
5
Julia Kristeva: Probleme der Textstrukturation. In: Ihwe, Jens (Hrsg.): Literaturwissenschaft und Linguistik II, Frankfurt
am Main 1971, S. 500.
4
Dieser Theorie zufolge ist aber kein Text nicht intertextuell. Der Begriff ¨Intertextualität¨ wurde danach
mehr als ¨systematische[r] Oberbegriff für die verschiedenen Formen konkreter Bezüge zwischen
Einzeltexten¨ benutzt. 6 Es wird davon ausgegangen, dass jeder Text eine Reaktion auf vorhergegangene
Texte ist. Für Barthes können damit nicht nur literarische, sondern auch nicht-literarische, sogar nichtsprachliche Texte gemeint sein, während Personen wie Harold Bloom oder Laurent Jenny sich auf
literarische Texte fokussieren. 7
Gérard Genette gliedert Intertextualität in fünf Unterkategorien. Zuerst nennt er Intertextualität selbst,
dies sei die ¨Kopräsenz zweier oder mehrere Texte¨. Dann folgen Paratextualität (Bezüge zwischen
Text und Dingen wie Titel und Vorwort) und Metatextualität (Kommentare auf einen Prätext). Als
Letztes nennt er Hypertextualität, das einen anderen Text zur Folie macht und Architextualität als
¨Gattungsbezüge eines Textes¨. 8
Pfister macht einen Unterschied zwischen sechs qualitativen Kriterien für die Intensität intertextueller
Verweise. Das erste ist Referentialität, was die Frage stellt inwieweit der eine Text den anderen
thematisiert. Ein zweites ist Kommunikativität. Dies ist das Maß indem ein Autor oder Leser sich der
intertextuellen Bezüge bewusst ist. Drittens nennt er Autoreflexivität. Dies betrachtet, inwieweit ein
Text die intertextuelle Bedingtheit und Bezogenheit reflektiert. Auch nennt er Strukturalität. Dies ist
die syntagmatische Integration von Prätexten in den Text. Hierzu zählen auch Formen wie Parodie,
Kontrafaktur und Adaption. Das fünfte Kriterium ist Selektivität. Hiermit wird bestimmt, inwiefern ein
Element aus dem Prätext pointiert ausgewählt ist. Zuletzt gibt es dann noch Dialogizität: Dieses
Kriterium fragt, inwiefern der ursprüngliche und der neue Zusammenhang ¨in semantischer und
ideologischer Spannung zueinander¨ 9 stehen. Das heißt, eine ¨Textverarbeitung gegen den Strich des
Originals¨ 10 oder das Zitieren eines Textes, der den Prätext relativiert, sind im Sinne der Dialogizität
Fälle von starker Intertextualität, während das bloße Übersetzen des Prätextes in eine andere Sprache
oder eine reine Imitation weniger Intertextualität beinhalten. 11 Des Weiteren spielen noch zwei
quantitative Kriterien eine Rolle: erstens die Dichte und Häufigkeit der intertextuellen Bezüge,
zweitens die Zahl und Streubreite der Prätexte. 12
6
Ulrich Broich und Manfred Pfister (Hg.): Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Tübingen:
Niemeyer 1985, S. 10.
7 Vgl. Ebd., S. 13-14.
8 Vgl. Ebd., S. 17.
9 Ebd., S. 29.
10 Ebd.
11 Vgl. Ebd.
12 Vgl. Ebd., S. 26-30.
5
Darüber hinaus kann mehr oder weniger markiert werden, dass auf Prätexte verwiesen wird. Der Titel
kann dabei eine Auskunft sein, die auch hier relevant ist: Die meisten direkten Verarbeitungen der
Pygmaliongeschichte heißen auch ¨Pygmalion¨. Ein Charakter kann aber auch durch das Lesen eines
Buches auf einen Prätext verweisen. Es muss aber nicht auf die Prätexte verwiesen werden: auch wenn
die Intertextualität nicht markiert wird, könnte es in einem Text noch Intertextualität geben. 13
Letztendlich machen Pfister und Broich einen Unterschied zwischen Einzeltextreferenz und
Systemreferenz. Ersteres gibt an, dass Texte sich eher auf einen Einzeltext oder eine Serie davon
beziehen. Systemreferenz ist der Bezug auf ein größeres System. 14
Die Werke in dieser Arbeit werden anhand von dieser letzten Intertextualität-interpretation von Pfister
und Broich analysiert. Diese Theorie bietet gute Ansätze um die verschiedenen intertextuelle Bezüge
ausarbeiten zu können. Vor allem wird auf Dialogizität geachtet, weil dieses Kriterium am meisten
zeigt, was die Veränderungen der neuen Texte im Pygmalion-Kontext bewirken, während ein Kriterium
wie Kommunikativität für diese Arbeit weniger interessant wäre.
Anhand dieser Kriterien wird untersucht, wie der Pygmalionstoff sich durch die Jahrhunderte geändert
hat und wie Ruby Sparks und Agnes in diesen Kontext passen. Hierbei wird vor allem darauf geachtet,
wie die Frauen- oder Statuenfigur, sich entwickelt: Ovids Pygmalion ist ein Misogyn, der die Statue als
Ersatz für wirkliche Frauen entwirft, aber die Statuenfigur wird nicht in allen Verarbeitungen als Ersatz
oder sogar als Statue dargestellt. Es kann also gefragt werden, ob und wie das Material des Pygmalion
sich in diesem Sinne geändert hat. Die gegenwärtigen Werke könnten sich dann dieser Tendenz
anpassen oder eher für sich stehen im größeren Pygmalionkontext.
In der Film- und Literaturkritik wurden Agnes und Ruby Sparks schon mit Pygmalion in Verbindung
gebracht. Es wurde aber noch nicht ausgearbeitet, wie sie sich genau zu dieser Geschichte – und ihren
verschiedenen Erscheinungsformen – verhalten. Diese Arbeit sollte deswegen auch von besonderem
Interesse sein für diejenigen, die eine weitere Ausarbeitung der Pygmaliongeschichte in Agnes oder in
Ruby Sparks suchen. Im nächsten Kapitel werden die gegenwärtige Werke zuerst kurz
zusammengefasst, bevor die verschiedenen Pygmalionverarbeitungen pro Zeitalter behandelt werden.
Zusammenfassung Agnes und Ruby Sparks
In Agnes begegnet der Ich-Erzähler, der in der Bibliothek an einem Werk über Luxuseisenbahnwagen
13 Vgl. Ebd., S. 31-47.
14 Vgl. Ebd., S. 48-58.
6
arbeitet, der viel jüngere Physikstudentin Agnes. Sie verlieben sich ineinander. Er erzählt Agnes, dass
er Autor ist und Kurzgeschichten geschrieben hat, dass diese Geschichten aber immer künstlich
blieben. Einige Zeit später bittet Agnes ihn, eine Geschichte über sie zu schreiben, ein Porträt, ¨damit
ich weiß, was du von mir hältst¨.15 Er fängt in der Vergangenheit an, aber rasch ¨überholt¨ er die
Gegenwart und erreicht die Zukunft. Danach fängt er an, über die Zukunft von ihm und Agnes zu
schreiben. Was er schreibt wird Wirklichkeit. Er beschreibt Ereignisse und Agnes führt sie aus. So
bestimmt er unter anderem, dass Agnes zu ihm einzieht. Als Agnes im Gegensatz zu ihrer literarischen
Verarbeitung schwanger wird, wird er böse auf sie und sie trennen sich. Als sie dann jedoch eine
Fehlgeburt hat, kommen sie wieder zusammen. Agnes verliert sich danach mehr und mehr in der
Geschichte, bis sie wahrscheinlich Selbstmord begeht, nachdem der Ich-Erzähler sie in der Geschichte
tot geschrieben hat. 16
Ruby Sparks handelt von dem jungen Autor Calvin Weir-Fields, der nach seinem durchaus gepriesenen
Debütroman vor zehn Jahren kaum mehr etwas publiziert hat. Er träumt von einem Mädchen, dem er
im Park begegnet, und ist endlich wieder inspiriert. Er schreibt jetzt über sie und ihre Beziehung zum
Protagonisten, den er nicht nur zufälligerweise Calvin nennt. Er nennt sie Ruby Sparks und verliebt
sich in sie. Als er eines Tages aufsteht und Frühstück machen will, ist sie plötzlich wirklich geworden.
Sie denkt, dass sie und Calvin in einer Beziehung sind, und weiß nicht, dass er sie geschrieben hat.
Danach leben sie eine Zeit lang glücklich miteinander. Weil Ruby aber Calvins Geschöpf ist, kann er
sie ändern, falls er das möchte. Zuerst möchtet er das nicht, bald fürchtet er aber, dass sie ihn verlassen
wird, und schreibt deshalb, dass sie sich ohne ihn unglücklich fühlt. Danach versucht er immer mehr
Kontrolle über sie zu gewinnen, bis alles zum Einsturz kommt.17
Diese zwei Werke arbeiten beide auf verschiedene Weise mit der Pygmaliongeschichte. In Ruby Sparks
wird die Kreation eines Künstlers, wie bei Pygmalion, lebendig. Er kann aber noch immer bestimmen,
wie sie sich verhält, auch wenn er versucht, das nicht zu tun. Das ist unter anderem in eine Szene zu
sehen, in der Calvin und Ruby einander noch nicht so lange kennen. Als Calvin schreibt, dass Ruby
französisch sprechen kann, spricht sie plötzlich französisch ohne eine Miene zu verziehen. Sie bemerkt
nicht einmal, dass sie eine andere Sprache spricht. In Agnes könnte das Motiv umgekehrt gesehen
werden: Eine lebendige Frau lässt sich mehr und mehr von einem Künstler formen. Der Ich-Erzähler
15 Peter Stamm: Agnes. 6. Auflage. Frankfurt am Main: Fischer 2011, S. 50.
16 Vgl. Stamm.
17 Vgl. Jonathan Dayton und Valerie Faris, dir. Ruby Sparks. Fox Searchlight Pictures, 2012. Film.
7
betrachtet Agnes, seine Freundin, auch tatsächlich als seine Schöpfung und plant ihre Zukunft. 18 In
beiden Werken ist Kontrolle aber ein Thema: die schöpfenden Männer haben Kontrolle über die
geschöpften Frauen. Wie verhalten diese Werke sich zu der literarischen Verarbeitung der
Pygmaliongeschichte davor, vor allem in Bezug auf die Kontrolle des Mannes und die Freiheit der
Frau?
Pygmalion in der Antike
Die wichtigste Verarbeitung der Pygmaliongeschichte in der Antike ist die ovidische. Diese Erzählung
ist nicht die einzige über Pygmalion in der Antike. Der zypriotische Bildhauer, der sich in ein Bild von
Venus verliebte, wurde später auch bei Clemens Alexandrinus (150-211 n. Chr.) und Arnobius (ca. 300
n. Chr.) thematisiert. Arnobius bezeichnet Pygmalion als König von Zypern. Die beiden
charakterisieren Philostephanus von Kyrene (ca. 200 v. Chr.), einen Verfasser zyprischer Geschichten,
als Gewährsmann. 19 20
Ovid, der ungefähr 200 Jahre später lebte 21, ist deswegen auch nicht der erste, der über Pygmalion
schrieb. Seine Geschichte ist aber die bekannteste über Pygmalion: Es ist die Geschichte der Pygmalion
seine Berühmtheit zu verdanken hat. 22 Bei Ovid ist Pygmalion kein König, auch wird er nicht als
professioneller Bildhauer dargestellt. Die Statue sollte hier auch nicht Venus verkörpern, sondern eine
perfekte, aber doch menschliche Frau. Diese ovidische Geschichte bildet die allgemeine Grundlage auf
der viele weitere Verarbeitungen basiert sind. Auch Zoe Kazan, die das Screenplay für Ruby Sparks
geschrieben hat, hat erwähnt, die Pygmaliongeschichte dafür verwendet zu haben. 23 Dennoch gibt es
zwischen dem ovidischen Pygmalion und den zwei gegenwärtigen Werken auch viele Unterschiede.
Ovids Pygmalion kreiert seine Statue vor allem weil er eine Alternative zu den Propoetiden schaffen
will. Diese Frauen verweigerten Venus' Göttlichkeit und wurden dafür bestraft: Ihre Körper und
Reputationen wurden zum Gemeineigentum. Damit waren sie die ersten Prostituierten der Geschichte.
¨As their sense of shame withdrew and the blood ceased to flow in their faces, it was but a small step
18 Ebd., S. 62.
19 Vgl. Annegret Dinter: Der Pygmalion-Stoff in der europäischen Literatur. Rezeptionsgeschichte einer Ovid-Fabel. In:
Studien zum Fortwirken der Antike, Band 11. Heidelberg: Winter 1979, S. 13-14.
20 Vgl. Victor Stoichita: The Pygmalion Effect: From Ovid to Hitchcock. Chicago: University of Chicago Press 2008, S.
7-8.
21 Vgl. W.R. Johnson: Introduction. In: Ovid, Metamorphoses. Indianapolis: Hackett 2010, S. xiii.
22 Vgl. Dörrie, S. 11.
23 Channing Davisson:VIDEO: Q&A with Filmmakers and Stars of “Ruby Sparks”
http://www.filmlinc.com/blog/entry/video-qa-with-filmmakers-and-stars-of-ruby-sparks (22.05.2015).
8
for them to turn into unyielding granite.¨ 24 Pygmalion hat erfahren, wie diese Frauen lebten, und war,
weil sie ihren Körper prostituierten, von Frauen ¨wie die Natur sie gemacht hat¨ angeekelt. 25 Die
Propoetiden wurden von Venus zu Prostituierten gemacht:
Pygmalion is motivated (...) because of his revulsion to real women with heir innate vices. That
is what we are told by the narrator, Orpheus, and yet the explanation does not quite gel with the
punishment of those women who had denied that Venus was a goddess. The Propoetides were
forced by divine intervention to acquire those very vices Pygmalion abhorred. 26
Die Propoetiden haben sich selbst also nicht dafür entschieden, zu Prostituierten zu werden.
Nichtsdestotrotz ist Pygmalion von sie angeekelt. Deswegen weigert er sich zu heiraten. Um seine
sexuelle Instinkte zu unterdrücken, formt er seine ideale Frau aus Elfenbein als Ersatz für die
Propoetiden.
Pygmalion wird als Misogyn dargestellt, da er alle Frauen außer seine eigene Statue hasst. Er setzt
Frauen ¨dem bösen Beispiel des Propoetides gleich¨ 27 und lebt deswegen ohne Frau, bis seine Statue
lebendig wird. In Gegensatz zu anderen Gegnern der Frauen, wie Narziß oder Hippolytos, wird er nicht
für seine Misogynie bestraft. Er wird sogar dafür belohnt, weil sich sein Hass nicht gegen die Göttin,
sondern gegen deren Feindinnen, die Propoetiden, richtet. 28 Weil er aber schon Frauen im Allgemeinen
hasst, ist er ein Misogyn. W.R. Johnson sagt: ¨This clever and very influential tale is capable of various
interpretations, but the reader who senses, beneath its soft erotic shimmer, not a little sour misogyny
ironically prettified may be close to the truth of Pygmalion. It is the sort of ´happy´ love story that
Ovids Orpheus might contrive.¨ 29
Pygmalion schafft seine Frau also aus misogyner Perspektive. Sie soll als Ersatz für die von ihm
gehassten Frauen dienen. Seine Statue ist so schön und sieht so lebensecht aus, dass er nicht glauben
kann, dass sie nur Elfenbein ist. Er fühlt sie und glaubt das ihr Fleisch weich ist. Er küsst sie und hat
das Gefühl, dass sie die Küsse erwidert. Er fürchtet sogar, dass das Fleisch einen blauen Fleck
bekommen wird, wenn er nicht aufpasst. 30 Er schmückt die Statue, gibt ihr luxuriöse Kleider und legt
sie in ein Bett.
Nachdem Pygmalion Venus eine Färse geopfert hat und sie um ein Mädchen wie seine Statue gebeten
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30
Paula James: Ovid´s Myth of Pygmalion on Screen: In Pursuit of the Perfect Woman. Continuum: London 2011, S. 10.
Vgl. Johnson, S. xxxii.
James, S. 13.
Dörrie, S. 14.
Vgl. Ebd., S. 24.
Johnson, S. xxxii.
Vgl. Ovid: Pygmalion. In: Metamorphoses. Übers. Von Stanley Lombardo. Indianapolis: Hackett 2010, S. 274.
9
hat, kehrt er zurück nach Hause zu seiner geliebten Statue. Er küsst sie und fühlt, dass ihre Lippen
warm sind. Er betastet sie und fühlt, dass das Fleisch nachgibt und es weich ist wie Bienenwachs.
Während er nochmals die Statue betastet, fühlt er ihren Herzschlag und ist sich dann sicher, dass sie
lebendig ist. 31 Interessant an dem Vergleich mit Bienenwachs ist, dass es nach eigenem Willen geformt
werden kann. Die Statue ist also buchstäblich eine formbare, nicht nur eine geformte, Frau. Ob
Pygmalions Statue innerlich auch so leicht geformt werden könnte, erwähnt Ovid nicht. Die
Formbarkeit der Frauenfigur ist später aber oft ein Thema bei Verarbeitungen von Pygmalion. Auch bei
Ruby Sparks ist das ein Thema: Als Ruby lebendig wird, möchte Calvin sie zuerst nicht ändern, weil er
moralische Bedenken hat. Später ändert er aber doch die Eigenschaften von Ruby, die ihm nicht
gefallen. Auch er formt und verändert Ruby also nach seinem Willen. Er fühlt sich aber schuldig
darüber, dass er so viel Macht über Ruby hat, während Pygmalion darüber nicht nachdenkt.
Auch der Erzähler in Agnes versucht, seine Freundin zu formen, nur etwas weniger direkt. Er kann es
nicht leiden, dass Agnes ab und zu etwas macht, was er nicht geplant hat. Deshalb versucht er sie zu
überreden das zu machen, was er will. In beiden Werke wird so thematisiert wie die Paare sich
zueinander verhalten. Diese Balance zwischen Pygmalionfigur und Statuenfigur ist in Agnes und Ruby
Sparks ein wichtiges Thema, wobei es das in Ovids Geschichte noch nicht ist: Ovid erzählt vor allem,
wie Pygmalion sich in die Statue verliebt, noch bevor sie lebendig geworden ist. Sobald sie lebendig
ist, hat Pygmalion bekommen, was er will, und die Geschichte ist zu ende. Die Statue wird passiv
dargestellt und bekommt nicht die Möglichkeit zu sagen, was sie davon hält, seine Geliebte zu sein.
Hier besteht also eine Spannung im Sinne der Dialogizität von Pfister zwischen den zwei
gegenwärtigen Werke und Ovids Metamorphosen: Die Perspektive der Frau kommt bei Ovid (noch)
nicht zur Sprache, während sie bei Agnes und Ruby Sparks schon thematisiert wird und durch den
Vergleich mit der Sichtweise vom Erzähler (bei Agnes) und Calvin Weir-Fields (bei Ruby Sparks) auch
problematisiert wird.
Nach Plato gibt es, wenn man die Kunst des Erschaffens von Bildern, oder eidolopoiiké, betrachtet,
einen Unterschied zwischen eikastiké (Kopie) und phantastiké (Simulacrum). Der Wert eines
Simulacrums besteht nicht nur darin, etwas zu ähneln, sondern es hat selbst Wert, indem es sich in die
Welt projektiert und dort selbst existiert. Nach Stoichita ist Pygmalions Statue keine einfache Kopie,
sondern sie ist so ein Simulacrum wie von Plato beschrieben. 32 Er nennt Pygmalion die erste große
31 Vgl. Ebd., S. 275.
32 Vgl. Stoichita, S. 1-2.
10
Geschichte über Simulacra in westlicher Kultur. 33 Ovids Pygmalion bildet die Statue nicht als Kopie
einer schönen Frau, sondern erfindet sie selbst und sorgt auf diese Weise dafür, dass sie ihre eigene
Existenzberechtigung hat. Bei Ruby Sparks und Agnes ist diese Thematik auch zurückzufinden.
Ruby Sparks ist ein Simulacrum von einem Mädchen, das Calvin in seinem Traum begegnet. Äußerlich
ist ihr das Mädchen gleich, ihr Charakter wird aber von Calvin zugefügt. Er bestimmt wie sie heißt, wo
sie herkommt und was für eine Geschichte sie hat. Wie Pygmalions Statue hat sie eine eigene
Existenzberechtigung sobald sie lebendig ist: Sie ist einzigartig in der Welt. Agnes ist, bevor sie dem
Erzähler begegnet, werder eine eikastiké, noch eine phantastiké. Sie ist eine lebendige, junge Frau, die
einzigartig ist in der Welt. Nachdem der Erzähler aber eine Kopie von ihr macht, ist sie nicht mehr
einzigartig und es vermischen sich die wirkliche und die fiktive Agnes miteinander. Der Erzähler
schreibt eine fiktive Agnes. Diese Figur ist fast eine Kopie von der lebendigen Agnes, aber dann stößt
der Erzähler mit dieser fiktiven Agnes in der Zukunft. Agnes versucht danach, eine Kopie von der
fiktiven Agnes zu werden. Ihre eigene Existenzberechtigung lehnt sie letztendlich ab, um eine völlige
Kopie von der fiktiven Agnes werden zu können.
Pygmalion bittet Venus um eine Frau, die seiner Statue ähnelt, vor allem weil er sich nicht traut zu
sagen dass er eigentlich die Statue selbst begehrt 34. Am liebsten möchte er aber die Statue selbst lieben
können. In Ruby Sparks könnte Calvin in dieser Weise als moderner Pygmalion betrachtet werden:
Sobald er Ruby schreibt, schreibt er sie schon als ob sie seine Freundin wäre. Er bemerkt sogar, dass er
sich in sie verliebt hat und eine Freundin wünscht wie Ruby. Dies wird in Träumen gezeigt, in denen er
mit ihr spricht und sie ihm sagt, dass sie ihn für immer lieben wird. Als sie dann lebendig geworden ist,
glaubt sie auch, Calvins Geliebte zu sein, und sein Wunsch ist erfüllt.
Nach Stoichita fungiert Ovids Pygmaliongeschichte als ¨song of the hope of resurrection¨ 35: Die
Geschichte wird von Orpheus gesungen, nachdem er seine Eurydike, die von einer Schlange gebissen
wurde, verloren hat. In Pygmalions Geschichte wird eine Statue, eine künstliche Frau, zum Leben
erweckt. Für Orpheus gibt es deswegen Hoffnung, dass auch Eurydike wieder zum Leben erweckt
werden könnte. 36 In den zwei gegenwärtigen Werken die hier untersucht werden, funktioniert die
Geschichte aber nicht mehr so. Eher wird hier darauf fokussiert, dass Agnes und Ruby nicht frei in
33
34
35
36
Vgl. Ebd., S. 3.
Vgl. Ebd., S. 16.
Ebd., S, 9.
Vgl. Ebd., S. 9.
11
ihrem Handeln sind. Agnes kann immer selbst nachdenken und hat selbst eine Wahlmöglichkeit,
entscheidet sich aber, seit sie den Ich-Erzähler kennt, dafür, dass er für sie bestimmen soll. Ruby Sparks
ist, sobald sie real ist, ein wirkliche Person mit einer eigenen Sichtweise und es gibt mehrere Szenen
wo sie selbst weiß, was sie machen will, und selber nachdenkt. Calvin kann sie aber immer wieder
ändern, immer ablehnen was sie will, indem er sie wieder neu schreibt. In diesen Werken scheint also
weniger Hoffnung thematisiert zu werden, sondern eher die fehlende Freiheit. Bei Ovid wird das noch
nicht thematisiert, so stehen die Werke in diesem Sinn in Ideologischer Spannung zueinander.
Von Stoichita könnten die Propoetiden als ¨in malo example of female impudence¨ 37 gesehen werden.
Sie sollen sich nicht so verhalten wie sie es tun und werden dafür bestraft. Die Nachricht: Frauen
sollten sich im Allgemeinen nicht so verhalten wie die selbstsicheren Propoetiden. Besser sollten sie
schüchtern sein und leicht erröten, so wie die Statue. Vor allem Ruby Sparks spielt weiter mit dieser
Thematik: Calvin will Ruby einerseits die Freiheit geben, zu machen was sie will. Er will sie nicht
ändern, denn ¨sie ist schon perfekt¨ 38 und er fühlt sich als wäre es nicht korrekt, sie zu ändern. Sobald
sie sich nicht verhält wie er es will oder wie er es sich vorgestellt hat nimmt er es ihr jedoch übel. Diese
Thematik, nicht damit zufrieden zu sein, was der Partner macht, wird natürlich in mehreren Filmen
aufgegriffen. Der Unterschied in Ruby Sparks ist, dass Calvin Ruby sie ändern kann, wenn er das will.
In Agnes kommt eine Frau vor, die in der Geschichte eine ähnliche Funktion hat wie die Propoetiden:
Louise. Zwar ist sie keine versteinerte Prostituierte wie die Propoetiden, aber Agnes könnte gegen
Louise abgesetzt werden wie die Statue gegen die Propoetiden. Louise wirkt sexuell etwas lockerer als
Agnes (Agnes hat, bevor sie den Erzähler kennenlernte, überhaupt noch keine sexuelle Erfahrung
gemacht) und kann so als Gegensatz zu Agnes gesehen werden. Louise verurteilt Agnes und ihre
Freundinnen, weil sie sich bei einem Halloween-Umzug amüsieren und nennt Agnes abwertend ¨deine
kleine Freundin (...) mit der Wollunterwäsche¨. 39 Sonst ist sie frech und nimmt kein Rücksicht auf
andere. 40 Zuletzt versucht sie immer den Erzähler zu verführen, sogar wenn der Erzähler mit Agnes
zusammen ist, und das obwohl sie ihn nicht liebt. Sie ist eine ganz andere Person als Agnes und wirkt
auch auf den Erzähler so. Durch den Kontrast zu Louise wird Agnes so, wie bei Ovid, vorgestellt als
die ¨andere Frau¨, eine bessere Alternative gegenüber Louise. Im Gegensatz zu Pygmalion, wo die
Propoetiden von Pygmalion gehasst werden, scheinen Louise und der Erzähler einander gern zu
37
38
39
40
Ebd., S. 9.
Dayton und Faris, TC: 00:39:11-00:39:15.
Stamm, S. 98.
Vgl. Ebd., S. 97.
12
mögen, also braucht er keinen Ersatz für sie. Eher ist Louise ein Ersatz für Agnes, denn er geht erst auf
ihre Anspielungen ein, als er und Agnes einige Zeit getrennt sind. Dennoch kann Louise als Folie für
Agnes gesehen werden, wie die Propoetiden das für die Statue von Pygmalion sind.
Stoichita betont, dass Ovids Pygmalion nicht absichtlich die perfekte Frau kreiert: Er fühlt sich, als ob
die Kunst ihn übertrifft, als ob sie selbst ein Leben hat. Er ist darüber verwundert. 41 Dies ist auch bei
Ruby Sparks zu sehen. Ruby ist plötzlich da, als Calvin eines Tages hinunter kommt, und er erschrickt.
Auch sobald er von ihr schreibt, bevor er ihr also bewusst begegnet ist, ist er aber schon von ihr
beeindruckt. ¨She's complicated¨, sagt er, ¨that's what I like most about her¨. 42 Obwohl Ovid's
Pygmalion die Statue nicht bewusst so kreiert, versucht er schon bewusst die Statue lebendig zu
machen, indem er Venus darum bittet. Er opfert zu diesem Zweck eine Färse an Venus. Nach
Stoichita 43 ist es die Seele des Tiers, die später in Pygmalions Statue zieht. Die Statue muss also von
etwas animiert werden, um lebendig zu werden. In den gegenwärtigen Verarbeitungen ist dies nicht
länger der Fall. Obwohl Ruby Sparks einem ähnlichen Verlauf der Geschichte folgt wie Pygmalion, ist
hier nicht wie bei Pygmalion von Animation die Rede. Hier wird nicht gezeigt wie, der Autor versucht,
das Mädchen lebendig zu machen, denn er glaubt nicht, dass das möglich ist. Dass er überhaupt in eine
fiktive Frau verliebt sein kann lehnt er ab: Er fühlt zwar, dass er sich in sie verliebt hat, akzeptiert aber
nicht, dass er das auch wirklich ist. Der wahre Konflikt, der bei Ovid endete, sobald die Statue lebendig
wurde, fängt für Calvin erst an, nachdem Ruby lebendig geworden ist. Eher wird in Ruby Sparks darauf
fokussiert, was Calvin erwarten kann, sobald sie lebendig ist, was bei Ovid noch keine Rolle spielte.
Nach Dörrie drehte sich das ursprüngliche Interesse an Pygmaliongeschichten vor allem um Pygmalion
und nicht um die Statue: ¨die Statue, obwohl sie die Individualität eines Menschen annimmt, bleibt
außerhalb aller Betrachtung und Wertung.¨ 44 Ihre eigene Perspektive kommt in Ovids Geschichte fast
nicht vor: Nur ein Paar Verse beziehen sich auf sie. Sie fühlt, dass sie geküsst wird, errötet und schaut
nach oben, zum Himmel und zu Pygmalion. 45 Mehr hat sie in Ovids Geschichte nicht zu tun. Weil sie
zugleich den Himmel und ihren geliebter Pygmalion sieht, fallen Liebesbeginn und Lebensbeginn
zusammen. Das Schicksal diese Mädchens ist also Pygmalion, 46 eine wirkliche Wahl hat sie nicht. Hier
41
42
43
44
45
46
Vgl. Stoichita, S. 13-14.
Dayton und Faris, TC: 00:15:45-00:15:52.
Vgl. Stoichita, S. 16.
Dörrie, S. 33.
Vgl. Ovid: Pygmalion, S. 275.
Vgl. Dörrie, S. 23-24.
13
zeigt sich auf den ersten Blick ein Unterschied zu Agnes und Ruby, aber bei näherem Betrachten stellt
sich heraus, dass die beide Frauen doch nicht so viel freier sind als Pygmalions Statue. Agnes ist schon
eine Person und hat einen eigenen Willen. Sie hat im technischen Sinne die Chance, nicht zu machen,
was der Erzähler von ihr verlangt. Letztendlich verhält sie sich aber oft so, wie der Erzähler es von ihr
erwartet, bis sie letztendlich verschwindet. Vielleicht hat sie dann schon Selbstmord begangen, so wie
ihr fiktives Gegenstück.
Ruby hat noch einen eigenen Willen, als Calvin sie gerade erst geschrieben hat und sie lebendig
geworden ist. Solange er sie nicht verändert, behält sie diesen eigenen Wille auch. Sobald etwas an ihr
Calvin aber nicht gefällt, kann er sie verändern. Einen wirklichen freien Willen, der konfliktär mit
seinem Wille sein könnte, hat sie also nur, wenn das von Calvin erlaubt wird.
Zusammenfassend wird Pygmalion in der Antike vor allem als Mann dargestellt, der eines Tages, zu
seinem eigenen Erstaunen, eine schöne Frau aus Marmor baut und sich in sie verliebt. Die Statue ist ein
Simulacrum einer schönen und guten Frau, und wirkt so als Gegensatz zu den Propoetiden, die von
Pygmalion gehasst werden. Dass sie zum Leben erweckt wird, sollte für Hoffnung sorgen. Die Statue
ist stark abhängig von Pygmalion: Einen eigenen Wille scheint sie nicht zu haben oder zu brauchen.
Verglichen mit Ovids Statue wirkt auch Agnes als Alternative für eine andere Frau. Aus ihrer
Verschriftlichung spricht eher Unfreiheit als Hoffnung. Wie Pygmalion verliebt Calvin Weir-Fields sich
in Ruby Sparks, als sie noch nicht lebendig geworden ist. Ruby ist ein Simulacrum einer schönen und
guten Frau für Calvin, wie die Statue das für Pygmalion ist. Auch ihre Geschichte sorgt aber nicht
direkt für Hoffnung: Calvin hat immer Macht über sie. Obwohl die beiden Frauen aus den
gegenwärtigen Erzählungen im Gegensatz zu der Statue eine eigene Perspektive haben, sind sie oft
doch der Meinung ihren jeweiligen Pygmalionfiguren ausgeliefert.
Der Pygmalionstoff im Mittelalter
Im Mittelalter wird Pygmalion auf verschiedene Weisen aufgenommen. Nach Arnulf von Orleans ¨habe
Pygmalion die Statue mißbraucht, als wäre sie eine lebende Frau.¨ 47 Er hat sie in dieser Auslegung also
nicht wirklich zum Leben erweckt: das lebendig werden ist nur Bildsprache. John of Garland, der 11951272 lebte, verstand die Geschichte wieder anders: eine Frau, die sich im Bett verhielt als sei sie von
47 Dörrie, S. 33.
14
Stein, wurde durch Pygmalions Kunst der ehelichen Technik beweglicher. 48 Wie bei Philostephanus
von Kyrene ist Pygmalion hier eine Art Künstler, wenngleich einer der sich sehr vom üblichen
Pygmalion unterscheidet.
Als Geschichte finden wir Pygmalion unter anderem im Rosenroman. Dieser im 13. Jahrhundert
geschriebene Versroman beschreibt einen Traum. Der erste Teil des Romans ist geschrieben von
Guillaume de Lorris. Im zweiten Teil, zwischen 1275-80 dazu geschrieben von Jean de Meun, ist die
Pygmaliongeschichte zurückzufinden. Während Pygmalion bei Ovid noch nicht als Bildhauer
beschrieben wurde, sondern nur als Mann der eine Statue schöpft, ist der Meun'sche Pygmalion ein
sehr talentierter Bildhauer. Es wird in 369 Strophen erwähnt, wie er eine Statue schöpft und sich in sie
verliebt. Es wird auch beschrieben, wie Pygmalion versucht, seine Statue lebendig zu machen, indem er
für sie musiziert. 49 Er versucht sie sogar zu heiraten, indem er ihr einen Ehering anlegt: ¨He put gold
rings on her fingers and said, like a fine, loyal husband: Fair sweet one, I here take you as a wife, and I
become yours and you become mine.¨ 50 In diesem Sinne unterscheidet sich die Meun'sche Geschichte
auch von der des Ovid, wo Pygmalion und die Statue erst heiraten, nachdem die Statue lebendig
geworden ist. Das Schenken eines (Ehe)Rings an eine Statue war im Mittelalter aber nicht
ungewöhnlich. 51 Die Propoetiden, die bei Ovid schon noch eine Rolle spielten, werden bei Jean de
Meun nicht verarbeitet. 52 Der Antrieb für Pygmalion, eine perfekte Frau zu kreieren, basiert also bei
Meun nicht auf seinem Hass auf die weniger perfekten Propoetiden. Die Statue ist für diesen
Pygmalion deswegen auch kein Ersatz. Eher wird eine Geschichte erzählt von einem Künstler, der sich
an etwas bindet, was er selbst geschaffen hat, und dafür bestraft werden sollte. Dass die Statue hier
lebendig wird ist also keine Belohnung, sondern eher ein böser Zauber von Venus. 53
Vor dem 13. Jahrhundert existierten keine Illustrationen von der Pygmaliongeschichte. Diese
Abbildungen wurden erst im Roman de la Rose gemacht. 54 Es gibt von der Meun'schen Geschichte
dann auch recht viele Illustrationen, nicht zuletzt weil Meuns Pygmalion so fokussiert ist auf Sicht: In
diesen Illustrationen, wie im Text, wird vor allem hervorgehoben, wie die Statue aussieht, wenn sie
48
49
50
51
Vgl. Ebd.
Vgl. Stoichita, S. 21-24, 49.
Jean De Meun: Roman de la Rose. Z. 21016-24, zitiert in Stoichita, S. 44.
Vgl. Marian Bleeke: Versions of Pygmalion in the Illuminated Roman de la Rose (Oxford, Bodleian Library, Ms. Douce
195): The Artist and the Work of Art. In: Art History 33 (2010), S. 35-36.
52 Vgl. Stoichita, S. 22.
53 Vgl. Dörrie, S. 35-36.
54 Vgl. Stoichita, S. 21.
15
zum Leben erweckt wird. Es wird weniger darauf fokussiert, wie sie sich anfühlt, was bei Ovid eine
größere Rolle spielte. 55 Bei Ovid wird das Betasten der Statue als wichtig für das lebendig Machen der
Statue gesehen: Er fühlt, dass das Fleisch weich wird, sobald er sie betastet, und er fühlt erst, dass sie
warm ist, sobald er sie küsst 56. Sein Tastsinn hat ihn zuvor aber getäuscht, denn auch bevor die Statue
lebendig wurde, schien das Fleisch weich und beweglich. De Meuns Pygmalion fokussiert nur auf Sicht
und lässt sich dadurch nicht täuschen, auch wenn er die Statue trotzdem zu heiraten versucht. Dieses
Fokussieren auf Sicht ist auch in Agnes zu sehen. Auch in Agnes wird zuerst beschrieben, wie sie
aussieht, erst später spricht der Erzähler mit ihr:
Seitdem Agnes sich mir gegenüber gesetzt hatte, konnte ich mich nicht mehr konzentrieren. Ihr
Äußeres war nicht auffallend, sie war schlank und nicht sehr groß, ihr braunes Haar war
schulterlang und dicht, ihr Gesicht bleich und ungeschminkt. Nur ihr Blick war
außergewöhnlich, als könne sie mit den Augen Worte übermitteln 57.
Der Erzähler kann nicht anders, als zu Agnes hinüber schauen. Er ist nur noch darauf fokussiert, wie sie
aussieht, und kann nicht weiter arbeiten, bis er mit ihr gesprochen hat. Nicht nur wird aber erwähnt wie
Agnes aussieht, sondern auch ihr eigener Blick ist ein Thema. Agnes scheint in diesem Sinne also
aktiver daran beteiligt zu sein, dass der Erzähler von ihr beeindruckt ist. Er sieht sie nicht nur, er wird
auch von ihr betrachtet, während die Statue bei de Meun nur von Pygmalion betrachtet wurde.
Calvin Weir-Fields schreibt Ruby Sparks erst nachdem er in einem Traum ein Mädchen in einem Park
gesehen hat. Sie ist sozusagen seine Muse. Erst nachdem er sie danach wirklich beschrieben hat, wird
sie lebendig. In der Szene wird er morgens wach und wird er sich bewusst dass er verschlafen hat. Er
beeilt sich und versucht noch einiges zu tun bevor er weggehen kann, aber dann ist sie plötzlich da. Er
hört sie das erste Mal als sie anbietet, mit Calvins Hund Scotty Gassi zu gehen. Danach sieht er sie und
denkt, dass er ¨batshit¨ geworden ist. Sie ist aber auch tastbar, denn nachdem er erschrocken auf den
Boden sackt, betastet sie ihn um sicherzustellen, dass er in Ordnung ist. Das Betasten sorgt bei Calvin
aber nicht für ein euphorisches Gefühl: Die einzige Folgerung die er daraus ziehen kann, ist dass er
entweder noch träumt oder dass er den Verstand verliert. 58
Für Calvin ist vor allem wichtig, dass er Ruby sehen kann: Nachdem sie ihn einmal berührt hat, schaut
55 Vgl. Reinier Leushuis: Pygmalion´s Folly and the Author´s Craft in Jean de Meun´s Roman de la Rose. In:
Neophilologus 90 (2006), S. 524-526.
56 Vgl. Ovid, S. 275.
57 Stamm, S. 13-14, hervorhebung von mir.
58 Vgl. Dayton und Faris, TC: 00:23:55-00:24:38.
16
er vor allem nach ihr. ¨Are these by any chance yours?¨ 59 fragt er sie, über einen BH, den er den Tag
zuvor in seinem Haus gefunden hat. ¨Of course they are,¨ erwidert sie, ¨who else would they belong to?
Are you seeing someone else?¨ 60 worauf er erwidert dass sie die einzige sei die er im Moment sieht.
Hier wird mit zwei verschiedene Bedeutungen von Sehen im Englischen gespielt: ¨seeing other people¨
und ¨seeing someone/something¨, also mit anderen potentiellen Partnern umgehen, oder
etwas/jemanden sehen. Die Sicht wird auch hier wieder hervorgehoben. Von Calvin wird also, wie bei
Jean de Meun, auf das Sehen und nicht auf Tastsinn fokussiert.
Im Rosenroman wird darauf eingegangen, wie die Statue zum Leben erweckt wird. Pygmalion versucht
sie mit Musik zu beleben, weil damals gedacht wurde, dass Leib und Seele durch Musik vereint werden
können und dass es einen Zusammenhang gibt zwischen Musik und dem Herzschlag. Der Versuch, die
Statue durch Musik zum Leben zu erwecken, kommt bei Ovid nicht vor, weil hier der Tastsinn
wichtiger war. 61 Sowohl bei Ovid als auch bei Jean de Meun konnte wirkliche Animation aber nicht
ohne Götter stattfinden. Auch der Meun'sche Pygmalion kann seine Geliebte Statue deswegen erst
lebendig sehen. nachdem er Venus' Tempel besucht hat. 62 In Agnes und Ruby Sparks wird auf
verschiedene Weisen darauf eingegangen, wie die Fiktion lebendig wird. In Agnes wird die fiktive
Agnes ¨lebendig¨, indem die reale Agnes das macht, was der fiktiven Agnes vorgeschrieben wurde. In
diesem Sinne wird die reale Agnes fiktiv (indem sie sich mehr und mehr so verhält wie die fiktive
Agnes) und die fiktive Agnes wird ¨lebendig¨. Agnes wird selbst nicht animiert, denn sie lebt schon. Sie
wird nur mehr und mehr von der Fiktion bestimmt. Die fiktive Agnes wird in weiterem Sinne schon
durch Agnes animiert: Agnes muss ihr Leben geben, oder zumindest verschwinden, sodass sie als
Fiktion weiterleben kann. Mit Göttern hat das aber nichts zu tun. In Ruby Sparks wird schon eine
fiktive Frau lebendig, aber auch hier findet das schon ohne göttliches Eingreifen statt. Wie es genau
stattfindet, wird nicht erwähnt. Eines Tages ist sie einfach lebendig, ohne dass Calvin dafür etwas
anderes hat machen müssen, als sie zu schreiben. Auch Calvin, der Ruby geschrieben hat, versteht
nicht, wie es hat passieren können. ¨She just appeared¨, sagt er zu Harry. ¨I don't know how. It's love,
it's magic!¨. 63 Obwohl Calvin schon bereit ist zu glauben, dass Ruby durch mehr als logisch
Erklärbares lebendig geworden ist, kommen auch hier die Götter, oder Gott, dabei überhaupt nicht ins
Spiel.
59
60
61
62
63
Ebd., TC: 00:26:24-00:26:27.
Ebd., TC: 00:26:29-00:26:39.
Vgl. Stoichita, S. 51.
Vgl. Ebd., S. 52.
Dayton und Faris, TC: 00:38:27-00:38:30.
17
Der eigene Wille der Statue ist auch bei Jean de Meun nicht zurückzufinden: Sobald die Statue
lebendig wird, kann Pygmalion sie glücklich in seine Arme schließen. Ob die Statue selbst dadurch
auch glücklicher wird, wird nicht erwähnt. So schreibt Bleeke:
In both the Metamorphoses and the Roman de la Rose, agency, initiative, and desire clearly
belong to Pygmalion. His desire for the sculpture begins as soon as he sees it and
he immediately begins to treat it like a human being, while it remains entirely
unresponsive. Its eventual animation rests on his initiative as he prays to Venus. 64
Nach Bleeke liegt die Initiative also völlig bei Pygmalion, und nicht bei der Statue. Es gibt im
Mittelalter aber auch die sogenannten Ringgeschichten. In einer davon, De Gestis Regum Anglorum aus
das 12. Jahrhundert, steckt ein junger Mann seinen Ehering an den Finger einer Skulptur, während er
mit seinen Freunden Ball spielt. Obwohl er den Ring nur in Verwahrung an ihre Finger gesteckt hat,
glaubt die Statue, jetzt mit der Mann verheiratet zu sein, und kommt zu ihm ins Bett. In einer weiteren
Geschichte verschenkt ein Mann absichtlich einen Ring an eine Skulptur, vergisst danach aber, dass er
das gemacht hat. Die Statuen verfolgen danach die Männer und bestehen darauf, dass die Männer sie
geheiratet haben. In diesen Geschichten, sagt Bleeke, haben die Statuen eine aktive Rolle: Initiativ und
sogar Verlangen liegen hier bei den Skulpturen. 65
Zusammenfassend ist Pygmalion im Mittelalter in verschiedenen Werken, aber vor allem im zweiten
Teil des Rosenromans zurückzufinden. Im Rosenroman wird die Geschichte ungefähr so erzählt wie
von Ovid, nur liegt der Fokus anders. Der Autor, Jean de Meun, fokussiert mehr auf Sichtbarkeit der
Statue und weniger auf Fühlbarkeit. Dies spiegelt sich in den zwei gegenwärtigen Werken Agnes und
Ruby Sparks wider, wo von den Protagonisten auch vor allem auf das Sehen fokussiert wird. Erst später
betasten sie die von ihnen geformte Frauen. Sonst heiratet Pygmalion die Statue schon, bevor sie
lebendig wird. Auch wird die Statue als schöne Frau an sich gesehen und nicht unbedingt als
Alternative für andere Frauen. Noch immer wird die Perspektive der Statue kaum erwähnt. In einigen
¨Ringgeschichten¨ bekommen die Statuen aber, statt Pygmalion selbst, eine aktivere Rolle. Im
Folgenden wird die Pygmaliongeschichte im 16. bis 19. Jahrhundert untersucht. In dieser Zeit bekommt
die Statue eine noch aktivere Rolle.
64 Bleeke, S. 36.
65 Vgl. Ebd.
18
Der Pygmalionstoff vom 16. - 19. Jahrhundert
Während die Statue bei Ovid noch direkt auf Pygmalion blickte sobald sie zum Leben erweckt wurde,
ändert sich dies im Laufe der Zeit. Um 1530 malt Jacopo da Pontormo, vielleicht mit Mitarbeit von
Angelo Bronzino, das Gemälde Pygmalion. Auf diesem wird eine Szene gezeigt, wo die Statue eher ins
Weite guckt. Damit scheint sie selbst wählen zu können, ob sie Pygmalions Frau oder doch eher die des
Betrachters sein möchte. Sie gehört also nicht automatisch zu Pygmalion, weil er nun mal ihr Schöpfer
ist. 66 Sonst wird eine Färse verbrannt, als Opfer an Venus.
Um 1719 entsteht ein Gedicht, das Voltaire zugeschrieben wird. Hiermit versucht er, die Schauspielerin
Adrienne Lecouvreur zu gewinnen. Er selbst ist in diesem Gedicht derjenige, der dafür sorgen kann,
dass seine Geliebte zum Leben erweckt wird. Dafür wartet er nicht auf die Götter. Voltaire verweist
hierbei aber doch wieder auf Ovid, wenn er in seinem Gedicht sagt, dass seine Geliebte zugleich leben
und ihn lieben sollte: ¨qui n'aime point, est-il donc anime?¨ 67 68
Im Laufe des 18. Jahrhunderts werden mehrere Werke veröffentlicht, in denen die Perspektive der
Statue, und nicht nur die des Künstlers, eine Rolle spielt. In Boureau-Deslandes' Pigmalion ou la statue
animée (1741) läuft die Statue, nachdem sie lebendig geworden ist, nachts durch Pygmalions Atelier
und nimmt danach ihren Platz auf dem Sockel wieder ein. Erst später bemerkt auch Pygmalion, dass sie
lebendig geworden ist. 69 In Bodmers Pygmalion und Elise (1747) ist sie ein ¨Naturkind¨ 70 und trägt
sogar einen Name. Bis dann war die Statue oft namenlos. Boureau-Deslandes Statue hat nicht gelernt,
sich gegen die freie Liebe zu stellen, während Bohmers Elise keine Verdorbenheiten hat: Sie ist nicht
von anderen erzogen, wie Menschen das sind, und hat diese menschliche Verdorbenheiten deswegen
auch nicht. 71 So entsteht für Pygmalion die Möglichkeit, die schon lebendige Frau weiter zu formen.
Auch wird immer weniger auf das Mitwirken von Venus fokussiert: Es ist jetzt die ¨Liebesglut des
Pygmalion¨,72 und nicht sie, die die Statue zum Leben erweckt. Auch beim Rousseau'sche Pygmalion
(1762/3) ist das der Fall. Dieser Pygmalion braucht die Göttin nicht mehr: Pygmalion besitzt jetzt selbst
die Kraft, das Wunder zu vollziehen. ¨Die Inbrunst seiner keuschen Liebe ist so groß, daß sich ihm
nicht nur den Stein sich ihm so hingibt, wie das Material dem Künstler, sondern daß er Leben gewinnt.
66
67
68
69
70
71
72
Vgl. Dörrie, S. 40-41.
Vgl. Ebd., S. 45.
P. Didot und Jules Didot (Hrsg.): Pièces indédites de Voltaire. Paris, 1820, S. 105.
Vgl. Stoichita, S. 115.
Dörrie, S. 49.
Vgl. Ebd.
Ebd., S. 52.
19
Pygmalion erzeugt nicht nur ein schönes Bild, er ruft einen Menschen ins Leben¨ 73
Der Boureau-Deslandische und der Rousseau'sche Pygmalion rufen schon noch die Götter an.
Rousseaus Pygmalion ruft, sobald er fühlt wie seine Galathée lebendig wird: ¨Dieux! je sens la chair
palpitante repousser le ciseau!¨ 74 Er fragt damit aber nicht die Göttern, seiner Galathée das Leben zu
geben, denn das hat er schon selbst gemacht. Eher werden die Götter noch aufgerufen, die Artisten zu
inspirieren. 75 Bei Rousseau bekommt die Statue auch einen Namen, der danach noch oft benutzt wird,
um auf Pygmalions Braut zu deuten: Galathée (in späteren Werken oft Galatea). Damit wird sie immer
wichtiger neben Pygmalion. Sie ist nicht länger nur seine Braut, ihre Existenz ist selbst schon wichtig.
Sie selber versteht auch, dass sie Pygmalion gleich ist. Sobald sie lebendig geworden ist, betastet sie
zuerst sich selbst und sagt ¨C´est moi¨.76 Dann betastet sie eine weitere Statue, ¨Ce n´est plus moi¨ 77
und als letztes betastet sie Pygmalion: ¨encore moi¨.78 Sie versteht, dass sie jetzt eine lebendige Frau
ist, ein Mensch, wie Pygmalion, und nicht länger eine Statue.
Indem Galathée Pygmalion als ¨encore moi¨ bezeichnet, zeigt sie auch, sich selbst nicht als etwas
anderes zu sehen als Pygmalion: Die beiden sind für sie gleich. Sie sind jetzt beide lebendige
Menschen, während die anderen Statuen noch immer nur Statuen sind. Das Lebendigsein beinhaltet für
sie, dass sie Pygmalion gleicht: Er ist nicht Meister über sie. Hiermit wird Galathée aktiver dargestellt
als zuvor bei Ovid und Jean de Meun, wo sie überhaupt noch keine Stimme hatte, geschweige denn
dass sie damit sagen könnte, dass sie und Pygmalion gleich wären. Hierin gleicht die Statue immer
mehr den gegenwärtige Figuren Agnes und Ruby Sparks, die, auch wenn sie sich manchmal von ihren
jeweiligen Geliebten bestimmen lassen, eine eigenen Sichtweise haben und diese auch zeigen.
Pygmalions Statue bekommt mehr und mehr eine eigenen Willen. Dies ist auch zu sehen in Lagrenée´s
zwei Gemälden La Sculpture: Pygmalion amoureux de sa statue; Venus l´anime (1773) und Pigmalion,
dont Venus anime la Statue (1777). Hier kniet Pygmalion vor seiner lebendigen Statue und schaut ihr
zärtlich in die Augen. Die Statue reagiert auf ihn, guckt liebevoll zurück und bewegt sich in die
Richtung von Pygmalion. Nicht nur wird hier gezeigt, wie Pygmalion die Statue liebt, sondern auch,
wie sie ihn zurück liebt, indem sie selbst daran beteiligt ist. Vor allem in dem 1777 vollendeten Werk ist
zu sehen wie er ihren Herzschlag fühlt. Eine gebrochene Büste liegt im Vordergrund um noch
73 Ebd., S. 56.
74 Jean-Jacques Rousseau: Pygmalion, scene lyrique. In: Collection complète des oeuvres, Genève, 1780-1789, vol. 8.
http://www.rousseauonline.ch/pdf/rousseauonline-0056.pdf (15.05.2015). S. 195.
75 Vgl. Stoichita, S. 21.
76 Rousseau, S. 199.
77 Ebd.
78 Ebd., S. 200.
20
deutlicher zu machen was die lebendig gewordene Statue, jetzt also eine Frau, nicht mehr ist: eine
Statue aus Marmor. 79
Schon kommt immer mehr Galateas Perspektive in Frage, bis ins späte 19. Jahrhundert wird sie aber
nicht sehr ausgeprägt dargestellt. Sie ist wie eine Blume oder ein Kind, unschuldig und rein. 80 ¨Part of
the infantilization of Galatea is the restriction of her knowledge;¨ so Joshua, ¨her naivety epitomizes the
simplicity regarded as appropriate for both classical beauty and for women¨ (…) ¨Galatea´s body and
her identity are created to [Pygmalion´s] specifications. The statue is a living doll who embodies the
fantasies of the sculptor.¨ 81 Noch nicht wird also davon ausgegangen, dass Galateas eigene Perspektive
abweichen könnte von der des Pygmalion.
Giorgio Vasari schrieb in 1879 wie die Mona Lisa entstanden sein soll. Hier ist eine interessante
Version der Pygmaliongeschichte zu erkennen. Francesco del Giacondos Ehefrau, die von da Vinci
abgebildet wurde, ist ohne Zweifel sehr schön. Nicht sie, das ¨flesh¨, ist es aber, was Leonardo da Vinci
(und Vasari) interessiert hat, so Stoichita, sondern das ¨flesh made painting¨ 82, also wie der lebendige
Frau zu einem nicht lebendigen Gemälde wurde, das durch da Vincis Technik doch fast lebendig
aussah, mit leuchtenden Augen und perfekten Nasenlöcher, und ihre Kehle, an der man, wenn man
genau hinsieht, einen Herzschlag erkennen konnte. 83 In da Vincis ¨flesh made painting¨ wird Agnes
gespiegelt: Sie kann gesehen werden als ¨flesh made narrative¨, indem sie von einer realen Frau zu eine
künstlichen, fiktiven Frau wird.
Auch Vasaris the Life of Andrea Sansovino enthält eine Parallele zu Agnes: Andreas Schüler Jacopo
Sansovino sollte eine Bacchus-Statue machen und hat seinen Assistent, Pippo de Fabbro, Tage lang
nackt im Regen als Modell stehen lassen. Danach, so beschreibt Vasari, wurde er wahnsinnig:
And this he showed one day that it was raining in torrents, when, Sansovino calling out ¨Pippo!¨
and he not answering, the master afterwards saw him mounted on the summit of a chimney on
the roof, wholly naked and striking the attitude of his Bacchus. (…) Many other amusing follies
of that kind poor Pippo played, but above all he was never able to forget the Bacchus that
Sansovino had made, save only when he died, a few years afterwards. 84
Pippo del Fabbro starb bevor die Statue geformt werden konnte. Die Statue wurde gelobt, zum Großteil
79
80
81
82
83
84
Vgl. Stoichita, S. 146.
Vgl. Joshua, S. 135.
Ebd., S. 136.
Stoichita, S. 53.
Vgl. Ebd., S. 53.
Ebd., S. 59.
21
weil es so naturgetreu gemacht wurde, dass es aussah, und sich anfühlte wie ein lebendiger Körper.
Stoichita: ¨Pippo del Fabbro is, so to speak, destined – one might even be tempted to say predestined –
to become Bacchus. And what´s more: the life of Bacchus – the ¨life¨ of a masterpiece – already
implies, albeit still implicitly – the death of Pippo, the death of the model.¨ 85 Man könnte in diesem
Sinne behaupten, dass Pippo nicht nur starb bevor, sondern auch damit die Statue geformt werden
konnte. Hieran angelehnt muss auch Agnes als Modell für die Geschichte sterben. Sie muss sterben
sodass ihre Geschichte sich entfalten kann. So gesehen könnte es sein, dass sie an einer Form von
¨Pippo´s Syndrome¨ gelitten hat, wobei sie, wie Pippo, versuchte, nicht nur die fiktive Agnes
nachzuahmen, sondern sie zu werden, und deswegen fühlte, dass auch sie sterben musste.
Vasari schrieb schon: ¨he was never able to forget the Bacchus that Sansovino had made¨, implizierend,
dass das wirklich interessante an dieser Geschichte nicht Leben und Tod eines Modells sei, sondern die
Geburt und das Leben eines Kunstwerks. 86 Auch für Agnes scheint hierauf der Fokus zu liegen: Sie
stirbt, um der fiktiven Agnes das Leben zu geben.
Am Ende des 19. Jahrhunderts entstehen mehrere Narrative, in denen Galatea zuerst lebendig wird und
dann, oft nachdem sie enttäuscht ist oder jemanden enttäuscht hat, wieder zur Statue wird.
Auch wird sie unabhängiger von Pygmalion und fängt langsam an, sich selbst zu bestimmen. Ihre
Perspektive kann jetzt schon von der des Pygmalion abweichen. In Franz von Suppés Operette Die
schöne Galathée (uraufgeführt 1865) verliebt der junge Bildhauer Pygmalion sich in eines seiner
Kunstwerke. Er bittet Venus, sie lebendig zu machen, aber die Statue hat einen eigenen Willen und
verliebt sich nicht direkt auch in ihn. Sie verführt Pygmalion, seinen Diener Ganymed und einen
Kunstliebhaber, Mydas. Pygmalion gefällt dies aber überhaupt nicht. Er dachte, dass Galathée nur ihn
lieben würde. Er fragt Venus, die Metamorphose rückgängig zu machen. Dadurch wird sie wieder zu
Marmor. 87
In Sir W.S Gilberts Pygmalion and Galathea ist Pygmalion verheiratet, bevor seine Statue lebendig
wird. Als Galathea bemerkt, dass sie die Beziehung zwischen Pygmalion und seiner Frau gefährdet,
verwandelt sie sich zurück in Marmor. 88 In dieser Verarbeitungen des Pygmalionstoffes zeigt sich
schon, dass die Statue immer mehr eine eigene Rolle bekommt. Pygmalion ist nicht der einzige, der
etwas über sie zu sagen hat, und es wird bei Suppé sogar mit der Idee gespielt, ob die Statue, weil sie
85 Ebd., S. 65.
86 Vgl. Ebd., S. 69.
87 Vgl. Engelbert Hellen: Franz von Suppe (1819-1895): Die schöne Galathée.
http://www.klassika.info/Komponisten/Suppe/Operette/1865_01/index.html (12.04.2015).
88 Vgl. Dörrie, S. 58.
22
eben von Pygmalion geschaffen ist, auch sein Besitz ist und ob sie das bleibt. Es ist weniger klar, ob
Pygmalion noch etwas über seine Statue zu sagen hat, nachdem sie lebendig geworden ist. 89
Zusammenfassend entstehen in dieser Zeit mehr und mehr Geschichten, die Galatea einen eigenen
Willen geben und sie nicht nur in Abhängigkeit von Pygmalion vorstellen. Die Statue muss nicht mehr
unbedingt Pygmalions Braut sein. Während bei Ovid die Perspektieve von Galatea überhaupt noch
nicht zur Rede kam, bekommt sie diese im 18. Jahrhundert und gleicht Pygmalion so mehr. Ihre
Meinung und ihre Liebe zu Pygmalion wird wichtiger. Bis in das späte 19. Jahrhundert wird aber nicht
davon ausgegangen dass ihre Perspektiven von der des Pygmalion abweichen könnte. Bei Rousseau
bekommt die Statue den Namen Galathée, womit sie danach oft angedeutet wird. Pygmalion braucht
oft keine Götter mehr um seiner Statue Leben einzuhauchen, sondern macht sie selbst lebendig, indem
er sie liebt. Weiterhin entsteht die Möglichkeit, die belebten Statuen weiter zu formen. In Folgenden
wird der Pygmalionstoff im 20. und 21. Jahrhundert betrachtet. Hier wird diese Perspektive sich noch
weiter ändern.
Der Pygmalionstoff im 20. und 21. Jahrhundert
1911 wird G. B. Shaws Pygmalion veröffentlicht. In diesem Drama versucht der Sprachwissenschaftler
Henry Higgins dem ungebildeten Blumenmädchen Eliza Doolittle eine bessere Aussprache des
Englischen beizubringen, sodass sie für eine Herzogin gehalten werden könnte. Eliza wird verglichen
mit Pygmalions Statue sehr unterschiedlich dargestellt: Die Statue errötet wenn sie Pygmalion sieht und
scheint keine eigene Stimme zu haben, während Eliza Doolittle das sehr wohl hat. In dieser Weise ist
sie anders als die ursprüngliche Statue bei Ovid. Professor Higgins unterrichtet sie und ist, wie
Pygmalion, von ihr beeindruckt. Er liebt aber nicht sie, wie der Ovidische Pygmalion seine Statue,
sondern nur seine eigene Schöpfung: ein Mädchen, das spricht wie von höheren Klassen. Die
Thematisierung passt in die Entwicklung, dass die Pygmalionfigur häufiger als Unterrichter dargestellt
wird, von dem die Frauenfigur lernen könnte. Eliza und Higgins zeigen aber, dass dies nicht so einfach
ist: Die Pläne von Higgins scheitern letztendlich. Nicht, weil er Eliza nicht gut unterrichtet hat, sondern
weil er sie als Besitz sieht anstatt als Person. 90
89 Georg Kaiser wird in 1944 auch eine Geschichte schreiben, wo die Statue, Chaire genannt, wieder zu Marmor wird.
Chaire macht das aber nicht selbst, sondern wird von Athena zurück verwandelt. Vgl. Dinter, S. 147.
90 Vgl. George Bernard Shaw: Pygmalion. Minneapolis: Filiquarian Publishing LLC 2007.
23
Hier wird eine Frau nicht aus Stein gehauen, aber schon von einem Mann kreiert oder geformt. Seine
Anstrengung, sie zu bilden, wird thematisiert. Anstatt des buchstäblichen formens verlegt ¨Bildung¨
sich jetzt also nach Unterricht. Wie der originale Pygmalion ist Higgins ein Mann, der Macht über diese
Frau hat und sich nicht fragt ob dies gerechtfertigt ist. Dies wird beispielsweise im zweiten Akt gezeigt,
als Eliza zu Higgins kommt um sie zu unterrichten:
PICKERING [in good-humored remonstrance] Does it occur to you, Higgins, that the girl has
some feelings?
HIGGINS [looking critically at her] Oh no, I don't think so. Not any feelings that we need
bother about. [Cheerily] Have you, Eliza? 91
Interessanterweise betrachtet Higgins Eliza, bevor er sie unterrichtet hat, ungefähr wie man
normalerweise eine Statue betrachten würde: als etwas ohne Gefühle. Darüber hinaus behandelt er sie,
wie Eliza es selbst ausdruckt, als Dreck. ¨Be off with you; I don´t want you¨ 92 sagt er, wenn sie zu ihm
kommt, und fragt seinen Freund Pickering ¨shall we ask this baggage to sit down or shall we throw her
out of the window?¨ 93 Dies steht in starkem Kontrast dazu, wie die Pygmalionfigur sich bis dahin oft
gegenüber der Statue verhielt: liebevoll und beeindruckt von ihr. Higgins sieht in ihr aber nur eine
Chance, zu zeigen, wie gut er unterrichten kann. Er hat kein Interesse an ihr, nur an dem Experiment,
ob er ihr beibringen kann, wie eine Herzogin zu sprechen, und dadurch seine Wette mit Kolonel
Pickering gewinnen. In diesem Sinne weicht er stark ab von dem früheren Pygmalion, der zwar nicht
mit der Möglichkeit rechnete, dass die Statue ihn nicht zurück liebte, aber zumindest Gefühle für die
Statue hatte bevor und nachdem sie lebendig wurde. Auch Eliza steht aber im Kontrast mit der üblichen
Frauenfigur bei Pygmalion: sie hat eine eigene Stimme und benutzt diese auch, oft um zu zeigen dass
sie mit Higgins nicht einverstanden ist. Auch ist sie aktiver an ihrem Los beteiligt: Sie selbst kommt zu
Higgins, um sich unterrichten zu lassen. Dies ist eine wichtige Entwicklung für die Frauenfigur in
diesem Kontext: Eliza zeigt mehr Möglichkeit zu Selbstbestimmung als die Frauenfigur das bis dann
getan hat.
Am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts wird Galatea öfter als Protagonistin dargestellt. In
mehrere Verarbeitungen wird ihr, oft von weibliche Autoren, noch eine extra Dimension gegeben: Sie
ist sich nicht nur ihrer Lage bewusst, sie wünscht sogar eine Statue geblieben zu sein oder wieder eine
Statue zu werden. 94 Dies sollte dafür sorgen, dass sie wieder unsterblich wird, denn als lebendige Frau
91
92
93
94
Ebd., S. 43.
Ebd., S. 33.
Ebd.
Vgl. Joshua, S. 143.
24
ist sie das nicht. Sie denkt aber auch, dass sie als Statue freier sein könnte als sie das nun ist. Galatea
erfährt hier also ein Gefühl der Unfreiheit, weil sie sich noch immer dem Willen von Pygmalion zu
fügen hat. Dies zeigt unter anderem Emily Hickey in ihrem Galatea-Sonnet:
He saw, and gaz´d, and lov´d exceedingly,
Yea, lov´d me into life. He little knew
I, who was his and he and myself too,
Had other life in store for him and me,
Art´s life of splendid immortality (…)
Why did he win for me this mortal breath 95
Hickeys Galatea zeigt, dass ihre Pläne von denen des Pygmalions abweichen. Obwohl sie akzeptiert,
dass Pygmalion sie liebt, will sie nicht nur das Objekt von Pygmalions Liebe sein. Sie lamentiert, dass
er sie ¨zum Leben geliebt hat¨. Genevieve Taggard lässt Galatea in Galatea again sogar fragen die
Metamorphose rückgängig zu machen: ¨Let me be marble, marble once again¨ 96 und nennt ihr neue
Lebendigkeit eine ¨große sterbliche Fehde¨. Sie spricht davon ihren Schöpfer zu versteinern, wenn er
sie bei ihm behalten will:
(…) I will not care,
But only turn on you a marble stare
And stun you with the quiet gaze of stone. 97
Damit versucht sie, selbst über ihr Leben zu bestimmen. In R. M. Montgomery´s Galatea to Pygmalion
wird dieses Sentiment weiter thematisiert:
It was a male intrusion to evoke
Me from the marble with a chisel stroke.
Alone there in my virgin tenement
I was serene, untroubled, quite content With no possessive one to say, ´Do this!´,
´Stay here!´, ´Go there!´, or, ´Come, my love, a kiss!´ 98
Obwohl Galatea lebendig geworden ist, von ihrem Sockel kommen und selbst nachdenken kann,
erfährt Galatea bei Montgomery weniger Freiheit als lebendige Frau, als sie als Statue erfuhr. Lieber
95
96
97
98
Emily H. Hickey: A Sculptor and Other Poems, zitiert in Joshua, S. 140.
Genevieve Taggard: Words for the Chisel, zitiert in Joshua, S. 142.
Ebd.
Roselle Mercier Montgomery: Many devices. Zitiert in Joshua, S. 143.
25
würde sie, gleich wie die oben genannten Statuen, wieder zu Marmor, zu der Statue, die Pygmalion
ursprünglich geschöpft hat, werden. Dies spiegelt sich in Agnes wider, die sich teils von dem Erzähler
bestimmen lässt. Nicht will sie das aber, damit sie damit freier würde, sondern vor allem, weil sie
wissen will, was er von ihr und von der Beziehung hält.
Die oben behandelte Statuen bedauern nicht nur ihren Verlust an Freiheit, sondern beklagen auch, dass
sie als lebendige Frauen nicht länger unsterblich sind. Das Verlieren der Unsterblichkeit ist bei Agnes
auch ein Thema. Sie möchte in einem Porträt beschrieben werden, damit sie nicht vergessen wird. Sie
will selbst auch gelesen werden: Als Physikerin möchtet sie, dass alle, die nach Kristallen suchen, ihren
Namen finden. Auch interessiert sie sich für Stonehenge, weil es vielleicht gebaut wurde um eine Spur
zu hinterlassen, was Agnes auch machen möchte.
Zusammenfassend könnte gesagt werden, dass die Statue oder anderswie geformte Frau im 20.
Jahrhundert eine aktivere Rolle bekommt als sie zuvor hatte. Galatea, wie sie inzwischen oft genannt
wird, hat eine eigene Meinung und ihre Gefühle werden neben denen des Pygmalions weniger
abgewertet. Sie ist nicht automatisch Pygmalions Besitz weil er sie nun mal geschaffen hat, sondern hat
selbst auch Autonomie. Sie wird öfter als zuvor als Protagonistin dargestellt. In einigen Gedichte
bedauert sie, dass sie lebendig gemacht wurde: Dadurch ist sie weniger frei und verliert ihre
Unsterblichkeit.
Der Pygmalionstoff in Agnes
Wie ist die Pygmalion-Thematik in Agnes zurückzufinden? Der Erzähler verfasst ein literarisches
Porträt von Agnes, das ihr Leben zusammen mit ihm bestimmt. Er zweifelt aber auch, ob er bestimmte
Passagen schreiben sollte, ob Agnes einverstanden wäre. So schreibt er eines Tages, als Agnes in der
Bibliothek ist, dass Agnes ihn in der Geschichte heiratet. Er macht das ohne sich zu fragen, was Agnes
davon hält, denn er denkt ihre Gefühle schon erraten zu haben. 99 Danach streicht er es aber wieder.
Die Pygmalion-Thematik zeigt sich auch in der Kontrolle, die der Erzähler über Agnes haben will. Der
Erzähler sagt zu Agnes, er habe nie Geschichten über lebende Personen geschrieben, denn ¨in der
Geschichte selbst muss man frei sein.¨ 100 Als Agnes ihn bittet, eine Geschichte über sie zu schreiben,
um zu wissen, was er von ihr hält, möchte er das eigentlich nicht: ¨´Ich weiß nie, was dabei
99 Vgl. Stamm, S. 80-82.
100 Ebd., S. 49.
26
herauskommt´, sagte ich, ´Ich habe keine Kontrolle darüber´.¨ 101 Weil sie also eine lebendige Person
ist, traut er sich nicht, über sie zu schreiben und die Kontrolle zu verlieren. Sie hat ihren eigenen Willen
und das passt nicht in seine Geschichten. Dies verweist darauf, wie Pygmalion sich gegenüber seiner
Statue verhält. Diese Kontrolle scheint vor allem in späteren Erzählungen, wie der von Suppé, ein
Thema zu sein: Suppés Pygmalion will die Kontrolle haben und sobald er sie verliert, wünscht er
Galatea wieder zu Marmor. Auch der Shaw´sche Higgins kann es jedoch nicht leiden, dass Eliza
Doolittle einen eigenen Willen zur Schau stellt. In früheren Verarbeitungen kam die Kontrolle aber
überhaupt nicht vor: Pygmalion hatte auch hier Macht über Galatea, sie hatte aber keine Chance
dagegen zu protestieren.
All diese erwähnten Pygmalionfiguren haben Macht über ihre jeweiligen Statuenfiguren. So auch
Agnes´ Erzähler. Diese Macht versucht er genau auszuüben nachdem die zwei verabredet haben, dass er
sie schreiben wird: Wenn Agnes ihn bittet, schon mit der Geschichte anzufangen, sagt er, er wolle
zuerst zusammen das Feuerwerk anschauen. Sie interessiere sich nicht für Feuerwerk, sagt sie, aber
dann nimmt der Erzähler einfach ein Blatt Papier und schreibt: ¨Am Abend des dritten Julis gingen wir
auf die Dachterrasse und schauten uns gemeinsam das Feuerwerk an¨ 102 Obwohl dies wahrscheinlich
harmlos, vielleicht sogar witzig gemeint ist, bekommt er auf diese Weise doch noch das, was er will,
auch wenn Agnes damit eigentlich nicht einverstanden war. Agnes verhält sich in dieser Weise wie die
Statuen von Ovid und Jean de Meun: Sie fügt sich ihrer Pygmalionfigur und protestiert nicht.
Agnes folgt danach der Geschichte des Erzählers meistens ziemlich direkt. Das macht sie nicht nur,
damit die Geschichte stimmt. Schon immer, sagt sie, haben Bücher eine große Macht über sie gehabt.
Sie fühlt sich, als ob sie sich selbst in den Büchern wiederfinden kann, und identifiziert sich mit den
beschriebenen Personen. Auch hier identifiziert sie sich mit der Person der Agnes, versucht ihrem
Muster zu folgen und zu machen, was der Erzähler vorschreibt. Der Erzähler und Agnes möchten beide
die Geschichte selbst erleben: "Dann schrieb ich am Computer ein paar Szenen und sagte Agnes, was
sie zu tun habe und spielte selbst meine Rolle. Wir trugen dieselben Kleider wie in der Geschichte,
machten wie meine Figuren einen Ausflug in den Zoo oder gingen ins Museum." 103
Der Erzähler scheint seine Geschichte wichtiger zu finden als seine Geliebte selbst. Dies zeigt sich, als
sie sagt, dass sie schwanger ist. Er erwidert, dass Agnes in der Geschichte nicht schwanger wird:
101 Ebd., S. 50.
102 Ebd., S. 51.
103 Ebd., S. 68.
27
´Das war nicht … Du liebst mich nicht. Nicht wirklich.´
´Warum sagst du das? Es ist nicht wahr. Ich habe nie … nie habe ich das gesagt´
´Ich kenne dich. Ich kenne dich vielleicht besser als du dich selbst´ 104
Der Erzähler wirft Agnes vor, ihn nicht wirklich zu lieben, denn sonst würde sie nie ein Kind
bekommen. Dies ist nicht nur ein Vorwurf, wie es häufiger in Beziehungen vorgeht. Der Erzähler
behauptet, dass sie ihn nicht liebt, denn sonst würde sie nicht schwanger werden und so die Geschichte
ungefragt ändern. Dass er selbst kein Kind haben will hat damit weniger zu tun als dass sie der
Geschichte nicht so folgt, wie er es vorgeschrieben hat. Er behauptet sogar, dass er sie besser kennt als
sie sich selbst, aber dass er die fiktive Agnes gut kennt, heißt natürlich nicht, dass er die reale Agnes
auch kennt. Er sieht die reale Agnes und die fiktive Agnes aber als dieselbe Person und nimmt es ihr
übel, wenn sie dieses Verhältnis ändert. Erst dann versucht Agnes wirklich von der Geschichte los zu
kommen. ¨Du widerst mich an mit deiner Geschichte¨ 105, sagt sie und verlässt ihn. Dadurch, dass
Agnes weggeht, als der Erzähler ihr Sachen übel nimmt die, ihrer Meinung nach, nicht ihre Schuld
sind, zeigt sie, dass sie aktiv an ihrer eigenen Geschichte beteiligt ist. Kontrastierend mit den üblichen
Statuenfiguren bei Pygmalion hat Agnes Selbstbestimmung. Indem sie in dieser Passage weggeht,
macht sie deutlich, dass sie diese Selbstbestimmung auch nutzen wird. Hiermit steht sie im Gegensatz
zu der Statue von Pygmalion: Meistens lässt sie sich schon vom Erzähler bestimmen und passt sich
seinen Vorstellungen der Geschichte an. Ihre Meinung ist kein Thema, auch für sie selbst nicht. Hier
jedoch hat sie schon eine eigene Meinung, die sie auch deutlich zeigt. Der Theorie von Pfister nach
zeigt der Roman Agnes hier also eine hohe intertextuelle Intensität im Sinne der Dialogizität gegenüber
dem Ovid‘schen Pygmalion-Text, da die beiden Texte in einer hohen ideologischen Spannung
zueinander stehen. Gegenüber der späteren Überarbeitungen ist dies nicht dialogisch, denn auch in
diesen Geschichten ist die Meinung der Statue schon ein Thema.
Der Erzähler in Agnes kann es nicht leiden, dass Agnes´ wirkliches Leben nicht läuft wie von ihm
vorgeschrieben. Agnes selbst findet diese Geschichte aber auch sehr wichtig, was in einer längeren
Passage gezeigt wird, die sich abspielt, bevor sie schwanger ist:
Wirklich trug Agnes das blaue kurze Kleid, als sie am nächsten Tag zu mir kam. Es war kühl,
und es regnete, aber sie sagte ´Befehl ist Befehl´, und lachte nur, als ich mich entschuldigte.
´Wir gingen ins Wohnzimmer, und Agnes umarmte und küßte mich lange, als habe sie Angst,
mich zu verlieren´, zitierte ich. Und wie ich es geschrieben hatte, umarmte mich Agnes, nur
104 Ebd., S. 89-90.
105 Ebd., S. 91.
28
lachte sie dabei und hatte keine Angst. Ich machte mich los und ging in die Küche, um das
essen fertig zuzubereiten.
´Kann ich helfen?´ fragte sie.
´Nein´, sagte ich. ´Agnes saß im Wohnzimmer und hörte meine CDs, während ich das
Abendessen kochte.´ (…) ´Es war ein ganz besonderer Tag für uns. Ich hatte beschlossen …
Aber erst wollen wir essen.´
´Das ist gemein´, sagte sie, ´erst macht du mich neugierig, und dann ...´
´Es tut mir leid´, sagte ich, ´wir reden erst nach dem Essen darüber.´ (…)
[Agnes] aß schneller als sonst, und als wir fertig waren, räumten wir den Tisch nicht ab und
ließen das schmutzige Geschirr stehen. Ich setzte mich aufs Sofa und zog ein Blatt Papier aus
der Tasche.
´Komm´, sagte ich, aber Agnes setzte sich auf einen Stuhl beim Fenster,
´Erst will ich wissen, was ich zu tun habe´, sagte sie, ´ich möchte keine Fehler machen.´ (...)
´Wir saßen nebeneinander auf dem Sofa´, las ich und wartete einen Moment. Aber Agnes rührte
sich nicht, und ich fuhr fort: ´Agnes lehnte sich mit dem Rücken an mich. Ich küßte ihren
Nacken. Ich hatte lange über diesen Augenblick nachgedacht, aber als ich sprechen wollte,
hatte ich alles vergessen. Also sagte ich nur: Willst du zu mir ziehen?´ Ich hielt inne, wartete
und schaute Agnes an. Sie sagte nichts.
´Und?´ fragte ich.
´Was sagt sie?´ fragte sie. 106
In diesem Ausschnitt ist zu sehen, dass Agnes sich vom Erzähler bestimmen lässt und sich exakt so
verhalten will, wie er es geschrieben hat, ohne dabei ¨Fehler¨ zu machen, also der Geschichte nicht zu
gehorchen. Der Erzähler hat gesagt, Agnes trage an diesem Tag das kurze, blaue Kleid und da sie der
Geschichte so genau wie möglich folgen möchte, macht sie das dann auch. ¨Befehl ist Befehl¨ sagt sie
scherzend, aber wirklich folgt sie den ¨Befehlen¨ die der Erzähler ihr gibt. Sie ist neugierig, was er
geschrieben hat, weil das für sie Wirklichkeit ist, und will so schnell wie möglich wissen, was passieren
wird. Das tut ihm Leid, sagt er nur. Was er aber meint ist: Er könne auch nichts dafür, dass er nicht
schon sagen könne, was passieren wird, denn die Geschichte schreibe vor, dass sie erst nach das Essen
darüber reden, und er könne nichts daran ändern. Die beiden lassen sich also von der Geschichte
bestimmen, die er geschrieben hat.
Der nächste Vorfall davon, dass der Erzähler Agnes zu kontrollieren versucht, findet statt, als der
Erzähler vorschlägt, dass Agnes sich bei ihm auf der Sofa setzt, denn so hat er es geschrieben.
Nachdem er diesen Satz vorgelesen hat, wartet er eine Weile. Beim ersten Lesen sieht das noch
unschuldig aus. Er wartet aber, weil er will, dass Agnes sich zu ihm setzt, so wie in der Geschichte.
Weil er will, dass es stimmt, soll sie also nicht auf dem Stuhl sitzen. Sein Versuch, Agnes zu
kontrollieren, scheitert aber: Agnes scheint nicht zu bemerken, dass sie sich in dieser Weise nicht genau
an die Geschichte hält, so wie er es möchte. Sie möchte aber schon auch selbst leben wie es die
106 Ebd., S. 64-65. Hervorhebungen von mir.
29
Geschichte vorschreibt. Denn sobald der Erzähler sie indirekt fragt, bei ihm zuhause einzuziehen,
möchte sie nicht selbst entscheiden, ob sie das macht, sondern fragt, was die fiktive Agnes antwortet.
Für sie ist die fiktive Agnes die Agnes nach der sie sich verhalten sollte. Erst als der Erzähler nicht für
die fiktive Agnes antwortet, antwortet die reale Agnes, dass sie zu ihm ziehen möchte.
Agnes versucht immer mehr, sich der Geschichte anzupassen. Zunehmend folgt sie der Fiktion anstatt
selber nachzudenken, bis sie letztendlich verschwunden ist, nachdem sie den Schluss liest, mit dem der
Erzähler heimlich den anderen Schluss ersetzt hat, weil der zweite ¨der einzig mögliche, der einzig
wahre Schluߨ 107 sei. Hierin begeht die fiktive Agnes Selbstmord. Es wird nicht erwähnt, ob die reale
Agnes wirklich tot ist oder nur verschwunden. Alles scheint aber darauf zu weisen, dass sie, wie die
fiktive Agnes, Selbstmord begangen hat: Schon immer hat sie gedacht, zu erfrieren sei ein schöner Tod,
und sie erzählt dass auch dem Erzähler, als sie eines Tages auf einem Friedhof sind. 108 Gerade dieser
Wunsch wird für die fiktive Agnes Wirklichkeit. Sie läuft in einem schneebedeckten Wald. Sie kniet,
legt sich hin und wartet bis die Kälte ihr das Leben genommen hat. 109 Für die wirkliche Agnes heißt
das, dass sie dem von dem Text gegebenen Muster folgen kann und so letztendlich als Geschichte
unsterblich werden kann. So lässt sie sich vom Erzähler, ihrem Pygmalion, kontrollieren.
Eine alternative Möglichkeit könnte sein, dass sie nur verschwindet und letztendlich keinen Selbstmord
begeht. Auch dann ist das Pygmalionkomplex des Erzählers noch deutlich zu sehen: Der Erzähler sagt
schon am Anfang, dass Agnes tot ist. Eine Geschichte – seine Geschichte – sollte sie getötet haben.
Auch wenn Agnes letztendlich nicht den Kältetod gestorben ist, ist das die Geschichte, die er erzählt,
wovon er will, dass man sie kennt. Auch wenn sie weg ist, versucht er sie und ihr Leben noch zu
kontrollieren.
Agnes hat neben dem Erzähler kaum soziale Kontakte. Dem ist es auch zu verdanken, dass sie ihr
Leben so leicht und ohne Protest von ihm bestimmen lässt: Er ist, abgesehen von ihrer Dissertation
über Kristallgitter, fast ihr ganzes Leben. Nur ihre Cello-Freundinnen sieht sie ab und zu, aber wirklich
eng befreundet sind sie nicht.
Wie erwähnt ist Agnes kein sozialer Mensch: So wie Galatea abhängig von Pygmalion ist, hat auch sie
vor allem Kontakt mit dem Erzähler und ist abhängig von ihm. Auch der Erzähler ist aber oft alleine: In
Chicago kennt er fast niemanden. Er lebt isoliert, im 27. Stock des Doral Plazas. In der Bibliothek
107 Ebd., S. 139.
108 Vgl. Ebd., S. 78.
109 Vgl. Ebd., S. 152.
30
spricht er, abgesehen von Agnes, nie mit jemandem. Er geht oft in den Coffee Shop in der Nähe der
Bibliothek, weil ihn die Kellnerinnen dort noch nicht kennen und deshalb nicht versuchen, mit ihm zu
plaudern. 110 So ähnelt er wieder dem ovidischen Pygmalion, der auch alleine lebt. Kontrastierend mit
Pygmalion, lebt er aber nicht aus dem Grund ohne Ehefrau, weil er die vorhandenen Frauen nicht mag.
Er mag sie schon, ist aber nicht so stark an ihnen interessiert wie an Agnes. Agnes ist also für ihn schon
jemand, der dafür sorgt, dass er nicht mehr alleine ist. Der Erzähler wird aber nicht wie Pygmalion
dargestellt als jemand, der aus einem bestimmten Grund alleine ist. Er ist einfach nicht so sozial.
Der Erzähler fühlt sich ab und zu fast abhängig von Agnes. Sobald er sie sieht, kann er sich nicht mehr
konzentrieren, weil er immer wieder zu ihr hinüber schauen muss. Nachdem sie das erste Gespräch
führen, fühlt er sich, als ob sie schon eine enge Beziehung haben: ¨in meinem Kopf war unsere
Beziehung viel weiter gediehen als in Wirklichkeit. Ich begann schon, mir über sie Gedanken zu
machen, hatte schon Zweifel, dabei hatten wir uns noch nicht einmal verabredet¨ 111 Nachdem er
beschlossen hat, Agnes´ Geschichte zu schreiben, fahren Agnes und er im September in einen Park.
Dort fühlt er sich, als ob er sie wie eine zweite Haut einhüllt, und ihr ganz nahe ist. 112 In der Zeit
danach bemerkt er, dass er eine fast körperliche Abhängigkeit fühlt und dass er nur ein halber Mensch
ist, wenn sie nicht da ist. Er will Agnes dauernd sehen und kommt nur zur Ruhe, wenn sie bei ihm
ist. 113 Wie auch Pygmalion fühlt sich der Erzähler jetzt abhängig von seiner Geliebten statt nur
umgekehrt.
Wie die Galatea-Statuen des 20. Jahrhunderts, will Agnes nicht ohne Spur in Vergessenheit geraten. Sie
hat Angst vor dem Tod, aber nicht weil sie fürchtet, zu leiden: ¨Solange man leidet, lebt man doch
wenigstens. Ich fürchte mich nicht vor dem sterben. Ich habe Angst vor dem Tod – einfach, weil dann
alles zu Ende ist.¨ 114 Sie interessiert sich auch für Stonehenge: laut einer Theorie hätten die Steine
keine weitere Bedeutung, sondern hätten die prähistorische Menschen nur Stein auf Stein gebaut, um
eine Spur zu hinterlassen. Sie wollten einen Beweis ihrer Existenz haben, um nicht in der Natur
unterzugehen und zu verschwinden. 115 Auch Agnes möchte solche Spuren ihrer Existenz hinterlassen:
Sie mag den Gedanken, dass jeder, der sich irgendwann mit den Symmetrien von Symmetriegruppen
110 Vgl. Ebd., S. 19-20.
111 Ebd., S. 17.
112 Vgl. Ebd., S. 59.
113 Vgl. Ebd., S. 61.
114 Ebd., S. 24.
115 Vgl. Ebd., S. 32.
31
befasst, auf ihren Name stoßen wird. 116 Agnes sieht mehrere Möglichkeiten, unsterblich zu werden.
Eine davon ist das Kind. Als sie schwanger ist, möchte der Erzähler eigentlich, das sie es abtreibt, sie
selbst möchte das aber nicht: Sie verliert dadurch die Möglichkeit, unsterblich zu werden. Ihre
Dissertation oder ein Kind sind Spuren. Sie sind ein Beweis dafür, dass sie gelebt hat, auch wenn sie
selbst nicht mehr lebt.
Am liebsten möchte Agnes unsterblich werden. Das erreicht sie, wenn der Erzähler eine Geschichte
über sie schreibt. Wenn er dann beschreibt, wie sie Selbstmord begeht, scheint sie das auch ausgeführt
zu haben. Indem sie stirbt, wird sie die fiktive Agnes, und wird so unsterblich. In ihrem Wunsch nach
Unsterblichkeit ähnelt Agnes den Statuen des 20. Jahrhundert, die sich darüber beklagten, nicht länger
unsterblich zu sein, nachdem der Künstler sie lebendig gemacht hat.
Zusammenfassend zeigt die Pygmalion-Thematik sich in Agnes unter anderem in der Kontrolle, die der
Erzähler über Agnes haben will. Dies verweist darauf wie Pygmalion sich zu Galatea verhält: Die
erwähnten Pygmalionfiguren haben Macht über ihre jeweiligen geformten Frauen. So auch Agnes´
Erzähler. Agnes versucht, nachdem der Erzähler über sie geschrieben hat, dem Muster zu folgen und
das zu tun, was der Erzähler vorschreibt. Der Erzähler scheint seine Geschichte aber wichtiger zu
finden als seine Geliebte selbst, was dafür sorgt, dass Agnes ihn verlässt. Sie zeigt damit, aktiv an ihrer
eigenen Geschichte beteiligt zu sein. Auch dann lässt Agnes sich aber oft noch gerne vom Erzähler
bestimmen. Sie möchtet sich so verhalten, wie er es geschrieben hat und möchte dabei auch keine
Fehler machen. Immer mehr versucht Agnes sich nach der Geschichte zu verhalten, statt selbst
nachzudenken.
Wie Galatea ist Agnes kein sozialer Mensch: So, wie Galatea abhängig ist von Pygmalion, hat auch sie
vor allem Kontakt mit dem Erzähler und ist deshalb abhängig von ihm. Auch der Erzähler ist jedoch oft
alleine: So ähnelt er wieder Pygmalion, der auch alleine lebt. Der Erzähler fühlt sich ab und zu fast
abhängig von Agnes. Auch hierin scheint er Pygmalion zu ähneln.
Agnes selbst möchte nicht ohne Spur in Vergessenheit geraten. In diesem Sinne ähnelt sie den GalateaStatuen des 20. Jahrhunderts.
116 Vgl. Ebd., S. 31.
32
Der Pygmalionstoff in Ruby Sparks
Wie ist die Pygmalion-Thematik in Ruby Sparks zurückzufinden? Wie bei Agnes verfasst der Autor
Calvin Weir-Fields eine Geschichte über sie, aber Ruby wird erst lebendig, als er das Buch fast zu Ende
geschrieben hat. Sie ist dann auch genau wie er sie geschrieben hat, inklusive der
Unvollkommenheiten, die Calvin extra an seine Geschichte zugefügt hat.
Wie Pygmalion ist Calvin kein sehr sozialer Mensch. Zwar hasst er die Mädchen denen er begegnet
nicht, wie Pygmalion. Sie genügen ihm aber auch nicht völlig. ¨Girls only wanna sleep with me
because they read my book in high school,¨ sagt er, ¨So they´re not interested in me, they´re interested
in some idea of me.¨ 117 Er möchtet eine Freundin haben, die sich wirklich für ihn interessiert, nicht nur
dafür, dass er ein erfolgreicher Autor ist. Selbst hat er aber auch eine Idee von Ruby und bewertet sie
danach, inwiefern sie seinen Ideen gerecht wird. Später wird ersichtlich, dass er auch seine ExFreundin danach bewertet hat, ob sie seiner Vorstellung genügen. Wie Pygmalion hat er ein Bild, wie
ein Mädchen sein sollte, um seine Freundin zu sein. Dies spiegelt sich in Ovids Pygmalion wider, der
die Propoetiden hasst, weil sie sich nicht so verhalten, wie Pygmalion es für Frauen passend schätzt.
Zwar hasst Calvin Frauen nicht, er ist also kein Misogyn, er hat aber schon auch eine Idee nach der
seine Freundinnen sich verhalten sollten.
Pygmalion ist ein Misogyn und will nichts mit die Propoetiden zu tun haben. Für Pygmalion ist es
deswegen auch vor allem wichtig, dass seine Statue eine Alternative für die Propoetiden ist. Er ist von
den Propoetiden angeekelt, weil sie ¨von der Natur so gemacht sind, wie sie sind¨ 118 und schafft eine
Statue, die, anders als die Propoetiden, makellos ist. Das ist sie nicht nur äußerlich, sondern auch
innerlich: Eine Statue hat keine innerlichen Makel, und nachdem Venus die Statue lebendig gemacht
hat, wird von Ovid nicht mehr auf ihr Inneres fokussiert und er erwähnt nur noch wie die zwei weiter
leben.
Calvin macht seine Galatea, Ruby Sparks, nicht als Alternative für andere Mädchen, sondern als
Schreibauftrag von seinem Therapeut. Er träumt mehrmals von einem Mädchen und sieht ein, dass er
über sie schreiben muss. Auch er macht Ruby aber genau so wie er es will, so wie Pygmalion es auch
getan hat: Ruby kommt aus Dayton, Ohio, weil das für Calvin ¨romantisch¨ klingt. Sie schwärmte als
Kind von John Lennon und Humphrey Bogart und weinte, als sie herausfand, dass sie schon gestorben
waren. Sie hat keinen Führerschein oder Computer und feuert immer den Unterlegenen an. Sie ist
117 Dayton und Faris, TC: 00:03.08-00:03:16.
118 Vgl. Johnson, S. xxxii.
33
vielschichtig, das mag er am meisten an ihr. 119 Dennoch ist sie deswegen vielschichtig, weil er sie so
beschrieben hat. Während Calvin diese ¨Biographie¨ von Ruby seinem Therapeut erzählt, ist durch die
Bilder von Ruby noch immer eine Stelle auf der Decke zu sehen, wo Calvin hinguckt während er über
Ruby erzählt. Ruby selbst wird nicht völlig gezeigt, nur was Calvin von ihr denkt ist zu sehen. Damit
wird gezeigt, dass er Ruby nur so sieht, wie er sie haben will. Er beschreibt sie anhand seiner Ideale,
auch wenn sein Bruder Harry sagt, dass keine Frau es lesen wird, weil ¨quirky, messy women whose
problems only make them endearing are not real¨. 120 Er habe keine Person geschrieben, sagt Harry,
sondern ein Mädchen. Aber er mag sie so wie er sie geschrieben hat und als sie später lebendig wird, ist
sie auch so wie er sie geschrieben hat. Auch wenn Calvin Ruby nicht als Alternative für andere
Mädchen erstellt, ist er in dieser Hinsicht also wie Pygmalion.
Wie Pygmalion verliebt auch Calvin sich in sein Geschöpf. In einem Gespräch mit seinem Therapeuten
Dr. Rosenthal spricht er darüber:
¨I almost didn´t want to come here because I didn´t want to be away from her. (…) It is almost
like I´m writing to spend time with her¨
¨Who?¨
¨The girl. The one I´m writing, It … I go to sleep at night just waiting to get to my typewriter
again so I can be with her. It´s like … It´s like I´m falling in love with her. (…) I can´t fall in
love with a girl I write¨
¨Why not?¨
¨Because she´s not real.¨
¨Isn´t she?¨
¨No...¨
¨Are you sure?¨
¨Yes! She´s some motherfucking product of my imagination!¨ 121.
Calvin ist also schon verliebt in das Mädchen, dem er geschrieben hat, bevor sie lebendig ist. Sie ist
dann noch nicht wirklich, noch nicht ¨echt¨. Er ist vernarrt in eine Idee von einem Mädchen, nicht in
ein wirkliches Mädchen. Hierin ähnelt er stark der originellen Pygmalionfigur. Bei Ovid und Jean de
Meun scheint Pygmalion besessen von seiner Statue zu sein. Er schmuckt und kleidet sie und bei de
Meun versucht er sogar sie zu heiraten bevor sie lebendig ist. In diesem Sinne stehen Calvin und
Pygmalion nicht in Spannung miteinander, denn auch Calvin liebt seine ¨Statue¨ schon bevor sie echt
ist. Pygmalion scheint es aber nicht problematisch zu finden, dass er eine Statue liebt. SeineGeschichte
wird schon als eine merkwürdige Geschichte erwähnt, aber dies verweist vor allem darauf, dass die
119 Vgl. Dayton und Faris, TC: 00:15:05–00:16:15.
120 Ebd., TC: 00:18:51-00:19:40.
121 Ebd., TC: 00:13:47-00:14:47.
34
Statue lebendig wird. Calvin findet es selbst schon problematisch, dass er seine Schöpfung liebt, weil er
sie gemacht hat, und sie also nicht ¨echt¨ ist. In diesem Sinne existiert ein starker Kontrast zwischen
Calvin und dieser Pygmalionfigur: Calvin problematisiert die Möglichkeit, eine Idee von einer Person.
Statt eine wirkliche Person zu lieben, während dies für Pygmalion kein Problem ist.
Ruby zeigt hiernach bald, dass sie vielleicht schon echt ist: Während Calvin ihre Biographie an Dr.
Rosenthal erzählt, sind Bilder von Ruby zu sehen. Während die dann noch scheinbar fiktive Ruby auf
ihrem Fahrrad fahrt und in der Ferne verschwindet, sind im gleichen Shot Calvin und Harry zu sehen,
die gerade gejoggt haben. 122 Dies könnte eine einfacher Übergang sein. Es könnte aber auch darauf
weisen, dass Ruby bald lebendig wird oder es sogar schon ist. Schon bevor Calvin Ruby in seiner
Küche sieht, gibt es Anzeichen, dass sie wirklich ist: Nachdem Calvin Ruby geschrieben hat, findet er
Damenrasierer im Badezimmer. 123 Auch trägt sein Hund Scotty ab und zu BHs und andere
Unterwäsche rein. 124 Nicht nur zeigen diese Sachen, dass Ruby vielleicht schon lebendig ist, sie sagen
auch etwas über Calvin, denn er behält sie. Es ist nicht direkt deutlich warum er diese Unterwäsche
nicht einfach rausschmeißt. Glaubt und wünscht er heimlich doch, dass Ruby real wird oder ist er so
alleine das er die Unterwäsche deswegen behält? Wenn dies der Fall wäre, ähnelt er darin auch wieder
Pygmalion. Der war, bevor er sein Galatea gemacht hat, auch alleine. Ovids Pygmalion war aber alleine
weil er weigerte, sich mit der Propoetiden anzugeben, Calvin ist alleine, weil er das Gefühl hat, dass
Mädchen sich nicht wirklich für ihn interessieren. Die Pygmalionfigur in späteren Geschichten ist aber
auch oft unverheiratet, ohne dass dies problematisiert wird. Obwohl Calvin und Pygmalion also
verschiedene Grunde haben, einsam zu sein, verweist Calvin hierin nach Pygmalion.
Wie in Agnes, sieht Calvin Ruby zuerst und betastet er sie erst später. Er scheint sich also, wie bei
Ovid, mehr darauf zu richten, wie Ruby aussieht. Das Betasten hat aber schon eine spezielle Funktion.
In der betreffenden Szene hat Calvin gerade eingesehen, dass Ruby wirklich ist, denn anderen können
Sie auch sehen. Weil er mit jemandem reden will, verabredet er sich mit einem Mädchen, Mabel, aber
dann kommt Ruby vorbei. ¨Do ... you know this girl?¨ 125 fragt Mabel, und Ruby erwidert: ¨Yeah, hi,
I´m Ruby, Calvin´s girlfriend. I don´t think we´ve met¨. 126 Calvin ist erstaunt darüber, dass Mabel Ruby
122 Ebd., TC: 00:16:11-00:16:20.
123 Vgl. Ebd., TC: 00:16:50.
124 Vgl. Ebd., TC: 00:17:20-00:18:00.
125 Ebd., TC: 00:31:39-00:31:41.
126 Ebd., TC: 00:31:41-00:31:45.
35
sehen kann. ¨Did Harry put you up to this?¨ 127 fragt er Mabel noch, aber wenn auch der Kellner Ruby
sehen kann, versteht er es. ¨She´s real¨,128 sagt er glücklich seufzend, nachdem Ruby ihn böse ein Glas
Wasser in das Gesicht geschmissen hat.
Calvin ist also nicht ¨batshit¨, wie er zuerst dachte. Erst dann, als er versteht, dass er das nicht ist und
dass Ruby lebendig ist, betastet er sie wirklich wie eine Geliebte: Er nimmt ihr Gesicht zwischen den
Händen und schaut ihr in die Augen. 129 Im Kontrast zu Ovids Pygmalion spielt das Betasten also keine
Rolle in das Lebendig machen von Ruby, es hat aber schon die Funktion, Wunder auszudrücken.
¨Oh, I´m just having trouble wrapping my head around the reality of this situation¨ sagt er, ¨That you´re
here. That you´re real. It all seems pretty incredible.¨ 130 Calvin´s Gefühle ähneln hierin wieder Ovids
Pygmalion, der sich fühlt, als ob die Kunst ihn übertroffen hat. Danach problematisiert Calvin nicht
mehr, dass Ruby nicht ¨wirklich¨ ist: Sie ist lebendig, und deswegen echt.
Einige Monate nachdem Ruby lebendig geworden ist, fühlt Calvin sich oft abhängig von Ruby: wenn
sie etwas Zeit für sich braucht, fühlt er sich miserabel. Wie Agnes´ Erzähler möchte er am liebsten
immer bei seiner Geliebten sein. Er sagte das schon seinem Therapeuten, als er ihr geschrieben hat und
bevor sie lebendig wurde. Nachdem Ruby aber lebendig geworden ist, ist er noch abhängiger von ihr.
Hierin ähnelt er vor allem der Mittelalterlichen Pygmalion, der fast eine Obsession mit der Statue hatte.
Bevor Ruby lebendig wurde, hatte er auch keine Freunde, nur seinen Bruder Harry, jetzt hat er auch sie.
Er fühlt sich nicht als ob er mehr Freunde brauche, denn er habe sie, sagt er zu Ruby. 131
Nicht nur will er jetzt immer bei ihr sein, er nimmt es Ruby auch übel, dass sie ihre eigenen Pläne hat.
Sie will ab und zu wieder Zuhause schlafen, dadurch ist er nachts einsam. Nach zwei Nächten, in denen
er alleine schlafen musste, beschließt er deswegen Ruby zu ändern. Er schreibt, dass Ruby sich ohne
ihn miserabel fühlt und wartet, bis sie ihn anruft. 132 Schon bald zeigt sich aber, dass Ruby zu abhängig
ist und bedauert Calvin, dass er sie geändert hat. Deswegen ändert er sie erneut und schreibt, dass Ruby
immer sehr froh sei. Hier zeigt Calvin das erste Mal wirklich wie stark die Kontrolle ist, die er über
Ruby hat und wie schwierig es für ihn ist, die Kontrolle nicht zu nehmen: Obwohl Calvin sich
vorgenommen hat, Ruby nicht mehr zu ändern, macht er das dadurch doch und übt so seine Kontrolle
über Ruby aus. In einem Gespräch, das er danach mit seinem Bruder hat, zeigt sich wie Calvin mit der
Kontrolle umgeht, die er über Ruby hat.
127 Ebd., TC: 00:31:59-00:32:03.
128 Ebd., TC: 00:32:15-00:32:17.
129 Vgl. Ebd., TC: 00:33:40.
130 Ebd., TC: 00:33:24-00:33:44.
131 Vgl. Ebd., TC: 00:59:40-00:59:50.
132 Vgl. Ebd., TC: 01:03:57-01:04:20.
36
¨She wasn´t happy, so I made her happy, and now she´s like this all the time¨ 133 sagt er zu Harry.
Danach fragt er sich ob das moralisch akzeptabel war, und Harry erwidert:
¨It´s obviously working. Think of it like prozac¨
¨But how do I know it´s real?¨
¨it´s not, okay? She´s not¨
¨she i.. She was. I want to be what´s making her happy, without máking her happy.¨ 134
Obwohl Calvin am Anfang also noch meinte, das Ruby wirklich war, weil sie lebendig war, ist er sich
jetzt nicht mehr so sicher ob sie noch eine wirkliche Person ist. ¨She is¨, versucht er zu sagen, aber
dann sagt er ¨she was¨. Die vielen Änderungen haben sie in dieser Weise weniger wirklich für ihn
gemacht. Wenn Harry suggeriert, dass er ¨Ruby went back to normal¨ schreibt, gibt er zu, dass er
fürchtete, dass Ruby ihn verlassen wurde. Dann sagt Harry etwas aufmerksames: Seine Geliebte, Susie,
habe ihn auch einmal verlassen. Sie kam wieder zurück, aber er denke noch immer daran. ¨I could lose
her any moment.¨ 135 Er scheint hier zu sagen, dass es nie sicher ist, ob jemand bleiben wird, und dass
man damit leben muss. Er könnte sich mehr Mühe geben, diese Person zu behalten, aber wenn diese
Person ihn dann noch immer verlassen will, sollte sie frei sein, zu gehen. Bis jetzt hat Calvin sich aber
selbst keine Mühe gegeben: Sobald er dachte, dass Ruby ihn verlassen würde, hat er sie geändert,
sodass sie nicht mehr weggehen wollte, statt selbst bemüht zu sein, ein besserer Freund zu sein.
Hier wird eine Idee aufgeworfen, die im älteren Pygmalionkontext noch nicht zu sehen ist: die Statuenoder Frauenfigur könnte sich dafür entscheiden, weg zu gehen. Die Handlung konzentriert sich nicht
nur auf Pygmalion und der Tatsache, dass er sie liebt. Es ist auch möglich, dass sie ihn nicht länger
liebt. Bei Ovid oder Jean de Meun kam solch eine Interpretation noch nicht in Frage. In den späteren
Verarbeitungen ist das aber schon zu sehen: Auch Eliza hat sich entschlossen, Higgins zu verlassen und
auch der Suppé´sche Galatea liebt nicht unbedingt ihren Schöpfer, weil er nun mal ihr Schöpfer ist. In
diesem Sinne passt Ruby Sparks in die Tendenz, die Freiheit der Frauenfiguren mehr zu thematisieren.
Wie schwierig es für Calvin ist, keine Kontrolle über Ruby auszuüben, zeigt sich nachdem er Ruby
wieder ihre richtigen Gefühle zurückgegeben hat. Calvin und Ruby fahren dann zusammen zu einer
Party und Ruby langweilt sich. Ein anderer Autor fragt sie, schwimmen zu gehen. Sie zieht sich aus,
dann kommt aber Calvin zurück und ist schockiert sie in ihrer Unterwäsche zu finden. Er nimmt sie mit
133 Ebd, TC: 01:08:52-01:09:03.
134 Ebd., TC: 01:09:05-01:09:23.
135 Ebd., TC: 01:09:50-01:09:54.
37
zurück nach Hause, wo sie streiten:
¨You´re supposed to be my girlfriend.¨
¨I ám your girlfriend.¨
¨So act like it.¨
¨I´m sorry I wasn´t acting like the platonic ideal of your girlfriend. Jesus, you can be such a
fucking prude.¨
¨What, because I don´t want you skinnydipping with other men?¨
¨Because you don´t want me doing anything! You have all these rules and you don´t tell me
what they are until whoops, I´ve broken one. And then you get to be dissappointed with me?¨
¨Okay. Uh, do you wanna know my rules? Don´t fuck other men. Don´t let them think about
fucking you.¨
¨So now I´m responsible for what other people are thinking?¨
¨Yes, you are responsible. When you act a certain way, it leads people on. When you take your
clothes off at a party it makes people think you´re a slut. So I´d really prefer if you didn´t do
that. Is that clear enough for you?¨
¨Fuck you! … I´m not you child! You don´t get to decide what I do.¨
¨wanna bet?¨ 136
Hier wird nicht nur thematisiert dass Ruby unfrei ist, auch wird ein Thema aufgeworfen, das originell
nicht im Pygmalionkontext anwesend war: Die geformte Frau verhält sich nicht wie gewünscht von
Calvin. Ruby, die wohl freier ist als die Statue bei Ovid, indem ihr ein eigener Wille erlaubt wird, ist
frei um auf dieser Party zu machen, was sie will. Calvin nimmt es ihr aber doch übel wenn sie das
macht. In diesem Sinne ist er eine Pygmalionfigur wie die von Suppé oder Shaw. Direkt darauf zeigt er
aber, dass er, im Gegensatz zu der Pygmalionfigur bei Shaw oder Suppé, schon völlige Kontrolle über
Ruby hat, wenn er das haben will. Er lässt sie dann nicht mehr selbst entscheiden, was sie machen kann
oder wohin sie gehen kann. ¨I´m not your child¨ sagt sie noch, aber im erweiterten Sinne ist sie das
schon: sie ist sein Geisteskind und er bestimmt, was sie machen kann und was nicht. Wenn Ruby
versucht, nach Hause zu gehen und das nicht gelingt, weil Calvin das so bestimmt hat, zeigt er ihr, dass
er sie geschrieben hat, dass er sie geschaffen hat.
¨I can make you do anything,¨ sagt er, ¨because you´re not real¨ 137. Damit zeigt er, dass er überhaupt
nicht mehr glaubt, dass sie wirklich ist. Wenn sie ihm nicht glaubt, guckt er verzweifelt und zeigt es ihr.
Er schreibt zuerst, dass sie Französisch spricht. In diesem Moment scheint er das nur darum zu machen,
um ihr zu zeigen, das er recht hat. Danach aber, lässt er sie sich auch ausziehen und singen und scheint
durchgedreht zu sein in der Kontrolle die er über Ruby ausübt. Er manipuliert sie und lässt sie, gegen
ihren Willen, bellen wie ein Hund. Obwohl er verschreckt und traurig guckt, macht er weiter. Wenn sie
136 Ebd., TC: 01:19:13-01:20:12.
137 Ebd., TC: 01:23:40-01:23:45.
38
nur noch ¨I love you¨ ruft während sie Pirouetten dreht, fängt er an zu schreien, aber verzweifelt geht er
noch weiter, bis er letztendlich mit allen zehn Fingern auf die Tippmaschine schlägt und Ruby
niederfällt. Erst dann scheint er wirklich einzusehen, was er getan hat. 138
In dieser Passage ist zu sehen, dass Ruby, selbst wenn sie es absolut nicht will, stark von Calvin
kontrolliert wird. Nach Pfister ist diese Passage stark Dialogisch im Vergleich mit dem originalem
Prätext, Ovid´s Pygmalion. Bei Ovid kommt die Freiheit der Frau, oder ihre Perspektive, überhaupt
nicht zur Rede. Pygmalion hat sie gemacht, und er will sie heiraten, also heiraten sie. Schon versucht
Calvin auch Ruby dazu zu bewegen, zu machen was er will, aber dies wird vom Film dargestellt als
etwas wonach nicht gestrebt werde sollte: Calvin schreit dabei, dass er Ruby gegen ihren Willen bellen
und Pirouetten drehen lässt. Er manipuliert sie nur, weil er der Verzweiflung nahe ist. In diesem Sinne
ist was er macht vergleichbar mit wie Paare einander manchmal absichtlich verletzen wenn sie streiten.
Sobald Ruby in das Bettzimmer flüchtet, sieht Calvin ein, was er gemacht hat und beschließt, sie frei zu
lassen. Er schreibt ¨As soon as Ruby left the house, the past released her. She was no longer Calvin´s
creation.. She was free.¨ 139 Um sein Leid zu stillen, schreibt er ein Buch über seine Erfahrungen mit
Ruby, worin er sich auch dafür entschuldigt, dass er versucht hat, sie zu ändern.
Wie erwähnt, hat Ovid Orpheus die Pygmaliongeschichte erzählen lassen, als eine Geschichte woraus
Hoffnung sprechen sollte. Obwohl Ruby Sparks eine dunkle Verarbeitung des Pygmalionstoffes ist, und
der Film sehr lange eher Unfreiwilligkeit als Hoffnung als Thema hat, scheint es letztendlich doch auch
etwas Hoffnung zu geben: Calvin hat Ruby losgelassen und veröffentlicht das Buch, das er über sie
geschrieben hat, als ¨the Girlfriend¨, sein zweiter vollendeter Roman. Schon daraus spricht Hoffnung:
nachdem er eine lange Zeit nicht mehr hat schreiben können, hat er letztendlich doch etwas
abgeschlossen, was mehr ist als nur eine Kurzgeschichte, die er bis dann vor allem geschrieben hat.
Dann aber passiert etwas, was vor allem Hoffnung zeigt: Er begegnet Ruby wieder in einem Park. Sie
erinnert sich nicht an ihn, und alles deutet darauf hin, dass sie sich erneut in einander verlieben können.
Nur diesmal ohne Kontrolle, denn Ruby ist jetzt völlig frei und damit ist sie letztendlich doch eine
wirkliche Person.
138 Ebd., TC: 01:24:20-01:28:35.
139 Ebd., TC: 01:28:45-01:29:46.
39
Abschließende Analyse des Pygmalionstoffs Agnes und Ruby Sparks
Im Pygmalionkontext wird der Wunsch thematisiert, dass etwas selbstgeschaffenes zum Leben erweckt
wird. Ein Merkmal der Geschichte ist, dass die Figuren, die zum Leben erweckt werden oder Bildung
genießen und so mit der Statue gleichgesetzt werden können, fast immer Frauen sind. In der
Pygmaliongeschichte und in den meisten Verarbeitungen davon, wird der männliche Wunsch
thematisiert, eine Frau zu haben, die schön ist und vor allem genau das macht, was der Mann möchte.
Wie zeigt sich das bei Ruby Sparks und Agnes und was bedeutet dies für diese zwei gegenwärtigen
Werke im Pygmalionkontext?
Nach Joshua wird die Statuenfigur originell als nicht-frei dargestellt: die Geschichte ¨represents women
as controlled, trapped, rescued, idealized, defined and owned by men, but it also communicates much
about the aesthetics and psychology of the artist, and the relationship between the artist and his
work¨ 140
In späteren Verarbeitungen scheint die Statuenfigur aber mehr und mehr aus dieser Rolle zu geraten
und wird sie freier. Diese Thematik ist in den zwei untersuchten Werken auch zurück zu finden.
In Ruby Sparks ist Freiheit eines der wichtigsten Themen. Ruby scheint frei zu sein, denn nachdem
Calvin sie geschrieben hat, beschließt er nicht weiter zu schreiben. Er findet sie perfekt, wie sie ist, 141
zur Unzufriedenheit seines Bruders Harry, der vorschlägt, dass Calvin sie ändert:
¨O, hey, so you can... like... change her. (…) You could, like, tweak things if you wanted.¨
¨Whoa, tweak? What do you mean?¨
¨I dunno, like anything.. big tits, long legs...¨
¨I like her little legs¨
¨You know how many times I wanted a button to make Susie stop doing all the annoying shit
she does? (…) Women are mysterious creatures. I still look at Susie like: ´Who are you,?´¨
¨I know Ruby, Harry. I wrote her.¨
¨So you can make her, like, do anything. For men everywhere, tell me you´re not gonna let
that go to waste¨
¨I will never write about her again.¨ 142
Er findet sie perfekt, wie sie ist. Wie er sie geschrieben hat. Das Problem für ihn kommt aber, wann sie
wirklich wird, denn erst dann ist sie wirklich ein Person, eine Person woüber er keine Kontrolle mehr
140 Joshua, S. xxi.
141 Dayton & Faris, TC: 00:39:11-00:39:15.
142 Ebd., TC: 00:44:20-00:45:21.
40
hat. So eine Person könnte zu Beschlüssen kommen, womit Calvin nicht einverstanden ist; die ihm
sogar peinlich sein könnten. Und wie viel Freiheit möchte er Ruby dann noch gewähren?
Freiheit ist in Agnes auch ein wichtiges Thema. Teils wird Freiheit auf implizite Weise behandelt, zum
Beispiel, wenn der Autor sich, beim Schreiben über Luxuseisenbahnen vor allem in den Pullman-streik
interessiert, was eine ¨Revolte gegen die absolute Kontrolle, gegen die Macht" war 143: ¨Mit allem hatte
Pullman gerechnet, nur nicht mit dem Bedürfnis seiner Arbeiter nach Freiheit. Er hatte geglaubt, ihnen
ein Paradies gebaut zu haben. Aber das Paradies hatte keine Tür¨ 144
Das der Erzähler in diesem Sinne über Freiheit nachdenkt, zeigt, dass Freiheit für ihn wichtig ist. Nicht
aber Agnes´ Freiheit ist hier gemeint, sondern die Freiheit des Autors. Der Erzähler denkt viel über
eigene Freiheit. Er sagt, er finde Freiheit wichtiger als Glück, und geht deswegen auch nicht direkt
zurück zu Agnes, sobald sie eine Fehlgeburt hat, auch wenn zu sie zurück gehen ihn glücklich machen
würde. 145 Hier sorgt seine Freiheit für einen Konflikt zwischen ihm und Agnes. Es ist aber auch ein
größeres Thema im Roman: In Agnes wird die Freundin des Erzählers, wie die Statue, von einem Mann
bestimmt. Dies könnte als eine Geschichte gelesen werden, wo der Mann Macht über die Frau hat.
Agnes hat selbst aber auch Macht über das eigene Leben und lässt sich nicht immer einfach vom
Erzähler bestimmen. Der Roman fangt mit dem Satz "Agnes ist tot. Eine Geschichte hat sie getötet" 146
an. Dies kann man so interpretieren, dass der Erzähler, der die Geschichte geschrieben hat, sie getötet
habe. Indem er so ihr Leben beendet hat, habe er ihr Los bestimmt und sie so ihre Freiheit beraubt. Es
gibt aber auch die Möglichkeit, diesen Satz anders zu interpretieren. Nach Hartmut Vollmer markiert
dieses Bekenntnis "den Austritt der Protagonistin aus der Geschichte ins Leben¨. Schon stirbt sie dann
außerhalb von der Geschichte, das Ende im ¨Schluß2¨ zeigt aber ¨eine mystische Einswerdung mit der
Natur: ausgebreitet im Schnee liegend, gibt die Eiseskälte der Protagonistin Lebenswärme, Herzensglut
der Tod erweckt sie zu einem neuen Leben.¨ 147 In der Geschichte lebt sie dann weiter, frei vom
Erzähler.
Agnes, als Protagonistin ihres eigenen Buches, bestimmt auf dies Weise letztendlich selbst, dass sie
dem Ende ¨Schluß2¨ Leben einhauchen will. Indem sie verschwindet, und aller Wahrscheinlichkeit
nach Selbstmord begeht, sorgt sie, nicht der Erzähler, dafür das die Geschichte ein Leben bekommt und
dass sie auf diese Weise unsterblich wird. Doch wird in Agnes auch thematisiert, wie der Erzähler in
143 Stamm, S. 144.
144 Ebd., S. 104.
145 Ebd., S. 110.
146 Ebd., S. 9.
147 Vollmer, S. 270.
41
der Geschichte Macht über Agnes versucht zu haben, auch wenn er sie nicht immer bekommt. Dies
wird gezeigt in eine Passage, wo Agnes und der Erzähler ein Gemälde von Seurat, Un Dimanche d´été
à d´Ile de la Grande Jatte, betrachten:
´Das bist du´ sagte ich und zeigte auf ein junges Mädchen, das im Mittelgrund des Bildes auf
der Wiese saß und einen Blumenstrauß in der Hand hielt. Es saß aufrecht, aber es hielt den
Kopf gesenkt, um die Blumen zu betrachten. (…)
´Nein´, sagte Agnes, ´ich bin das Mädchen im Weißen Kleid. Und du bist der Affe.´
´Ich bin der Mann mit der Trompete´, sagte ich, ´aber niemand hört mir zu.´ 148
Die Geliebten haben also nicht dieselbe Vorstellung von dem Partner und von sich selbst. Der Erzähler
identifiziert Agnes mit dem Mädchen, das aufrecht sitzt, aber zugleich den Kopf gesenkt hat. Diese
Haltung einer ¨in sich gekehrten und der Naturschönheit zugeneigten jungen Frau¨ 149 entspricht nach
Vollmer dem weiblichen Ideal des Erzählers und überdies auch dem Bild, das der Erzähler von Agnes
hat. Agnes selbst erkennt sich aber in dem weiß gekleideten Mädchen, das auffallender und aktiver in
dem Gemälde anwesend ist, indem sie in der Mitte steht, weiß trägt und der Betrachter direkt in die
Augen guckt. 150 Sonst ist weiß die Farbe von Schnee, und so deutet Agnes´ Auswahl auch auf ihren
Tod hin. Sie nennt ihm den Affen – ein Haustier von eine Dame.
Die beiden Protagonisten versuchen einander eine Rolle zuzuschreiben. Agnes sieht das vor allem als
Witz und versucht den Erzähler etwas zu hänseln. Dass der Erzähler sie aber zuerst als das in sich
gekehrte Mädchen vorstellt, ist nicht hänselnd gemeint, er glaubt das wirklich und möchte ihr diese
Rolle auch tatsächlich zuschreiben.
Der Erzähler in Agnes hat also eine Idee von Agnes, die nicht mit ihrer Idee übereinstimmt. Auch in
Ruby Sparks wird dies thematisiert. Die Passage worin Harry zu Calvin sagt, er habe keine Person
geschrieben, ist nicht nur wichtig um die Handlung voran zu bringen, sondern hat auch eine weitere
Bedeutung. Solche Frauen werden oft als ¨manic pixie dream girl¨ angedeutet. Dies ist eine
exzentrische und oft etwas unbeholfene Frau, ein Typus in Filme. Laut Drehbuchautorin und
Hauptdarstellerin von Ruby Sparks, Zoe Kazan ist dies aber eine misogyne Trope:
It’s a way of describing female characters that’s reductive and diminutive, and I think basically
misogynist. I’m not saying that some of those characters that have been referred to as that don’t
deserve it; I think sometimes filmmakers have not used their imagination in imbuing their
female characters with real life. You know, they’ve let music tastes be a signifier of personality.
But I just think the term really means nothing; it’s just a way of reducing people’s individuality
148 Stamm, S. 69.
149 Vollmer, S. 276.
150 Vgl. Vollmer, S. 276-278.
42
down to a type, and I think that’s always a bad thing. And I think that’s part of what the movie
is about, how dangerous it is to reduce a person down to an idea of a person. (…) What bothers
me about it is I think that women get described that way, but it's really reflective of the man
who is looking at them, and the way that they think about that girl. Not about who that girl
really is or what her personality actually is. 151
Obwohl einige fiktive Frauen also schon als manic pixie dream girl gesehen werden können, weil ihre
oft männlichen, geistlichen Vätern keine wirkliche Frauen schreiben können, heißt es meistens nur das
die so beschriebene Frauen eher als Idee, und nicht als Person, betrachtet werden. Dies wird auch
mehrmals gezeigt in Ruby Sparks. Wie erwähnt sagt Harry es zu Calvin, nachdem er sein Manuskript
gelesen hat. Calvin klagt aber schon am Anfang selbst darüber, dass Frauen nicht in ihn interessiert
sind, sondern in eine Idee. Für diese Frauen ist er nur der junge erfolgreiche Autor. Er möchte aber
nicht dazu reduziert werden, denn er ist mehr als nur das. Dass er ein erfolgreiches Buch geschrieben
hat, definiert ihn nicht, und die Idee, die Mädchen danach von ihm haben, definiert ihn auch nicht.
Nichtsdestotrotz macht er sich selbst aber auch schuldig daran, andere zu einer Idee zu reduzieren. Wie
erwähnt versucht er mehrmals Ruby zu ändern, so dass sie besser in seine Idee passt. Auch seine
frührere Freundin Lila wirft ihm das vor. Auf einer Party begegnet er ihr wieder, und sie versanden in
einer Diskussion:
¨You weren´t curious about me, you never were. You just had this image of who I was and
everything that I did, that contradicted it, you just ignored.¨
¨What image? The one where you left me as soon as I wasn´t successful?¨
¨You think I gave a shit if you were famous? All that I wanted was for you, I don´t know, to
care about me.¨
¨Do you know what people say? ´How could you love that person?´¨
¨The only person that you wanted to be in a relationship with was you. So I let you do that.¨ 152
Hier zeigt Lila, dass Calvin, zumindest so wie Lila es fühlt, nie wirklich an ihr interessiert war, nur an
dem Bild, die Idee, die er von ihr hat. Er ignorierte alles, was daran nicht stimmte, sagt sie. Bei Ruby
muss er das nicht mehr ignorieren, denn er kann einfach dafür sorgen, dass wie sie ist, mit dem Bild
übereinstimmt, dass er von ihr hat. Sie ist jedenfalls sein Geschöpf. Auch sie ist aber eine starke,
unabhängige Frau, die er trotzdem versucht, zu Kontrollieren und in seine Erlebniswelt zu integrieren.
Dies passt in einen Trend, der sich im Pygmalionkontext zeigt.
Im 19. und 20. Jahrhundert erscheinen immer mehr Geschichten, wo die Frauenfigur eine andere
151 Patti Greco: Zoe Kazan on Writing Ruby Sparks and Why You Should Never Call Her a ‘Manic Pixie Dream Girl’
http://www.vulture.com/2012/07/zoe-kazan-ruby-sparks-interview.html [02.03.2015].
152 Dayton & Faris, TC: 01:16:50–01:17:38.
43
Meinung hat als Pygmalion, und diese auch haben darf. Diese Geschichten zeigen eine Entwicklung im
Bild der Frau in der Pygmaliongeschichte. Wurde Pygmalion zuerst vorgestellt als misogyne Mann der
nur eine von ihm selbst geschaffene Frau lieben kann, die spätere Pygmalionfiguren versuchen mehr
und mehr der Frau selbst eine Wahl zu geben. Und falls sie das nicht tun, wie Henry Higgins oder
Suppé´s Pygmalion, haben die Frauen die Möglichkeit, sie zu verlassen. Es wird nicht länger nur darauf
fokussiert, was die Pygmalionfigur davon hält, sondern auch die Statuenfigur wird gehört. Ältere
Geschichten zeigen vor allem die Anstrengung von Pygmalion, die Statue lebendig zu machen. Spätere
Verarbeitungen zeigen dahingegen auch die Anstrengung des Statuenfigurs und die der Figuren
zusammen, nachdem die Statue lebendig geworden ist oder (wie bei Shaw) gebildet ist.
Mehr und mehr wird auch die Frage gestellt, ob die geformte Frau dem Pygmalionfigur ihre Liebe
verschuldet sei. Bei früheren Pygmaliongeschichten wurde noch davon ausgegangen, dass die Frau
Pygmalion automatisch lieben wuerde, weil er sie geschaffen hat. Higgins zeigt in Shaw´s Pygmalion,
zu glauben dass, weil er Eliza damit geholfen hat, weiter zu kommen, er auch eine Recht auf sie hat.
Sie ist ihm ihre Bildung schuldig, also sollte sie ihm dafür auch etwas geben. Wie viele gegenwärtige
Frauen, sieht Eliza aber ein, dass sie ihm ihre Liebe nicht schuldig ist. Auch in Agnes und Ruby Sparks
ist das zurückzufinden: Agnes verlässt den Erzähler, wenn er ihr vorwirft, sie liebe ihn nicht wirklich,
und Ruby Sparks versucht, auch wenn sie fiktiv ist, selbst ein Leben zu leben. Wenn Calvin ihr zeigt,
dass er sie geschrieben hat, ist sie ihm nicht dankbar, sondern nennt ihn ¨sick¨.
Fazit und Ausblick
In dieser Arbeit wurde untersucht, wie der Pygmalionstoff sich von der Antike bis in die Gegenwart
entwickelt hat und wie Agnes und Ruby Sparks in diese Entwicklung passen. In diesem Sinne wurde
untersucht, ob sie als gegenwärtige Werke im Kontext gesehen werden können und was sie in diesem
Kontext bewirken.
Agnes und Ruby Sparks können beide als gegenwärtige Pygmalionverarbeitungen gesehen werden. Es
besteht eine starke Intertextualität zwischen den zwei Werken und dem Pygmalionstoff im
Allgemeinen. Oft sind sie auch stark dialogisch: sie stehen in ideologischer Spannung mit der
originellen Prätext, vor allem mit der von Ovid und Jean de Meun. In diesen Werken hat die
Frauenfigur eine andere Rolle als sie bei Agnes und Ruby Sparks einnimmt. Weil die
Pygmalionverarbeitungen sich im diesem Sinne aber auch zu einer besseren Sichtbarkeit und eigenen
44
Stimme der Frau entwickelt haben, besteht weniger Dialogizität zwischen den späteren Werken im
Pygmalionkontext und den zwei hier untersuchten Werken. Pygmalion ist bei Ovid noch ein Misogyn
und die Statue, die er macht ist stark abhängig von Pygmalion: einen eigenen Wille scheint sie nicht zu
haben oder zu brauchen. Bis ins. 20. Jahrhundert wird die Frauenfigur aktiver und freier. Galatea, wie
sie inzwischen oft genannt wird, hat eine eigene Meinung und ihre Gefühle werden neben denen des
Pygmalion weniger abgewertet.
Die Entwicklung der Frauenfigur zeigt sich in Agnes und Ruby Sparks vor allem im Sinne von Freiheit.
Ruby und Agnes haben beide einen eigenen Willen und scheinen sich in der Welt so verhalten zu
können, wie sie wollen. Die Beiden haben aber nur eine eingeengte Bewegungsfreiheit. Agnes kann im
technischen Sinne alles machen, was sie will. Der Erzähler versucht aber immer zu bestimmen, was sie
macht, und obwohl sie die Wahl hat, bei ihm wegzugehen, bleibt sie doch bei ihm, bis sie letztdendlich
(aller Wahrscheinlichkeit nach) Selbstmord begeht, nachdem er das für die fiktive Agnes
vorgeschrieben hat. Ruby Sparks ist selbst in technischem Sinne nicht frei und hat keine
Selbstbestimmung: schon lässt Calvin, ihn Pygmalionfigur, sie oft selbst darüber beschließen, was sie
machen will, schließlich kann er sie aber immer ändern wenn sie ihm nicht gefällt. Nur wenn er
letztendlich einsieht, dass er sie damit verletzt, beschließt er, sie völlig frei zu lassen. Im
Pygmalionkontext passen diese Geschichten also gut in die Entwicklung, die die Geschichte durch die
Jahrhunderte durchläuft. Im Pygmalionkontext wurde die Freiheit der Frauenfigur und ihre Meinung
mehr und mehr thematisiert. Die zwei gegenwärtigen Werke thematisieren dies im Kontext noch weiter
indem die Freiheit der Frau in beiden Werken eines der wichtigsten Themen ist.
In dieser Arbeit wurde untersucht, wie Agnes und Ruby Sparks in den Pygmalionkontext passen und
was die intertextuellen Bezüge mit dem Prätext sind. Die Werke wurden anhand von Pfisters
Intetextualitätstheorie miteinander verglichen, wobei der Schwerpunkt auf Dialogizität im Vergleich
mit früheren Werken lag. Außerdem wurde untersucht, wie die zwei gegenwärtigen Werke in die
Entwicklungen der Pygmaliongeschichte passen. Dabei ergaben mehrere Themen sich als relevant für
diese Entwicklungen. Die Kontrolle des Mannes und die dabei verändernde Freiheit der Frau zeigten
sich hierbei als die wichtigsten. Die Frau entwickelte sich im Pygmalionkontext als immer freier und
ihre Meinung wurde wichtiger. Dadurch bekam der Mann immer weniger Kontrolle über sie. Doch
versuchte der Mann in den meisten Werken zumindest einige Kontrolle zu behalten.
Es liegt auf der Hand, dass in so eine Arbeit auch Gender-Aspekte einfließen könnten. Es könnte zum
Beispiel analysiert werden, wie der männliche Blick sich zugleich mit der Pygmaliongeschichte
entwickelt hat. Auch könnten Entwicklungen in der Pygmaliongeschichte möglich gedeutet werden
45
durch gleichzeitige soziale Entwicklungen in der Geschichte, die wegen Frauenbewegungen
stattgefunden haben. Solche Aspekte wurden in dieser Arbeit nicht untersucht, weil sie über den
Rahmen der Arbeit herausgehen würden. In dieser Arbeit lag der Fokus jedenfalls auf intertextuellen
Bezüge im Rahmen der Entwicklung der Pygmaliongeschichte. Eine weiterführende Analyse solcher
Gender-Aspekte könnte aber in einer folgenden Arbeit durchaus vorkommen. Bei so einer Analyse
könnten Sachen wie der männliche Blick weiter untersucht werden. Auch könnte dann beispielsweise
untersucht werden, inwiefern es einen Unterschied macht, dass Agnes von einem Mann, das Drehbuch
von Ruby Sparks aber von einer Frau geschrieben, und von einem Mann und eine Frau Regie geführt
wurde. Dies könnte für eine weitere Arbeit, zum Beispiel im Felde von gender studies, eine interessante
Frage sein.
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Literaturliste
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Broich, Ulrich; Manfred Pfister (Hg.): Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien.
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Didot, P. & Jules Didot (Hrsg.): Pièces indédites de Voltaire. Paris, 1820.
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Erklärung
Ich versichere, dass ich die vorliegende Abschlussarbeit selbständig verfasst und keine anderen als
die angegebenen Quellen und Hilfsmittel benutzt habe. Alle Stellen der Arbeit, die dem Wortlaut
oder dem Sinn nach anderen Werken und Texten entnommen sind, habe ich in jedem Fall unter
Angabe der Quellen als Entlehnung deutlich gemacht.
Ort, Datum:
Amsterdam, 19.06.2015
Unterschrift:
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