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DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN Hausmitteilung 3. Juni 2006 Betr.: Titel, Irak, Schülerzeitungen D ie Geschichte, die im Alten Testament über den Garten Eden festgehalten wurde, ist so schön und schaurig, dass sie wahr sein könnte: Ein Mann und eine Frau sitzen in einem wundervollen Park. Sie dürfen tun, wonach ihnen ist, nur Früchte vom Baum der Erkenntnis sollen sie nicht naschen. Sündhaft, wie Menschen bis heute sind, ignorieren Adam und Eva das Verbot und verhelfen so dem Bösen zum Einzug in die Welt. Seit langem prüfen Wissenschaftler verschiedener Disziplinen, ob die Geschichte aus der Bibel einen historischen Kern hat – jetzt scheinen Archäologen fündig geworden zu sein. SPIEGEL-Redakteur Matthias Schulz, 48, beschreibt, was ein Team um den Berliner Klaus Schmidt, 52, in der Osttürkei entdeckt hat: Spuren einer etwa 11 000 Jahre alten Epoche der Steinzeit, in der Jäger auf einer Bergkuppe die gewaltigen Tempelanlagen von Göbekli Tepe schufen. Wissenschaftler haben nachgewiesen, dass die Jäger zu Bauern wurden, als sich ihre Wildbestände erschöpften, und sie haben herausgefunden, dass die Steinzeitmenschen sich anfangs schwertaten mit Feldbau und Viehzucht. Das Land und seine Entwicklung, so Schulz, ähnelten „verblüffend der Heimat von Adam und Eva“. Die Illustration für den SPIEGEL-Titel stammt von dem in den USA lebenden Künstler Robert Giusti, der schon mehrfach exklusiv für das SPIEGEL-Titelbildressort gearbeitet hat. Sie ist als Kunstdruck unter www.spiegel.de/shop erhältlich (Seite 158). A ls die SPIEGEL-Redakteure Hans Hoyng, 57, und Bernhard Zand, 38, in Bagdad gelandet waren, eskalierte die Lage: Mehr als drei Dutzend Menschen, darunter zwei Kameramänner des US-Fernsehsenders CBS, kamen bald darauf in der irakischen Hauptstadt bei Anschlägen ums Leben. Als besonders gefährdet gilt der etwa zehn Kilometer lange Weg vom Flughafen in das schwer gesicherte Regierungsviertel, die Grüne Zone, und so ließen sich die SPIEGEL-Leute in einer gepanzerten Limousine, die von zwei weiteren gepanzerten Fahrzeugen eskortiert wurde, dorthin bringen. Es ging gut: In einem Palast des früheren Diktators Saddam Hussein sprachen sie mit US-Botschafter Zalmay Khalilzad über das Land, das gut drei Jahre nach der Invasion einen desolaten Eindruck macht. Der Diplomat gilt als einer der geistigen Väter der US-Außenpolitik, er war 1992 Mitverfasser der sogenannten Defense Planning Guidance. Sie wurde eine Grundlage der Doktrin, die Demokratie auch mit kriegerischen Mitteln in der Welt zu verbreiten – und diente so als spätere Rechtfertigung des Irak-Kriegs. „Khalilzad ist durch seine Erfahrungen in Bagdad realistischer geworden“, sagt Hoyng, „er gibt sich längst nicht mehr so missionarisch, wie er früher schien“ (Seite 111). um zehnten Mal hat der SPIEGEL die beste deutschsprachige Schülerzeitung ausgezeichnet – und wie schon in den Vorjahren kommen die Sieger aus Süddeutschland: „Schülerzeitung des Jahres“ ist „Spongo“ vom Hölderlin-Gymnasium im baden-württembergischen Nürtingen. SPIEGEL-Chefredakteur Stefan Aust, 59, gratulierte Gabriel Rausch, 20, Sören Binder, 16, und Matthias Eberspächer, 19, zum Erfolg; der SPIEGEL Aust, „Spongo“-Redakteure lädt fünf Redaktionsmitglieder zu einer einwöchigen Reise nach Moskau ein. „Spongo“-Mann Felix Dachsel, 19, wurde zudem für die beste Reportage ausgezeichnet, er zeichnete den Weg eines jungen Neonazis nach. Insgesamt beteiligten sich dieses Jahr 809 Schülerzeitungen an dem Wettbewerb. Im Internet: www.spiegel.de d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 3 DER SPIEGEL Z In diesem Heft Titel Wirtschaft Trends: Sechs Prozent Falschmeldungen bei Hartz IV / Teltschik plant Abflug bei Boeing ... 83 Geld: Grandhotel mit Renditeproblemen / Kurseinbruch in Generika-Branche ................... 85 Bodenschätze: Wie eine Handvoll Konzerne das weltweite Rohstoffgeschäft unter sich aufteilt ............................................. 86 Fonds und Kleinanleger setzen auf Silber, Gold und Platin ................................................ 88 Karrieren: Die großen Aufgaben des künftigen US-Finanzministers Henry Paulson .................. 90 Geldanlage: Stadtkämmerer versuchen sich in riskanten Wettgeschäften ...................... 92 Telekommunikation: Versteckte Gebühren lassen die Profite der Handy-Branche anschwellen ............................ 96 6 HENNING SCHACHT / ACTION PRESS Seite 46 Eine deutsche Muslimin soll geplant haben, sich und ihren kleinen Sohn bei einem Selbstmordattentat im Ausland umzubringen. Mitteilungen in einem Internet-Forum für Gotteskrieger brachten Fahnder auf die Spur der Berlinerin. Comeback der Minengiganten Seiten 86, 88 Nach Jahren der Stagnation erlebt die Bergbauindustrie eine fulminante Renaissance: Die Unternehmen verdienen blendend am Rohstoffboom, ein kleiner Zirkel von Konzernen regiert das globale Geschäft. Sie können kaum so viel Eisenerz, Kupfer oder Nickel liefern, wie gebraucht wird. Fonds und Kleinanleger pumpen Unsummen in die vermeintlichen Goldgruben. Goldmine (in Australien) Die Talkshow-Demokratie ist müde Maischberger d e r Christiansen s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 Illner DAVID GRAY / REUTERS Szene: Studie über die Sprachentwicklung von Kleinkindern / Buch über den Fotografen Juergen Teller .......................... 61 Eine Meldung und ihre Geschichte ................... 62 Weltmeisterschaft: Warum das größte Sportspektakel der Nachkriegszeit auch ein politisches Großereignis wird ............. 64 Fußballkultur: WM-Gespräch mit dem Philosophen Peter Sloterdijk über nationale Erregungsgemeinschaften und männliche Jäger ... 70 WM-Stars: Lionel Messi – Argentinien setzt auf einen 18-Jährigen ....................................... 74 Deutsche Nationalelf: Interne Scharmützel um Manager Bierhoff und Sportdirektor Sammer ... 76 Ortstermin: In Düsseldorf bittet Berti Vogts zum Blutspenden für die WM .......................... 80 Seiten 28, 32 Die EU buttert viele Milliarden Euro in die Landwirtschaft. Doch Mitgliedstaaten wie Deutschland weigern sich, genau aufzulisten, wer wie viel Geld erhält. Kein Wunder: Große Fleischfabriken, Grundbesitzer und Industriekonzerne profitieren von den Subventionen am meisten. EUVerwaltungskommissar Siim Kallas fordert nun mehr Transparenz. Die Öffentlichkeit habe das Recht, zu erfahren, wo ihre Steuergelder bleiben. Landwirtschaftsminister Horst Seehofer schwenkt langsam ein. Eine Mutter im Dschihad INA PEEK / IMAGO Gesellschaft · Sport Getreideernte (auf Rügen), Seehofer JIM RAKETE / ARD Panorama: Regierung will Zuwanderung von Fachkräften vereinfachen / Bundesrat gegen Antidiskriminierungsgesetz / Soldaten sollten WM-Stadien füllen ................................ 17 Außenpolitik: Im Atomstreit mit Iran schwenkt Washington auf Europas Kurs ein ..... 22 Regierung: Ob Arbeitsmarkt oder Gesundheitssystem – Schwarz-Rot ist in zentralen Fragen gelähmt ............................. 24 Subventionen: Die EU-Milliarden für die Landwirtschaft helfen nur den Großen ............ 28 Interview mit EU-Verwaltungskommissar Siim Kallas über seinen Plan, die Brüsseler Beihilfepraxis transparent zu machen .............. 32 Reformer: SPIEGEL-Gespräch mit dem Steuerexperten Paul Kirchhof über die Finanzpolitik der Großen Koalition und seine Erfahrungen in der Politik ....................... 34 Kabinett: Außenminister Frank-Walter Steinmeier profiliert sich im Konflikt mit Freunden und Gegnern .................................... 42 Integration: Umstrittener Dialog mit Muslim-Extremisten ......................................... 44 Islamisten: Deutsche Konvertitin soll Selbstmordanschlag geplant haben ................... 46 Parlamentarier: Verfassungsschutz überwacht Top-Leute der Linkspartei ................................ 47 Kriminalität: Yachten schmuggeln Drogen nach Europa ..................................................... 48 Fahnder: Größter DNA-Massentest soll Kinderschänder überführen ............................. 50 Christen: Erstmals könnte ein Priester eine deutsche Großstadt regieren ............................ 54 Lebensmittel: Gift in Importfischen ............... 58 Brüssel, Bauern und Milliarden JENS KOEHLER / BILDERMEER Deutschland M. NEUGEBAUER/S. BRAUER PHOTOS Die wahre Geschichte des Garten Eden .......... 158 Seite 100 Die Politiker der Großen Koalition taugen nicht mehr als Zugpferde fürs Fernsehen. Sie streiten zu wenig, haben sich zu lieb und verbreiten Langeweile. Darunter leiden vor allem die Polit-Talkshows. Beim ARDFlaggschiff „Sabine Christiansen“ rutschen bereits die Quoten ab. Darum laden Illner, Maischberger und Co. immer seltener Mandatsträger ein. Medien Trends: Kirch-Gläubiger sollen erstmals Geld sehen / Interview mit Peter Skulimma, Geschäftsführer des Berliner Verlags, über die Machtprobe in seinem Haus ............................. 98 Fernsehen: Vorschau ...................................... 99 Talkshows: Die politischen TV-Plauderrunden leiden unter der großkoalitionären Harmoniesoße ................... 100 Ausland WPN / AG. FOCUS Leichen in Haditha, Botschafter Khalilzad Irak: Die Toten von Haditha Seiten 108, 111 Ein Trupp Marines brachte Kinder um, Frauen, unbewaffnete Männer – so das Resümee eines vorläufigen Untersuchungsberichts der US-Streitkräfte. Das Massaker in Haditha übertrifft sogar Abu Ghureib. „Solche Zwischenfälle wirken verheerend“, sagt Zalmay Khalilzad, US-Botschafter in Bagdad, im SPIEGEL-Gespräch. Kultur Bollywood schlägt Hollywood Seite 130 CINETEXT Das indische Kommerzkino feiert weltweit Triumphe – auch in Deutschland sind die grellbunten Herz-Schmerz-Streifen inzwischen Kult. Jetzt setzen Filmemacher in Bombay einen politischen Schwerpunkt: Sie wollen mit ihren Drehbüchern zum Friedensschluss mit dem Erzfeind Pakistan beitragen. Bollywood-Filmszene Gipfeltreffen der Ball-Artisten Seiten 64 bis 76 Merkel, Klinsmann, Beckenbauer Szene: Das literarische Doppelleben der irischamerikanischen Autorin Maeve Brennan / US-Künstler Matthew Barney über seinen neuen Experimentalfilm an Bord eines Walfangschiffs ........................................ 127 Filmindustrie: Indiens Kinostars erobern die Welt .......................................................... 130 Literatur: Die Polemik um Peter Handke und den entgangenen Heine-Preis ......................... 140 Die Belgrader Dramatikerin Biljana Srbljanoviƒ über Handke, MiloΔeviƒ und die Serben ......... 142 Satire: Bestsellerautor Daniel Kehlmann über die Fernseh-Kultserie „Die Simpsons“ ........... 144 Bestseller ..................................................... 146 Fußball: SPIEGEL-Gespräch mit den Schriftstellern Tim Parks (England), Henning Mankell (Schweden) und Thomas Brussig (Deutschland) über die Magie der WM und Nationalismus im Stadion ............................... 148 Nahaufnahme: Wie der türkische Sänger Muhabbet bei jungen Landsleuten in Deutschland zum heimlichen Superstar wurde .................... 152 Wissenschaft · Technik K.-B. KARWASZ (L.); PECORARO / AP (R.) DER SPIEGEL / AGENTUR FOCUS Panorama: Erdbeben auf Java fordert Ordnungsmacht Australien heraus / Palästinenserpräsident Abbas droht mit Rücktritt / Kein Platz für Liberias Ex-Diktator Charles Taylor ............................. 105 USA: Das verschleierte Massaker ................... 108 Irak: SPIEGEL-Gespräch mit Amerikas Botschafter in Bagdad, Zalmay Khalilzad, über Washingtons revidierte Kriegsziele und die Fehler beim Wiederaufbau ................. 111 Minderheiten: Osteuropas schwieriger Umgang mit den Homosexuellen .................... 116 Sudan: Bruderkrieg der Schwarzen? .............. 118 Interview mit Ex-Premier Sadik al-Mahdi über die Stationierung von Uno-Truppen und die drohende Spaltung des Landes .......... 123 Global Village: Die schönen Stewardessen der Fluglinie Emirates ..................................... 124 Prisma: Frauen lässt Erotik kalt / Spritgewinnung aus Altautos .......................... 155 Medizin: Fett durch Darmbakterien – eine neue Theorie zum Übergewicht .............. 172 Weinbau: Wie entstehen erlesene Aromen? ... 174 Mathematik: Ein britischer Katastrophenforscher auf der Suche nach der Terrorformel ..................................... 176 Raumfahrt: Schwebende Staatssekretäre, taumelnde Professoren – Promis proben die Schwerelosigkeit ............... 178 Messi (M.) Die größte internationale Veranstaltung, „die je in Deutschland stattgefunden haben wird“ (Altkanzler Schröder), beginnt am nächsten Freitag, und deshalb sind nicht nur Fußballer aus 32 Nationen im Einsatz, sondern auch Politiker und Staatsoberhäupter aus aller Welt. Die Polit-Prominenz und viele Sponsoren werden das Treiben rund um die Ball-Artisten Ronaldinho, Beckham und Messi zu einem Großereignis irgendwo zwischen Turnier, Messe und Gipfeltreffen machen. Briefe ................................................................ 8 Impressum, Leserservice ........................... 180 Chronik .......................................................... 181 Register ......................................................... 182 Personalien ................................................... 184 Hohlspiegel /Rückspiegel ........................... 186 Titelbild: Illustration Robert Giusti für den SPIEGEL d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 7 Briefe sein, dass die Bundesregierung iranische Historiker einlädt, damit diese sich ein Bild über die Quellenlage und Faktizität des Holocaust machen können. Nichts spricht dafür, dass Iran ein Interesse daran hat, einen atomaren Weltkrieg auszulösen. Da haben mich doch ein besoffener Boris Jelzin, der mit dem roten Knopf spielt, oder schlecht bewachte Sprengköpfe in Russland weit mehr beunruhigt und stellen auch heute eine ungleich größere Gefahr dar (das einzige Land, das je die Schwelle des Einsatzes dieser Waffen überschritten hat, sind die USA!). Wir sollten nicht so aufgeregt sein, wenn ein Land mehr Selbstbewusstsein zeigt, als wir es gern hätten. „Ein unglaublich aufschlussreiches Interview, das einmal mehr zeigt, wie aus Unkenntnis Missverständnisse entstehen.“ Michael Fischer aus Annweiler (Rhld.-Pf.) zum Titel „SPIEGEL-Gespräch mit Irans Präsident Ahmadinedschad – Der Mann, vor dem die Welt sich fürchtet“ SPIEGEL-Titel 22/2006 Berlin Wir sollten nicht so aufgeregt sein Nr. 22/2006, Titel: SPIEGEL-Gespräch mit Irans Präsident Ahmadinedschad – Der Mann, vor dem die Welt sich fürchtet Nach dem Lesen des in mehrfacher Hinsicht bemerkenswerten Interviews mit Ahmadinedschad stellt sich die Frage, wer denn nun die Bösen und die Gefährlichen sind. Dieser Mann ist offenbar alles andere als ein ignoranter Dummkopf. Er hat es lediglich gewagt, seinen Finger in chronisch eiternde Wunden zu legen. thorsten Niethardt Unfassbar, wie ein Mann mit diesem Geschichts- und Weltbild Präsident eines so großen Landes werden kann. Rheine (Nrdrh.-Westf.) Karl-Heinz Melching Mir wird jetzt erst die Tragweite und Gefahr bewusst, die von diesem Mann ausgeht. Die gefährlichsten Menschen dieser Welt waren immer jene, die eine explosive Mischung aus Minderwertigkeits- und Überlegenheitsgefühlen in sich tragen. Wien Katharina Nepf Warum lassen sich erfahrene Journalisten so die Gesprächsführung aus der Hand nehmen und geben gleichwohl einem Geschichtsverleugner wie Präsident Ahmadinedschad ein Forum mit dem gleichzeitigen Bemühen, ihn von einer millionenfach belegten Wahrheit zu überzeugen, obwohl gerade dies bei Geschichtsverleugnern 8 Sie hätten als Titelzeile auch wählen können: „Selbstenttarnung eines Verrückten“. Filderstadt (Bad.-Württ.) Kerken (Nrdrh.-Westf.) Peter Oechsle Das SPIEGEL-Team versteigt sich zu der Behauptung: „Amerika hat den Irak-Krieg de facto verloren.“ Das sieht Ahmadinedschad sicher völlig anders. Amerikanische Kampfjets können jedes Ziel in Iran, speziell Irans Atomzentren, mit einer Vorwarnzeit von wenigen Minuten angreifen Berlin Präsident Ahmadinedschad, Milizen in Teheran Finger in chronische Wunden gelegt und zerstören. Die Alliierten hätten binnen Minuten die Lufthoheit über Iran. Berlin Heinz-Conrad Walter Vielen Dank für dieses Gespräch, das das vorherrschende Bild eines zornigen, unberechenbaren Bombenbastlers deutlich revidiert. Es ist sein gutes Recht (und europäische Tradition), nicht alles zu glauben, was als Tatsache behauptet wird. Die historische Tatsache des Holocaust kann nicht per Gesetz zementiert werden. Die Konsequenz kann doch nur Michael Heinricks Warum sollte ich mich vor Ahmadinedschad fürchten? Hüten sollte man sich vor einer internationalen Heuchlerclique, angeführt von einem fundamentalchristlichen Haufen von Waffen- und Öl-Lobbyisten, deren Ziel die Kontrolle der Straße von Hormus ist und die bereit sind, 500 Milliarden in sinnlosen Kriegen zu verpulvern, und die den Kampf gegen den Terror gewinnen wollen, den sie selbst fördern. Ich bin kein Freund von Ahmadinedschad und iranischen Atomwaffen, aber wer Indien, Nordkorea oder Pakistan mit Schmusekurs begegnet oder Israel Atomwaffen zugesteht, wird einen Verzicht anderer Staaten nicht einfordern und erklären können. Carsten Pötter Das Interview mit Ahmadinedschad zeigt, dass dieser Mann durch seine einseitige Sicht der Welt und seine fanatische Einstellung hochgefährlich ist. Aber dieses Interview zeigt auch, wie schwierig es ist, aus der Sicht der aufgeklärten und demokratischen Welt dagegen zu argumentieren und vielmehr noch dagegen zu handeln, wenn man zugleich die seit Jahrzehnten katastrophale Außen-/Nahostpolitik der USA verteidigen muss, weil man noch immer die Hegemonie der USA anerkennt und gutheißt. Kiel sinnlos ist. Der zweite Teil des Interviews war gut und informativ. REUTERS Twistringen (Nieders.) Hartwig Schulte-Loh Gunther Egermann Als Iranerin und eine von Zehntausenden Dissidenten verfolge ich die westlichen Berichte über mein Land und schäme mich für diesen „Präsidenten“! Er ist ein gefährlicher Clown mit einem Napoleon-Komplex. Die westliche Presse macht aber leider immer denselben Fehler: Sie beobachtet und beurteilt die Regierung in Iran mit westlichen Maßstäben. Niemand kennt dieses Regime und seine Ideologie besser als das iranische Volk. Der islamische Staat träumt davon, die Welt zu erobern. Wenn nicht in 10 oder 50 Jahren, dann in 500 oder 1000 Jahren. Wenn nicht durch Fortschritt und Sympathie, dann durch Terror und steigende Geburtenraten in der islamischen Welt! Berlin Elahe Boghrat Vor 50 Jahren der spiegel vom 6. Juni 1956 „Zonendebatte“ im Bundestag „Wovor haben wir Angst?“ „Die Situation ist da“ Kernsätze aus der Gürzenich-Rede Konrad Adenauers vor der Industrie. Visionäre Rede von Präsident Eisenhower Aufgabe des Primats der militärpolitischen Strategie. „Die schreckliche Landplage“ Analphabetentum in Italien erhöht sich. Architektur in Köln Heftige Kritik an stilbrüchiger Bauweise. Neues System in Hamburg Fernseh-ferngelenkter Verkehr. Kampf um den Luftraum Startplätze für den Transatlantikflug. Diese Artikel sind im Internet abzurufen unter www.spiegel.de oder im Original-Heft unter Tel. 08106-6604 zu erwerben. Titel: Wilhelm Vocke, Präsident der Bank Deutscher Länder d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 Briefe Kein exzessives Trinken Nr. 21/2006, Prisma: Riskante Verbindung Jugendliche beim Chatten Früh an die harte Realität? Eine der sichersten Communities Nr. 21/2006, Internet: Kinderschützer fordern stärkere Kontrollen im Netz Sie stellen den Chat www.knuddels.de nur sehr einseitig dar. Als gewählter Administrator möchte ich darauf hinweisen, dass Knuddels eine der sichersten Communities im deutschen Netz ist, es hat ein eigenes Jugendschutzteam mit Hunderten ehrenamtlichen Mitarbeitern, die bereits sehr viele Pädosexuelle aufgespürt und gesperrt haben (auch undercover). Es hat ein Fototeam, das die Fotos von unter 15-Jährigen, abgesehen von der normalen Fotokontrolle, noch ein zweites Mal prüft. Es hat ein System, das, wenn ein jüngeres und ein älteres Mitglied reden und es dann zu anstößigen Wörtern kommt, automatisch die Verbindung abbricht und keinen Kontakt der beiden mehr zulässt. Zudem haben wir einen Jugendschutztest, den jedes Mitglied unter 16 Jahren bestehen muss, ansonsten erhält es keinen neuen Rang. Es gibt Channel-Moderatoren mit besonderem Augenmerk auf die „under 18 channels“. Diese CM werden von dem Jugendschutzteam aufgeklärt, wie sie bei welchen Fällen zu handeln haben. Lauenau (Nieders.) Carolin Kirchhoff Ehrenamtliche Mitarbeiterin Ich bin selbst Burschenschafter und kann Ihnen versichern, dass es in den USA keine „Burschenschaften“ gibt. US-Studentenverbindungen, die Gegenstand der Studie waren, haben mit diesen Idealen der Revolution von 1848 nichts zu tun und bezeichnen sich auch nicht als Burschenschafter. Die einzigen Burschenschaften auf dem amerikanischen Kontinent findet man in Chile. Bei dem im Bild gezeigten „Saufgelage in Wien“ handelt es sich um den „Schillerkommers“, eine 2005 in der Hofburg abgehaltene feierliche Veranstaltung zu Ehren dieses großen Dichters. Wenn dabei auch gern Bier genossen wird, achten die Teilnehmer – insbesondere die abgebildeten Chargierten – die Würde der Veranstaltung und trinken nicht exzessiv. Wien Ralf Blaha In den USA gibt es keine Burschenschaften. Bei der erwähnten Studie handelt es sich um eine lokale Studie, bezogen auf einen einzelnen Bundesstaat der USA. Dass in Deutschland Verbindungsstudenten mehr Alkohol konsumieren als ihre Kommilitonen, ist nicht belegt und eher unwahrscheinlich, da unter Verbindungsstudenten Hochprozentiges meist verpönt ist. Das Wort „Burschenschaftler“ existiert nicht. Die Mitglieder nennt man Burschenschafter. Außerdem ist es kein Sammelbegriff für Verbindungsstudenten. Burschenschaften sind nur eine Form der studentischen Verbindungen. Nur circa ein Viertel der farbentragenden Verbindungen in Deutschland sind Burschenschaften, der Rest besteht aus Corps, Landsmannschaften, Turnerschaften, Sängerschaften und religiösen Korporationen. Hannover Es gibt Millionen von Chatrooms im Internet; die auch nur stichprobenartig zu moderieren, unsere Arbeitslosen würden wohl noch nicht einmal reichen. In welchem Verhältnis stehen die drei erwähnten Fälle von Straftaten, die über Chats angebahnt wurden, zu den Fällen, in denen Täter und Opfer anders in Kontakt kamen? Ist die Aufregung wirklich gerechtfertigt? Und: Deutschland hat bereits strenge Gesetze, die den Jugendschutz – auch im Internet – regeln und damit ganze Branchen zur Aufgabe oder Auswanderung ins liberalere Ausland gezwungen haben. Im Übrigen scheinen mir die im Artikel erwähnten Mädchen Monika und Alex keine guten Beispiele für angeblich gefährdete Kinder: Im Gegenteil gehen sie sehr souverän mit den Belästigungen um und werden so schon früh an die harte Realität gewöhnt, besser als erst mit 16 in einer Disco. Hamburg 12 Thomas Promny Internet-Unternehmer d e r Lars Klausnitzer Turnerschafter Mit Skepsis Nr. 21/2006, Ausstellungen: SPIEGEL-Gespräch mit Museumschef Hans Ottomeyer über die kulturelle Identität der Deutschen und ihre 2000-jährige Geschichte Keine Frage gab es nach den entsetzlichen Morden der christlichen Kirchen, keine nach den Leiden des einfachen Volkes unter dem Imponiergehabe der Feudalherren, keine Frage nach der schwierigen Entwicklung zu einer Nation angesichts unserer Mittellage in Europa mit ihren vielen Einflüssen und so weiter, dafür aber die Frage nach „den Knochen der Kaiser“, als ob die uns geschichtliche Erkenntnisse brächten. Mit meinen 83 Jahren darf man wohl mit Skepsis auf dieses „Schaufenster der Republik“ (warum nicht der Nation?) blicken. Braunschweig (Nieders.) s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 Irmingard Krause Nomen est omen Nr. 21/2006, Kirche: Der Trierer Bischof Reinhard Marx über den bevorstehenden Katholikentag und die Kritik am Turbo-Kapitalismus Der Trierer Bischof Reinhard Marx hat Karl Marx gelesen und zeitgemäß interpretiert. Vielleicht sollten die großkoalitionären Totengräber des Sozialstaates zu Pfingsten in Trier am Fest des Heiligen Geistes den Worten des Oberhirten lauschen und das Karl-Marx-Haus besuchen. Danach dürfen die Hartz-Reformer, Lebensarbeitszeitverlängerer, Verwalter der Massenarbeitslosigkeit, Mehrwertsteuererhöher, Pendlerpauschalenstreicher et cetera unter Führung von Vizekanzler Münte Heuschrecken jagen gehen und ihren schönen Wahlkampfsprüchen Taten folgen lassen. Regensburg Ulrich Beer REUTERS Bekanntermaßen ist der Katholikentag eine von der Amtskirche unabhängige Laienbewegung. Insofern können dort beispielsweise die „Vereinigung katholischer Priester und ihrer Frauen“ oder die katholischen Homosexuellen frei und ungehindert auftreten. Pilger in Köln (2005) Nur betont fortschrittliches Gehabe? Im eigentlich amtskirchlichen Raum wäre dies schlechterdings unmöglich. Hier gilt prinzipiell weiterhin das mittelalterliche „Roma locuta, causa finita“. Alles betont fortschrittliche Gehabe des neuen Papstes und seines kreuzbraven Bischofs Marx wird eines der steten Hauptanliegen des deutschen Katholikentages insofern mitnichten voranbringen: die umfassende geistliche Freiheit der römisch-katholischen Christenheit. Würzburg Rüdiger Freiherr von Neubeck Nomen est omen. Bischof Marx als Repräsentant der katholischen Kirche nimmt seinen alten Namensvetter sehr ernst. Es ist äußerst bemerkenswert, dass in Zeiten des ausufernden Kapitalismus aus der katholische Kirche eine solche Meinungsäußerung zu vernehmen ist. Ich bin aus der katholischen Kirche ausgetreten, weil sie mir nichts mehr zu bewirken schien. Hätte ich dieses Interview damals gelesen, wäre meine Entscheidung vermutlich anders ausgefallen. Regenstauf (Bayern) d e r s p i e g e l Dr. Dietmar Schmitt 2 3 / 2 0 0 6 13 der Intellektuellen haben mit der größten Selbstverständlichkeit ihre Zeiten mit Drogenproblemen. Treffen tut es meist nur den kleinen Süchtigen auf der Straße und nicht den Promi, der sich sauberen Stoff und gute Entzugskliniken leisten kann. Rousseausche Märchenwälder Nr. 21/2006, Kino: Dokumentarfilmer Michael Glawogger zeigt den Zauber der Arbeit Als sehnsuchtsvolles Zerrbild westeuropäischer Intellektualität kommt der Artikel über den Dokumentarfilm „Workingman’s Death“ daher. Er liefert genau jene Deutung, gegen die Regisseur Glawogger sich bereits mit Nachdruck gewehrt hat: Sein Film über körperliche Schwerstarbeit wird zum ästhetizistischen Anschauungsmaterial zivilisationsmüder Schreibtischarbeiter, die vom „Zauber der Schwerstarbeit“ träumen. Die „Anschaulichkeit“ der Anstrengungen ukrainischer Grubenmalocher und indonesischer Schwefelträger hält für sie eine untergründige Poesie bereit. Die Anrufung des Herrn im nigerianischen Schlachthof wird zum europäischen Hohelied auf Einfachheit und Zufriedenheit intoniert vom Kinosessel aus. Bei all dem Staunen über die „herbere Form von Liebe“ zur Schwerstarbeit kein Wort von dem, was Glawogger immer wieder betont: dass die globale Arbeitsteilung diese Menschen und ihre Arbeit braucht, dass die westlichen Volkswirtschaften zutiefst darauf angewiesen sind, dass irgendjemand diese Arbeit tut. Der Artikel beruhigt das aufgestörte Gewissen, indem er zeigt, wie gern und bereitwillig sie doch getan wird: Die Anschaulichkeit als Schwelgen in Bildern er- Würzburg Klaus Meixner Dem Artikel fehlt das Augenmerk auf die Stars Moss, Doherty Authentizität der Mu- Spießermärchen von sik und ihrer Protago- „Sex, Drugs & ...“? nisten. Drogenkonsumenten wie Billie Holiday, Janis Joplin und Kurt Cobain schienen dem Publikum immer noch glaubwürdiger als die cleane Klientel. Ihr Artikel stellt die Umstände völlig auf den Kopf. Aufmerksamkeit erregen gehörte schon immer zum Geschäft, und so liegt es auf der Hand, dass die gebrocheneren Charaktere eher an ihren übrigen Defiziten zugrunde gegangen sind als an der Überkompensation dieses einen. Wetzlar (Hessen) Die Rock-Kultur ist sicherlich ohne Drogen kaum vorstellbar. Allerdings war dies früher auch schon so: Wenn wir Crack und Heroin schlicht durch Absinth ersetzen, dann haben wir einen großen Teil der Kunst des späteren 19. Jahrhunderts treffend charakterisiert (von van Gogh in Europa bis Jack London in den USA)! M. IQBAL Paradise Valley (USA) Indonesische Arbeiter in „Workingman’s Death“ Beruhigung des aufgestörten Gewissens? setzt die kritische Frage nach der bitteren Notwendigkeit dieser Arbeitsformen. Gratulation zu dieser Flucht in die rousseauschen Märchenwälder. Gütersloh (Nrdrh.-Westf.) Jonas Hübner Auf den Kopf gestellt Nr. 21/2006, Pop: Amok-Rocker Pete Doherty zelebriert seinen eigenen Untergang Gerade diese Mythologisierung und die Spießermärchen über „Sex, Drugs & Rock’n’Roll“ sind es doch, die die Jugendlichen dazu verführen, es auch mal zu versuchen. Außerdem werden wieder einmal alle Drogen – und wenn sie noch so unterschiedlich sind – über einen Kamm geschoren. Die Stones, Townshend, Clapton, Boy George, Elton John und Robbie Williams sind alles andere als Drogenwracks. Ein großer Teil der Prominenz, aber auch 14 d e r Arnd Hoffmann Gerald Farin Ein interessanter Bericht, aber warum fallen auch Sie der Versuchung anheim, „gesellschaftsunkonformes Verhalten“ mit dem Hinweis auf ein hohes Maß an formeller Bildung zu adeln? Ein Pete Doherty mag wohl ein hohes Maß an geistigem Potential auf seinen Lebensweg mitbekommen haben, aber er bleibt das, was er geworden ist: ein hochgradig drogenabhängiger junger Mann, ein Junkie. Und das hat nun nichts mehr mit Klugheit zu tun – das ist dumm. Auch wenn Musik und Drogen seit Generationen schon eine nicht zu erschütternde und sicher auch produktive Allianz bilden – wer Drogen nimmt, kann so helle in der Birne nicht sein. Zumindest, wenn er nicht erkennt, dass ihm die Abhängigkeit früher oder später sein intellektuelles Potential raubt. München Tanja Buttberg Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit Anschrift und Telefonnummer – gekürzt zu veröffentlichen. Die E-Mail-Anschrift lautet: [email protected] Eine Teilauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe enthält einen Postkarten-Durchhefter des SPIEGEL-Verlags/Abo, Hamburg. s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 ANNA BARCLAY / SWNS / BULLS PRESS Briefe Deutschland Panorama Z U WA N D E R U N G Ausländer rein GOETZ SCHLESER nion und SPD stehen vor einem Durchbruch in ihren Gesprächen über vereinfachte Zuwanderungsregelungen für Fachkräfte aus dem Ausland. Die zuständigen Experten aus den Koalitionsfraktionen wollen noch vor der Sommerpause entsprechende Eckpunkte verabschieden. Geplant ist, dass angestellte Hochqualifizierte etwa aus Indien oder China künftig ein Jahresgehalt von gut 50 000 Euro in Deutschland erzielen müssen, um einen dauerhaften Aufenthaltsstatus zu erlangen. Bislang liegt die Gehaltsschwelle bei circa 84 000 Euro. Auch für Selbständige, die in Deutschland ein Unternehmen gründen oder führen wollen, sollen die Aufenthaltsregelungen liberalisiert werden. Angedacht ist, dass sie künftig nicht mehr zehn, sondern nur noch fünf sogenannte Vollzeitarbeitsplätze stellen müssen, um in den Genuss einer unbegrenzten Aufenthaltsgenehmigung zu kommen. Zudem soll die Kapitalsumme, die Gewerbetätige mindestens vorweisen müssen, deutlich abgesenkt werden. Im Gespräch ist eine Halbierung von einer Million Euro auf 500 000 Euro. Mit den neuen Regelungen kommen Union und SPD vor allem dem Drängen der führenden Wirtschaftsverbände nach. Sie beklagen bereits seit Monaten, dass die zuletzt von Rot-Grün mit dem Zuwanderungsgesetz eingeführten Bestimmungen nicht zu einer signifikanten Zunahme des Zuzugs gutausgeSchäuble E U R O PA bayerische Junge Union (JU) verlangt von der Bundesregierung, sich für eine Ablehnung der Beitrittsverträge im Bundestag zu engagieren. „Kanzlerin Angela Merkel muss ein Ja zur Erweiterung im Parlament verhindern“, sagt Bayerns JUChef Manfred Weber. „Es ist völlig offensichtlich, dass Rumänien und vor allem Bulgarien wegen der dort grassierenden Korruption noch nicht reif sind für einen EU-Beitritt.“ Es sei ein Fehler gewesen, dass die EU-Mitglieder Verträge mit dem Beitrittsdatum 2007 oder 2008 unterzeichnet hätten. „Das Parlament hat jetzt die einmalige Chance, diese Fehlentscheidung zu revidieren“, sagt das CSU-Präsidiumsmitglied. Sowohl Merkel als auch CSU-Chef Edmund Stoiber hatten erklärt, dass die Entscheidung für den Beitritt der beiden Länder nicht rückgängig gemacht werden könne. Software-Spezialistinnen (im indischen Bangalore) bildeter Arbeitnehmer geführt hätten. Tatsächlich war es offenbar gerade für junge Fachkräfte schwierig, die angegebenen Einkommenshürden zu erreichen. Im vergangenen Jahr holten deutsche Unternehmen gerade einmal rund 900 Hochqualifizierte ins Land. Endgültig entschieden wird über die neuen Regelungen voraussichtlich in einem Spitzengespräch Ende Juni. Daran sollen Innenminister Wolfgang Schäuble (CDU) sowie die Verhandlungsführer von Union und SPD, Hans-Peter Uhl und Dieter Wiefelspütz, teilnehmen. Entsprechende Gesetzesänderungen sind für den Herbst geplant. AU S B I L D U NG Lehrstellen-Abgabe light n der SPD bahnt sich ein neuer Konflikt um die Zukunft der LehrlingsIausbildung an. Um die Misere am Lehrstellenmarkt zu beheben, wollen Teile der Parteilinken und der Jusos SPD-Arbeitsminister Franz Müntefering und Parteichef Kurt Beck in den kommenden Wochen dazu drängen, eine Komplettreform des Ausbildungssystems anzugehen. Ihre Idee: Künftig sollen neben dem bestehenden dualen System bundesweit staatliche Ausbildungszentren gegründet werden, in denen jedem Jugendlichen nach der Schule garantiert ein Platz zur Verfügung steht. „In den Ausbildungszentren könnten die Lehrlinge durch theoretischen Unterricht und Praktika auf das Berufsleben vorbereitet werden“, sagt Juso-Chef Björn Böhning, einer der Initiatoren des Projekts. Finanziert werden sollten sie nach Ansicht Böhnings durch eine Art „Lehrstellen-Abgabe light“: Alle Unternehmen, die keine Lehrlinge ausbilden, müssten in einen Ausbildungsfonds einzahlen. Zusätzlich sollten Mittel aus dem Bundeshaushalt zur Verfügung stehen. RIEDMILLER / CARO Junge Union gegen EU-Erweiterung egen der anstehenden Aufnahme von Rumänien und Bulgarien in W die EU gibt es in der Union Streit. Die KLOSTERMEIER / VISION PHOTOS U Kunsthandwerkslehrlinge d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 17 Panorama ZIVILDIENST Schlechtes Training Z PATRICK PLEUL / PICTURE-ALLIANCE / DPA ivildienstleistende werden oft ohne ausreichende Schulung in der Altenund Krankenpflege eingesetzt. Nur etwa die Hälfte der für Pflegehilfe oder Betreuungsdienste eingeteilten Zivis habe im vergangenen Jahr die gesetzlich vorgeschriebenen Vorbereitungslehrgänge absolviert, rügt die Zentralstelle für Recht und Schutz der Kriegsdienstverweigerer. Während Arbeiter-Samariter-Bund und Diakonisches Werk gut zwei Drittel ihrer Zivis für den Umgang mit Alten, Kranken oder Behinderten trainierten, sei bei Ca- Altenheimbewohnerinnen, Zivildienstleistender in Frankfurt (Oder) ritas und Arbeiterwohlfahrt nicht einmal die Hälfte geschult worden. Das Bundesamt für den Zivildienst, Zentralstelle kritisiert dies als „unverantwortlich“ und forderte das die jungen Männer für Einrichtungen ausbildet, die keinem die Bundesregierung auf, Zivis nur noch dann einzuberufen, der großen Wohlfahrtsverbände angehören, habe gar zwei Drit- wenn die vorgeschriebene Ausbildung für die jeweilige Tätigkeit tel ohne ausreichende Kenntnisse in den Einsatz geschickt. Die auch gewährleistet sei. Proteste zur WM ährend der Fußballweltmeisterschaft wollen die protestierenW den Studenten ihre Aktionen gegen JUSTIZ Druck aus den Ländern er Bundesrat könnte das in der Union D umstrittene Antidiskriminierungsgesetz empfindlich zurückstutzen. Der Rechtsaus- RAINER WALDINGER / DDP Studiengebühren verstärken. Die Anwesenheit internationaler Journalisten solle genutzt werden, den öffentlichen Druck auf Landesregierungen zu erhöhen, sagten Studierendenvertreter Mitte dieser Woche in Frankfurt am Main. Amin Benaissa vom bundesweiten „Aktionsbündnis gegen Studiengebühren“ kündigte „kreative Aktionen“ in mehreren WM-Austragungsstädten an. Ein Schwerpunkt soll in Hessen liegen, wo in den vergangenen Wochen bereits Straßen, Bahngleise und eine Autobahn blockiert worden waren. Wenig Gefahr besteht dagegen für die WM-Stadt Kaiserslautern – der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Kurt Beck (SPD) hat sich vehement gegen Studiengebühren ausgesprochen und einen bundesweiten „Aufschrei“ gegen die „soziale Selektion von Bildung“ gefordert. Seien sie erst mal eingeführt, könnten die Studiengebühren schon bald auf mehrere tausend Euro steigen, warnt Beck. Die von einigen Ländern angekündigten 500 Euro pro Semester seien „nur die Einstiegsdroge“. Studentenprotest auf der Marburger Stadtautobahn 18 d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 schuss der Länderkammer hat am vergangenen Mittwoch sechs der elf Änderungsanträge Baden-Württembergs angenommen, damit das sogenannte Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) weniger stark über die EU-Richtlinien hinausgeht. So hat sich eine Mehrheit der Ministerialen etwa gegen ein eigenes Klagerecht des Betriebsrats im Fall von Diskriminierungen am Arbeitsplatz ausgesproGoll chen. Viele Länder wollen überdies die im Zivilrecht über die EU-Vorgaben hinausgehenden Schutzmerkmale Religion, Weltanschauung, Alter, Behinderung und sexuelle Identität streichen. „Ich kann mir nicht mehr vorstellen, dass dieses Machwerk in unveränderter Form über die Ziellinie geht“, sagt der baden-württembergische Justizminister Ulrich Goll (FDP). Der Bundesrat müsse jetzt die Zeit bis zur nächsten Sitzung in zwei Wochen nutzen, um sich auf weitere Veränderungen zu einigen, „bislang haben wir bestenfalls die Hälfte des Wegs geschafft“. Das AGG ist zwar nicht zustimmungspflichtig, der Bundesrat kann jedoch den Vermittlungsausschuss anrufen und das Gesetzesvorhaben damit erheblich verzögern. MARKUS BENK / ACTION PRESS STUDIENGEBÜHREN Deutschland W egen massiven, rassistischen Mobbings sind zwei Angestellte der mehrheitlich landeseigenen Berliner Wasserbetriebe (BWB) fristlos entlassen worden. Nach Angaben eines BWBSprechers hätten die 39 und 47 Jahre alten Mitarbeiter der Kanalbetriebsstelle Wedding einen aus Polen stammenden Kollegen „über Jahre hinweg drangsaliert“, wobei die Attacken von „verbalen Entgleisungen“ bis hin zu „gezielten Erniedrigungen und Bedrohungen“ gereicht hätten. Rassistische Beschimpfun- K ATA S T R O P H E N S C H U T Z Gekürzter Etat D er Haushaltsausschuss des Bundestags will die Mittel für den Katastrophenschutz empfindlich zusammenstreichen und hat damit für Unmut im Bundesinnenministerium gesorgt. Das erst vor zwei Jahren gegründete Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe hat eine wichtige Funktion bei der Einschätzung der Sicherheitslage im Land, besonders im Hinblick auf Großereignisse. Im Informationssystem Denis werden Vorsorgemaßnahmen für Katastrophenfälle wie Massenpaniken oder Anschläge gesammelt und ausgewertet. Doch genau bei diesem B U N D E S TA G Boykott gegen „Bild“ ollektiv fernbleiben wollen die MitK glieder des Bundestagspräsidiums dem diesjährigen Sommerfest der „Bild“-Zeitung. Ein Besuch der vom Axel-Springer-Verlag bereits avisierten Party am Abend des 6. Juli auf der Dachterrasse des Berliner Axel-Springer-Hauses soll abgesagt werden – etwa mit dem Hinweis auf andere terminliche Verpflichtungen. Auf diesen Feierboykott verständigte sich das siebenköpfige Gremium informell während der Sitzung am vorigen Dienstag. Den Vorschlag zu der ungewöhnlichen Aktion hatten Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) Lammert d e r System wollen die Haushälter 2,5 Millionen Euro einsparen. Insgesamt muss das Bundesamt nach den Plänen der Parlamentarier mit 19 Millionen Euro weniger auskommen als im Vorjahr. JULIA HEINRICH / PICTURE-ALLIANCE / DPA Rassistisches Mobbing gen wie „Polensau“ oder „Unter Adolf Hitler würdest du hier nicht arbeiten“ seien seit fast sechs Jahren an der Tagesordnung gewesen. Die Entlassenen bestreiten die Vorwürfe und haben eine Kündigungsschutzklage vor dem Arbeitsgericht eingereicht, die Verhandlung ist für den 6. Juni angesetzt. Derweil bereitet der Rechtsanwalt des Opfers, Tomasz Kochanowski, eine Strafanzeige gegen die Männer und zwei weitere BWB-Mitarbeiter vor. Aus Sicht des Juristen erfüllen Sätze wie „Ihr seid kein Volk, man muss euch treiben oder vertreiben“, „Du hast deinen Namen von einem Grabstein“ oder „Polacke, von eurer Sippe werden sie auch wieder brennen“ den Straftatbestand der Volksverhetzung. Katastrophenschutzübung und dessen Stellvertreter Wolfgang Thierse (SPD) gemacht. Hintergrund der Partyverweigerung ist die Verärgerung der Politiker über die Berichterstattung des Boulevardblatts zu Diäten und Altersversorgung der Abgeordneten sowie zu Pannen bei einer Abstimmung im Parlament. Zur Begründung zitiert ein Präsidiumsmitglied den Schriftsteller Erich Kästner: „Nie dürft ihr so tief sinken, von dem Kakao, durch den man euch zieht, auch noch zu trinken.“ An der Sitzung nahmen neben Lammert und Thierse die weiteren Vizepräsidenten des Bundestags teil: Katrin Göring-Eckardt (Grüne), Gerda Hasselfeldt (CSU), Susanne Kastner (SPD), Petra Pau (Linke) und Hermann Otto Solms (FDP). s p i e g e l THOMAS IMO ÖFFENTLICHER DIENST 2 3 / 2 0 0 6 19 Panorama MICHAEL URBAN / DDP Deutschland Verweigerter Schutz D ie deutschen Spielbanken haben im Streit um den Schutz Spielsüchtiger einen fragwürdigen Schachzug unternommen: Die meisten Casinos nehmen bis auf weiteres keine Anträge von Süchtigen auf Selbstsperrung mehr an. Eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs (BGH) mache eine „Überarbeitung unserer Spielsperrpraxis“ nötig, so die durchgehende Begründung in den Ablehnungsschreiben. Ende 2005 hatte der BGH geurteilt, Truppen als Lückenfüller us Angst vor leeren Stadionrängen haben die vom Ticket-Chaos verA folgten Organisatoren der Fußballweltmeisterschaft versucht, Bundeswehrsoldaten als Lückenfüller anzufordern. Die Idee, Soldaten in Zivil zu Tausenden auf freie Sitze zu verteilen, wurde Verteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU) erstmals Mitte April während eines Besuchs beim Deutschen FußballBund in Frankfurt am Main vorgetragen. Jung war offenbar aufgeschlossen, denn er ließ den fragwürdigen Vorschlag ernsthaft prüfen. Um Randale am Spielfeldrand vorzubeugen, wollten die Organisatoren zudem die untersten Sitzreihen mit Sol- Militärkapelle 20 daten füllen. Die Militärführung beharrte aber darauf, dienstlich ins Stadion befohlene Truppen müssten Uniform tragen. Das wiederum wollte die Fifa nicht. Die Vorderreihen sollen nun andere „vertrauenswürdige Personen“ wie Hilfskräfte und Funktionäre besetzen. Die Fifa lehnte sogar ab, Bundeswehrmusiker die Nationalhymnen spielen zu lassen. Die Lückenfüller-Idee wurde indes erst kurzfristig verworfen: Das Organisationskomitee teilte dem Wehrressort vor wenigen Tagen per E-Mail mit, es bestehe nun doch kein Bedarf mehr für Truppen in Zivil. Die gewünschten „zusätzlichen Unterstützungsleistungen“ der Bundeswehr, besagt ein interner Vermerk des Ministeriums vom vergangenen Mittwoch, seien mithin „nicht mehr erforderlich“. BONN-SEQUENZ / IMAGO W E LT M E I S T E R S C H A F T dass Casinos auch in Automatenspielsälen zumindest an ihren Scheckkartenschaltern die Personalien kontrollieren müssen, um gesperrte Süchtige zu schützen; unterbleibt die Kontrolle, könnten die Gesperrten verlorene Einsätze zurückverlangen. Kontrollen an den Eingängen, wie beim „Großen Spiel“ an Roulette-Tischen, werden für die Automatensäle in den meisten Bundesländern immer noch abgelehnt. Ein Sprecher der Spielbanken-Interessengemeinschaft sagte, man arbeite an einer „Lösung, die den Schutz der Spieler gewährleistet“; danach würden Casinos aber nicht für verspielte Einsätze aufkommen, wenn Süchtige trotz Sperre spielten. Der Fachverband Glücksspielsucht sieht darin eine „grobe Missachtung“ des BGH. d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 Nachgefragt Gemischte Gefühle In Deutschland beginnt nächste Woche die Fußballweltmeisterschaft. Freuen Sie sich auf dieses Ereignis? CH R I STO F KO EPS EL / GE T TY I MAG ES GLÜCKSSPIEL FRAUEN MÄNNER JA 48 63 NEIN 41 25 55 % 34 % TNS Infratest für den SPIEGEL vom 29. und 30. Mai; rund 1000 Befragte; an 100 fehlende Prozent: „weiß nicht“/ keine Angabe EVAN VUCCI / AP Deutschland Gesprächspartner Steinmeier, Rice in Washington, Militärparade in Teheran: Letzte Ausrede beseitigt AU S S E N P OL I T I K Offerte aus dem Weißen Haus Monatelang drängten die Kanzlerin und ihr Außenminister, nun erklärte sich US-Präsident Bush bereit, den Verhandlungen mit Teheran über den Atomkonflikt beizutreten. Washingtons Angebot markiert die Endrunde der Gespräche: Bleibt Teheran stur, wird es Sanktionen geben. V on weitem sah es aus wie der Paarungstanz von Igeln: Sie wollten wohl, aber trauten sich nicht. Monatelang hatten behutsamste diplomatische Schritte erste direkte Gespräche zwischen zwei Gegnern ermöglichen sollen, die sich 27 Jahre nichts zu sagen gehabt hatten: Die USA wollten von Angesicht zu Angesicht mit einem Vertreter der Islamischen Republik Iran über den Irak verhandeln, eine Weltregion beiderseitigen Interesses bei durchaus konträrer Interessenlage. Teheran schien auch gesprächsbereit, doch dann reiste Außenminister Manutscher Mottaki nach Bagdad – und sagte die Kontakte zu den Amerikanern ab. Ende der vorsichtigen Annäherung? Keineswegs. Nur wenige Tage später, Mottaki war inzwischen über Indonesien nach Malaysia weitergereist, eine neue Wende: Teheran wäre bereit, so der Außenminister, mit den Amerikanern über alles zu sprechen, auch über die iranische Urananreicherung, allerdings nur, wenn Washington keine Vorbedingungen stelle. 22 Er hatte noch nicht ganz ausgeredet, als US-Außenamtssprecher Sean McCormack den Vorschlag schon abschmetterte: „Das haben wir schon oft gehört, ein alter Hut.“ Die Ablehnung hatte nicht einmal für 24 Stunden Bestand. Vorigen Mittwoch waren es die Amerikaner, die ihrerseits eine unerwartete Gesprächsofferte machten. Im prunkvollen Benjamin-Franklin-Saal des Washingtoner Außenministeriums quälte sich Condoleezza Rice durch einen Text, der ihr noch nicht so recht von den Lippen wollte. Die USA würden sich den Verhandlungen der europäischen Mächte mit Teheran anschließen, erklärte die Außenministerin, falls der Gottesstaat seine Urananreicherung einstelle. Auch umfassende Gespräche über Handels-, Reise-, Kulturund Finanzbeziehungen seien dann nicht mehr ausgeschlossen. Und damit das Ganze einen förmlichen Anstrich erhielt, bestellte Ministerin Rice den Schweizer Botschafter ein, den traditionellen Mittler zwischen den sprachlosen Antagonisten. Sie bat ihn, das Angebot nach Teheran zu übermitteln. d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 Genau darauf hatte die Welt gehofft und gewartet. „Die direkte Teilnahme der Amerikaner wäre das stärkste und positivste Signal für unseren gemeinsamen Wunsch, eine Einigung mit Iran zu finden“, sagte der EU-Außenbeauftragte Javier Solana. Drei Jahre lang hatten Diplomaten aus Berlin, London und Paris mit ihren Kollegen aus Teheran verhandelt, um eine schwelende Weltkrise beizulegen. Um fast jeden Preis wollte die internationale Gemeinschaft verhindern, dass Iran zur Atommacht wird. Doch die Gespräche blieben ergebnislos. Zwar bestritten Teherans Politiker – zuletzt Präsident Mahmud Ahmadinedschad im SPIEGEL-Gespräch –, dass Iran an eine militärische Nutzung der Urananreicherung denke, aber ebenso häufig wurden die persischen Nukleartechniker beim Schwindeln ertappt. So schien der Konflikt zwischen einem halsstarrigen Iran und machtlosen Europäern Schritt für Schritt auf eine neue militärische Auseinandersetzung im Nahen Osten zuzusteuern. Denn im Hintergrund hatten die USA – JAVAD MONTAZERI sucht hatte. Auch Merkel hatte immer wieder insistiert, dass eine direkte amerikanische Beteiligung am Ende notwendig sei. Anders lasse sich der Konflikt vermutlich nicht lösen. Zuletzt hatte sie ihr Ceterum censeo beim Washington-Besuch am 4. Mai vorgetragen. Anschließend sprachen Merkel und Steinmeier ab, mit welchen Ländern sie zur Werbung für eine diplomatische Lösung sonst noch sprechen müssten. Steinmeier drängte die arabischen Golfanrainer, selbst in Teheran vorstellig zu werden. Bei den Europäern fragten Kanzlerin und Außenminister ab, wer welche Sanktionen gegen Iran zu tragen bereit wäre, die Russen und Chinesen mahnten sie, mehr Verantwortung für einen diplomatischen Erfolg zu übernehmen. In den letzten Tagen registrierten die und Israel – stets betont, dass es für die Lösung dieses Konflikts auch eine mili- Deutschen dann Bewegung auf amerikanischer Seite. Auf seiner Reise an den tärische Option gebe. Nun endlich verleihe die Botschaft aus Persischen Golf wollte Steinmeier vorverWashington, freute sich der Berliner gangenen Sonntag in der omanischen HaAußenminister Frank-Walter Steinmeier, fenstadt Salala nach einem Gespräch mit den diplomatischen Bemühungen „wirk- dem Sultan ins Flugzeug steigen, als Rice lich Substanz und Glaubwürdigkeit“. Jetzt ihn anrief. Steinmeier blieb im Auto und sehe er „ein Fenster geöffnet, in dem eine erläuterte der Amerikanerin zehn Minuten lang die deutschen Ideen für die nächsLösung gefunden werden“ könne. Im Berliner Auswärtigen Amt war die ten Schritte in der Iran-Frage. Vier Tage später, der Deutsche war geStimmung am Mittwochabend so gelöst wie lange nicht. An den Verhandlungen mit rade von seiner Reise heimgekehrt, war Iran beteiligte Diplomaten gratulierten sich wieder Rice in der Leitung. Sie treffe sich gegenseitig zu dem Erfolg, die Amerikaner am Wochenende mit Präsident Bush in endlich in die Verantwortung gezogen zu dessen Residenz in Camp David und haben. In den vergangenen Wochen war wollte noch mal den neuesten Stand erim Auswärtigen Amt die Sorge gewachsen, fahren. Am Dienstag dann meldete Rice den Erdass die Initiative der drei Europäer zwischen den auf Härte drängenden Amerika- folg des Wochenend-Konklaves. Bush rief nern und den widerstrebenden Chinesen beinahe zeitgleich bei Merkel an und inund Russen zerrieben werden könnte. Da- formierte sie, dass gleich eine Erklärung mit wären diplomatische Lösungen bis auf der US-Regierung fertiggestellt werde. Nach dem ersten Triumph sehen manweiteres diskreditiert gewesen. „Wenn die Europäer allein geblieben wären“, so ein che in der Bundesregierung die Kehrtwende Washingtons jedoch AA-Mann, „hätte das auch auch mit gemischten Geeine Katastrophe werden fühlen. Denn das Angebot können.“ stellt die letzte realistische Jetzt schaltete Berlin von Option auf eine diplomaDepression auf Optimismus tische Lösung dar. „Wenn um. In der Regierung werIran das blockiert“, so ein teten die ersten Beamten Berliner Insider, „kann die das amerikanische EinlenStimmung ganz schnell ken sogar als Erfolg der kippen.“ Großen Koalition. Denn die Das könnte den DeutChristdemokratin Angela schen schwierige Debatten Merkel und der Sozialdebescheren. In den Beratunmokrat Steinmeier hätten gen mit den Amerikanern nicht lockergelassen, seit haben sich Merkel und der Außenminister am 3. Steinmeier intern wiederApril das Weiße Haus be- SPIEGEL-Titel 22/2006 d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 holt bereiterklärt, notfalls auch härtere Maßnahmen der Weltgemeinschaft mitzutragen – bis hin zu Sanktionen. Falls Iran das Angebot der Amerikaner nicht annimmt, schlüge für Berlin die Stunde der Wahrheit. Erste Reaktionen aus Teheran ließen nichts Gutes befürchten. Nicht jeder Politiker hatte die neuen Töne aus Washington als Kurswende begriffen. Erdölminister Kasem Wasiri Hamaneh beteuerte, Iran werde mit den USA „niemals verhandeln“. Allen westlichen Allianzpartnern ist klar, dass Bush weniger aus Überzeugung, sondern vielmehr aus Not den Kurs geändert hat. Die Einigkeit der Veto-Mächte im Sicherheitsrat war mit den ersten matten Aufforderungen an Iran bereits erschöpft, eine Mehrheit für harte Sanktionen nicht in Sicht. Spätestens als Bush mit 85 Millionen Dollar für die iranische Opposition auch noch ganz offen auf einen Sturz des Regimes in Teheran setzte, ließ sich der Schein einer weltweiten gemeinsamen Haltung gegenüber Iran nicht mehr glaubwürdig fortsetzen. Nun machten die Europäer Druck. Die Fraktion, die nach Amerikas ausgestreckter Hand, nicht nach der geballten Faust verlangte, wurde jeden Tag größer. „Unser Unwillen, sich an den Gesprächen mit Teheran zu beteiligen, wird andere Staaten zögern lassen, harte Maßnahmen zu unterstützen“, mahnte bereits der republikanische Senator Chuck Hagel. Selbst Henry Kissinger plädierte für Gespräche. Bushs Kehrtwende, so hoffen die USDiplomaten, macht den Weg frei für das diplomatische Endspiel. Lenkt Teheran ein, öffnet sich die Tür für eine Normalisierung der Beziehungen. Der Deal mit Libyens Diktator Muammar al-Gaddafi gilt als Vorbild. Taktieren die Mullahs aber weiter, beginnt das Sanktionsregime. Weitere Diskussionen, machte Rice vergangenen Mittwoch klar, werde es nun nicht mehr geben – auch „die letzte Ausrede“ Irans sei jetzt beseitigt. Nicht nur auf eingefrorene Konten und Reisesperren für Funktionäre will das Weiße Haus dann drängen, sondern vor allem auf eine mächtige Allianz des Westens gegen die iranische Wirtschaft. Schon tauchen in Washington Listen auf, welche die Namen regimenaher iranischer Firmen und Personen verzeichnen. In aller Welt sollen Konzerne gedrängt werden, mit den Geächteten lieber keine Geschäfte mehr zu machen. Wo Einsicht nicht hilft, will die US-Regierung mit einem deutlichen Wink auf schlechte PR und mögliche Konsequenzen für das Geschäft in den USA nachhelfen. Vier große europäische Banken, darunter UBS und Credit Suisse in der Schweiz, sollen ihre Geschäftsbeziehungen mit Teheran schon eingeschränkt haben. Ralf Beste, Hans Hoyng, Georg Mascolo, Ralf Neukirch 23 Deutschland REGIERUNG Die Profilneurotiker MIGUEL VILLAGRAN / DPA In der Großen Koalition wird mehr vertagt als gehandelt. Wieder taucht ein Wort auf, das die Deutschen schon seit zehn Jahren begleitet und bedrückt: Blockade. Kanzlerin Merkel, Berater*: Die Politik richtet sich wieder ein in den alten Ritualen A ls Gerhard Schröder Anfang der Woche in Berlin weilte, konnte er sich sofort heimisch fühlen. SPD und CDU gifteten einander an, die Ministerpräsidenten der Union knabberten an der Macht von Angela Merkel, und einige Zeitungen beklagten mangelnden Reformwillen. Es war alles so wie in Schröders letzten Amtsjahren. Womöglich ist die Zeit stehengeblieben, und ich bin immer noch Kanzler, mag er gedacht haben. Womit erklärt wäre, warum er gleich so forsche Vorschläge zur Außenpolitik gemacht hat. Damit sah die deutsche Politik endgültig aus wie in der Ära Schröder. Verflogen ist jeder Gedanke daran, dass mit der Großen Koalition ein neues Zeitalter beginnt. Nach einem kurzen Frühling mit Angela Merkel hat nach nur einem halben Jahr die Restauration eingesetzt. Die Politik richtet sich wieder ein in den alten Ritualen. Die offizielle Große Koalition dieser Tage ist * Mitglieder des Rats für Innovation und Wachstum am 24. Mai im Kanzleramt. 24 nur ein Abbild der informellen Großen Koalition der vergangenen Jahre. Auch die Überschrift ist die gleiche: Blockade. Es ist die deutsche Überschrift seit mindestens zehn Jahren. Denn auch der späte Kohl war eine Große Koalition mit sich selbst. Er hat das Sozialdemokratische immer mitgedacht und sich im Selbstdialog das entschiedene Regieren wegverhandelt. Dafür gibt es heute den Koalitionsausschuss. Am Sonntag hat er getagt, und vereint waren die Spitzen von Union und SPD nur in der Sorge, Deutschland könne schon im Achtelfinale auf England treffen. Ansonsten herrschte das Gleichgewicht des Schreckens. Man stichelte, vermied aber die große Konfrontation. Doch ohne Konfrontation ist keine Entscheidung möglich. Alle Antworten auf die drängenden Fragen des Landes wurden vertagt. Deutschland muss warten. Bis zur Sommerpause soll es einen Entwurf zur Gesundheitsreform geben. Für den Herbst wird eine Reform von Hartz IV angekündigt. Es kann auch jeweils später werden. d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 In der Ära der knappen Kassen ist Zeit das letzte Gut, von dem die Politiker glauben, dass sie verschwenderisch damit umgehen können. Mit Zeit wird der Schein von Harmonie erkauft. Wer erst morgen entscheidet, kann sich heute noch unangefochten als Kanzlerin oder Minister genießen. So wird mit dem Versprechen von künftigem Regieren Zeit fürs Nicht-Regieren gesichert. Aber manchmal gelten auch die banalsten Sätze: Zeit ist Geld. Jeder regierungsfreie Tag ist ein Tag der wachsenden Ausgaben für Gesundheit und Arbeitslosengeld II. Das jedoch spielt momentan keine große Rolle. In der Großen Koaliton herrscht eine merkwürdige Zeitumkehrung: Wir regieren morgen, denn heute machen wir Wahlkampf. Das gilt sonst gegen Ende einer Legislaturperiode. Die Große Koalition fängt damit an, aus zwei Gründen: Da klar ist, dass man höchstens eine Legislaturperiode zusammenbleiben will, sieht man im anderen eher den Gegner als den Partner und versucht, sich jetzt schon abzugrenzen. Da nicht klar Euro eingespart“, so der SPD-Unterhändler Karl Lauterbach zu Vertrauten. Die Pläne könnten „eher Geld kosten als Geld sparen“, heißt es bei den Krankenkassen. Nun bleibt der Großen Koalition nur ein Ausweg. Um das Kassensystem zu sanieren, muss zusätzliches Geld bei Bürgern und Betrieben eingesammelt werden. Man streitet noch, wer wie viel zahlen soll. Man streitet noch heftiger über das Harzt-IV-Gesetz. Weil die Zahl der Bezieher von Arbeitslosengeld II seit Jahres- jetzt. Es ist ein merkwürdiger Wahlkampf, der gerade abläuft. Es ist nicht die offene Schlacht wie sonst. Es gilt, den Schein weitgehender Harmonie zu wahren. Deshalb hat man Politik selten so verdruckst, so scheinheilig und hinterhältig erlebt. Das merkt man besonders am Umgang mit der Vergangenheit. Neue Politik entsteht aus der Kritik des Alten. Das Alte, also die Politik von Rot-Grün, darf aber nicht offen kritisiert werden, weil die SPD an der Macht ist und damit Macht über Ge- TIM BRAKEMEIER / PICTURE-ALLIANCE/ DPA ist, wie lange das äußerst heikle Bündnis hält, muss man für einen vorzeitigen Wahltermin gerüstet sein. Das ist nichts anderes als permanenter Wahlkampf, also permanente Verantwortungslosigkeit. Jeder kümmert sich um sich, nicht um das große Ganze. Wahlkampf ist Profilierung. Im Wahlkampf krümmen sich die Parteien zurück auf sich selbst. Sie wollen sich abgrenzen. Deshalb ist der verfrühte Wahlkampfmodus Naturgesetz dieser Großen Koalition und zugleich Begründung eines möglichen Scheiterns. Zwei Profilneurotiker können kaum zu großen gemeinsamen Entscheidungen kommen. Jeder kann nur akzeptieren, was mit dem eigenen überscharfen Profil vereinbar ist. Da bleibt nicht viel. So schafft die Große Koalition eine eigene Kategorie von Politik: Wundertütenpolitik. Familienministerin Ursula von der Leyen wollte ein einjähriges Elterngeld einführen, damit berufstätige Frauen mehr Kinder kriegen. Aus diesem klaren Konzept wurde im Profilierungsverfahren zwischen CDU, CSU und SPD ein kleines Monster, das familien- und sozialpolitische Aspekte vermischt. Es wurde ein Gesetz, das niemand gewollt und alle überrascht hat. Wie in einer Wundertüte ist viel drin, aber nix, was man wirklich brauchen kann. Wahrscheinlich wird das Gesetz keine der erhofften Wirkungen erzielen. Ein Wundertüten-Ende droht auch der Gesundheitsreform. Das „Bohren dicker Bretter“ stellte Merkel in Aussicht. Eine „Reform, die eineinhalb Jahrzehnte trägt“, versprach SPD-Chef Kurt Beck. Wenn das Vorhaben nicht gelinge, kündigte SPDFraktionschef Peter Struck an, „haben wir es nicht verdient, weiter zu regieren“. Vergangene Woche legte eine KoalitionsAG erste Ergebnisse ihrer wochenlangen Geheimgespräche vor – und bestätigte die schlimmsten Befürchtungen. Von den verheißenen Strukturreformen ist kaum etwas zu sehen, stattdessen wird nach dem Profilneurosenprinzip an Symptomen kuriert. Die Union wehrte sich gegen Einschnitte bei Ärzten, Pharmaherstellern, Privatversicherten, die SPD gegen mehr Selbstbeteiligung für die Patienten. Jeder schützte die eigene Wählerschaft. Ein schlüssiges Sparkonzept wurde gar nicht erst entwickelt, umso liebevoller widmeten sich die Parteivertreter der Aufgabe, die Vorhaben des Koalitionspartners zu torpedieren. Nun soll der Anstieg der Arzneipreise ein wenig gedrosselt und die Zahl der Krankenkassenverbände reduziert werden. Weiter will die Koalition die Honorarbudgets der Ärzte aufheben, mit denen heute ein allzu starker Kostenanstieg verhindert wird. Wie dieses widersprüchliche Klein-Klein zweistellige Milliardenbeträge einsammeln soll, die der gesetzlichen Krankenversicherung in dieser Legislaturperiode fehlen, ist selbst koalitionsfreundlichen Experten unerfindlich. „Wir haben bisher nicht einen Sozialdemokraten Müntefering, Beck: Rüsten für einen vorzeitigen Wahlkampf anfang stark gestiegen ist, sehen einige Finanzpolitiker die Bundesetats für dieses und das kommende Jahr in Gefahr. Sofort beharkten sich Politiker von Union und SPD tagelang, als gehörten sie unterschiedlichen Regierungen an. Während Ministerpräsidenten wie Edmund Stoiber (CSU) und Jürgen Rüttgers (CDU) eine „Generalrevision“ von Hartz IV forderten, wollten die zuständigen SPD-Parlamentarier allenfalls „Feinjustierungen“ zugestehen. Die Vorschläge der Union seien nichts anderes als „ein Tarnmantel für Sozialabbau“, sagte der SPD-Fraktionsvize Ludwig Stiegler. „Und dafür stehen wir nicht zur Verfügung.“ Das war der Klang einer alten Zeit, der Klang von Grabenkriegen zwischen zwei Lagern. Dieser Klang ist wieder aktuell. Am Ende einigten sich die Koalitionäre darauf, dass man sich nicht einigen kann. Alle prinzipiellen Fragen wurden auf den Herbst vertagt. Doch dieser Wahlkampf endet so bald nicht. Im Herbst wird es genauso schwierig sein, sich zu einigen, wie d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 schichtsdeutung reklamiert. Also ist Hartz IV kein Desaster. Also werden die seltsamen Aktionen des Bundesnachrichtendienstes keine scharfe Untersuchung erfahren, zumal sie bis in die Ära Kohl zurückreichen. Es ist alles in Watte gepackt. Selten wurde im Bundestag über so viele Stunden so viel süßliches Zeug geredet. Da lobt einer den anderen, man liegt einander selig in den Armen, als wäre dies ein immerwährender Vatertagsausflug. Die Opposition ist auf mickrige Redezeit beschränkt und wirkt angesichts der großen Verbrüderung wie ein Störenfried. Aber die Abwesenheit des großen Streits stärkt nicht die Würde des Hohen Hauses. Im Gegenteil, der Bundestag wirkt in diesen Tagen wie ein Volkstheater, das beharrlich und wider die Realität Geschichten vom Glück aufführt. In Wahrheit haben beide Lager längst Strategien entwickelt, wie man den anderen unterhalb der Atomschwelle bekriegen kann. Dies ist, wie schon beim Gleichgewicht des Schreckens zwischen den USA 25 Deutschland RAINER WEISFLOG FALK ORTH / EPD OLIVER KILLIG / DPA und der Sowjetunion, die Stunde Ihm gefiel das auch, weil Schröder der Stellvertreter, der Kleinen. Die eher schludrig war bei den Akten. schlagen aufeinander ein, die jungen In der zurückliegenden Woche hat Generalsekretäre Hubertus Heil ein anderer Sozialdemokrat aus ihrer (SPD) oder Markus Söder (CSU), die Umgebung die Aktengeschichte ganz beide dem Leichtmatrosenanzug anders erzählt. Merkel lese jede noch nicht entwachsen sind. Sie könAkte, sie lese viel zu viele Akten, nen zündeln, aber nicht sprengen. sei viel zu detailverliebt, und wenn Deshalb auch wirkt die Politik so sie mit Ulla Schmidt anfange, über mittelmäßig. Die großen Spieler sind Gesundheitspolitik zu diskutieren, in wichtigen Fragen aus dem Spiel gingen bei allen anderen nach einer genommen. Kanzlerin Angela MerViertelstunde die Schotten runter. kel und Vizekanzler Franz MünteDer Sozialdemokrat, den ihr Wisfering können sich zu heiklen Punksen nervt, will Führung sehen. Daten allenfalls verschlungen äußern, mit meint er, dass sich Merkel geweil ihre Worte jederzeit das Zeug Streitthema Arbeitsmarkt*: Klang von Grabenkriegen genüber den Ministerpräsidenten zum Sprengstoff haben. Das führt der Union durchsetze und nicht aldazu, dass sich die Parteien über les mit denen abstimme. Für ChristHintermänner profilieren, während demokraten heißt Führung, dass die Spitzenleute an Profil einbüßen. Merkel die SPD kleinhalten soll. Damit stellt sich sofort die MachtSie müsste Ministerpräsidenten frage. Die Ministerpräsidenten der und Sozialdemokraten kleinhalten, CDU sehen jetzt die Chance für ihr damit sie nicht als führungsschwach Comeback als Stänkerer. „In einer gilt. Sie müsste eine Riesin sein, um Großen Koalition stehen auch geradas zu schaffen. Deutschland wird de die Ministerpräsidenten für das sich auf eine Diskussion um die Profil der Union“, freut sich ChrisFührungskraft der Kanzlerin eintian Wulff aus Niedersachsen. Er stellen müssen. und seine Kollegen sagen das, was Bislang lässt sie es mit der Merkel nicht sagen kann, und werFührung und versucht sich mit Moden damit zu den Hütern der christderation. Moderation ist die Verdemokratischen Werte. mittlung zwischen Parteien unter Günther Oettinger aus Baden- Streitthema Familie: Profil per Wundertütenpolitik Verzicht auf eine eigene starke PosiWürttemberg verlangt von Merkel, tion. Wenn sie dabei bleibt, wird sie beim Umbau des Arbeitsmarkts und zur Enttäuschung für alle, die sie der Gesundheitsreform nicht vor der gewählt haben, damit sie struktuSPD einzuknicken. „Die ordnungsrelle Reformen anpackt. politischen Grundüberzeugungen Eine Große Koalition ist demoder Union müssen erkennbar bleikratietheoretisch ein Problem, weil ben.“ So heizt er vor für die komdie Machtfülle ein Problem werden menden Machtkämpfe in der Union. könnte. In der Praxis droht nun das Für Angela Merkel setzt der VerGegenteil. Die Macht der Volkspardruss über die Große Koalition zu teien addiert sich nicht, sie hebt sich früh ein. Ihr Schicksal ist mit dem auf. Damit wäre die Große Koalides Bündnisses verknüpft, zumindest tion überflüssig. in dieser frühen Phase. Scheitert die Angela Merkel hat nur eine Koalition mit der SPD schon nach Chance. Sie muss es hinbekommen, ein paar Monaten, scheitert sie als dass sich ihre Regierung ein Stück Kanzlerin und damit als Politikerin weit von den Parteien löst. Sie muss insgesamt. Die CDU wird ihr keinen Streitthema Gesundheit*: Vorheizen für die Machtkämpfe einen Korpsgeist schaffen, der Gezweiten Versuch einräumen. meinsamkeiten unter den RegieSie hat im Ausland eine gute Figur ge- die Deutschen zusammen. Wer diese Reisen renden sucht und nicht zur jeweils eigenen macht. Sie hat dieses Land daran erinnert, mitgemacht hat, kennt die Entspanntheit Partei. Die Regierung muss sich gegen die dass zur deutschen Staatsräson gehört, für der Politiker dort. Alle sind erhöht, weil sie Parteien profilieren, jeder muss bereit sein, Menschenrechte einzutreten. Es ging ihr die Bundesrepublik vertreten. Das Verknif- der eigenen Klientel etwas zuzumuten, nicht nur darum, deutsche Waren an den fene, Kleinliche des Parteienhaders ist weit, und man darf nicht im einzelnen Gesetz Mann zu bringen. In China und Russland hat weit weg. Merkel ging nicht durch Peking, aufrechnen, wer was durchgesetzt hat, sonsie Leute getroffen, die nicht Freunde des je- Moskau, Washington, sie schwebte. dern höchstens im Großen und Ganzen. Deshalb sagen diese Auftritte wenig über Nur so kann man regieren. weiligen Regimes sind, und eine Beeinträchtigung der Auftragslage in Kauf ge- ihre Fähigkeiten, dieses Land zu regieren. Das ist weder originell noch leicht zu nommen. Das war von einer Souveränität, Bislang gab es eine Stimmung für Merkel. haben, es ist einfach nötig. Sie muss es hinSie dreht sich gerade. die Schröder hat vermissen lassen. kriegen, sonst ist sie keine gute Kanzlerin. Vor zwei Monaten hat ein SozialdemoAber Außenpolitik ist ein anderes Spiel. Bislang sieht es so aus, als hätte Joschka Der Auftritt im Ausland hat Reste einer krat aus ihrer Umgebung erzählt, wie Fischer recht mit seiner Beobachtung: monarchischen Herrlichkeit. Auf Reisen hat gründlich Merkel Akten liest. Es war eine Für ihn sehe die Große Koalition so aus, jeder Kanzler die unbestrittene Richtlinien- positive Geschichte. Er war beeindruckt. als wollten Elefant und Nilpferd Nachkompetenz. Er ist begleitet von einer gutwuchs zeugen, und das sei eben unmögwilligen Entourage, der es vor allem darum * Oben: Gebäudereiniger in Dresden; unten: Herzopera- lich. Dirk Kurbjuweit; Roland Nelles, René Pfister, Michael Sauga geht, Einigkeit zu zeigen. Im Ausland halten tion in Cottbus. 26 d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 Deutschland LANDWIRTSCHAFT Geld für die Großen Europas Agrarpolitik hält nicht, was sie verspricht: Die Milliardenhilfen aus Brüssel kommen vor allem Gutsherren, Fleischfabriken und Lebensmittel-Multis zugute. Für Kleinbauern oder gar Naturschutz bleibt wenig übrig. Jetzt soll immerhin Licht ins Subventionsdickicht gebracht werden. 28 JENS KOEHLER / IMAGO D as Paradies liegt im Schwarzwald. Nicht weit von Triberg, wo „Deutschlands höchste Wasserfälle“ sowie bunte Kuckucksuhren die Touristen locken, endet ein schmales Sträßchen in einem stillen Hochtal. Die Sonne strahlt auf ein großes, dunkles Holzhaus. „Im Paradies 1“ steht auf einem Emailleschild an der Hauswand. Hier wohnt das Ehepaar Ruf. Und mittendrin in seinem Paradies steht der Stall – wie es sich im Schwarzwald seit Jahrhunderten gehört. Hier teilt Sabina Ruf, 44, zehn Kühen, zwei Kälbern und dem Bullen mit kräftigen Gabelschwüngen Heu zu: „Handgemäht und handgerecht“, so wollen es die Vorschriften zur „Erhaltung und Pflege der Kulturlandschaft“, die auch festlegen, wann die Rufs mähen und wie viele Tiere sie auf ihren 30 Hektar halten dürfen. Allerdings heißen ihre Kühe im Amtsblatt „raufutterfressende Großvieheinheiten“. Die Idylle ist genauestens kartografiert. Fürs Mähen und fürs Streuobst, fürs sparsame Düngen und den Nachweis von mindestens vier Wildblumenarten auf den Wiesen bekommen die Rufs Punkte. Für jeden Punkt zahlt der Staat zehn Euro, weil kleinbäuerliche Betriebe schließlich „einen segensreichen Dienst zum Erhalt unserer Kulturlandschaft“ leisten, wie CSU-Landwirtschaftsminister Horst Seehofer bei jeder Gelegenheit sagt. Am Ende der Formularprozedur erhalten die Rufs 11 100 Euro – fürs komplette Jahr. Das sei im Vergleich zu anderen Höfen sogar viel, aber zum Leben noch immer zu wenig. Mitsamt zweier gutgebuchter Ferienwohnungen bringt der Betrieb keine 20 000 Euro im Jahr – Umsatz, nicht Gewinn. Leben müssen sie deshalb von Erhard Rufs Hauptjob: Jeden Tag geht er als Mechaniker acht Stunden in die Fabrik. Wie die Rufs kriegt fast jeder in Europa, der mit Kühen oder Rüben, Weizen oder Wein zu tun hat, Zuschüsse aus öffentlichen Kassen. Mit diesem Geld werde „eine ständige Versorgung mit hochwertigen und sicheren Lebensmitteln garantiert“, formuliert EU-Landwirtschaftskommissarin Mariann Fischer Boel das Credo der Agrarpolitikerzunft. Außerdem werde damit der „Umwelt- und Tierschutz gewährleistet“ und eine Landschaft erhalten, „die den Europäern so ans Herz gewachsen ist“. Getreidefelder bei Samtens (auf Rügen) So verkünden es die Politiker, Bauernfunktionäre und EU-Kommissare. So begründen sie allesamt, dass Milliarden aus der Brüsseler EU-Kasse und viele weitere Milliarden Euro aus den nationalen Steuersäckeln nahezu alles subventionieren, was das Etikett „Landwirtschaft“ trägt. Doch die grüne Logik stimmte nie. Gammelfleisch-, Hormon- und Pestizidskandale widerlegen die Qualitätsgarantie in alarmierender Regelmäßigkeit. In vielen Gebieten ist die Landwirtschaft mit Massenviehhaltung, Düngemittel- und Pestizid-Exzessen heute einer der Hauptumweltsünder, der mit der Heidi-Romantik irgendwelcher Verbraucher- oder Tourismusmessen nie zusammenpasst. Jedes Jahr geben trotz Agrarmilliarden Zigtausende kleiner Bauern auf. Die Landschaften verkommen nicht trotz, sondern wegen der Beihilfen zu Monokulturen. Das Gros der Subventionen fließt auch gar d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 nicht in bäuerliche Familienbetriebe, sondern an Großgrundbesitzer, Agrarfabriken und Lebensmittel-Multis. Nun heißt groß nicht immer schlecht, und Kleinbetriebe stehen nicht unbedingt für biologisch-dynamische Idylle. Aber die Realität der EU-Agrarpolitik hat mit den hehren Worten, die ihre Akteure ständig im Munde führen, kaum etwas zu tun. Auch deshalb hüten vor allem die großen Agrarstaaten wie Frankreich oder Deutschland bislang kaum etwas so eifersüchtig wie die genauen Zahlen, wer wie viel aus den Brüsseler Trögen bekommt. Großbritannien machte jüngst den Anfang in puncto neuer Offenheit. Dort kann man nun nachlesen, dass selbst die Queen dank riesiger Ländereien zu den großen Profiteuren des EU-Geldsegens zählt – wie auch der Rest des britischen Adels. Oder dass allein die Zuckerfirma Tate & Lyle rund 300 Millionen Euro bekommt. Löwenanteil Landwirtschaft d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 HENNING SCHACHT / ACTION PRESS Wenn es nach dem EU-Verwaltungs- 23 000 Rinder, 2,3 Millionen Euro Subvenkommissar Siim Kallas geht, dann wird die- tionen. Für jeden der 142 Jobs dort gibt es se neue Transparenz bald auf ganz Europa umgerechnet 30 000 Euro EU-Zuschuss. Oder das gigantische Agrarunternehmen ausgedehnt (siehe Interview Seite 32). Lautstark fordert der Este, die Empfänger Barnstädt eG: 6400 Hektar ehemaliges der Agrarbeihilfen in allen Ländern öf- LPG-Land, 23 000 Schweine, 3200 Rinder, fentlich zu benennen. „Wer die Verwen- 1100 Milchkühe – 2,4 Millionen Euro Beidung der EU-Gelder geheim hält, fördert hilfen. Das macht 13 300 Euro Zuschuss für doch nur Spekulationen“, argumentiert er. jeden der 180 Angestellten. Genossenschaftsboss Ralf Hägele ist soDie Konter aus Deutschland ließen nicht lange auf sich warten: Solche Veröffent- gar für eine Veröffentlichung der Zahlenlichungen führten nur zu neuen Neid-De- Liste, „weil sie Transparenz schafft, wo batten, brummte die Bauern-Posaune See- Einkommenssicherung in ländlichen Gehofer. Mal wurde der Datenschutz ins Feld bieten stattfindet und wo Subvention von geführt, mal der Föderalismus; schließlich Flächen“. Es sind Mosaiksteinchen eines großen wisse man gar nicht, was die Bundesländer da verteilten, bei denen das Geld ja direkt Tableaus, das am Ende zeigen würde: Je größer das Unternehmen, umso mehr beankomme. Doch selbst Peter Schaar, Deutschlands kommt es. Über 80 Prozent der deutschen oberster Datenschutzbeauftragter, hält die Bauern, die Masse der Kleinen, müssen Publikation der Informationen „auf jeden sich ein Drittel der EU-Beihilfen teilen. Im Fall für wünschenswert. Die Öffentlichkeit Durchschnitt macht das etwa 5300 Euro im muss erfahren, welche Unternehmen staat- Jahr für jeden Hof. 30 Prozent aller EUliche Zuschüsse erhalten“. Die gesetzlichen Prämien für Scholle, Stall und Wiese gehen Voraussetzungen „müssten geschaffen wer- dagegen an jene nur 1,4 Prozent der Großden“. Ganz einfach. Und Marita Wiggert- bauern und ehemaligen Landwirtschaftlihale von der Organisation Oxfam, die das chen Produktionsgenossenschaften. In der Transparenzprojekt mitinitiiert hat, sagt: „Es Kaste der Großen erhält im Schnitt jeder geht uns nicht um eine Neid-Debatte.“ Aber über 284 000 Euro – pro Jahr. Allein Deutschlands Steuerzahler und man müsse sehen, „ob die Agrargelder nach Konsumenten kostet diese Förderpolitik sinnvollen Kriterien verteilt werden“. Die neuen Appelle von Organisationen knapp 50 Milliarden Euro im Jahr. Für die wie Oxfam bis zu EU-Kommissar Kallas zeigen nun auch in Berlin Wirkung. Bärbel Höhn, grüne Vorsitzende des Agrarausschusses im Bundestag, wird bei dem The- Verteilung des EU-Haushalts 2007 ma „richtig wütend, weil schließlich auch in Milliarden Euro jeder ALG-II-Bezieher seine Konten offenlegen muss“. Und Ulrich Kelber, VizeAgrarausgaben Ländliche Fraktionschef der SPD, verlangt eine Entwicklung Offenlegung aller öffentlichen Geld43,7 12,4 ströme. Seit dieser Woche ist sogar Minister Seehofer prinzipiell für Wettbewerbsmehr Offenheit, selbst wenn noch politik 8,3 immer Bundesländer und LobbyVerbände massiv gegenhalten. 7,0 Verwaltung Sie wissen um das Risiko: Wer deStrukturfonds taillierte Statistiken publiziert, macht 6,7 Außenpolitik im großen Beihilfen-Monopoly sich 45,5 selbst und die Nutznießer angreifbar. 1,2 Innen-, Das aber sind vor allem Großgrundbesitzer Justizpolitik und Mast-Imperien, LebensmittelkonzerQuelle: EU ne und Monokulturfabriken. Eine Debatte käme in Gang, die am Ende das ganze EU-Agrarzahlungen System des verschwiegenen Gebens und in Milliarden Euro, 2004 Nehmens in Frage stellen könnte. Noch sind für Deutschland nur SchätFrankreich 9,4 zungen bekannt oder einzelne Zahlen: So 6,3 Spanien bestätigte etwa die deutsche Südzucker AG, dass sie rund 2,2 Millionen Euro Deutschland 6,1 EU-Subventionen für ihre Landwirtschaft Italien 5,0 erhält. Die JLW Holding in Winsen an 4,1 der Aller hat für 21 000 Hektar Anspruch Großbritannien auf rund 6 Millionen Euro Beihilfen für Niederlande 1,3 Land und Vieh. Österreich 1,1 Oder das Gut Klein Wanzleben bei Magdeburg: 2,3 Millionen Euro für 2400 Tschechien 0,9 Hektar Fläche und bei 85 FestangestellPolen 0,3 ten. Der Ferdinandshof in Vorpommern: Landwirtschaftsminister Seehofer Angst vor neuer Neid-Debatte Hälfte des Geldes könnten sie die gesamte deutsche Agrarproduktion – von der Kartoffel bis zum Kotelett – auf dem Weltmarkt kaufen. Kaum ein anderer Politikbereich ist so widersprüchlich und desorientiert wie die Agrarförderung der EU. Sie gibt zur gleichen Zeit Anreize zu mehr Produktion wie zur Betriebsaufgabe, prämiert die Anlage neuer Weinberge oder Olivenhaine ebenso wie die Zerstörung vorhandener und subventioniert den Tabakanbau wie die Antiraucherkampagnen. Dabei fehlt es nicht an Analysen und der Erkenntnis, dass die Gelder innerhalb der EU deutlich besser eingesetzt werden könnten – für Forschung und Bildung etwa und die Schaffung neuer Arbeitsplätze in zukunftsträchtigen Wirtschaftsbereichen. Noch vor wenigen Monaten hatte der britische Premier Tony Blair die Verabschiedung eines neuen EU-Budgets monatelang blockiert, indem er seinen Brüsseler Kollegen immer wieder die Absurdität des Systems vorhielt und eine radikale Abkehr von den überkommenen Strukturen forderte. Es sei mit den wichtigen Zukunftsaufgaben Europas nicht zu vereinbaren, dass fast 50 Prozent des rund 105 Milliarden schweren EU-Haushalts für die Landwirtschaft ausgegeben würden. Und obwohl der Brite von fast allen Seiten Unterstützung erhielt, blieb am Ende beinahe alles beim Alten. Unter dem Druck großer Bauern-Republiken wie Frankreich knickte Blair letztlich ein. Die EU-Bürokraten verweisen dabei gern auf die „in der EU-Geschichte am weitesten reichende“ Agrarreform des Jahres 2003. Tatsächlich jedoch, so das Fazit einer Untersuchung des Agrarökonomen Hartmut Brandt, blieben die EU-Bauernhilfen auch nach dieser Reform „eine gigantische Fehlallokation von Ressourcen“. Noch deutlicher formuliert es Charles Crawford, britischer Botschafter in Polen: Wie Europa seine Landwirtschaft alimentiere, sei „die dümmste und unmoralischs29 Für viele nur wenig. . . ...für wenige sehr viel BETRIEBE DIREKTZAHLUNGSSUMMEN in Deutschland nach Höhe der EU-Direktzahlungen, 2004 bis 1250¤ in Millionen Euro, 2004 75262 99073 1250 bis 5000¤ 44,3 86,4 % 282,9 117625 5000 bis 20000¤ 20000 bis 100000¤ 1218,8 41048 1453,0 13,6 % über 100000¤ 30 4887 1388,9 Quelle: EU d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 verspritet, wer irgendwie EUFlora oder -Fauna verarbeitet, obwohl es billigere Alternativen auf den Weltmärkten gäbe, wird belohnt. Wie bei den Bauern gilt auch hier: je größer, desto mehr. Die globalen Lebensmittelkonzerne greifen über ihre Niederlassungen und Tochterfirmen in fast jedem EU-Land Zuschüsse ab. Der Schweizer Lebensmittelkonzern Nestlé erhielt nach eigenen Angaben rund 48 Millionen Euro Subventionen in der EU. Verwerflich findet der Lebensmittelriese, der im vergangenen Jahr einen Nettogewinn von fast fünf Milliarden Euro einfuhr, daran nichts. Das Geld, heißt es bei dem Schweizer Unternehmen, das Marken wie Maggi, Alete, Smarties oder Schöller regiert, werde von der EU bereitgestellt, damit Nestlé für seine Massenproduktion überhaupt Agrargüter von EU-Bauern kaufe. In aller Regel seien europäische Landwirtschaftsprodukte nämlich deutlich teurer als vergleichbare Waren auf dem Weltmarkt. Gliche die EU diesen Preisunterschied nicht aus, würde man sich eben auf dem Weltmarkt bedienen. Profitieren würden demnach die EU-Bauern, nicht der Konzern. Doch das ist offenbar nur ein Teil der Geschichte. In dem undurchsichtigen Geflecht von Zuschüssen, Verordnungen und Beihilfen gibt es noch zahlreiche andere Möglichkeiten, Staatsgelder abzugreifen. Geld fließt zum Beispiel, wenn Magermilch und Milchpulver ins Viehfutter gemischt werden oder wenn EU-Butter in Backwaren oder Speiseeis verarbeitet wird. Vermarktungsbeihilfen heißen diese Instrumente, sie bringen 49 bis 59 Euro pro 100 Kilo eingesetzte Molkereiprodukte – bei Giganten wie Nestlé, dem weltgrößten Milchverarbeiter und Hersteller etlicher Backwaren, summieren sich auch Kleinbeträge zu stattlichen Summen. Und nicht nur dort. Mit Hilfe hochkomplexer Rezeptursoftware, wissen Insider, werden in der gesamten Nahrungsmittelbranche inzwischen nicht nur Geschmack und Aussehen der Produkte ausgetüftelt. Die komplexen Rechenprogramme optimieren die Rezepturen auch in Bezug auf den Einsatz subventionierter Inhaltsstoffe. Wo sonst Margarine, Pflanzenfette oder Öle eingesetzt würden, landet so – dank EU-Förderung – beste Butter in der Rezeptur. Allein bei europäischen Backwaren, Cremetor35,2 % ten und Fertigteigmischungen wurden im Jahr 2002 knapp 400 000 Tonnen Butter verarbeitet, gut 20 Prozent der gesamten Butterproduktion in EU. Auch in Speiseeis 64,8 % der mischt die Industrie die mit Steuergeldern subventionierFRANZISKA KRUG / ACTION PRESS te Subventionspolitik in der Geschichte“. Ein ganz besonders absurdes Beispiel für seine These fände Crawford sogar bei sich zu Hause, auf „Gut Sandringham“ in der englischen Grafschaft Norfolk. Scheinbar endlos ziehen sich dort Weizenfelder bis zum Horizont. In der anderen Blickrichtung wechseln die Bilder: Wiesen, Gemüse- und Obstplantagen. Fürstin von Thurn und Taxis: Gewaltige Ansprüche Über 8000 Hektar umfasst der Besitz, Sägewerk, Apfelsaftproduktion, besitzer üppige Ansprüche: Fürst Albert II. von Monaco fast 290000 Euro, Gloria FürsFleischverarbeitung inklusive. Das Bauernhaus sieht aus wie ein Mär- tin von Thurn und Taxis jährlich geschätzchenschloss. Kostbare Teppiche und alte te 400 000 Euro. Eine ökonomische Begründung für die Waffen hängen an den Wänden, die Vitrinen sind vollgestopft mit Schmuck und Sil- Prämierung der vermutlich ohnehin rentaber. In den Stallgebäuden stehen keine blen Betriebe gibt es nicht. Ein 1000-Hek„Großvieheinheiten“, sondern kostbare tar-Betrieb mit Vieh- und GetreidewirtOldtimer. Selbst der Esstisch ist gedeckt, schaft beispielsweise kommt auf bis zu die Servietten sind gefaltet, doch die Haus- 60 000 Euro Staatszuschuss – umgerechnet herrin hat gerade im fernen London zu auf jeden dort Beschäftigten. Das ist mehr tun. Nur auf einem Bild an der Wand ist sie als das Doppelte von dessen Verdienst. In zu sehen: Elizabeth II., 80, Königin des vielen Fällen, schimpft Martin Hofstetter, Agrarökonom und Greenpeace-CamVereinigten Königreichs – und Bäuerin. Rund 580 000 Euro bekam Ihre Majestät paigner, seien die Beihilfen „einfach rausim letzten Abrechnungsjahr für ihr Gut aus geschmissenes Geld“. Die üppigen Hilfen für Maxi-Höfe haben den Brüsseler Agrarkassen. „Sie ist Landbesitzerin und Bäuerin“, sagt ein Sprecher. ein ganz neues, eigenes Landvolk wach„Sie bekommt Subventionen wie jeder an- sen und gedeihen lassen: studierte Kapidere Bauer.“ Weil sie nebenbei auch noch talanleger mit besten Kenntnissen oder Beauf Schloss Windsor die Scholle bearbeiten ziehungen. Manche von ihnen sind in der lässt, standen ihr weitere 200 000 Euro zu. Bauernlobby aktiv, andere gestalten die Auch Sohn Charles steuert gut 300 000 absurden Regeln der LandwirtschaftspoliEuro Agrarhilfen zum Familienbudget bei. tik in Regierung und Kommission mit. So ist der holländische LandwirtschaftsDem königlichen Vorbild folgen viele in Elizabeths Kreisen. So kritisch der briti- minister Cees Veerman ebenso Subvensche Adel dem Treiben in Brüssel auch ge- tionsempfänger wie die Familie seiner dägenüberstehen mag, für den Griff in die nische Ex-Kollegin, die heutige EU-KomFördertöpfe der Union ist er sich nicht zu missarin Mariann Fischer Boel. Ihr Gatte fein. Der Duke of Westminister und der besitzt einen Bauernhof und Anteile an eiEarl of Plymouth kassieren jeweils etwa ner Zuckerfarm. An einen erheblichen Teil der Agrarhil650 000 Euro im Jahr, der Duke von Marlborough rund 740 000. Sir Richard Sutton, fen kommen freilich auch die cleversten einer der reichsten Männer Englands, er- Wald-und-Wiesen-Profis nicht. In Deutschland geht knapp die Hälfte der Gesamthält sogar 1,6 Millionen Euro. Auch jenseits des Ärmelkanals, auf dem ausgaben für die Agrarpolitik an den Baueuropäischen Festland, haben Großgrund- ern vorbei. Wer Raps verdieselt und Wein „Offenheit ist etwas Gutes“ EU-Kommissar Siim Kallas, 57, über seinen Vorstoß zu mehr Transparenz im Brüsseler Subventionsdschungel THIERRY MONASSE / GETTY IMAGES SPIEGEL: Europas SteuerzahSPIEGEL: Wie waren die Reler pumpen Milliarden in die aktionen? Landwirtschaft. Warum haKallas: Viele, auch hier in ben sie bislang kein Recht zu Brüssel, haben gesagt: wissen, an wen ihr Geld geht? „Macht das bloß nicht! Ihr kriegt eine Unmenge unerKallas: Das verhindern Befreulicher Geschichten über schlüsse aus den sechziger die Verschwendung von EUund siebziger Jahren. Man Geldern. Das wird den Ruf überließ es jedem Land, den Europas noch weiter beBürgern zu sagen, wer öf- EU-Politiker Kallas schädigen!“ Das überzeugt fentliche Gelder bekommt – „Leben ist Hoffnung“ mich aber nicht. Bislang haoder es eben zu verschweigen. Die meisten Regierungen schwiegen ben wir ja mit der permanenten NegativBerichterstattung zu leben, dass 90 Prolieber. SPIEGEL: Sie wollen das wirklich ändern? zent aus dem EU-Topf an unbekannt Kallas: Ja. Wir leben doch inzwischen in gehen und niemand genau weiß, ob die ganz anderen Zeiten. Kein Mensch hat Mittel sinnvoll eingesetzt werden. heute noch Verständnis dafür, dass die SPIEGEL: Vielleicht ist das ja besser so? Öffentlichkeit nicht wissen darf, was mit Kallas: Ich denke, dass wir von TranspaSteuergeldern geschieht. Deswegen möch- renz nichts zu befürchten haben. Offente auf meine Initiative hin die EU-Kom- heit ist etwas Gutes. Entweder ist unsere mission künftig überall in Europa – und in Politik richtig, bei den Regionalhilfen, bei allen Bereichen, nicht nur im Agrarsektor der Landwirtschaft oder der Forschungs– der Öffentlichkeit klar sagen, wer Sub- förderung, dann müssen auch die Mittelventionen aus dem EU-Haushalt erhält. Empfänger nicht verschämt verschwie- 32 d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 Seit Jahren zieht der Gigant (Jahresumsatz: elf Milliarden Dollar) durch Europa, kauft, baut, wächst – und ruiniert dabei Tausende kleine und mittelständische Betriebe. Die Europäische Union hilft ihm nach Kräften. „EU-Programme sind sehr, sehr wichtig auf unserem Weg zum Global Player“, sagt Andrzej Pawelczak, dessen Büro im 31. Stock eines gesichtslosen Büroturms mitten in Warschau liegt. Import-Export-Firmen residieren hier, Bankfilialen – und eben die Smithfield-Tochter Animex. Pawelczak ist Animex-Sprecher, ein netter Kerl mit kräftigem Händedruck, seit 15 Jahren im Fleischgeschäft. Er schwärmt von „vertikaler Integration“, das heißt: Von Smithfield-Säuen geworfene Ferkel kommen in Smithfield-Mastfirmen, fressen fünfeinhalb Monate Smithfield-Futtermix aus Weizen und genmanipulierten Sojabohnen, werden in Smithfield-Schlachthäusern zerlegt und als Smithfield-Produkt – „KrakusSchinken“ beispielsweise oder „Jano“Fleisch in Dosen – in alle Welt verkauft. 700 Millionen Dollar setzte Animex im Vorjahr um, eine Milliarde soll es im nächsten werden. „Wir haben die modernsF. SCHULTZE / ZEITENSPIEGEL te Butter, rund 71 500 Tonnen pro Jahr. Nestlé weist diese Darstellung entrüstet zurück. „Am liebsten wäre uns, wenn dieses ganze widersinnige Subventionierungssystem für landwirtschaftliche Produkte schnellstens abgeschafft“ würde, heißt es in der Schweizer Zentrale. Dann könnten EU-Bauern endlich beweisen, dass auch sie kon- Öko-Landwirt Ruf: „Raufutterfressende Großvieheinheiten“ kurrenzfähige Produkte produzieren könnten. Entgegen der landläufi- und die Marktwirtschaft den Warschauer gen Meinung seien viele Betriebe dazu in Pakt überrollte, ging Animex als Aktiender Lage, wenn sie nur von den Fesseln der gesellschaft an die Börse. Dort schnappte verfehlten EU-Landwirtschaftspolitik be- sich der Amerikaner Joe Luter den Laden „zu einem Zehntel seines wahren Wertes“, freit würden. Was man bei Nestlé offensichtlich meint, wie er später stolz erzählt haben soll. sind große Agrarfabriken, wie sie derzeit in Dazu erwarb er – „sehr, sehr billig“ (LuPolen entstehen. Dort ist fast ein Drittel ter) – gleich noch ein paar Großfarmen aller europäischen Landwirte zu Hause, und verleibte die Relikte aus Stalins ZeiKleinbauern fast alle. Viele Tausende wer- ten seinem US-Imperium ein: Smithfield den jedes Jahr weggefegt von neuen Agrar- Foods. Multis, die sich aus den EU-Töpfen bedieDer Fleisch-Multi verarbeitet weltweit nen. Fast 90 Prozent der verfügbaren Sub- Millionen Rinder und Schweine, Hühner, ventionen gingen 2004 an nichtbäuerliche Puten, Gänse und Enten – samt deren FeEmpfänger. Ein potenter polnischer Be- dern. Smithfield macht alles, den teuerstrieb ist fast immer dabei: Animex. ten Schinken der USA und Billigstfleisch Was nach sozialistischer Spedition für die Wal-Mart-Kette. Der Konzern ist klingt, war einst die staatliche Zentrale für in Spanien, Frankreich und vielen anderen Polens Fleischein- und -ausfuhren. Als das Ländern groß im Geschäft – überall exkommunistische Imperium implodierte trem profitabel. gen werden. Oder es zeigt sich, dass wir das Geld teilweise an die Falschen verteilen. Dann muss das geändert werden. SPIEGEL: Wie reagieren die Regierungen der Mitgliedstaaten auf Ihren Vorstoß? Kallas: Wir haben bisher nur zwei Stellungnahmen von offizieller Seite bekommen, vom französischen Landwirtschaftsminister und von der bayerischen Landesregierung: beide negativ. SPIEGEL: Ohne das Okay der 25 EU-Regierungen können Sie Ihre TransparenzInitiative vergessen. Kallas: Stimmt. Die EU-Minister müssen das entscheiden. SPIEGEL: Da stehen die Chancen nicht allzu gut, oder? Kallas: Leben ist Hoffnung. Vor gut einem Jahr veröffentlichten nur zwei Staaten die Fakten, jetzt sind es schon elf, und weitere Regierungen denken sehr konkret darüber nach. SPIEGEL: Frankreichs Agrarminister hat Ihnen vorgeworfen, Ihre Initiative sei „ein Angriff auf die Landwirtschaftspolitik“. Hat er Angst, dass Europas Bürger merken, dass mit ihrem Geld den Falschen geholfen wird, und sie eine solche Politik abwählen? Kallas: Na und? Wenn die Mehrheit der Wähler in der EU diese Politik nicht mehr will, müssen wir sie ändern. Deutschland Hans-Michael Kloth, Hans-Jürgen Schlamp 34 SPI EGEL-GESPRÄCH „Unfriede im System“ Der parteilose Ex-Verfassungsrichter Paul Kirchhof über die reformunwilligen Deutschen, Merkels Politik der kleinen Schritte und seine Kritik an der Finanzpolitik der Großen Koalition tion zusammengewählt worden. Dann darf man nicht enttäuscht sein über den kleinsten gemeinsamen Nenner. Jedem Kundigen musste klar sein: Die Gemeinsamkeiten können nicht sehr viele sein. SPIEGEL: Wenn Sie in diesen Tagen die „Tagesschau“ einschalten, dann begegnet Ihnen eine Kanzlerin, die leichtfüßig über die roten Teppiche in Peking, Washington und Moskau geht. Was empfinden Sie? Kirchhof: Ich mache mir immer klar, dass ich die Politik aus der Distanz des Professors aus Heidelberg betrachte. Aus dieser Entfernung sieht man manches schärfer als der Akteur in Berlin. Außenpolitisch, europapolitisch entwickelt sich diese Regierung vorzüglich. Innenpolitisch, damit meine ich das Arbeitsrecht, das Sozialrecht mit der Komponente Gesundheitsfinanzierung und das Steuerrecht, hat sie die großen Aufgaben noch vor sich. SPIEGEL: Gibt es eine Reformanstrengung der Großen KoJurist Kirchhof: „Politik aus der Distanz des Professors“ alition, die Ihnen imponiert? SPIEGEL: Herr Kirchhof, welche Assozia- Kirchhof: Ich glaube, dass es in der tion weckt in Ihnen das folgende Wort: Gesundheitspolitik intensive ÜberleKompetenzteam? gungen gibt. Ich hoffe auch, dass im Kirchhof: In mir steigt eine sehr intensive Steuerrecht Reformpläne reifen. Aber Erinnerung an jene vier Wahlkampfwo- diese Überlegungen, so es sie gibt, chen auf, die für mich ungewollt zum sind bisher relativ sorgfältig verborgen Crashkurs wurden. Zum Zweiten kommt worden. mir ins Bewusstsein, dass dieses Kompe- SPIEGEL: Bedauern Sie, dass Sie nicht in tenzteam, das ja ein Regierungsteam sein der Regierung mitwirken können? sollte, nie zum Einsatz kam. Die heutige Kirchhof: Ich hätte, wenn das Berliner Amt Regierung sieht anders aus, personell und mich getroffen hätte, die Ärmel aufgeinhaltlich. krempelt und mich bemüht, das Beste SPIEGEL: Sie haben das Wort Kompetenz als draus zu machen. Dass es nun anders geein Qualitätssiegel verstanden, als Verspre- kommen ist, ist für mein persönliches Leben und auch für mein Umfeld sicherlich chen für eine Politik der großen Schritte? Kirchhof: Die Aussage war, dass wir diese die bessere Lösung. Was den Inhalt der Res publica strukturell erneuern werden. Regierungstätigkeit angeht, denkt man Deswegen sind wir angetreten, deswegen natürlich darüber nach, wie es wohl auswaren wir auch mutig und selbstbewusst. sähe, wenn ein anderer mitentscheiden Jetzt sind die beiden großen Parteien in könnte. Deutschland, die sich im Wahlkampf kräf- SPIEGEL: Auf Deutsch: Sie leiden unter tig befehdet haben, in eine Großen Koali- Phantomschmerz? URBAN ZINTEL te Fleischindustrie Europas“, schwärmt der Unternehmenssprecher. Witold Choinski, der Präsident des polnischen Fleischverbands, hat seinen Schreibtisch praktischerweise im Stockwerk unter der Zentrale seines wichtigsten Verbandsmitglieds. Er erzählt, wer das Fleisch-Wunder bezahlt. In den Strukturfonds-Töpfen der EU, sagt er, sei so viel Geld für Polen vorgesehen, „dass wir nur die Hälfte davon nutzen können“. Die bürokratischen Hürden sind hoch, und der Zuschuss erfordert zunächst eine üppige Eigenbeteiligung. So fallen kleine und mittlere Betriebe meist durch den Rost, die großen machen sich über die Geschenke der europäischen Steuerzahler her – und werden so noch größer. Gerade zieht Smithfield in Rumänien neue Schweinefarmen und entsprechende Schlachthäuser hoch. Dort werde man „billiger produzieren als überall sonst in Europa“, jubelt US-Boss Luter. Die Folge ist absehbar: „Ein Drittel aller Arbeitsplätze in der europäischen Fleischindustrie“ werde „in Kürze verschwinden“, prophezeit Verbandspräsident Choinski, weil überall Rationalisierung, Automatisierung und Konzentration angesagt ist. „Der Trend geht dramatisch weiter in Richtung industrielle Tiermast“, sagt Lutz Ribbe, Direktor bei der Stiftung Euronatur. „Es entstehen Großbetriebe in gewaltigem Maßstab – mit den entsprechenden Konsequenzen für die Umwelt.“ Ob in den Niederlanden, Ostdeutschland oder Norditalien: Hochgiftige Schweinegülle aus Großmastanlagen verpestet Bäche, Flüsse, Grundwasser. „Wenn der Steuerzahler erfahren würde, dass mit seinem Geld industrielle Schweinefleischerzeugung organisiert wird, dann gäbe es sicherlich einen großen Aufschrei“, sagt der Agrarökonom Martin Hofstetter. Politik und Industrie hegen wohl ähnliche Befürchtungen. Jedenfalls wird der Blick auf die Wirklichkeit der Lebensmittelerzeugung bewusst verschleiert. Bei der Grünen Woche, der weltgrößten Landwirtschaftsmesse, die erst kürzlich wieder in Berlin stattfand, erlebten Tausende Besucher und Millionen Fernsehzuschauer eine „Heidi-Welt“ mit Schäfchen, Kälbchen und Hühnchen im Stroh, wie es sie real kaum noch gibt – für Ribbe „das größte Potemkinsche Dorf Europas“. Es sind allerdings nicht nur die Verbraucher, die von der Agrarpolitik und ihren unsinnigen Folgen wenig Ahnung haben. Auch die Masse der Bauern selbst weiß offenbar nicht, dass die Subventionen, für deren Erhalt sie regelmäßig zu Tausenden auf die Straße gehen, vor allem den Großgrundbesitzern und der Industrie zugute kommen. Agrarwissenschaftler Ribbe spottet: Ihm komme eine Bauern-Demo immer vor, „als ob Tausende Besitzer von Tante-Emma-Läden für Aldi auf die Straße gingen“. Annette Bruhns, Frank Dohmen, d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 Kirchhof: Dieses Argument überzeugt tischen Verschuldung jenseits der 1,5 BilVerpflichtung. Ich bin zwar nicht im Wort nicht, und zwar aus zwei Gründen. Ers- lionen, mit den sozialen Sicherungssystefür diese Regierung, das ist nicht die mei- tens: Die Stärke Deutschlands sind immer men und vielem mehr. In seiner Position ne. Ich bin aber im Wort gegenüber un- unsere Köpfe gewesen und sind es auch musste er also zunächst eine Grundserer Demokratie. Es war damals meine heute noch. Wenn wir die Köpfe haben, satzentscheidung fällen: Worauf konzenAbsicht, dem Wähler vor allem eine pro- einen Siemens, einen Benz, einen Daimler, triere ich mich? grammatische, dann aber auch eine perso- einen Bosch, einen Freudenberg, dann SPIEGEL: Hat er sich richtig entschieden? nelle Alternative vorzustellen und dafür kommt auch das Kapital. Zweitens: Un- Kirchhof: Ich meine, es ist ein falscher Anzu werben, dass diese Alternative im Steu- terstellt, wir müssten das Kapital halten satz, zunächst den Haushalt auffüllen zu errecht Wirklichkeit wird. Für diese Sach- und zurücklocken, dann muss man einen wollen. Erstens: Ein Finanzminister wird frage werde ich weiter streiten. Tatbestand schaffen, der auf dieses Ver- nicht die Bürger begeistern, wenn er einen Haushalt ohne überzeugenSPIEGEL: Sie schreiben Aufdes Steuerrecht finanzieren will. sätze und Kolumnen, Sie treten Er wird die Bürger eher beeinbei Wohltätigkeitsveranstaltundrucken, wenn er in dieses Vergen auf. Wie ist die Resonanz? wirrsystem des Steuerrechts Kirchhof: Lebhaft. Die Menschen eine Perspektive für mehr Gesind hungrig nach einem fairen, rechtigkeit hineinträgt. Zweikonzeptionellen, grundlegend tens: Für diesen Rechtsstaat mit erneuerten Steuerrecht. Die seinen hohen Ansprüchen, seiFrage ist gar nicht mehr so wie nem immensen Finanzbedarf ist früher: Ist das Konzept von es dringend notwendig, dass Kirchhof richtig? Sondern: Haman zuerst definiert: Da ist die ben wir eine Chance, es durchGrenze der Belastbarkeit des zusetzen? Bürgers, so viel Geld kann ich SPIEGEL: Sie fühlen sich ermutigt? einnehmen – und dann erst Kirchhof: Es besteht unzweifelfragt, was kann ich mit dem haft Aktionswillen in DeutschGeld machen. Und nicht umgeland. Es ist kein revolutionärer kehrt. Es ist im Moment mit Wille, die Leute leben in guten Händen zu greifen, dass die Existenzbedingungen, sie sind Steuerpolitik nicht konzeptionicht in ihrer Freiheit elementar nell gedacht ist. bedroht. Doch diese VerkrustunSPIEGEL: Die Finanzpolitik schafft gen, diese Umklammerung des Fakten, auch über den Tag hinBürokratischen lähmt sie. Das ist aus. Im Moment werden steuergerade im Steuerrecht unerträgliche Ausnahmen, also Steuerlich. Die Menschen sind empört. subventionen, gestrichen, und SPIEGEL: Und die Koalition regidas so gewonnene Geld verstriert diese Empörung nicht? schwindet im Staatssäckel – und Kirchhof: Dafür ist sie wohl noch fließt nicht in Form einer Sennicht lange genug im Amt. kung der Steuersätze zurück SPIEGEL: Die Regierung plant gezum Bürger. rade eine Unternehmensteuerreform, die das glatte Gegenteil Kirchhof: Was da passiert, bevon dem anstrebt, was Sie wollkümmert mich sehr. Wir haben ten. Die Unterschiede zwischen diese Fülle von Ausnahmen, die der Steuerbelastung des Faktors Protest gegen Hartz IV (2005 in Berlin): „Jeder hofft ganz intensiv“ ich als ein Potential sehe, um Arbeit und des Faktors Kapital formal dem Staatshaushalt Geld werden wachsen, nicht verschwinden. bleiben des Kapitals abstellt, zum Bei- zuzuführen – und gleichzeitig die Steuerspiel die Unternehmen nach ihrer Lohn- sätze zu senken. Je mehr wir aber diese Empört Sie das? Kirchhof: Wenn die Körperschaftsteuer summe zu begünstigen, die sie in Deutsch- Ausnahmen ohne Senkung des Steuertatsächlich von 25 Prozent auf 12,5 Prozent land auszahlen. Aber genau das wird nicht satzes zur Stärkung des Staatshaushaltes halbiert werden sollte, während bei der Per- gemacht, sondern die Höhe der Besteue- verwenden, desto mehr geht uns Reformsonengesellschaft, der OHG, der KG, 42 rung hängt von der Rechtsform ab. Ob die potential verloren. Wenn man das vier JahProzent Einkommensteuer anfallen, dann Firmen einen Teil ihrer Produktionsstätte re lang so weitermacht, wird man die rechnerischen Grundlagen einer großen Steuhaben wir ein irrwitziges Gefälle: hier die erreform gefährden. Erträge aus Kapital, dort die Erträge aus „Es ist ein falscher Ansatz, Arbeit, 12,5 zu 42 Prozent. Kommt die GeSPIEGEL: Erwarten Sie eine politische Wenzunächst den Haushalt auffüllen de? Oder haben Sie, der Sie ein notoriwerbesteuer hinzu oder wird Gewinn auszu wollen.“ geschüttet, ist das System noch weniger scher Optimist waren, alle Hoffnung fahren stimmig. Das ist verfassungsrechtlich eine lassen? Konzeption mit Sollbruchstelle. Im Steuer- ins Ausland verlegen, spielt dabei keine Kirchhof: Der Druck der Probleme ist recht ist die Gleichheit ein wichtiges Ele- Rolle. zu groß, als dass die Politik so weiterment. Da ist Unfriede im System. SPIEGEL: Finanzminister Peer Steinbrück machen könnte wie bisher. Die Menschen fordern die grundlegende ErneuSPIEGEL: Die Regierung glaubt, dass Kapi- steuert auf anderem Kurs. tal das flüchtigere Element im internatio- Kirchhof: Er hat sich im Moment der Sa- erung. Die Politiker werden darauf renalen Wettbewerb sei, während die Ware nierung des Haushalts verschrieben. Dort agieren. Arbeitskraft, auch die des Spitzenmana- liegt unverkennbar eine große Aufgabe. SPIEGEL: Aber die Menschen akzeptieren gers, sich nicht beliebig transferieren lasse. Daneben hat er ein Problem mit den un- doch relativ klaglos die größte SteuerWas ist falsch an dem Gedanken? geheueren Nebenhaushalten, mit der fak- erhöhung der Nachkriegszeit. SEAN GALLUP / GETTY IMAGES Kirchhof: Nein, aber ich empfinde eine d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 35 ULRICH BAUMGARTEN / VARIO-IMAGES Deutschland Wahlkämpfer Kirchhof (2005 in Berlin): „Im Wort gegenüber unserer Demokratie“ Kirchhof: Wir haben diese Steuererhöhung SPIEGEL: Der Staat, der pausenlos die Vernoch nicht. Wir sprechen darüber, aber es brauchsteuern erhöht, setzt sich also ins hat sie noch niemand erlebt. Hinzu Unrecht? kommt: Die Mehrwertsteuer ist eine un- Kirchhof: Meine Auffassung ist eindeutig: merkliche Steuer, die erst allmählich merk- Ja. Der alte Grundsatz von Friedrich dem lich wird. Der Bürger muss kein Geld an Großen in seinem zweiten politischen Tesdas Finanzamt zahlen, sondern er erlebt tament von 1768 lautet: Ein guter Hirte die drei Prozent plus im Preis. Er kauft schert seine Schafe, aber er zieht ihnen das sein Auto, er kauft seine Krawatte, er kauft Fell nicht ab. So einfach war das damals formuliert, so richtig ist es noch heute. den Alltagsbedarf für drei Punkte mehr. SPIEGEL: Sie glauben: Durch die Portionie- SPIEGEL: Glauben Sie, dass ein Verbraurung verschwindet das Gefühl für die cher eines Tages klagen wird? großen Summen, um die es geht? Immer- Kirchhof: Das hoffe ich. hin wird diese Mehrwertsteuererhöhung die Bürger rund 23 Milliarden Euro kosten. Kirchhof: Der Bürger merkt erst allJährliche Mehrbelastung der Bürger durch die mählich, dass hier eine Weichengeplanten steuerlichen Maßnahmen der Bundesstellung stattfindet, die mit dem, regierung ab 2007 (volle Wirkung zum Teil erst ab 2009) was er unter gerecht und sozialverMehrwertsteuer träglich versteht, nur schwer verErhöhung von 16 auf 19 Prozent 23 Mrd. ¤ einbar ist. Denn diese hohe Mehrwertsteuer müssen insbesondere Pendlerpauschale diejenigen zahlen, die ein kleines Einschränkung der Absetzbarkeit Einkommen und einen hohen Konvon Fahrtkosten zwischen sumbedarf haben. Wohnung und Arbeitsstätte 2,5 Mrd. ¤ SPIEGEL: Sie haben bei der VermöSparerfreibetrag gensteuer gesagt: Der Staat darf Halbierung des Freibetrags für nicht mehr als die Hälfte dessen abZins- und Kapitalerträge 0,8 Mrd. ¤ kassieren, was der Bürger besitzt Arbeitszimmer und verdient. Denn auch EinkomEinschränkung der Absetzbarkeit men ist für ihn Eigentum. Nun kann des häuslichen Arbeitszimmers 0,3 Mrd. ¤ doch die Addition von MehrwertReichensteuer steuer, Verbrauchsteuern und EinFür Topverdiener soll der kommensteuer bei etlichen zum Spitzensteuersatz von Überschreiten dieser 50-Prozent42 auf 45 Prozent steigen. 1,3 Mrd. ¤ Grenze führen. Würde sich der Kindergeld Steuerstaat dann Ihrer Meinung Die Altersgrenze für die Zahlung nach illegal verhalten, weil er den von Kindergeld wird von 27 auf vom Verfassungsgericht vorgegebe25 Jahre gesenkt. 0,5 Mrd. ¤ nen Halbteilungsgrundsatz verletzt? Kirchhof: Ja. Das Bundesverfassungsgericht hat die BesteuerungsGESAMT rund 28 Mrd. ¤ grenzen in diesem Grundsatz verdeutlicht, allerdings jüngst wieder zum Vergleich gelockert. Jedenfalls müssen die inEntlastung durch die direkten Steuern berücksichtigt Steuerreform 2004/2005 rund 23 Mrd. ¤ werden. Berliner Schröpfkur 36 d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 SPIEGEL: Sie setzen also darauf, dass der Staat auch bei den indirekten Steuern limitiert wird und zu einer Gesamtbetrachtung gezwungen wird, so, wie Sie ihn auch beim Vermögen zu einer Gesamtbetrachtung gezwungen haben? Kirchhof: Ich meine, das Thema der indirekten Steuern ist sogar das brennendere. Bei der Einkommensteuer kennt der Fiskus die Leistungsfähigkeit des Steuerbürgers. Bei der Nachfrage am Markt nicht, der Staat sieht nicht, ob der Mehrwertsteuerzahler im Lotto gewonnen hat oder auf Kredit konsumiert. Er weiß nicht, ob der Kunde vorher gebettelt oder geklaut hat. Es ist überhaupt nicht erkennbar, ob der Verbraucher leistungsfähig ist. Aber trotzdem werden ihm 19 Prozent Aufschlag abverlangt. SPIEGEL: Sie haben nach dem Wahlkampf gesagt, Politik sei auch ein Spiel von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit. Wie empfinden Sie heute den Beruf des Politikers, erstrebens- oder bemitleidenswert oder beides? Kirchhof: Der Politiker ist unter Unrechtsverdacht geraten, weil man ihm nicht viel zutraut. Wenn ich als Wissenschaftler ge- „Ein guter Hirte schert seine Schafe, aber er zieht ihnen das Fell nicht ab.“ sagt habe „Das ist so und nicht anders, wir haben das gerechnet, und wir haben es mit der OECD abgesprochen“, sagten alle: Okay, abgehakt, erledigt. Im Wahlkampf war das so selbstverständlich nicht. Man musste mehr begründen und mehr an Vertrauenswerbung leisten. Ich glaube, das ist langfristig keine gute Situation für diejenigen, die Grundsatzentscheidungen treffen, überall auf Argwohn zu stoßen, dieses dauernde Unbehagen zu spüren. SPIEGEL: Das Ergebnis des Merkel-Wahlkampfs war aus Sicht der Union desaströs. Lohnt sich Ehrlichkeit im Wahlkampf überhaupt? Kirchhof: Ich meine schon. Die politische Klasse sollte dem Wähler mehr zutrauen. Man kann ihm auch mehr zumuten. Er ist nicht so unmündig, wie das vielfach gesagt wird. SPIEGEL: Zeigt nicht der Erfolg von Gerhard Schröder, der Sie bezichtigte, mit Ihrer „Flat Tax“ ein Volk zu „Versuchskaninchen“ machen zu wollen, das Gegenteil? Kirchhof: Ich war völlig überrascht. Ich war auch ein bisschen enttäuscht über die Art, wie der Wahlkampf geführt wurde, aber ich war der sicheren Überzeugung, das fällt auf denjenigen zurück, der es formuliert, und nicht auf denjenigen, über den gesprochen wird. Insoweit habe ich mich geirrt. SPIEGEL: Sie haben dann schnell festgestellt: Ich dringe nicht mehr durch. Woran lag’s? An Schröder oder auch an Ihnen? Kirchhof: Ich hatte immer das kleine Mikrofon und der andere das große. Das war das Problem. Deutschland JÖRN POLLEX / ACTION PRESS SPIEGEL: Ihr Mikrofon war so klein nicht. Sie haben für mächtig Wirbel gesorgt, jeden Tag und zum Teil jede Stunde. Kirchhof: Aber mit meinen Aussagen bin ich nicht mehr durchgedrungen. Ich habe gesagt: Der Krankenschwester geht es besser. Aber die Menschen haben geglaubt, wenn dieses System kommt, wird es der Krankenschwester schlechter gehen. Ich bleibe dabei: Die anderen hatten das große Mikrofon, ich das kleine. SPIEGEL: Das Misstrauen gegenüber Ihrem Steuermodell – Streichung aller Ausnahmen, dafür ein Steuersatz von 25 Prozent – wuchs auf allen Seiten. War das Werben für die Flat Tax Ihre Einstiegsbedingung in das Wahlkampfteam? Kirchhof: Es war klar, dass ich für dieses Steuermodell eintrete und auch deswegen gewonnen war. SPIEGEL: War Frau Merkel der Inhalt Ihres Buches bekannt? Hatte sie es gelesen? Kirchhof: Selbstverständlich kennt Frau Merkel mein Buch. Meine Berufung in das Kompetenzteam war weniger eine Entscheidung für eine Person, sondern es war die personifizierte Erneuerungskonzeption mit einem konkreten Inhalt. SPIEGEL: Sie sind sehr früh unter „friendly fire“ geraten. Ihr Modell entspreche nicht dem deutschen Gerechtigkeitssinn, sagte Niedersachsens Ministerpräsident Christian Wulff von der CDU. Kirchhof: Eine Partei mit so viel Anliegen und Wählerschichten lebt von der offenen und unbefangenen Diskussion auch in Zeiten von Wahlen. SPIEGEL: Haben Sie damals nicht gedacht, das Konzept spricht für sich? Sie sprachen vom „Garten der Freiheit“, der nun geöffnet würde. Kirchhof: Ja. Ich hatte gemeint: Ich begründe, und weil ich gute Gründe habe, überzeuge ich. Und weil die Wähler überzeugt sind, sagen alle: Jawohl, so ist das. Schröder hat klug erkannt, dass das Konzept ein Juwel ist. Also musste es zugeschüttet werden. SPIEGEL: Wenn Sie die heutige Kanzlerin sehen, die kleinen Schritte, die Veränderung ihres Stils und ihrer Sprache, würden Sie so weit gehen und sagen: Da hat sich jemand verraten? Kirchhof: Nein. Ich bin eher in Erwartungshaltung. Da wird sich noch viel entwickeln, glaube ich. Diese Koalition hat gesagt, sie macht eine große Unternehmensteuerre- Steuerexperte Kirchhof* URBAN ZINTEL „Wir leben in einer Scheinwelt“ Kirchhof, SPIEGEL-Redakteure* „Ich hatte immer das kleine Mikrofon“ 38 form zum 1. Januar 2008. Da ist sie im Wort. Diese Regierung hat versprochen, eine tragfähige Gesundheitsreform vorzulegen. Das wird allgemein erwartet. Diese Regierung erkennt, dass der Arbeitsmarkt reformiert werden muss. SPIEGEL: Beschleicht Sie zuweilen das Gefühl, dass Deutschland zwar reformbedürftig, aber nicht in gleichem Maße reformwillig ist? Kirchhof: Ich habe diese Frage kürzlich mit einem Kollegen, einem Historiker, besprochen. Er hat die napoleonische Zeit mit der heutigen verglichen. Die Zünfte und die Stände hatten ihre Berechtigungen erkämpft und wachten darüber. Wenn dann einer in einer Stadt auf einem Grundstück eine Mühle betreiben wollte, musste er erst von seinen Zünften als Müller anerkannt werden, dann musste er von der Stadt eine Genehmigung bekommen, und dann musste ihm der Graf sagen, dass er das Grundstück nutzen darf, und er musste vom Kloster das Wasserrecht erwerben. Dann kam Napoleon, natürlich mit den Mitteln des Krieges, und hat die Stände abgeschafft und die Gewerbefreiheit gewährt. Wir brauchten sozusagen einen gewaltigen Feldherrn mit einem gewaltigen Krieg, um diese Verkrustungen wegzukriegen. SPIEGEL: Was folgt daraus? Kirchhof: Seine Folgerung als Historiker war die: Ohne Krieg geht nichts. Das ist natürlich völlig verkehrt. Das Instrumentarium der Erneuerung durch Krieg steht nicht zur Verfügung – darüber brauchen wir nicht zu reden. Wir haben aber die wunderbare demokratische Idee, dass wir * Oben: am 5. Mai als „Spargel-König“ auf einem niedersächsischen Hof; unten: Marc Hujer und Gabor Steingart in Kirchhofs bayerischem Ferienhaus. d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 jedes Parlament neu wählen, damit es bessere Gesetze mache als das vorherige. Und jeder Politiker, der noch einige Jahre Verantwortung in diesem Staat tragen möchte, weiß, dass er dieses Steuersystem, dieses Verschuldungssystem und auch das heutige Renten- und Gesundheitssystem nicht verantworten kann. SPIEGEL: Das Wissen um die Dringlichkeit der Probleme reicht offenbar nicht aus, die Missstände abzustellen. Kirchhof: Wir leben in einer Scheinwelt. Jeder hofft ganz intensiv auf die große Reform, wacht aber sorgfältig darüber, dass diese Hoffnung nicht durch Erfüllung verlorengeht. Er verhält sich wie vor dem Fernseher: Er begibt sich allabendlich in diese Werbewelt, wo schöne Menschen zu sehen sind und Zukunft, Landschaft, Glück und gute Musik. Er ist geistig den Verlockungen der Werbewelt völlig auf den Leim gegangen, denkt aber gar nicht daran, die fünf Autos, die ihm in fünf Minuten empfohlen werden, je zu kaufen. Er will sich sozusagen verlocken lassen von dem schönen Gedanken, aber das ist ihm schon genug. Ich glaube, ein Stück unserer gesellschaftlichen Realität ist die, dass der Mensch sich intellektuell, auch mit seinen Emotionen und seiner inneren Befindlichkeit, in die neue Welt des besseren Staates, der offeneren Gesellschaft, der zuwendungsbereiteren Familie begibt, aber halb bewusst immer den Vorbehalt mitträgt: Das kommt ja sowieso nicht. Doch „Der Bürger wird real erleben, dass manches bald zusammenbricht.“ die Zahl derer, die energisch handeln wollen, steigt ständig. SPIEGEL: Und der mündige Bürger, sagen Sie, fühlt sich ganz wohl in dieser Zwischenwelt? Kirchhof: Er fühlt sich ganz wohl in seinem Wohlstand, in seiner Behaglichkeit, in seinem Frieden, seiner Sicherheit. Aber der Bürger wird real erleben, dass manches bald zusammenbricht. Die weitere Verschuldung geht nicht mehr. Aus europarechtlichen, verfassungsrechtlichen Gründen entwickeln sich die Haushalte ja heute schon jenseits der Legalität. SPIEGEL: Ihre Leidenschaft scheint ungebrochen. Werden Sie in die politische Arena zurückkehren? Kirchhof: Die Akte „Paul Kirchhof strebt in ein Amt“ ist geschlossen. Als Wissenschaftler, der ja auch einen Gestaltungsauftrag hat, natürlich eher empfehlend, beratend, vielleicht auch kritisierend und mahnend, werde ich mich weiter beteiligen. Das schulde ich mir, das schulde ich vielleicht auch den Wählern, die ich angesprochen habe. Denn nach meinen Erfahrungen bin ich von einem zutiefst überzeugt: Politik braucht Rat. SPIEGEL: Herr Kirchhof, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. Deutschland Ohne Schnörkel und Pathos, dabei allzeit konfliktbereit, so brachte Frank-Walter KABINETT Steinmeier, 50, ein halbes Jahr im Amt des Außenministers hinter sich. Mit den klaren Worten im Angesicht des alten Chefs hat er die Probezeit für die Festanstellung als deutscher Spitzenpolitiker bestanden. Im Alltag ist er ein eher stiller Diener Distanz zu seinen Vorgängern, Attacken auf Kabinettskollegen: seines Staates. Sein Ego mag nicht kleiner Außenminister Frank-Walter Steinmeier sucht den sein als das mancher Kabinettskollegen, doch er zeigt es nicht öffentlich vor. Er Konflikt mit Freund und Feind – und gewinnt so an Kontur. will nicht unnötig provozieren, sucht den Ausgleich, vor allem auch den mit der Kanzlerin und CDU-Chefin. Als der damalige SPD-Chef Matthias Platzeck im Februar versuchte, die Iran-Debatte mit einer pazifistischen Einlassung für den Landtagswahlkampf zu nutzen, hielt Steinmeier blitzschnell dagegen. Er ließ nicht zu, dass andere einen Keil zwischen ihn und Merkel treiben konnten. „Steinmeier wird besser, wenn er unter Druck kommt“, sagt ein Weggefährte. Er sucht die Nähe der Kanzlerin, auch um seine Position zu festigen. Per SMS und Telefon stimmt er jedes heikle Manöver im Umgang mit Russland, USA und Iran mit ihr ab. Um den Verdacht zu zerstreuen, er sei Merkels Mann und nicht Abgesandter der Sozialdemokraten, besucht Steinmeier, sofern seine Reiseplanung es erlaubt, das SPD-Präsidium und die Fraktion. Die Genossen sollen spüren, dass sich hier einer vom Verwaltungs- zum Außenminister Steinmeier, Ex-Kanzler Schröder*: Präventivschlag gegen den ehemaligen Chef Parteimann gemausert hat. Gern grenzt er sich neuerdings von ür eine der heikelsten Entscheidun- der loyal im Kanzleramt gedient und ihn gen seiner Amtszeit blieben Frank- nie öffentlich kritisiert. Auch als Außen- seinem schillernden Vorgänger Joschka Walter Steinmeier nur wenige Minu- minister achtete er seither darauf, zu sei- Fischer ab, der sich als Visionär empfahl. nem Freund und ehemaligen Vorgesetzten Konzepte für die Zukunft Europas oder ten des Nachdenkens. die Befriedung des Nahen Ostens, mit deDer Außenminister war gerade ans Red- keinen Dissens erkennen zu lassen. „Alle müssen alle diplomatischen Mittel nen Fischer seinen Ruf begründete, liegen nerpult im Weltsaal des Auswärtigen Amts getreten. Vor ihm lag das Manuskript, hin- nutzen“, beschied der SPD-Mann nun sei- Steinmeier fern. Die internationale Lage ter ihm leuchtete die Anzeigetafel für die nem ehemaligen Chef. Es gelte, eine nu- sei zu ernst, sagt er, um „luftige Entwürfe „Appointment Ceremony“ des Nah- und kleare Rüstung Irans zu verhindern, „und über die Neuordnung der Welt an den Mittelost-Vereins. Aus der ersten Reihe ich will, vermutlich im Unterschied zum Mann“ zu bringen. Er teilt Fischers Sorgen, aber ihm wischaute ihn sein ehemaliger Chef erwar- heute Geehrten, wirtschaftlichen Druck derstrebt dessen Theatralik. Er will nicht tungsvoll an, Gerhard Schröder, der desi- nicht von vornherein ausschließen“. Der gewundene Satz des deutschen alles anders, aber vieles lautloser machen gnierte Ehrenvorsitzende des Vereins. Steinmeier sollte die Verdienste des Chefdiplomaten war nichts weniger als als der Grüne. Das Großsprecherische seiAltkanzlers lobpreisen, doch der mach- eine Unabhängigkeitserklärung in eigener nes Vorgängers versucht Steinmeier gar te es ihm nicht leicht an diesem Tag. Auf Sache. Zum ersten Mal widersprach der nicht erst zu imitieren. Statt wie Fischer beim Joggen Sechsdem Weg in den Versammlungssaal teil- ehemalige Kanzleramtsminister dem ehete Schröder seinem ehemaligen Kanzler- maligen Kanzler auf offener Bühne. Schrö- Punkte-Pläne zu entwerfen, studiert der amtschef en passant mit, dass er in einer der stand plötzlich wie ein außenpoliti- Minister lieber Akten. Er will als sachkunzentralen Frage anderer Meinung sei. Die scher Naivling da. Sanktionen gegen Iran dig, nicht als originell gelten. Er ist bewusst Drohung mit wirtschaftlichen Sanktio- seien „nicht der richtige Weg“, beharrte grau, wo der andere bunt war. Steinmeier sei „nicht so überbauscht, eher sachlich nen im Streit um Irans Atomprogramm er später trotzig. nüchtern“, sagt ein Diplomat, der den Alhalte er für falsch und werde das auch ten und den Neuen aus der Nähe kennt. gleich sagen. * Mit dem Außenminister der Vereinigten Arabischen Innerhalb des Kabinetts allerdings ringt Steinmeier entschied sich zum Prä- Emirate Abdullah Ibn Sajid al-Nahajan am 29. Mai beim Steinmeier um jeden Meter Landgewinn. ventivschlag. Sieben Jahre hatte er Schrö- Treffen des Nah- und Mittelost-Vereins in Berlin. HENNING SCHACHT / ACTION PRESS In der Kampfzone F 42 d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 ULLSTEIN BILDERDIENST Weit komplizierter als das Verhältnis zur teuerte, ihr Vorstoß sei keinesfalls gegen Kanzlerin ist Steinmeiers Stellung in der ihn gerichtet. Der Außenminister aber eigenen Partei: Durch Schröders spekta- machte klar, dass er nicht amüsiert war. kuläres Nein zum Irak-Krieg wurde die pa- „Die kann an keiner Scheune vorbei“, zifistische Tradition der SPD einerseits wie- schimpfte ein Genosse über die Attacke derbelebt; andererseits will sich Steinmeier der Ministerin, „ohne eine Brandfackel in dadurch nicht seinen Handlungsspielraum die Hand zu nehmen.“ einschränken lassen – ein Balanceakt. So würde Steinmeier natürlich nicht Erst kürzlich versuchte SPD-Kabinetts- reden, schon gar nicht über eine Parteikollegin Heidemarie Wieczorek-Zeul dies freundin, und falls doch, dann jedenfalls für sich zu nutzen. Anfang Mai kreuzte die nicht öffentlich. Entwicklungshilfeministerin im Parteipräsidium auf. Viele Jahre war sie in der SPD-Spitze für die Außenpolitik zuständig. Seit ihrem Rückzug aus dem Präsidium vorigen November hatte sie das Gremium eher gemieden. Doch an diesem Morgen schien die Gelegenheit günstig, denn Steinmeier war verhindert. Als das Thema Iran an der Reihe war, zog die Ministerin den vertraulichen Entwurf von Deutschland, Frankreich und Großbritannien für eine Uno-Sicherheitsratsresolution hervor. Sie verlas Passagen, die sich auf Kapitel sieben („Maßnahmen Vertraute Schröder, Steinmeier*: Offener Widerspruch bei Bedrohung oder Bruch des Friedens“) der Uno-Charta bezogen, Lieber diskutiert er in ernüchterndas in sich die Option eines militärischen der Sachlichkeit über die Potentiale der Einschreitens trägt. Wenn man keine Mi- Erdgasausbeutung im Nordmeer, die Zulitärschläge wolle, dürfe man auch nicht da- kunft des Wirtschaftsbündnisses „Mercomit drohen, kritisierte die Ministerin. Die sur“ in Südamerika oder die Nöte der SPD müsse den Bezug auf Kapitel sieben südkoreanischen Gesellschaft mit der Fraklar ablehnen. Die Kontinuität der Schrö- ge einer Wiedervereinigung. Selbst Streitderschen Friedenspolitik stehe auf dem gespräche absolviert er vorzugsweise mit Spiel, so die unausgesprochene Botschaft. unbewegtem Gesicht und gleichbleibenEin solcher Beschluss hätte Steinmeiers der Tonlage, Polemik hält er nicht für Aktionsradius auf internationalem Par- anregend, sondern für überflüssig. Jede kett verkleinert. Auch wenn er schon Zuspitzung macht für ihn die Sache nicht früh für direkte Gespräche zwischen den einfacher, sondern schwerer, weshalb er USA und Iran eintrat, wie sie jetzt auch sie meidet. Bush anstrebt, will er keine Karte aus der Erfahrungen mit dem in der Politik beHand legen. liebten Fach „Kabale und Intrige“ bleiben Der designierte Partei- Steinmeier dennoch nicht erspart. Ausgechef Kurt Beck und Frak- rechnet sein Rivale Michael Glos zwang tionschef Peter Struck ihn kürzlich in die Knie. Es ging um die wimmelten Wieczorek- protokollarisch höchst bedeutsame Frage, Zeuls Vorstoß geistes- wer von beiden das schönere Flugzeug, gegenwärtig ab – mit den Airbus A 310 „Konrad Adenauer“, für formalen Gründen. Den seine Auslandsreise nutzen darf. Resolutionstext habe nieGlos setzte sich schließlich durch. Für mand außer ihr vorliegen, seinen China-Trip bekam er den VIP-Airaußerdem sei der zustän- bus mit eigener Schlafkabine. Steinmeier dige Minister nicht anwe- musste sich auf seiner sechstägigen Golfsend. Die „liebe Heidi“ Reise mit dem grauen Truppentransportmöge sich gedulden. flieger „Kurt Schumacher“ begnügen. Bei nächster GelegenEinen dauerhaften Anspruch auf protoheit stellte Steinmeier sei- kollarische Besserstellung will Steinmeier ne Kabinettskollegin zur dem Wirtschaftsminister freilich nicht gönRede. Wieczorek-Zeul be- nen. Wegen der längeren Flugstrecke des Kollegen Glos, heißt es im Auswärtigen * Oben: 1999 im Kanzleramt; Amt, habe man diesmal nur eine Ausnahunten: während seiner Arabienme gemacht. Ralf Beste, Reise im Juni 2004 in der omaniJULIA FASSBENDER / BUNDESBILDSTELLE Um seine Kampfzone auszuweiten, scheut er selbst Grenzüberschreitungen nicht. Erstes Opfer der anschwellenden Expansionslust wurde Wirtschaftsminister Michael Glos (CSU). Zu dessen Entsetzen reklamierte Steinmeier Zuständigkeit für die „Energie-Außenpolitik“ – ein Thema von immenser Bedeutung „für unsere exportorientierte Wirtschaft“, so Steinmeier. Er stapfte durch Erdgasanlagen im eisigen norwegischen Hammerfest und in der Gluthitze der arabischen Wüste. Als Begründung für sein Engagement hat sich Steinmeier den Slogan „Energiesicherheitspolitik ist Friedenspolitik“ ausgedacht. Er sehe da eine „strategische Herausforderung“, die offenbar viel zu wichtig ist, als dass er sie allein dem Wirtschaftsminister überlassen kann. Im Auswärtigen Amt gründete er eine „Task Force Energiepolitik“. Auch als Unternehmenslobbyist ist Steinmeier unterwegs. Bei einer Reise an den Persischen Golf setzte er sich vorige Woche für die Belange der mitreisenden Manager ein. Die Wirtschaftsbosse, darunter Vorstände von BASF, Siemens und EADS, konnten ihr Glück kaum fassen. Steinmeiers Amtsvorgänger Fischer hatte sie stets wie lästige Fliegen verscheucht. Im Ausland erklingen nun neue, zuweilen werbende Töne, die Fischer nicht über die Lippen gingen. „Ich möchte Sie einladen“, umschmeichelte Steinmeier jüngst die Scheichs, „sich persönlich von unseren einzigartigen Bedingungen zu überzeugen.“ Gleich zweimal beschwerte Glos sich bei Steinmeier über die Wilderei in Wirtschaftsfragen, erst bei einer Tagung der Außenhandelskammern in Berlin und dann nochmals am Rande des Kabinetts. Auch um das Rederecht bei einer Europadebatte des Bundestags vor drei Wochen stritten die beiden, nachdem Glos seine Zuständigkeit für die EU geltend gemacht hatte. Merkel musste schließlich den Konflikt schlichten. Ans Pult trat sie selbst – die Streithansel wurden zur Schweigsamkeit verdonnert. Steinmeier-Vorgänger Fischer*: Theatralik im Amt d e r schen Hauptstadt Maskat. Alexander Neubacher 2 3 / 2 0 0 6 43 s p i e g e l Freitagsgebet (in Mannheim)* „Mäßigende Wirkung auf Muslime“ BERTHOLD STEINHILBER / BILDERBERG Dienste vorging. Inzwischen darf etwa das bayerische Landesamt nicht mehr verbreiten, ein Imam der IGMG habe seine Predigt mit den Worten „Tod allen Juden“ beendet. Die Landesregierung geht allerdings in die nächste Instanz. Aber selbst diese juristischen Scharmützel, die der Verband landauf, landab anzettelt, stoppen die Annäherung nicht. Nach und nach werden die vermeintlichen Staatsfeinde salonfähig. Über den Dachverband Islamrat, der stark von der IGMG beeinflusst ist, bestimmt die Gruppe ohnehin schon seit Jahren die Debatte um islamischen Religionsunterricht oder Integrationsprojekte mit. In Hamburg leitet seit 1999 ein Milli-Görü≈-Mann die Schura, den Rat der islamischen Gemeinden. Und in reden wollte“, erklärt Beckstein den Berlin organisiert die Islamische Föderation, auf die Milli Görü≈ zumindest einen Schritt, „blieben zu wenige übrig.“ Stattdessen setzen Innenpolitiker auch gewissen Einfluss haben soll, bereits an auf den Verein Milli Görü≈, der mit seinen über 30 Schulen die religiöse Erziehung 26 500 Mitgliedern und einer weit höhe- muslimischer Kinder. Beim Weg durch die Institutionen hat ren Zahl von Anhängern erheblichen Einfluss unter türkischstämmigen Muslimen sich offenbar auch Milli Görü≈ verändert. hat. Auch Bundesinnenminister Wolfgang Erfreut registrieren Sicherheitsexperten die Schäuble (CDU) ist von der Wendestim- verbale Mäßigung vor allem der jungen mung erfasst: „Wir werden Milli Görü≈ Funktionsträger. Der Hamburger Verfasnicht ausgrenzen.“ Bei der von ihm für sungsschutz will bemerkt haben, dass in Herbst einberufenen Islamkonferenz wird Milli-Görü≈-Moscheen zum Teil auch Prediger aktiv seien, „die auf die Muslime der Verband dabei sein. Noch vor fünf Jahren schien solch Wan- mäßigend einwirken“. Die Verurteilung isdel durch Annäherung undenkbar. Nach lamistischer Terrorakte sei daher „als den Anschlägen des 11. September 2001 glaubwürdig zu bewerten“. Hasspredigten sammelte der Verfassungsschutz Material, wurden aus dem Umfeld von Milli Görü≈ in um ein Verbot der IGMG zu prüfen. jüngster Zeit nicht registriert. Sorgen bereiten den SicherheitsbehörBayerische Ermittler fanden nach eigenem Bekunden sogar noch im Herbst 2004 bei den allerdings die Versuche, vor allem der Durchsuchung einer IGMG-Moschee Jugendliche durch Freizeitangebote zu Bücher mit „eindeutig antisemitischen und locken. „Legalistisch“ getarnt verbreite teilweise volksverhetzenden Inhalten“, Milli Görü≈ eine ultrakonservative Ausdarunter die türkische Ausgabe von Hen- legung des Koran und helfe dabei, Kinry Fords „Der internationale Jude“. Doch der etwa durch die Befreiung vom für einen Verbotsantrag reichte das Mate- Schwimmunterricht zu desintegrieren. rial gegen Milli Görü≈ nicht. Verwicklun- Langfristig, argwöhnte jüngst der niedergen in Gewalttaten wurden dem Verband sächsische Innenminister Uwe Schünemann (CDU), strebe der Verband die ohnehin nie vorgeworfen. Nach wie vor liegen Verfassungsschützer Einführung der Scharia an – obwohl er aber im Streit mit der IGMG, die gericht- sich regelmäßig zur deutschen Rechtsordlich gegen manche Behauptungen der nung bekennt. Auch Schäuble hält sich eine Hintertür offen: Beim medienwirksamen Treffen mit den Muslimen und ihre Anhänger in Deutschland 2005 im September sollen die Islamische Gemeinschaft Milli Görü≈ IGMG 26 500 Leute von Milli Görü≈ möglichst nicht im ScheinMuslimbruderschaft MB 1300 werferlicht stehen. Und auch zum engeren Kreis Hisbollah Partei Gottes 900 der Schäuble-Gesprächspartner werden sie vorerst VERBOTEN Kalifatsstaat Hilafet Devleti 750 nicht zählen, sie müssen sich mit der TeilVERBOTEN Islamische Befreiungspartei HuT 300 nahme an Arbeitsgruppen begnügen. Quelle: Bundesamt für Verfassungsschutz I N T E G R AT I O N Rasante Wende Vor Jahren sollte Milli Görü≈, der größte Islamistenverband in Deutschland, verboten werden. Jetzt sucht die Politik den Dialog mit ihm. D ie erste Begegnung wird er nicht vergessen. Plötzlich saß Oguz Üçüncü, Generalsekretär der „Islamischen Gemeinschaft Milli Görü≈“ (IGMG), im Bayerischen Staatsministerium des Innern und tauschte Höflichkeiten mit jenem Mann aus, der doch eigentlich als Hardliner gilt und Islamisten regelmäßig den Kampf ansagt. Auch Günther Beckstein (CSU) erinnert sich an jene Begegnung bei Tee und Kaffee gut. Etwa eine Stunde diskutierte er mit Üçüncü – und nicht alle in seinem Haus fanden diesen Schritt im März vorigen Jahres richtig. „Meine Verfassungsschützer“, sagt Beckstein, „sahen dieses Gespräch nicht so gern.“ Schließlich hatten sie sogar V-Leute auf die als islamistisch eingestufte Organisation angesetzt. Selbst im jüngsten Verfassungsschutzbericht des Bundes findet sich Milli Görü≈ unter der Rubrik „Islamistischterroristische Bestrebungen und Verdachtsfälle“ – doch die Politik scheint das kaum mehr zu stören. Bei dem Versuch, die Integration von Ausländern voranzubringen, vollziehen die Innenpolitiker eine rasante Wende und gehen sogar auf einst geächtete Gruppierungen zu. „Wenn ich über Integration nur mit lupenreinen deutschen Patrioten Islamistische Vereinigungen * Am 12. November 2004 in der Fatih-Moschee. 44 Dominik Cziesche d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 Deutschland ISLAMISTEN Mutter Abdullahs Eine deutsche Muslimin aus Berlin soll einen Selbstmordanschlag im Ausland geplant haben. Ermittler warnen vor der Gefahr, die von Konvertiten ausgehen kann. 46 Muslimin Sonja B.*: „Für mich und mein Baby beten“ unter nur ein paar Schritte sind, zeigt der Fall von Muriel Degauque, 38: Die Belgierin starb Anfang November in der irakischen Stadt Baakuba, als sie in der Nähe einer US-Patrouille einen Sprengsatz zündete, den sie unter ihrem Tschador versteckt hatte. Ähnlich wie bei Sonja B. verlief das Leben der Tochter eines Kranführers und einer Putzfrau aus der belgischen Kleinstadt Charleroi eher unspektakulär. Erst nach der Heirat mit einem gebürtigen Marokkaner wurde sie zusehends radikaler. „Kamikaze belge“ nennen die Zeitungen die Konvertitin seit ihrem Tod. Ihre Biografie ist bis ins Detail analysiert worden. „Es sind Leute, die gegen eine Gesellschaft rebellieren, zu der sie sich nicht zugehörig fühlen“, sagt der zuständige belgische Polizist Alain Grignard hilflos. Eine Erklärung für die Motive, warum Konvertitinnen aus Europa in der Ferne sterben wollen, hat auch im Fall Sonja B. niemand. Tagelang behandelten Ärzte die Neuköllnerin nach ihren Vernehmungen psychiatrisch, erst stationär, dann ambulant. Von einer „labilen Psyche“ und Verfolgungswahn ist die Rede. Aber wer sie so radikalisiert haben könnte, dass sie womöglich bereit war, nicht nur ihr eigenes Leben zu opfern, sondern sogar das ihres Kindes, diese Frage haben auch die Ärzte nicht beantworten können. Nachbarn in Neukölln jedenfalls sprechen von einer „sehr netten, sehr freundlichen“ jungen Mutter mit Prinzipien. An ihrer Wohnungstür im ersten Stock einer Fünfziger-Jahre-Mietskaserne hängt ein computergedrucktes Schild „Bitte Schuhe ausziehen“ Selbstmordanschlag (in Karatschi): Tipps und Tricks im Internet und am Briefkasten die Mahnung wo meist Männer die großen Reden halten; sie können unbehelligt reisen, weil sie einen deutschen Pass besitzen. Nur wenn sie einen Fehler machen, wenn sie sich im Internet oder anderswo so verdächtig outen, wie Sonja B. es offenbar tat, gibt es eine reelle Chance, Schlimmeres zu verhindern. Sicher ist, dass die gebürtige Hannoveranerin, die sich sogar für den Personalausweis mit Kopftuch ablichten ließ, eingebunden war in ein Umfeld, das sie in ihrem Glauben bestärkte. Von einem „Schwestern-Netzwerk“ sprechen Staatsschützer, einem Verbund zum Islam konvertierter deutscher Frauen, die meist über ihre Ehemänner radikalisiert wurden und dann oft nicht minder kompromisslos als die Gatten für den Dschihad eintreten. „Konvertiten spielen eine immer wichtigere Rolle im militanten Islamismus“, sagt der Berliner Politikwissenschaftler Guido Steinberg. „Das ist ein Trend, auf den wir uns einstellen müssen.“ Dass es von der bekundeten Sehnsucht nach dem Paradies zu tödlichen Taten mit- ASIF HASSAN / AFP * Am vergangenen Mittwoch vor ihrer Berliner Wohnung. DER SPIEGEL D ie E-Mail an die „lieben Brüder und Schwestern“, verschickt im Morgengrauen des 9. April, war in jener blumigen, zweideutigen DschihadProsa verfasst, die typisch ist für islamistische Internet-Seiten: „Ich bekomme jetzt eine großartige Möglichkeit mit meinem Baby, natürlich habe ich ein bisschen Angst um mein Kind“, schrieb die Autorin, die sich selbst als „Mutter Abdullahs“ bezeichnete, um 5 Uhr 32. „Deshalb will ich euch bitten, für mich und mein Baby zu beten, dass Allah, der Gepriesene, uns für das Paradies akzeptieren wird.“ Der Weg ins vermeintliche Paradies endete jedoch für die Berlinerin Sonja B., 39, offenbar bereits, bevor sie ihn antreten konnte: Wie erst jetzt bekannt wurde, durchsuchten Beamte des Landeskriminalamts in den Nachmittagsstunden des 23. April die Zwei-Zimmer-Wohnung der alleinerziehenden Mutter, die nach Überzeugung der Ermittler die Urheberin der Netzbotschaften ist. Während die mit zwei Sprengstoffhunden angerückten Staatsschützer die Fliesen im Badezimmer ihrer Wohnung im Bezirk Neukölln aufstemmten, brachten Zivilbeamte die junge Mutter im Rettungswagen in eine Klinik, wo sie von Psychologen betreut wurde. Sonja B.s zweijähriger Sohn ist inzwischen in der Obhut des Jugendamts. Deutsch, gläubig, jung, sucht und auf der Suche nach einem direkten Weg zu Allah – diese Mischung ist der Alptraum der Sicherheitsbehörden. Die Ermittler vermuten, dass die zum Islam konvertierte Deutsche in das afghanisch-pakistanische Grenzgebiet reisen wollte, um sich dort als Märtyrerin im Kampf gegen die Ungläubigen zu opfern. Auch der Irak gilt den Fahndern als mögliches Ziel. Weil aber weder die Ankündigung eines Selbstmords noch die Ausreise in eine Krisenregion strafbar ist, ließen die Polizisten die Frau nach mehreren Tagen wieder laufen. Frauen wie Sonja B. schlüpfen leicht durch das Raster deutscher Staatsschützer, weil sie keinem gängigen Muster entsprechen. Sie fallen in den Moscheen nicht auf, d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 Matthias Gebauer, Sven Röbel, Holger Stark PA R L A M E N TA R I E R Verdichteter Verdacht In zwei Ländern regiert die Linkspartei mit. Doch das Bundesamt für Verfassungsschutz überwacht Funktionäre der Partei, die im Bundestag sitzen. I m Deutschen Bundestag gilt Wolfgang Nescovic, 58, als unkonventioneller Typ. Im Juli wird er als Mitglied des Parlamentarischen Kontrollgremiums (PKG), das die Geheimdienste überwachen soll, einen Schnupperkurs beim Bundesnachrichtendienst (BND) machen. Um die Arbeit einer Behörde zu kontrollieren, hat er sein Ansinnen begründet, müsse man auch ihre Innenansicht kennen. Demnächst dürften dem Mitglied der Linksfraktion Nescovic noch ganz andere Einblicke ermöglicht werden – etwa in die Partei, die ihn für den Bundestag nominiert hat. Kurioser könnte die Konstellation kaum sein: Wenn Geheimdienstkontrolleur Nescovic darauf besteht, muss ihm der Chef des Bundesamts für Verfassungsschutz, Heinz Fromm, in geheimer Sitzung erklären, weshalb seine Beamten in der Linkspartei bis heute noch „linksextremistische Bestrebungen“ erkennen können, wie es im Verfassungsschutzbericht heißt. Nescovic kann sogar Einsicht in vertrauliche Dossiers fordern, von denen die Parlamentarier bislang nichts wissen: Aufzeichnungen über Funktionäre der Linkspartei, die im Deutschen Bundestag sitzen. „Dass der Verfassungsschutz sogar Personenakten zu Abgeordneten führt, ist mir neu“, sagt PKG-Mitglied Christian Ströbele (Grüne). „Diese Frage muss dringend geklärt werden, entweder im Kontrollgremium, unter Umständen auch im Untersuchungsausschuss.“ Ein anderes PKG-Mitglied wittert bereits einen neuen „Geheimdienstskandal“. In der Tat ist der Vorgang ohne Beispiel. Denn das Kölner Bundesamt sammelt offensichtlich nicht nur Informationen zur Linkspartei, sondern auch gezielt zu deren Spitzenfunktionären, selbst wenn diese bereits in den Bundestag eingezogen sind. Nach SPIEGEL-Informationen führt der Dienst Personenakten über mehrere Linkspolitiker – und zwar nicht nur über die bekennende Kommunistin Sahra Wagenknecht, sondern auch über Pragmatiker wie Parteichef Lothar Bisky, Bundesgeschäftsführer Dietmar Bartsch und Vorständler Bodo Ramelow. Alle drei sind Mitglieder des Deutschen Bundestags. Erstmals hat das Amt diese spezielle Art der Aufklärungsarbeit zumindest in einem Fall ganz offiziell eingeräumt: Seit wenigen Tagen ist Ramelow, Vizechef der linken Bundestagsfraktion, im Besitz eines Briefs des Bundesamts, in dem dieses mitteilt, dass es zu seiner Person bis heute „verfassungsschutzrelevante Informationen sammelt und speichert“. Auch die Begründung für die Anlage solch einer „Personenakte“ wird mitgeliefert: Aufgrund der vorliegenden Erkenntnisse, „insbesondere seiner Funktionärstätigkeit für die Linkspartei“, liege zu Ramelow „ein konkreter und verdichteter Verdacht in Bezug auf extremistische Bestrebungen vor“. Solch hartes Urteil über einen Bundestagsabgeordneten ist politischer Zündstoff – und eine Steilvorlage für Kritiker des Bundesamts für Verfassungsschutz, dessen * Mit Bundesgeschäftsführer Dietmar Bartsch (5. v. l.), Kommunistin Sahra Wagenknecht (7. v. l.), Parteichef Lothar Bisky (7. v. r.) und Vorstandsmitglied Bodo Ramelow (2. v. r.) auf dem Parteitag am 30. April in Halle (Saale). THÜRINGEN PRESS / ACTION PRESS „Müll vermeiden“ mit drei Ausrufungszeichen dahinter. Die Vorhänge im dunklen Grün des Islam lassen keinen Blick ins Innere zu, aber ab und an schallten Gebetssuren nach draußen. Bei ihrem Einzug hatte ein in ein langes weißes Gewand gekleideter Mann die Möbel getragen. Ihren Sohn schob die Sozialhilfeempfängerin in einem dunkelblauen Buggy durch den Kiez, ein paar Fußminuten weiter bietet eine Moschee mit Leuten aus dem Umfeld palästinensischer Radikaler Gelegenheit zum Gebet. „Es war, als wollte sie sich oder ihren Sohn vor irgendjemandem verstecken“, berichtet eine Bekannte. Bevor Sonja B. Anfang November bei Nacht und Nebel aus dem Ost-Berliner Bezirk Treptow nach Neukölln zog, soll sie Nachbarn von ihrer Angst erzählt haben, jemand könne ihr das Kind wegnehmen. Welche Rolle die Hamburger al-NurMoschee spielte, in der Sonja B. früher gelegentlich verkehrte und welche ihr Mann Abdulrahman Hussein M., von dem sie mittlerweile getrennt lebt, untersuchen die Ermittler derzeit noch. Vielleicht waren es auch erst Freundschaften aus dem Umfeld des internationalen Internet-Forums, in dem sie sich öfter aufhielt, die sie dem Dschihad näherbrachten. Dort, in den virtuellen Weiten des Netzes, suchte sie offenbar sowohl Kontakte als auch Unterstützung, in einem Kauderwelsch aus Englisch und Arabisch. Am 9. März meldete sich Sonja B. laut Ermittlern unter ihrem Pseudonym „Ummu Abdullah“ in dem einschlägig bekannten Forum an, in dem „junge Dschihadisten Tipps und Tricks austauschen“, wie Rita Katz von dem auf Terrorismusforschung spezialisierten Site-Institut in Washington sagt. Einem Rechercheur von Site fielen dann schließlich die eindringlichen Bitten auf, sie in Gebeten zu berücksichtigen – „eine eindeutige Ankündigung, fast ein Abschiedsbrief“ vor dem Märtyrertod, wie Katz glaubt. Allerdings warnen Ermittler vor Panikmache; in den Chaträumen würden sich keineswegs reihenweise deutsche Konvertitinnen zum Dschihad melden, die „Mutter Abdullahs“ sei schon außergewöhnlich weit gegangen. Als deren Ton Anfang April immer schriller wurde, beschloss die von Site alarmierte deutsche Polizei zuzugreifen – zu groß schien den Staatsschützern das Risiko, dass die Frau in Berlin einfach unterund in einer der Krisenregionen dieser Welt wieder auftauchen könnte, womöglich wie Muriel Degauque als Märtyrerin. Sonja B. selbst, die tiefverschleiert wie stets durch Neukölln läuft und sich öffentlich nicht äußern will, räumte einer Vertrauten gegenüber ein, auf islamischen Web-Seiten gechattet zu haben – bestritt aber, einen Selbstmordanschlag vorbereitet zu haben: Sie werde von Polizei und Geheimdiensten zu Unrecht verfolgt. Linkspartei-Bundesvorstand*: Extremistische Bestrebungen? d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 47 Deutschland ROLAND SCHEIDEMANN / PICTURE-ALLIANCE / DPA Einschätzung der umbenannten PDS doch Bundesamt mit jenem Brief ein, der eine etwas gestrig wirkt. Schließlich ist die seit neue Debatte über Sinn und Unsinn der mehreren Jahren in zwei Bundesländern PDS-Beobachtung entfachen dürfte. Schließlich wird der schwere Vorwurf an der Regierung beteiligt, jüngst flog Bisky ganz selbstverständlich im Gefolge von des Extremismus gegen Ramelow nicht beKanzlerin Angela Merkel (CDU) zum Be- legt. Und wie schon die thüringischen Geheimen wollen auch die Kölner nicht alle such nach China mit. Nicht nur im politischen Umgang mit gesammelten Informationen offenlegen. der Linkspartei stehen die Zeichen auf Ent- Wieder ist vage von „Quelleninformatiospannung. Viele Landesämter für Verfas- nen“ die Rede, zu denen man nichts Gesungsschutz haben ihre Beobachtung ein- naues erklären könne, auch wenn beteuert gestellt, allenfalls sind noch linksradikale wird, dass zu seiner Person nur öffentlich Splittergruppen wie das Marxistische Fo- zugängliche Materialien ausgewertet würrum oder die Kommunistische Plattform den. 16 Einträge aus seiner „Personenakte“ im Visier der Geheimen. In Berlin been- werden zumindest konkret benannt: seine dete Innensenator Ehrhart Körting (SPD) Spenden für die Partei etwa, sein Aufstieg an die Landesspitze der thüringischen die Überwachung im Jahr 2003. Demgegenüber wirkt jener 15-seitige, Linkspartei, Beiträge in Parteizeitungen am 11. Mai in Köln verfasste Brief, der und im Partei-Pressedienst werden aufgeRamelow vorliegt, wie ein letzter Ausläu- listet, sein Treffen mit einer Delegation der fer des Kalten Kriegs. Er ist Teil eines KP Chinas, seine Teilnahme an einem Gelangjährigen Rechtsstreits, mit dem Rame- werkschaftskongress, der angeblich von low herausfinden will, welcher Dienst ihm Linksextremisten initiiert war. Offen gibt das Bundesamt zu, dass wann nachforschte und mit welcher Begründung dies auch dann weiter erfolgte, es auch nach seiner Wahl in den Bundestag Informationen zu ihm eifrig „sammelt als er bereits Parlamentarier war. Am 7. März 2002 hatte Ramelow, damals und speichert“. Verfassungsschutzchef Fraktionschef im Thüringischen Landtag, Heinz Fromm bestätigt die Erhebung „personenbezogener Daten“ beim dortigen Landesamt für von Linkspolitikern und rechtVerfassungsschutz den Antrag fertigt sie mit dem Ziel der Parauf Auskunft zu seiner Akte getei, den Kapitalismus zu überstellt. Inzwischen weiß er, wie winden. Allerdings werde groß die Sammelwut der Diens„nicht jedes einzelne Mitglied“ te war, die sich bereits seit 1986 beobachtet. um ihn, damals noch GewerkDabei wissen die Rechtsexschaftsfunktionär in Hessen, perten in Köln nur zu genau, kümmerten. wie brisant es ist, zu einem Ramelow kennt mittlerweile Bundestagsabgeordneten, der – ganz offiziell – sogar Teile seiImmunität genießt und dessen ner Personalakte beim thüFreiheit das Grundgesetz ausringischen Verfassungsschutz Dienstchef Fromm drücklich schützt, eine „Perso(Aktenzeichen P 511 327/VS- Eifrig gesammelt nenakte“ anzulegen. Deshalb Vertraulich). In zwei Ordnern hatten die thüringischen Geheimen zu- sind die Kölner auf einen skurrilen Kniff sammengetragen, was der gen Osten ge- verfallen – auf die Teilung der Person zogene Gewerkschaftsmann nun so im Ramelow in den Funktionär und den Freistaat trieb: gegen Betriebsschließun- Parlamentarier. Zum Erstgenannten, heißt gen protestieren, auf Parteitagen reden, es in dem Brief des Bundesamts, würde Flugblätter verteilen, an Ostermärschen der Dienst Informationen sammeln, zu Letzterem aber nicht. Die Rechte des dopteilnehmen. Zusätzlich jedoch speicherten die Ge- pelten Ramelow seien deshalb durch eine heimen in der elektronischen Schriftgut- „Beobachtungs- und Speichertätigkeit“ erfassung des Dienstes, genannt „Redo“, nicht „in relevanter Weise berührt“. beinahe alles, was sich zu Ramelow fand: Schließlich ziele das Sammeln und AusSelbst die Anfrage eines Journalisten an werten nicht auf eine „Störung der Abgeden Innenminister Thüringens, in der Ra- ordnetentätigkeit“. Das sieht der Betroffene, der von einem melow lediglich erwähnt wird, wurde registriert. Sogar parlamentarische Anfragen „ungeheuerlichen Vorgang“ spricht, nades Landtagsabgeordneten Ramelow wur- turgemäß anders. Inzwischen hat er seine den erfasst. Doch bis heute kennt der Be- Fraktionsspitze darüber informiert. „Grotroffene nicht die „Hinweise von Quellen“, tesk“ nennt Fraktionschef Gregor Gysi das mögliche Spitzelberichte sind weiter ge- Verhalten der Verfassungsschützer. „Der Bundestag soll doch die Geheimdienste heim – weshalb er vor Gericht zog. In diesem Rechtsstreit wurden auch die kontrollieren, nicht umgekehrt.“ Nächste Aktionen des Bundesamts aktenkundig. Woche will die Fraktionsspitze nun ihre Ramelow reagierte prompt und beauftrag- Abgeordneten auffordern, genau wie te seinen Anwalt, auch bei der Behörde in Ramelow Anträge auf Aktenauskunft zu Köln ein Auskunftsersuchen zu stellen. In stellen. Stefan Berg, Holger Stark, Steffen Winter diesem zweiten Verfahren ließ sich nun das 48 d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 Kokainfund aus dem Motorsegler „Nadia“*: Von K R I M I N A L I TÄT Operation auf dem Atlantik Mit Segelyachten schaffen Drogenschmuggler immer häufiger ihre Ware nach Europa – für Fahnder sind sie kaum kontrollierbar. A uf dem Atlantik, nordwestlich der Azoren, herrschte am 28. März schwere See. Ein Sturm tobte, die Wellen gingen bis zu 14 Meter hoch. Die beiden deutschen Segler Rüdiger Sch., 56, und Niko S., 30, hatten Mühe, die rund 15 Meter lange Stahl-Segelyacht „Nadia“ auf Kurs Richtung Spanien zu halten. Außer Sichtweite kämpfte sich ein Schnellboot der spanischen Marine ebenfalls durch das tosende Meer. Aufmerksam hielten die Militärs Ausschau nach der in Flensburg registrierten „Nadia“. Es war aber weniger die Sorge um die Segler, welche die Matrosen antrieb, sondern die Jagd nach deren Ladung. Erst als der Sturm sich gelegt hatte, wagten die Matrosen, die „Nadia“ zu entern und nach Pontevedra in Galicien zu manövrieren. Und dort, im sicheren Hafen, holten die Beamten mehr als eine Tonne nahezu reinen Kokains aus einem Hohlraum im Heck hinter der Ruderanlage. Es war eine der größten Drogenlieferungen, die Fahnder jemals auf einer Segelyacht entdeckt haben. Aber auf solche Boote haben Kollegen in Europa inzwischen ein besonderes Augenmerk. Denn immer häufiger wird Kokain mit scheinbar harmlosen Segelyachten aus Südamerika nach Europa geschmuggelt. 16 Schmuggelboote mit insgesamt mehr als * Im spanischen Hafen von Pontevedra. Der Koks-Kurs Segelrouten der Drogenschmuggler über den Atlantik Westwind-Drift SPANIEN Azoren Kanaren Bermudas Atlantik Kapverden Karibik BARBADOS Passatwinde SURINAM KUBA spanischen Militärs geentert zehn Tonnen Kokain wurden 2005 aufgebracht. „Wir haben es hier mit einem neuen Phänomen zu tun“, sagt Karl-Heinz Dufner, Chef der Rauschgiftfahnder beim Bundeskriminalamt (BKA). Die beiden deutschen Schmuggler hatten den Motorsegler in den Niederlanden übernommen. Da hieß das Schiff noch „Grafemberg“. Die Männer segelten die Yacht ins südamerikanische Surinam, von wo aus sie sich zum Jahreswechsel auf den Weg zurück nach Europa machten. Ihre letzte Station in Übersee war die Karibikinsel Barbados. Dort hatten die Segler ihre Yacht umgetauft, und am 28. Februar stachen sie in See. Wegen der schweren Ladung lag die „Nadia“ zehn Zentimeter tiefer im Wasser als üblich. Der Stoff an Bord hatte fast 90 Prozent Reinheitsgehalt und hätte sich vor dem Weiterverkauf leicht auf die doppelte Menge strecken lassen. Doch ein abgefangenes Telefonat brachte die spanischen Behörden auf die Spur der Deutschen. Der mutmaßliche Auftraggeber, ein Italiener, konnte sich rechtzeitig absetzen. Kokainkonsument (in Berlin) Eine Tonne Stoff im Heck Wegen der steten Windsysteme über dem Atlantik und der Strömungen nehmen Segler zwischen Europa und Amerika fast immer jene Route, die schon Christoph Columbus wählte. Sie führt von den Kanarischen Inseln Richtung Kapverden und dann nach Westen, quer über den Atlantik. Der Rückweg geht über die Bermudas bis fast an den 40. Breitengrad und von dort aus ostwärts (siehe Grafik). Und auf dieser Route sind nun immer mehr Drogenschmuggler unterwegs, ihre Ware verstecken sie in den Hohlräumen unauffälliger Segelyachten, die bislang kaum kontrolliert wurden. Fast 50 Tonnen Kokain wurden 2005 in Spanien sichergestellt, knapp 10 Tonnen davon fanden sich an Bord von Fischkuttern und Yachten. Von Spanien oder Portugal aus wird der Stoff dann in Europa verteilt. Allein in Deutschland zog die Polizei 2005 knapp 1,1 Tonnen Kokain aus dem Verkehr, rund zehn Prozent mehr als im Jahr davor. Trotz solcher Fahndungserfolge ist die Droge offenbar unbegrenzt auf dem deutschen Markt verfügbar. „Auch größere Sicherstellungen haben keinen wesentlichen Einfluss auf die Schwarzmarktpreise“, klagt Jürgen Maurer, Präsident der Abteilung Schwere und Organisierte Kriminalität im BKA. Im Kampf gegen den Drogenschmuggel sollen sich seine Fahnder künftig noch stärker in Südamerika engagieren. Denn am besten werden dort bereits die Spuren der Drogensegler aufgenommen, ist der Schmuggel auf kleinen Yachten doch anders kaum zu überwachen. In den Weiten des Atlantiks haben die Fahnder wenig Chancen, Yachten aufzuspüren oder gar zu kontrollieren – wenn sie nicht schon vorher etwa durch Verbindungsleute in der Szene informiert werden. Für die Banden ist die Methode zudem weitaus effizienter als der Einsatz von Kurieren, die den Stoff in Kondome verpackt d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 schlucken und dann mit ein paar Gramm im Bauch nach Europa fliegen. So gelang es einer Bande von Drogenhändlern aus Berlin, rund zehn Jahre lang regelmäßig große Mengen Kokain an Bord von Booten über den Atlantik und dann via Spanien nach Großbritannien zu transportieren. Mehr als zwei Jahre lang waren deutsche, britische und spanische Fahnder im Rahmen der „Operación Atlántico“ den Schmugglern auf der Spur. Die sechs Hauptverdächtigen sollen Millionen verdient haben. „Sie lebten in Saus und Braus“, sagt ein deutscher Fahnder. Sie besaßen Firmen, Häuser und Wohnungen in Südamerika und Spanien. Einer der Hauptbeschuldigten, Michael Heinz B., 62, lebte in einer Villa samt Schwimmbad und Kinosaal auf einem 27 000 Quadratmeter großen Grundstück in Estepona bei Marbella. Diverse Yachten soll die Bande über den Atlantik geschickt haben, der letzte Törn aber wurde ihr zum Verhängnis. Als der blaue Zweimaster „Are Nui“ am 9. Mai vergangenen Jahres die Karibikinsel St. Lucia verließ, klebte bereits ein kleiner Sender im Boot. Eine Spezialeinheit des deutschen Zolls hatte das Gerät in einem günstigen Augenblick in Trinidad angebracht, wo die Yacht wegen Motorschadens fünf Monate lang gelegen hatte. Fortan war die „Are Nui“, die von zwei Deutschen und einem Österreicher gesegelt wurde, unter permanenter Überwachung. 18 Tage später brachte die spanische Marine den komfortablen Segler 500 Kilometer westlich der Azoren auf. Schwerbewaffnete Soldaten enterten die Yacht und steuerten sie in den Hafen von El Ferrol an der spanischen Atlantikküste. An Bord fanden sie dann mehr als 100 Kilogramm Kokain. Bis zu 400 Kilogramm Kokain soll die Bande sonst pro Trip über den Atlantik gebracht haben – ein äußerst lukratives Unternehmen, meint Michael Grunwald von der Berliner Staatsanwaltschaft. Der Einkaufspreis pro Kilo habe bei etwa 3000 Euro, der Verkaufspreis bei 30 000 Euro gelegen. Jeder Hochseetörn brachte so einen Multi-Millionen-Profit. Fünf Komplizen der „Are Nui“-Crew verhaftete das Crime Squad Birmingham in Großbritannien, in Deutschland durchsuchte die Polizei 41 Wohnungen und Büros, sechs Verdächtige wurden festgenommen. Die Anklage ist bereits gefertigt, der Prozess soll demnächst eröffnet werden. Die Hauptbeschuldigten sind weit über 50 Jahre alt. Das dürfte, so hoffen die Ermittler, ihre Bereitschaft zur Aussage deutlich erhöhen. Geständnisse wären wohl der einzige Weg, die Freiheitsstrafen etwas milder ausfallen zu lassen. „Ansonsten kommen die als alte Männer aus dem Gefängnis“, prophezeit ein Fahnder. Andreas Ulrich 49 Deutschland ein älteres Modell. Selbst ein Kennzeichenfragment ist bekannt: Mehrere Buchstaben hat sich eines der Mädchen gemerkt. Doch Kinder könnten sich irren, sagt der Staatsanwalt, Haare kann man färben, Kontaktlinsen ändern die Augenfarbe, das Sonnenstudio kann man meiden, und Raucher haben keinen Eintrag im Pass. „Das Auf der Suche nach einem SexualEinzige, was sicher ist, ist die DNA“, sagt straftäter plant die Dresdner Avenarius – deshalb das äußerst grobe RasPolizei den größten DNA-Massentest ter bei dem Test. Über tausend Fahrzeuge haben die ErDeutschlands. 80 000 Männer mittler bisher überprüft, einmal hatten sie sollen Speichelproben abgeben. einen Volvo, sogar mit Spermaflecken auf dem FahrerUMFRAGE: SPEICHELPROBE sitz, doch es war die falsche DNA. Die Beamten suchten „In Sachsen soll bald der vergebens in Waschanlagen, bisher größte DNA-Massentest Autovermietungen und Autohäusern nach dem Mobil. Deutschlands zur Aufklärung 800 einschlägig Vorbestrafte von Sexualstraftaten beginnen: wurden überprüft – all das 80000 Männer sollen Speichelohne Ergebnis. proben abgeben. Bis heute kennen die ErHalten Sie dieses Verfahren mittler nicht einmal die für angemessen?“ Tatorte. Der Unbekannte hatte die Mädchen entführt JA und mit dem Wagen an 68 % entlegene Orte in der Stadt gebracht, um sich an ihnen NEIN 30 % zu vergehen. Wohin genau, das wissen die Mädchen TNS Infratest für den SPIEGEL vom 29. und 30. Mai; nicht, aber die Fahnder rund 1000 Befragte; an 100 fehlende Prozent: „weiß nicht“/ schließen aus anderen Hinkeine Angabe weisen, dass der Täter sich sehr gut auskennen muss in Polizeibeamte bei DNA-Abnahme: Kriminalistisches Flächenbombardement ohne Beispiel Dresden. Eine hinzugezogene Psychologin glaubt, o ganz wohl ist dem Dresdner Ober- puter schlichtweg die Adresse des Topdass sich der Mann selbst stellen könnte, staatsanwalt Christian Avenarius bei verdächtigen ausgespuckt. Die Erschütterungen reichten bis ins In- wenn der Fahndungsdruck nun durch den seinem Rekordversuch nicht mehr. Sein außergewöhnlicher Plan werde tat- nenministerium und in die Polizeispitze, Massentest zu groß wird. Denn bei aller sächlich zu einem „kriminalistischen Flä- ein neues Desaster bei diesem sensiblen Brutalität in der Tat – die Mädchen wurchenbombardement“ führen, einer Treib- Thema kann sich niemand erlauben. Nur: den schwer verwundet – hat sich der Unjagd ohne Beispiel in der deutschen Poli- Das sächsische Landeskriminalamt kann bekannte danach fast fürsorglich verhalzeigeschichte. Und noch dazu einer Hatz, derzeit gerade mal 1000 DNA-Proben pro ten. Statt die Kinder einfach auszusetzen, Monat auswerten. Ohne Hilfe von außen brachte er sie dorthin zurück, wo er sie in deren Ausgang reichlich ungewiss ist. Avenarius plant derzeit den größten würde die Aktion also fast sieben Jahre sein Auto gelockt hatte. Die Ermittler geDNA-Test, den es in Deutschland je gege- dauern – mit privaten Spezialfirmen ver- hen zudem davon aus, dass der Mann sehr gut mit Kindern umgehen kann. Dieser ben hat: Ab Juli sollen 80 000 Männer aus handeln die Ermittler noch. Als verdächtig gelten inzwischen alle weiche Kern, so die vage Hoffnung, könndem Raum Dresden Speichelproben abliefern. Die ganze Auswertung kann sich über Männer in Dresden und Umgebung zwi- te ihn nun zur Aufgabe bewegen. „Wir Jahre hinziehen und soll nach ersten gro- schen 25 und 45 Jahren mit einer Körper- wollen zeigen, dass wir keine Ruhe geben Kalkulationen mindestens 2,2 Millio- größe zwischen 1,65 und 1,85 Meter. Für ben“, sagt Thomas Herbst von der Dresdsie hat das Amtsgericht Dresden auf ner Polizei. nen Euro kosten. Und mit Treibjagden kennen sich seine Die Hatz gilt einem Mann, der im Sep- Grundlage eines neuen Paragrafen in der tember 2005 in Dresden und im Januar Strafprozessordnung den DNA-Test ange- Kollegen aus. 2003 hatten bei Torgau Jah2006 in Coswig jeweils ein Mädchen brutal ordnet. Allerdings bleibt die Teilnahme re nach einem Doppelmord schon einmal missbraucht hat. Die Kinder haben den Tä- freiwillig. Wer nicht hingeht, kann nur ge- 15 000 Männer ihre DNA-Probe abgegeter beschrieben, es gibt einen Hinweis auf zwungen werden, wenn Polizisten konkre- ben. Gefunden wurde der Täter dann jedas Tatfahrzeug, und es gibt vor allem eine tere Anhaltspunkte für eine mögliche Tä- doch nicht in der Stadt, sondern sicher verwahrt in der geschlossenen Psychiatrie DNA-Spur, die bei beiden Vorfällen iden- terschaft vorlegen. Dabei hat die Polizei durchaus Hinwei- Uchtspringe, wo er wegen eines anderen tisch ist. Die Ermittler müssen ihn fassen, der Er- se, die ein engeres Raster zuließen. Denn Mordes saß. Seine DNA war allerdings folgsdruck ist enorm. Denn zum einen der Täter soll zwischen 30 und 40 Jahre nicht in die Gendatei des Bundeskrimiwarnen Psychologen, dass er jederzeit wie- alt und eher schlank sein, er soll blaue Au- nalamts gelangt. Zur finalen Speichelprobe der zuschlagen könnte. Die Einwohner gen und eine recht dunkle Haut haben, er kam die Soko „Wald“ aber dann doch sind extrem verunsichert, im Norden Dres- trug einen Ohrring, und er raucht. Wahr- knapp zu spät: Der Mann hatte sich geradens sieht man kaum noch Mädchen zu scheinlich fuhr er einen silbergrauen Volvo, de in seiner Zelle erhängt. Steffen Winter FA H N D E R KÖHLER / ULLSTEIN BILDERDIENST Treibjagd in Sachsen Fuß in die Schule gehen. Zum anderen hat sich die Dresdner Polizei in einem anderen Missbrauchsfall eine grobe Ermittlungspanne geleistet: Als im Januar die 13-jährige Stephanie in Dresden entführt und fünf Wochen lang sexuell missbraucht wurde, kamen die Beamten dem Täter erst auf die Spur, als das Kind einen Zettel aus dem Haus schmuggeln konnte. Dabei wohnte der Mann ganz in der Nähe des Entführungsortes – und war auch noch einschlägig vorbestraft: Die Beamten hatten jedoch das polizeiliche Auskunftssystem nicht richtig bedient, sonst hätte der Com- S 50 d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 Deutschland CHRISTEN Himmlische Lösung Erstmals könnte ein geweihter Priester Oberbürgermeister einer deutschen Großstadt werden – für die SPD. CDU und Kirche reagieren scharf. D Zum Zorn der Christdemokraten kommt Angst. Als Nachfolger des 2007 aus Altersgründen abtretenden CDU-Oberbürgermeisters Hildebrand Diehl, 66, wollen sie den amtierenden Stadtkämmerer Helmut Müller ins Rennen schicken. Er gilt zwar als Fachmann, der bis spät nachts im Rathaus über Zahlen brütet, wirkt aber gegenüber dem quirligen Kirchenmann so lustig wie ein Sack Zement. Dass der Priester schon deshalb ein „ernstzunehmender Gegner“ (Klee) ist, wird von der CDU nicht bestritten. Die Partei wehrt sich aber dagegen, die hässlichen Gerüchte über Roth in die Welt gesetzt zu haben. Seit Bekanntgabe seiner Kandidatur wird behauptet, der zur Keuschheit verpflichtete Priester habe eine Freundin – eine blonde Kriminaloberrätin vom Bundeskriminalamt. Die Fahnderin, die öfters an Roths Seite in Wiesbadener Kneipen auftaucht, räumt eine „persönliche Freundschaft“ ein, möchte aber weiter nichts sagen. Und der Kandidat dementiert: „Ich habe keine Liebesbeziehung, nur einen großen Freundeskreis. Dazu gehören auch Frauen.“ ARNE DEDERT / PICTURE-ALLIANCE / DPA (L.); FRIEDRICH WINDOLF (R.) as Abstimmungsergebnis fiel eindeutig aus: Von 132 Delegierten stimmten 130 mit Ja. Anschließend feierten die Wiesbadener Sozialdemokraten ihren neuen Kandidaten für die Oberbürgermeisterwahl im Frühjahr 2007 mit minutenlangen Ovationen. Noch verblüffender als der Grad der Einmütigkeit ist die Person des Kandidaten. Ausgerechnet die Sozis mit ihrem Faible für Stallgeruch setzen auf einen parteilosen Außenseiter: den 53-jähri- lerhöchsten zustande gekommen. Als ihm die Kandidatur angetragen wurde, habe er sich als Erstes gefragt: „Was will in dieser Situation Gott von dir?“ Und Gott habe jedenfalls nicht nein gesagt. „Der will von mir, dass ich mein Leben in den Dienst von Menschen stelle. Und das kann ich auch als Oberbürgermeister.“ Für die Genossen – viele sind längst aus der Kirche ausgetreten – gilt der Priester seitdem als Heilsbringer. Mit dem Geistlichen als Menschenfischer wollen die gebeutelten Wiesbadener Sozis, die bei den letzten Wahlen von 34,7 auf 30,2 Prozent absackten, endlich wieder siegen lernen. „Der Mann ist ein echter Knaller“, glaubt der Wiesbadener Parteichef Marco Pighetti. Der frühere SPDOberbürgermeister Achim Exner schwärmte gar von einer „himmlischen Lösung“. Die Kandidatur ist jedoch umstritten. Weil es katholischen Priestern laut Kirchenrecht streng verboten ist, „öffentliche Ämter anzunehmen, die eine Teilhabe an der Ausübung weltlicher Gewalt mit sich bringen“, liegt Roth im Clinch mit den Kirchenoberen. Der Limburger Bischof Franz Kamphaus stauchte ihn wegen „Unge- Kandidat Roth vor dem Wiesbadener Rathaus, Priester Roth: „Was will in dieser Situation Gott von dir?“ gen Wiesbadener Stadtdekan Ernst-Ewald Roth – einen katholischen Priester. So etwas hat es seit Bestehen der Bundesrepublik noch nicht gegeben: Katholische Geistliche betätigten sich zwar immer mal wieder als Einflüsterer christdemokratischer Regierungen, ein höheres Amt aber übernahmen sie nie. Dass ausgerechnet die SPD mit diesem Tabu brechen will, erzürnt die CDU und die Kirche, die nun versuchen, Roth zu verhindern. Denn der wortgewaltige Prediger Roth – ein Mann mit grauen Schläfen und markanten Zügen – ist populär und entspricht durchaus sozialdemokratischem Anforderungsprofil: Er wetterte gegen den IrakKrieg, geißelt Auswüchse des Kapitalismus, kümmert sich als gelernter Sozialarbeiter um Obdachlose und klappert für Bedürftige mit der Sammelbüchse. Sein Schritt in die Politik, versichert Roth, sei in enger Absprache mit dem Al54 horsams“ zusammen, suspendierte ihn von allen seelsorgerischen Aufgaben. Der Kirchenmann darf nicht mehr taufen, niemanden mehr trauen oder beerdigen. Ausnahmen gestattet die katholische Kirche ihren Priestern höchstens, um die Demokratisierung in Entwicklungsländern zu fördern. „Aber Wiesbaden ist nicht Sierra Leone“, sagt Kamphaus. Trotz seiner Suspendierung bleibt Roth freilich Priester. Falls er nicht gewählt wird, kann er beim Bischof um Rückkehr zu Altar und Kanzel bitten. Bis zur Wahl kassiert er ein reduziertes Gehalt, das sogenannte Tafelgeld – ein Umstand, der besonders den politischen Gegner wurmt. „Wahlkampf auf Kosten der Kirchensteuerzahler“ sei das, schimpft der Wiesbadener CDU-Vorsitzende Horst Klee, der dem bislang auch bei Christdemokraten beliebten Stadtdekan seit dessen Einsatz für die SPD nicht mehr grün ist. d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 „Persönlich habe ich da Zweifel“, sagt Bernhard Lorenz, CDU-Fraktionschef im Wiesbadener Stadtparlament. Katholik Lorenz, der früher als Messdiener bei Roth jahrelang das Weihrauchfass schwenkte, versichert aber, das heikle Thema werde im Wahlkampf nicht aufgegriffen: „Wir werden nicht darin herumrühren.“ Bei katholischen Fundis ist der abtrünnige Priester ohnehin unten durch. Gläubige aus seiner Gemeinde werfen ihm „Treulosigkeit“ und „Fahnenflucht“ vor, übers Internet wird der „elende Wechselbalg“ aufgefordert, seinen Schritt rückgängig zu machen, seine Sünden zu bereuen und Buße zu tun. Zumindest Buße muss Roth eh bald tun: Die Wiesbadener SPD hat 28 Ortsvereine. Bis zur Wahl muss der Kandidat bei allen seine Aufwartung gemacht haben. Bruno Schrep Deutschland LEBENSMITTEL Delikatessen mit Gift Importeure drängen mit Fischen und Shrimps aus Asien auf den Markt – doch die Tiere sind oft mit Parasitenkillern verseucht. 58 HOANG DINH NAM / AFP D as Tier hat alle Voraussetzungen für einen Verkaufserfolg: Sein Fleisch ist weiß und saftig, es schmeckt mild und hat wenig Fett. Und deshalb liegt der exotische Speisefisch namens Pangasius – aus der Familie der Haiwelse – inzwischen schon auf Platz zwölf der beliebtesten Importfische in Deutschland. Doch der Fisch stammt, wie auch viele Shrimps und Krabben, vor allem aus Aquakulturen in Asien. Und die Züchter dort scheren sich offenbar wenig um die Gesundheit der Kunden im fernen Deutschland. Auf jeden Fall finden deutsche Lebensmittelkontrolleure immer häufiger importiertes Meeresgetier, das mit Malachitgrün belastet ist – einem für die Nutztierhaltung streng verbotenen Gift, das sehr effektiv Parasiten tötet, aber im Verdacht steht, beim Menschen Krebs auszulösen. Die Funde sind auch ein Musterbeispiel dafür, wie schlecht es trotz vollmundiger Politikerversprechen nach dem Gammelfleischskandal immer noch um die deutsche Lebensmittelkontrolle bestellt ist. Denn der Verbraucher hat bislang noch nichts von ihnen erfahren: Während etwa einige US-Staaten im vergangenen Jahr einen generellen Importstopp für den besonders häufig vergifteten Pangasius verhängten, verschwinden deutsche Messergebnisse oft zwischen den Aktendeckeln der zuständigen Behörden. Kenner des Fischmarkts vermuten seit langem, dass der Boom asiatischer Aquakulturen auch hemmungslosem Chemikalieneinsatz zu danken ist. 60 000 Tonnen Fische, Krebs- und Weichtiere importiert Deutschland jährlich allein aus Südostasien. Rasante Steigerungsraten verzeichnen vor allem Thailand und Vietnam, die Heimatländer des Pangasius. In Südkorea hantieren die dortigen Fischzüchter laut einer Studie mit 140 verschiedenen Antibiotika – viele davon sind weder für Menschen noch Tiere zugelassen. Von Januar 2005 bis Mai 2006 meldete das EU-Schnellwarnsystem RASFF (Rapid Alert System for Food and Feed) offiziell 60 mit Malachitgrün vergiftete Lieferungen. 51 der betroffenen Chargen stammten aus Südostasien. Doch die Zahlen spiegeln keinesfalls die Realität auf dem deutschen Fischmarkt wider. Allein das Untersuchungsamt Cux- Fischfarm in Vietnam: Boom durch hemmungslosen Chemikalieneinsatz haven fand im Jahr 2005 in 15 Fischproben Malachitgrün, rund jede zehnte untersuchte Charge war somit verseucht. Aber: Im wöchentlich zur Warnung der Verbraucher herausgegebenen Bulletin des RASFF taucht längst nicht jeder dieser Befunde auf. Der Grund dafür liegt in der Struktur der deutschen Lebensmittelkontrolle. Die Proben werden in der Regel von Mitarbeitern der Kreisveterinärämter genommen. Die schicken sie weiter an die Landesuntersuchungsanstalten. Und der Kreisveterinär entscheidet anschließend, ob er die ihm übermittelten Informationen weiterleitet, dem Importeur selbst mal auf die Finger klopft – oder beides bleiben lässt. Er handelt zwar im Auftrag seiner Landesregierung, dienstlich ist er jedoch den Landräten oder Kreisdirektoren unterstellt, die es sich mit den in ihrem Beritt Steuern zahlenden Verarbeitungs- und Importbetrieben nicht verderben wollen. Heiß begehrte Ware 16 Import von Fischen und Fischzubereitungen aus Vietnam in tausend Tonnen 14 12 10 8 6 4 2 Quelle: Statistisches Bundesamt 2001 2002 d e r 2003 s p i e g e l 2004 2005 2 3 / 2 0 0 6 Ärger machen neben Malachitgrün auch Antibiotika. Zum dritten Mal innerhalb von sechs Monaten meldete das RASFF am 20. April den Fund hoher Konzentrationen Ciprofloxacin und Enrofloxacin in Fischprodukten aus Fernost. Sie zählten zu den „wichtigsten Antibiotika“ im Krankenhaus, sagt Norbert Schnitzler vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte – wer sie an Fische verfüttert, nimmt in Kauf, dass Patienten resistent werden und ihnen die Mittel nicht mehr helfen. Noch öfter verzeichnen europäische Kontrolleure Spuren des seit 1993 in der EU verbotenen Bakterienkillers Nitrofuran. Das ebenfalls krebserregende Mittel wurde in den vergangenen 16 Monaten laut RASFF in 53 Lieferungen von Shrimps und Fischen aus Südostasien gefunden. Nur ein „schneller und systematischer Austausch von Informationen“, sagen Experten wie Christian Grugel, Chef des Bundesamtes für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit, könne die Sicherheit von Lebensmitteln erhöhen. Aber Stefan Effkemann, Laborleiter des Instituts für Fischkunde in Cuxhaven, fand etwa in diesem Jahr Nitrofuran in Aalen und Malachitgrün in Forellen aus Deutschland. Die Messungen der Chemiefische tauchten niemals in der RASFF-Statistik auf. Mit einem schärferen Vorgehen ließe sich die Affäre um verseuchten Fisch zügig beheben. Müssten die Lebensmittelkontrolleure grundsätzlich öffentlich vor vergifteter Ware warnen – wie es in den USA der Fall ist –, könnte dies die Importeure empfindlich treffen. Zudem benötigt jeder Betrieb, der Lebensmittel tierischer Herkunft in die EU liefert, eine Zulassung. Würden die Behörden die Genehmigungen für Hersteller und Händler, die gedopten Fisch auf den Markt bringen, zurückziehen, dürften sich die Probleme schnell erledigen. Frank Brendel, Udo Ludwig Gesellschaft Szene George (im dunklen Anzug) BI LDBÄNDE SPRACH FORSCHUNG Wilde Heimat Brabbeln auf ewig D ie Hässlichkeit des Daseins – Juergen Teller glaubt ans Ungeschönte. Er hat Models in Verrenkungen geknipst, mit Narben und fettigen Haaren. Er hat mit der Verkleidungskünstlerin Cindy Sherman alle Kostüme dieser Welt probiert und zuletzt die elegante Madame Rampling im luxuriösen Dekor fotografiert – während er als nackter Wilder durchs Format hüpfte. Und nun, da er endlich weltberühmt ist, kehrt er zurück und nimmt sich Deutschland vor: „Nürnberg“ heißt Tellers neuer Bildband, Aufnahmen von den Stätten seiner Kindheit. Da lacht eine Oma aus einem Fenster, da dreht sich ein abgefressenes Spanferkel auf dem Grill, und im verschneiten Wald sitzt ein nackter, schwabbeliger Fotograf – Teller. Dass er dennoch die besten schlechtesten Bilder macht, beweist er mit diesem Buch: Teller gelingen Fotos, die man nicht vergisst – Tellers Heimat, das ist Kitsch, Kälte und Liebe, die übliche Mischung der Gefühle. Teller-Foto „Smiling Ed“ T ruman Burbank brauchte 29 Jahre, um festzustellen, dass sein Leben von Geburt an aufgezeichnet wurde. Das war Hollywood, Jim Carrey als Hauptdarsteller, 1998 in „Die Truman Show“. Der Sohn von Deb Roy ist neun Monate alt und hat noch keine Ahnung, dass seine Laute und Bewegungen der Nachwelt erhalten bleiben – denn das ist Teil eines Forschungsprojekts am Massachusetts Institute of Technology in Cambridge. Wissenschaftler Roy Roy ist Medienwissenschaftler und will, gemeinsam mit dem bekannten Linguisten Steven Pinker, herausfinden, wie ein Kind sprechen lernt. 11 Kameras und 14 Mikrofone hat er dazu in seiner Wohnung installiert, die jede Bewegung und jedes Gebrabbel seines Sohnes bis zu dessen drittem Geburtstag registrieren werden. 300 Gigabyte komprimierter Daten sammelt Deb Roy pro Tag. Ethische Bedenken hat er dabei nicht: Die Aufzeichnungen dienen schließlich der Wissenschaft. Sorgen bereitet Roy allerdings etwas anderes: „Meine Stromrechnung hat sich in den letzten Monaten vervierfacht.“ d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 61 MIT Der Präsident des US-Autorennens Indy 500, Tony George, 46, über Rennfahrer und Flieger „Die Jungs auf dem Foto sind keine Piloten, sie sind Rennfahrer. Zum 90. Indianapolis 500 wollte ich ein besonderes Gruppenfoto. Es sollte eine Verbindung zum Militär schaffen, seit 1911 findet das Rennen jedes Jahr zum Memorial Day statt, dem Gedenktag für unsere Kriegsgefallenen. Also habe ich den ehemaligen Flugzeugträger USS ‚Intrepid‘ gemietet, heute ein Museumsschiff vor New York. Mit den 33 Fahrern flog ich nach New York, an Bord hatten wir den BorgWarner-Pokal, auf dem die Gesichter aller bisherigen Gewinner eingraviert sind. Letzten Sonntag war es dann so weit, mit den Worten ‚Ladys and Gentlemen, start your engines‘ gab meine Mutter Mari das Startkommando für die 200 Rennrunden. Gewonnen hat Sam Hornish, der steht auf dem Foto rechts hinter mir.“ MARY ALTAFFER / AP Was war da los, Mr George? Gesellschaft Szene EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE Der perfekte Experte In 78 Sekunden zum TV-Star 62 verfällt in Laufschritt. Es geht um Sekunden, okay? Um Sekunden? Die Bewerbung liegt doch Monate zurück, aber Guy ist kein Spielverderber, er rennt mit. Mal ehrlich, die Briten sind doch alle irre. Ein Fahrstuhl, ein Flur, ein kleiner Raum. Schnell pudern, sagt der junge Mann. Pudern? Damit du nicht glänzt, Süßer, die Maskenbildnerin hat eine rauchige Stimme und ein Schminktäschchen am Gürtel und wutscht mit dem Pinsel über sein Gesicht. CAMERA 4 / IMAGO B eifall rauscht, Gelächter, Jubel, sie erkennen ihn, sein Foto war ja in allen Zeitungen, „talk of the town“, schrägste Story Londons, und winkend stapft er bis zu der roten Bühnenmarkierung, genau wie der Regisseur es ihm erklärt hat, blinzelt in die Scheinwerfer, grient, ein schwerer schwarzer Mann, Schweißtröpfchen auf der stumpfen Nase, zwischen den Schneidezähnen eine Lücke. Wenn seine Eltern ihn jetzt sehen könnten. Guy, we love you, rufen sie. In den vorderen Stuhlreihen sitzen hübsche Mädchen. Er wirft eine Kusshand, rum-bum-bum-bum, jetzt trampeln sie sogar mit den Füßen, kreischen. Guy, we love you! Rum-bum-bum. Gestern noch ein Arbeitsloser, und jetzt der Eröffnungsauftritt in „Friday Night“, der beliebtesten Fernsehshow. Sie lieben ihn, ein Star ist er, Guy Goma, 36 Jahre alt, aus Brazzaville im Kongo, doch wie es dazu kam? Er hat keine Ahnung. Der Aufstieg des Guy Goma beginnt elf Tage zuvor, am 8. Mai, um 10.27 Uhr, beginnt im Erdgeschoss eines gläsernen Turms, im Westen von London, im Foyer der BBC. Guy hat sich als Buchhalter beworben. Er trägt sein bestes Hemd, hellblau, das graue Sakko hat er reinigen lassen. Er hat dem Pförtner seinen Namen genannt, Zettel ausgefüllt, jetzt wartet er. Hier ist viel los, Guy staunt. Ständig schlägt die Schwingtür, schöne Frauen klackern durchs Foyer, eilige Männer mit Plastikausweisen um den Hals, Regisseure, Schauspieler – und übrigens steht zur selben Zeit ein unauffälliger Mann an der Rezeption, rotblonder Bart, der ebenfalls Guy heißt, Guy Kewney, Fachmann für Rechtsfragen im Internet. Es gab ein Gerichtsurteil an diesem Morgen, ein Streit in der Computer- und Musikindustrie; eine recht öde Sache, aber ein Thema fürs BBCFrühstücksfernsehen, und Guy mit dem Bart ist jedenfalls als Experte geladen. Um 10.28 Uhr kommt ein junger, atemloser Typ und fragt nach „Guy“. Das bin ich, sagt Guy Goma, der Guy ohne Bart. Okay! Cool! Der junge Mann redet sehr schnell. Hey, toll. Nett, Sie kennenzulernen, bitte mitkommen – der Typ Goma beim Fernsehauftritt* Aus der „tageszeitung“ Nicht glänzt? Okay, und das Mikro stecke ich ans Revers, rasch bitte, okay? Der junge Mann fummelt an ihm, schon sitzt Guy im Sessel, schon stellt ihn eine blonde Karen Sowieso vor als Herausgeber der Technology-Website „Newswireless“. Wie? Moment. Guy erschrickt. Er zuckt, lächelt verzerrt. Seine Augenlider flattern. Er möchte was klarstellen, hier liegt ein Irrtum vor, aber anscheinend sind sie schon auf Sendung. * Die BBC-Aufnahme kann eingesehen werden auf SPIEGEL ONLINE unter www.spiegel.de/panorama/ bbc-interview. d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 „Hallo und guten Morgen!“ Kamera. Auf ihn gerichtet. Rotes Licht. Blonde Frau starrt ihn an. „Hat dieses heutige Urteil Sie erstaunt?“ Guy ist erstaunt, und wie. Aber er antwortet – er antwortet ausweichend, nichtssagend und irgendwie tapfer. Die Moderatorin reagiert, als hätte sie gerade die faszinierendste Antwort der Welt bekommen. Nächste Frage: „Werden, mit Blick auf die Kosten, Ihrer Meinung nach mehr Leute online downloaden?“ Blick auf Kosten? Welche Kosten? Welche Leute? Äh, hm, eigentlich, antwortet Guy, sieht man doch überall Leute, die irgendwas aus dem Internet downloaden. Aber ich denke, äh … Es ist besser für die Entwicklung und, äh … Und um Leute zu informieren, was sie wollen, und damit sie schneller kriegen, was sie wollen … Guy wird von Antwort zu Antwort sicherer. Nächste Frage: „Es scheint, die Musikindustrie macht Fortschritte, weil immer mehr Leute downloaden?“ Guy will gerade ansetzen, jetzt allerdings erfährt Karen, dass sie den Falschen erwischt haben. Der richtige Guy wartet noch im Foyer, und was er da auf den Fernsehern sieht, vor allem sein eingeblendeter Name, missfällt ihm. Im Studio sieht Karen plötzlich aus, als hätte sie was Verfaultes im Mund. „Vielen Dank, wir schalten um.“ An den Rest kann sich Guy kaum erinnern. Derselbe junge Typ, jetzt betreten, geleitet ihn ins Foyer. Nach einer halben Stunde holt man ihn wieder ab, diesmal zum Vorstellungsgespräch, leider herrscht in seinem Kopf nur Leere. Weil es anfangs hieß, er sei ein Taxifahrer, dauerte es ganze acht Tage, bis ihn die Rechercheure der „Sun“ endlich fanden. Guy erzählte ihnen treulich seine Geschichte, erzählte sie auch „Daily Mail“, „Daily Telegraph“, den Radio- und Fernsehleuten von GMTV, ITN, Channel 4, CNN, Capital Radio, den Teams aus Japan und Neuseeland, er war der perfekte Experte, der ein für alle Mal bewies, worum es im Fernsehen geht: Jemand fragt, jemand antwortet, und das reicht. Die Krönung für Guy war die Einladung zu „Friday Night“. Das Honorar betrug 100 Pfund. Und so steht er jetzt auf der Bühne von Studio vier und wirft Kusshände und genießt den Applaus, genau 30 Sekunden lang. Guy, we love you. Sein Auftritt als Experte hatte allerdings 48 Sekunden länger gedauert. Vielleicht ist dies der Anfang des Vergessenwerdens. Ralf Hoppe Gesellschaft · Sport Nationalmannschaft vorm Brandenburger Tor: „Ich bin mit Sicherheit kein extremer Patriot“ CAMERA 4 / IMAGO W E LT M E I S T E R S C H A F T „Wir brauchen einen Rausch“ Das Berliner Regierungsviertel verwandelt sich in eine Fan-Meile, die Polit-Prominenz drängt ins Rampenlicht. Die Fifa-Fußball-WM 2006 in Deutschland, das größte Sport- und Medienspektakel der Nachkriegszeit, ist auch ein politisches Großereignis. Von Jürgen Leinemann R egiert Fußball die Welt? Seufzend nimmt Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble das Motto einer Veranstaltung auf, zu der im Mai Parlamentarier aus den Teilnehmerländern der „Fifa WM 2006“ in der Berliner Friedrich-Ebert-Stiftung zusammengekommen sind: „Man neigt dazu, die Frage zu bejahen.“ 64 Natürlich widerruft der Minister am Ende pflichtschuldig seine Aussage. Aber dass ihm solche Anwandlungen gar nicht erspart bleiben können, dafür sorgt in der Hauptstadt die optische Allgegenwart „der größten internationalen Veranstaltung, die in Deutschland je stattgefunden haben wird“, wie Gerhard Schröder zu schwadronieren pflegte, als er noch Kanzler war. d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 Eine Fußballarena unmittelbar vor dem Reichstag. Ein Fernsehturm, dessen Kuppel zum Fußball mutiert ist. Der Fußballglobus am Brandenburger Tor. Die eingezäunte Renommierallee zwischen Siegessäule und Pariser Platz, die als Fan-Meile dient. Vor allem aber jene zwei gigantischen Fußballstiefel, die – je 12 Meter lang, 5 Meter hoch, 4,5 Meter breit und 20 Tonnen schwer – in Die Vorfreude war groß, sie wurde von mehr läuft. Mythen reduzieren komplexe Sichtweite des Kanzleramts auf dem grüUnternehmen, Politik und Medien bis zur Botschaften auf einfache Codes. Sie transnen Rasen herumstehen. An diesen Schuhen ist alles ein paar Hysterie zusätzlich angeheizt. Jeder Bürger portieren Zuversicht und Selbstvertrauen, Nummern zu groß – die Ausmaße, der sollte Deutschland sein – jeder ein Freund indem sie suggerieren, der Mensch habe für unsere Gäste, ein Wunder an guter sein Schicksal selbst in der Hand, ErfolgsAufstellungsort und die Symbolik. Kinder rutschen auf den silberglasierten Laune, ein Weltmeister der Organisation. geschichten seien wiederholbar. „Wir sind wieder wer“, jubelten damals Töppen herum, Touristen posieren davor „Wir brauchen eine Stimmung wie einen zum Familienfoto. Und jeder weiß die drei Rausch“ wünscht sich Peter Danckert Millionen Deutsche, denen noch der TrümStreifen auf den Sportschuhen zu deuten – (SPD), der Vorsitzende des Sportausschus- merstaub des verlorenen Krieges in den Reklame. Aber das ist eben ein Irrtum, wie ses im Deutschen Bundestag, „am besten verschlissenen Klamotten hing. Und wer und was und wie sind wir heute? ein Schild aufklärt, oder wenigstens fast – auch einen Kaufrausch.“ Das Land überzog sich mit Fußballweil nämlich die Schuhe zwar werben, aber eben nicht für Adidas speziell, son- opern, -revuen, -ausstellungen, -lesungen, enn Angela Merkel darüber redet, dern für Deutschland schlechthin, das sich mit Kicker-Werbespots, schwarzrotgoldewas sie am Fußball faszinierend nen „Dessous für heiße Fußballnächte“, findet, dann schützt sie sich vor der Geals „Land der Ideen“ anpreist. Die erste Idee ist, dass die Schuhe natür- Weltmeister-Anlagefonds und den Grinse- fahr, nicht ernst genommen zu werden, lich auf die WM 2006 verweisen. Dass die masken des offiziellen Fifa-Emblems indem sie selbstironisch lächelt. „Ich bin ja, was dieses Thema angeht, Skulptur im Regierungsviertel in einer ,No win‘-Situation“, steht und signalisiert, wie begrient sie. Niemand werde dingungslos sich die deutsche ihr abnehmen, dass sie sich Politik hinter dieses Event seit ihrem siebten Lebensstellt und wie hemmungslos jahr für das Spiel interessiert sie davon zu profitieren trachhabe, ohne natürlich selbst tet – das ist die zweite. spielen zu können. Aber soll Und drittens schwingt in sie etwa damit rumprotzen, der Verherrlichung der dass sie sich schon als Sturechtzeitig zur WM 1954 dentin in Leipzig beim Spiel erfundenen SchraubstollenDDR gegen England den schuhe, die der HerbergerHintern abgefroren habe? Elf auf rutschigem Boden Dabei scheut sich die festen Halt und damit den Kanzlerin überhaupt nicht, Weltmeistertitel verschaffmitzureden. Demonstrativ ten, die Hoffnung auf eine setzt sie sich Ende April im Wiederholung des „Wunders Berliner Oympiastadion bei von Bern“ mit. den Endspielen der Frauen Ein „magisches Datum“ und Männer um den DFBist dieser 4. Juli 1954 für Wolfgang Schäuble, JahrPokal zum vielgescholtenen gang 1942, und seine AltersTeamchef Klinsmann, der – gefährten Schröder, Stoiber, von seinen Mitstreitern OliFischer und Struck. Selbst ver Bierhoff, Jogi Löw und wenn man ihn nachts um Andreas Köpke umringt wie drei aus dem Schlaf holen von einer Schutztruppe – in würde, erzählt der Innenmi- Torhüter Kahn, Kanzlerin Merkel: „Ich bin ja in einer ,No win‘-Situation“ eisiger Isolierung inmitten nister, könne er noch fehlerder offiziellen Funktionärsfrei die Aufstellung der deutschen Sieger- „Deutschland 2006“, als wäre es von einer und Politikergarde am Tisch hockt. Zuvor Seuche befallen. mannschaft hersagen. hatte sie sich sogar schon heimlich mit ihm Doch je näher das Turnier heranrückte, zum Essen getroffen. Bundespräsident Horst Köhler, Jahrgang ’43, proklamierte in seiner Weihnachtsan- desto bedrohlicher begann sich der HeimSein Reform-Elan gefällt ihr. Wenn man sprache 2005 die Wiederholung sogar zum vorteil in einen Erfolgsdruck zu verwan- von einem Kurs überzeugt sei, müsse man Staatsziel: „Im kommenden Jahr wollen deln. Die Erwartungen blieben, aber zu- daran festhalten, mahnt sie. Und es klingt wir Fußballweltmeister werden.“ Und Sil- gleich schien jedes sportlich, politisch oder wie Selbstanfeuerung, wenn sie hinzufügt: vester schob Bundeskanzlerin Angela Mer- gesellschaftlich missliche Ereignis Vorbote „Wankelmut schafft kein Vertrauen.“ Das kel nach: „Ich glaube, die Chancen sind einer nationalen Katastrophe zu sein. Fußball-Establishment hingegen schmollt. Aber hatten wir das nicht schon öfter? Bei der Diskussion mit Klinsmann und gar nicht schlecht.“ Das Ereignis, das nicht nur für das ganze Gerade im Vorfeld späterer Titelgewinne? dessen Assistenten Löw sind es nicht die Land wichtig ist, sondern vier Wochen lang „Auch 1954, 1974 und 1990 gab es schlech- Herren Fachleute, die sich am lebhaftesten rund 30 Milliarden Fernsehzuschauer auf te Ergebnisse und heftige Diskussionen“, und ausführlichsten äußern. Auf eine paradoxe Weise wirkt Angela allen Kontinenten faszinieren soll, beginnt macht sich DFB-Präsident Theo Zwanziger am 9. Juni, wenn in München zur Eröff- Mut: „Am Ende sind wir doch Weltmeister Merkel im Kreise von berühmten Ex-Fußnung der WM 2006 das Spiel Deutschland geworden.“ ballstars, DFB-Funktionären und sentiUnd so wird dieser Tage von Sportfunk- mentalen Alt-Amateuren männlich begegen Costa Rica angepfiffen wird. Und ein Titelgewinn – der vierte nach 1954, 1974 tionären, Politikern, Wirtschaftsbossen, in herrschter als die gefühlsbeladenen alten und 1990 – böte, wie es Teamchef Jürgen den Medien und an den Stammtischen der Knaben. Schwer vorstellbar, dass sie bei Klinsmann ausdrückt, „die Chance, der Nation tapfer das „Wunder von Berlin“ einem Spiel mit hochrotem Kopf vom Welt zu zeigen, wer wir eigentlich sind. herbeigeredet: die aktualisierte Neufassung Sitz hochschnellt, brüllt und die Arme in Wir haben die Möglichkeit, Deutschland des legendären Fußballmirakels von 1954: die Luft wirft. Die Kanzlerin bewegt sich neu zu definieren: eine Marke, einen Es gibt Hoffnung, auch wenn man sich auf der Tribüne mit der gleichen unaufganz unten wähnt und scheinbar nichts geregten Selbstverständlichkeit wie inzwi,brand‘, zu schaffen“. UWE KRAFT W d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 65 CHRISTOF KOEPSEL / GETTY IMAGES Gesellschaft · Sport Gesellschaft · Deutsche Fußballfans in Düsseldorf: Die sommerliche Leichtigkeit, die Christos Reichstagsverhüllung zu einem Volksfest werden ließ schen im Bundestag oder auf einer Technologiemesse. Sie meint ja auch, wenn sie „Faszination“ sagt, nicht jene jungenhaft-emotionale Begeisterung ihres Vorgängers Gerhard Schröder. Die Naturwissenschaftlerin Angela Merkel betrachtet Fußball systemisch, für sie ist das Spiel reine Kopfsache – eine komplexe Kombination von Spontaneität und Plan, von „exzentrischen Einzelleistungen“ und dem „blinden Sichverstehen“ als Mannschaft, von PsychoSpielen zwischen Verteidigern und Angreifern; kurz: Auf dem Fußballplatz geht es in ihren Augen zu wie in der Politik. Und natürlich ist sie sich über den politischen Werbewert der WM völlig im Klaren. 1954 ist Angela Merkels Geburtsjahr. Sie hat viel nachgelesen über diese Zeit, sie teilt die Einschätzung, dass das „Wunder von Bern“ nicht reproduzierbar sei. Nicht nur die historische Ausgangssituation hält sie für unvergleichlich, auch die Spieler seien völlig andere Typen gewesen. Die Nationalspieler – die als Vertragsspieler nicht viel mehr verdienten als Facharbeiter – seien damals den Durchschnittsbürgern noch viel näher gewesen als die Bundesliga-Stars heute, glaubt sie: „Die haben Deutschland in seiner großen Breite repräsentiert.“ Nur deshalb habe ihr 66 Sieg auch die nachhaltige Wirkung haben können, die als Mythos bis heute trägt. Im Grunde, sinniert sie, brauche die Nationalmannschaft eine Art „Baumschulen“-Effekt. Die Spieler müssten „Jahresringe“ bilden können, um zu einer anderen „Holzdichte“ heranzureifen. Erst dann werde auch die Identifizierung der Fans mit der Nationalmannschaft wieder enger werden. Zurzeit, glaubt die Kanzlerin, verflöge die Freude im Falle eines deutschen WM-Erfolgs schneller als 1954. Und frühzeitiges Ausscheiden – womit sie natürlich nicht rechnen darf – würde leichter verkraftet. D as „Wunder von Bern“ hatte sich 1954 noch in völliger Abwesenheit deutscher politischer Prominenz ereignet. Kein einziger Bundesminister, geschweige denn der Kanzler oder gar der Bundespräsident, saß auf der Tribüne des regentriefenden Wankdorf-Stadions, als Tausende deutsche Fußballfreunde siegestrunken „Deutschland, Deutschland über alles“ anstimmten. Die Bonner Herren schickten karge Telegramme und hielten sich auch fern, als das Volk seine Helden bei der Heimkehr feierte. Heute gehören bei Spitzenspielen Politiker zum Stammpublikum in den Ehrend e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 logen. Im Medienzeitalter sind Sport und Politik als Varianten des Showgeschäfts zusammengewachsen, und vor allem der Fußball garantiert in seiner Mischung aus Zirkus, Volkskultur und Big Business die Faszination von Erfolg und Macht. Die Annäherung einer immer populistischer werdenden Politik und eines immer stärker durchrationalisierten Fußballgeschäfts hatte Bundeskanzler Helmut Kohl 1986 im Azteken-Stadion von Mexico City besiegelt, als er nach dem verlorenen Finale gegen Argentinien alle deutschen Spieler erbarmungslos an seine Brust zog, öffentlich herzte und fast erdrückte. Auch die Kanzler Willy Brandt und Helmut Schmidt hatten sich bei Welt- und Europameisterschaften schon im Glanz der bundesdeutschen Kicker gesonnt. Aber keiner suchte die Nähe zu den Sportlern so körperlich, keiner machte sich so aufdringlich mit den Kicker-Idolen und ihren Nationaltrainern gemein wie Helmut Kohl. Gerhard Schröder traf eher den Kumpelton des aktiven Mitspielers. Die Übergänge zwischen der Politik und dem Fußball sind fließend geworden. Mit dem früheren Mainzer CDU-Landtagsabgeordneten Theo Zwanziger, dem Stuttgarter Ex-Minister Gerhard Mayer-Vorfelder, ebenfalls CDU, und dem ehemaligen Hamburger SPD-Senator Werner Hack- der Prächtigen des Fußballs treibt: die TVBeckenbauers Erfolge haben öffentlich mann als Präsident der Bundesliga stehen Prominenz. stattgefunden, nicht am Verhandlungstisch längst Politikprofis an der Spitze des Deutund hinter geschlossenen Türen. Jeder hat schen Fußballs. Zwanziger tritt gefällig enn Außenminister Steinmeier und sie gesehen, Zehntausende sogar live. „Die und medienbewusst auf, gibt sich offen, Weltfußballer Beckenbauer heute ge- Wahrheit is’ auf ’m Platz“, heißt die ultiformuliert glatt und unangreifbar – ein meinsam in der Hauptstadt vor die Mikro- mative Erfahrung der Kicker-Gemeinde. Harmoniemensch ohne Ecken und Kan- fone treten, dann klingen sie so synchron Doch wer wüsste definitiv, wo die Wahrten, in jeder Talkshow könnte er für Au- wie das doppelte Lottchen. Hier „der heit der Politik liegt? Die Leistungen der Fußballer sind eben ßenminister Frank-Walter Steinmeier ein- Frank“, 50, aus Detmold, da „der Franz“, 60, aus Giesing – zwei soziale Aufsteiger, nicht nur von Statistiken und Tabellen abgewechselt werden. lesbar – Beckenbauer: 69 Siege in Stolz erzählt der DFB-Chef, 103 Länderspielen –, womit sie dass er am selben Tag, dem dritten vergleichbar wären mit PolitikerSonntag im März 1981, seine KarGewinnen bei Landtags- und rieren als Politiker und als FußBundestagswahlen. Sie sind durch ballfunktionär begonnen habe: Zweikämpfe und Lattenschüsse Vormittags wurde der Profi-Jurist dokumentiert, mit Selbsttoren, und Amateur-Halbstürmer zum Bänderrissen und KnochenCDU-Vorsitzenden des Rheinbrüchen bezahlt, also ganz archaLahn-Kreises gewählt, abends zum isch durch Blut, Schweiß und TräVereinsvorsitzenden seines Clubs nen beglaubigt. Der wehende VfL Altendiez. „Mir war immer Blondschopf des stürmenden deutlich: Du kannst beides. Du Klinsmann, die Wutausbrüche des darfst nur den Sport nicht parteieleganten „Kaisers“, die wuchtipolitisch nutzen.“ gen Kopfballtore des „Prada-ProDer Innenminister Wolfgang fis“ Ballack – das sind QualitätsSchäuble, der, bevor ihn 1990 ein markenzeichen, die im Alltag der Attentäter in den Rollstuhl schoss, Politik ihresgleichen suchen. selbst gespielt hat – sogar noch in Diese Spitzenleute sind längst der offiziellen Auswahl des Deutdaran gewöhnt, als Repräsentanschen Bundestags zusammen mit ten eines modernisierten, weltofFranz Müntefering, den er seither fenen, demokratischen Deutschduzt –, leistet sich, bei allem Enland ausgestellt zu werden. Eine gagement, eine eher ironische Art „Wunschsohn der BundesDistanz zu den Aufregungen um die WM. Er will nicht so aufrepublik“ nennt der Beckenbauertreten, als wäre er „der OberBiograf Torsten Körner seinen befehlshaber im Sport“. Um an WM-Duo Steinmeier, Beckenbauer: „Ergriffen vor Ehrfurcht“ Helden Franz, die Verkörperung einer Ehrung für das karitative des permanenten Erfolgs. „Er hat Engagement seiner Ehefrau teilnehmen zu denen niemand ihre Erfolge an der Wiege nie kritisch nach hinten geschaut, sondern können, schwänzte Schäuble sogar im gesungen hat. Unterschiedlicher in Lebens- immer froh und fröhlich nach vorn gelebt. März den Showtermin mit Klinsmann, art und Lebensweg als der wortgenaue West- Damit war er die Idealfigur für die ältere Beckenbauer und Merkel im Kanzleramt. fale und der launig daherplauschende Bayer Generation, die sich befreien wollte von 16 Kamerateams filmten damals das können zwei Männer kaum sein. Und doch den Schatten der Vergangenheit, von der Staatsereignis vor dem Bundesadler auf haben ihre diskrepanten Karrieren sie jetzt Last des Dritten Reiches. Mit Beckenbauder blauen Fernsehwand im Berliner Kanz- zusammengefügt, als wären sie beide für bei- er konnte man den Augenblick genießen.“ leramt, mehr als hundert Journalisten des zuständig – für Politik und Fußball. Jürgen Klinsmann steht für Aufbruch, drängten sich in der Lobby. BundeskanzWie fühlt sich ein Frank-Walter Stein- Risiko, Bewegung, Offensive, Innovation. lerin Angela Merkel hatte Deutschlands meier neben Franz Beckenbauer, wenn sie In Schwaben geprägt, bei Bayern München Kicker-Elite zum Gipfelgespräch geladen, beide vor Journalisten davon schwärmen, gehärtet, in Italien, Frankreich und Engund die Gäste überraschte sowohl der hit- die WM sei „die perfekte Plattform, um land gereift, in Kalifornien amerikanisiert, darzustellen, welch ein positiver, führt er ein Leben im Schnelldurchlauf. großartiger Standort Deutschland Tempo hat sein Spiel geprägt, radikaler „Die perfekte Plattform, um Da möchte der Politiker doch Optimismus beflügelt seine Auftritte. darzustellen, welch ein großartiger ist“? Dass Michael Ballack aus Görlitz, der lieber von den Journalisten reden Standort Deutschland ist.“ als von sich und dem „Kaiser“, beim BSG Motor Fritz Heckert Karl-Marxdem Begriffe wie Zauber, Charme, Stadt, heute Chemnitz, die fußballerischen Aura und Wunder anhängen und Grundkenntnisse erlernte, längst zur zige Ansturm der Medien als auch die pro- der für Erfolg schlechthin steht. Für einen Kicker-Weltklasse zählt, ist vielen Deuttokollarische Galabehandlung durch die leidgeprüften Polit-Profi wie ihn, der sich schen verborgen geblieben. Dem eleganten Regierungschefin. als Kanzleramtschef der Schröder-Regie- Star-Kicker, der mit dem schweißfreien HaMan kann darüber streiten, ob mit die- rung häufig genug wie der Prügelknabe bitus eines Jungunternehmers aufzutreten ser Veranstaltung nun „der Fußball“ – wie vom Dienst gefühlt hat, sei es ein fast pflegt, klebt – wie seiner Kanzlerin und die „FAZ“ mutmaßte – „in der Absurdität schockierendes Erlebnis gewesen, neben anderen ostdeutschen Landsleuten – seine angekommen“ war oder die Politik. Wer dieser deutschen Legende im Blitzlicht- Herkunft aus der DDR wie Kaugummi an. indes die neue Kanzlerin zwischen den gewitter zu stehen. So hatte Steinmeier die „Dort zählt das Kollektiv, das hat den Weg schmucken Altstars und aktuellen Top- Pressemeute in Berlin noch nie erlebt. für Genies verstellt“, befand ARD-ExperWerbeträgern „Franz“, „Klinsi“ und „Olli“ „Die Journalisten waren ja fast ergriffen te Günter Netzer. posieren sah, der versteht sofort, was vor Ehrfurcht“, staunte der Außenminister, Inzwischen reibt sich Ballack als Kapitän die Mächtigen der Parteien an die Seite „beneidenswert.“ der Nationalmannschaft in Zweikämpfen MARCUS BRANDT / DDP W d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 67 PATRICK LUX / PICTURE-ALLIANCE / DPA auf, verdient auch ohne Geaggressiven Nationalismus der nie-Bonus geschätzte acht Milalten Sorte. Wenn der Teamlionen Euro im Jahr. Und er chef heute bisweilen so ähnlich wird in der nächsten Saison für klingt wie einst „der Chef“, 200 000 Euro die Woche in dann leiht er sich allenfalls HerEngland beim FC Chelsea bergers Psycho-Tricks aus, nicht spielen. seine Gesinnung. Beckenbauer, Klinsmann, Klinsmann habe seinen JungBallack – drei deutsche Erprofis „alle Reste von Mythos, folgsgeschichten der NachTradition und Legende“ ausgekriegszeit, dreimal Hans im trieben, glaubt der fußballkunGlück? dige Schriftsteller Burkhard „Wer sich auf dem Platz Spinnen: Kredit gibt es nur nicht durchsetzen kann, noch auf die Zukunft. Legenschafft es auch im Leben den sind nicht börsentauglich. nicht“, hat Beckenbauer geStatt Mythen zählen Quartalslernt. berichte. „Wie in der ÖkonoDie Herren können sich mie geht es auch in unserem nicht nur intelligenter artikuBewusstseinsalltag nicht mehr lieren als viele ihrer Berufsums Einkleben von Erinnerunkollegen, sie sind auch härter, gen, sondern um Investitionen ehrgeiziger, fleißiger und disins Morgen.“ ziplinierter als der Rest. Gewiss, Michael Ballack, der Ihr Eigensinn und ihre speStar unter den deutschen Spieziellen fußballerischen Talente lern, ist „stolz, für Deutschland haben sie als Individualisten als Erster aufzulaufen“, wie er zu unverwechselbaren Persönversichert. Doch betritt mit dem lichkeiten werden lassen. Zu attraktiven Sachsen nicht nur Idolen des Fußballvolks und der Kapitän der NationalmannAushängeschildern des Exschaft den Rasen – cool, locker, portweltmeisters Deutschland Projektionsfigur Ballack*: Hersteller und Verkäufer zugleich wohlerzogen, die dunkle Haarsind sie aber nur geworden, pracht ordentlich durcheinanweil sie sich auch für die Mannschaft Wirtschaft und Kultur ersetzen die alten deronduliert –, sondern zugleich auch eine quälen können. politischen Mythen der Nation, die – von zentrale Werbefigur von Adidas, der „gloden Nibelungen bis zum Kyffhäuser – aus bal player“ aus weiland Karl-Marx-Stadt, ls Gerhard Schröder im Sommer 2000 guten Gründen als integrierende Kraft ab- eine kickende Litfaßsäule. Ballack und seine Poldis und Schweinis, als Bundeskanzler mit optimistisch em- gewirtschaftet haben. porgereckten Daumen minutenlang neben Schon 1990, im Jahr nach der Wende, die im eigenen Land Deutschland vertreClaudia Schiffer und Boris Becker auf der begannen Beckenbauers Kicker, sich bei ten, verstehen Klinsmanns Fußball nicht Bühne der Messehalle von Zürich die posi- der WM in Italien an das Weltniveau zuletzt auch als ein kommerzielles Angetive Entscheidung für den WM-Austra- der Fußballfolklore heranzuarbeiten. Im bot, das man möglichst attraktiv vertreten gungsort Deutschland zu suggerieren ver- schwarzrotgoldenen Bus fuhren die muss. Sie sind Hersteller, Verkäufer und suchte, ging er ein hohes Risiko ein. Im deutsch-national gestylten Jungmillionäre Produkt zugleich, bemüht, jung, fröhlich, Falle einer Entscheidung für Südafrika – die durch das Land, bejubelt von schwarzrot- ehrgeizig und dynamisch auf dem Weltdurchaus möglich erschien – wäre der Kanz- goldbemalten Fans, die so unermüdlich markt mit den Spitzenangeboten aus Braler mit diesem Auftritt zur Lachnummer ge- ihre Schals und Fahnen in den nationalen silien, Italien und Frankreich mitzuhalten. Empfindung als Ware statt wahre Empworden. Es war nicht nationaler Stolz, der Farben schwenkten wie die Engländer und findung? Fußball ist eine phantastische ihn zu solchem Engagement bewegte, das die Argentinier. Damals betrachtete sich Jürgen Klins- Projektionsfläche für Träume und Aggresihm die uneingeschränkte Wertschätzung Franz Beckenbauers, Jürgen Klinsmanns, mann, der als Profi bei Inter Mailand spiel- sionen, ein Ventil für Hass und Ohnmacht, aller DFB-Großkopfeten und sämtlicher te, „als Individuum auf einem kleinen eine Chance für Versöhnung und gegen deutscher Fußballfans eintrug. Er leitete Planeten“ und ausdrücklich nicht als Bür- Einsamkeit. Fußball ist ein Sport, dessen ger eines Landes, das nur sich selbst Wesen die Ambivalenz ist – Spontaneität wichtig nimmt. „Das ist überholt“, und Plan, Witz und Wut, Geschäft und BeHeute klingt der Weltbürger befand er: „Ich bin mit Sicherheit geisterung. Das Spiel ist Kunst und Politik Klinsmann so markig und kein extremer Patriot.“ Heute, da und Lebensmetapher, für jeden in der Welt altdeutsch wie Sepp Herberger. der Internationalist und Welt- verschieden, für alle verständlich. Allerbürger Klinsmann im fernen Kali- dings auch für vieles missbrauchbar. fornien lebt, klingt er in einem Wolfgang Schäuble setzt auf die Faszidaraus später eine Art moralische Berech- Kinospot so markig und altdeutsch wie nation des Spiels, das sich bisher noch imtigung ab, der real bevorstehenden WM Sepp Herberger, wenn er vom Teamgeist mer behaupten konnte. Als Atmosphäre 2006 eine Nebenrolle in der für dasselbe schwärmt: „Hier gibt es kein Ich, hier gibt der WM wünscht er sich nicht das „Wunder von Bern“ zurück, sondern jene somJahr geplanten Wahlkampfinszenierung der es nur Wir.“ Dennoch wäre nichts irreführender, als merliche Leichtigkeit, die 1995 Christos rot-grünen Regierung zuzuweisen. Jetzt hat Berlin üppig Schwarzrotgold hinter solchen Sprüchen einen Rückfall in Reichstagsverhüllung zu einem unbeaufgetragen, um sich für die WM heraus- die angestaubte nationale Folklore des schwerten Volksfest werden ließ. „Im Idealzuputzen, doch sind diese Farben eher De- 19. Jahrhunderts zu sehen oder gar in einen fall“, spottet der Minister, „merken wir dann am Ende sogar selbst, was für ein koration der „Marke“ Deutschland als natolles Land wir sind.“ ™ tionale Symbolik. Trivialmythen aus Sport, * Werbeplakat in Hamburg. A 68 d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 Gesellschaft · Sport WM-GESPRÄCH „Ein Team von Hermaphroditen“ Der Philosoph Peter Sloterdijk über Torschützenorgasmen und nationale Erregungsgemeinschaften, über den männlichen Jäger, den niemand mehr braucht – und was das alles mit Fußball zu tun hat ist der Punkt, wo man den Begriff „deep Sloterdijk: Ich habe auf dem zweiten Bilsich die WM an, als Fan oder als Philo- play“ ins Spiel bringen darf. Er bezeichnet dungsweg einen passablen Bezug zum Fußdie Arten von Spielen, die den ganzen ball gefunden. Um ein normaler Mensch zu soph? werden, musste ich allerdings den Umweg Sloterdijk: Eher als ein Mensch, der sich Menschen mitreißen. für die Archäologie der Männlichkeit in- SPIEGEL: Der Ur-Mann im Mann ist also über die Anthropologie gehen. Als Anthroteressiert. Das Fußballspiel ist atavistisch, weitgehend nutzlos und nur im Spiel zu ge- pologe erlaube ich mir dann auch sozusagen, Mensch zu sein. Zur Grundausstattung und es ist eine anthropologische Versuchs- brauchen. Haben es die Frauen besser? anordnung. Seit einigen tausend Jahren Sloterdijk: Frauen sind herkunftsmäßig des Menschlichen gehört ein gewisses Maß suchen die männlichen Menschen nach Sammlerinnen, und die braucht man heute an Bereitschaft, gemeinsam mit anderen einer Antwort auf die Frage: Was macht man mit Jägern, die keiner mehr braucht? Von unserem anthropologischen Design her sind Männer so gebaut, dass sie an Jagdpartien teilnehmen. Doch haben wir seit gut 7000 Jahren, seit Beginn des Ackerbaus, die Jäger einem riesigen Sedierungsprogramm unterworfen. Je höher die Religion, desto stärker war der Versuch, den inneren Jäger davon zu überzeugen, dass es im Grunde eine Schande ist, ein Mann zu sein, und dass Männer als Männer niemals des Heils teilhaftig werden. SPIEGEL: Es sei denn, sie spielen Fußball und ersetzen die Jagd nach dem Wild durch die Jagd nach dem Tor? Sloterdijk: So ist es. Es gibt kaum ein Spiel, bei dem unsere alten protoartilleristischen Jagderfolgsgefühle so deutlich imitiert werden können. Wenn Peter Sloterdijk ist Philosoph, Fernsehmoderator und Rektor der Hochschule für Gestaltung in man den inneren Jäger ganz Karlsruhe. Sein Buch „Kritik der zynischen Vernunft“ zählt zu den meistverkauften philosophischen Werken paralysiert, ganz umgebracht des 20. Jahrhunderts. Zuletzt veröffentlichte Sloterdijk, 58, die Studie „Im Weltinnenraum des Kapitals“. hat, dann kommt man unvermeidlich zu der Überzeugung, dass es auf der Welt nichts Dümmeres gibt als die Reaktion von Fuß- mehr denn je, denn aus der Sammlerin verrückt zu werden. Und das gestatte ich ballern nach dem Torerfolg. Es ist wirklich wird auf dem kürzesten Weg die Konsu- mir auf meine alten Tage hin und wieder. obszön, was man da zu sehen bekommt. mentin. Frauen sind in diesem Punkt viel SPIEGEL: Haben Sie einen Goleo gekauft? Eine Pornodarstellerin müsste sich genie- kapitalismuskompatibler als Männer. In Sloterdijk: Ich bin nicht der Maskottren, verglichen mit diesen seltsamen Tor- der Konsumentin zeigt sich noch immer chentyp. schützenorgasmen, die vor zahlendem Pu- diese stille, triumphale Genugtuung der SPIEGEL: Singen Sie die Nationalhymne blikum zum Besten gegeben werden. Aber: Sammlerin, die in ihrem Korb etwas mit? Sobald man auf diesen Mord am inneren heimbringt. Daraus ist dieses mysteriöse Sloterdijk: Dazu bin ich physiologisch unJäger verzichtet und die alten Jagdgefühle weibliche Universal der Handtasche ent- fähig. Ich beobachte manchmal die Spieler zulässt, spürt man sofort, was auf dem Ra- standen. Ein Mann ohne Speer oder oh- und sehe, wie manche bei der Hymne so sen verhandelt wird. Da wird nämlich das ne Ball, das geht ja noch, aber eine verkniffene kleine Lippenbewegungen maälteste Erfolgsgefühl der Menschheit re- Frau ohne Handtasche, das ist wider die chen. Andere verfallen in tiefes, deutsches inszeniert: mit einem ballistischen Objekt Natur. Schweigen. Das wäre wahrscheinlich auch ein Jagdgut zu treffen, das mit allen Mitteln SPIEGEL: Lassen Sie sich persönlich von mein Fall. Ich habe sonst für Gesang viel versucht, sich zu schützen. Ich glaube, das Fußball mitreißen? übrig, aber allein in künstlerischer Gestalt. 70 d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 ANTONIO BELLO SPIEGEL: Herr Sloterdijk, wie gucken Sie ge wirken auf die Stimmung des Kollektivs ein. SPIEGEL: Meckern wir uns unsere letzten Helden zugrunde? Sloterdijk: Helden haben wir ohnehin nicht mehr. Wir haben sie durch Stars ersetzt. SPIEGEL: Was unterscheidet den Star vom Helden? Sloterdijk: Der Held stirbt früh, und der Star überlebt sich – mit dieser Formel bekommt man Übersicht auf diesem Feld. Beide sind eigentlich zu einem frühen Ende berufen. Der Held auf dem Schlachtfeld, wo er fällt, der Star durch seine Wiedereingliederung ins zivile Leben, was ja einer Ausmusterung und somit einem symbolischen Tod gleichkommt. Insofern wäre für die meisten Sportler ein früher Tod nicht schlecht, weil sie nach der Karriere fast ausnahmslos unangenehm werden. Selbst die interessantesten Athleten verwandeln sich, wenn sie als Funktionäre weitermachen, in Muffköpfe. Dann tun sie für den Rest ihres Lebens nichts anderes mehr, als die Gründe, weswegen sie bekannt wurden, Lügen zu strafen. Sie fangen glänzend an – und enden in Selbstdemontage. Das blieb Achilles erspart, weil er einen echten Showdown erlebte. SPIEGEL: In David Beckham oder Ronaldinho, den Stars des modernen Fußballs, ist der Jäger schwer zu erkennen. Sloterdijk: Der Star muss heute mit einer permanenten Überbelichtung leben. Er besitzt ein passives Aufmerksamkeitsprivileg: Er wird sehr viel gesehen – und sieht selbst fast nichts. Die Antwort darauf heißt: Werde Model. Am besten kommen daher die Spieler mit ihrer Starrolle zurecht, die bewusst in die Modelwelt wechseln, wie zum Beispiel Beckham. So jemand kann zeigen, dass der Spieler „Helden haben wir ohnehin nicht mehr, wir haben sie selbst seine Entheroisierung durch Stars ersetzt.“ Werbende Fußballer Roberto Carlos, Francesco Totti, Beckham, Ronaldinho, Raúl verstanden hat. Folglich ist es heute besser, als Hermaphrodit aufzutreten statt als männlicher Heros. Die Kicker-Modie nur im Modus der Reue inneren Zu- gen Klinsmann gezeigt. Warum können wir dels folgen einem evolutionären Trend, der sammenhang erleben kann. nicht dem Bundestrainer und seiner Mann- seit den sechziger Jahren zu beobachten ist: dem Zug zur Hermaphroditisierung. SPIEGEL: Sie haben geschrieben, Nationen schaft vertrauen? seien Erregungsgemeinschaften. Was kann Sloterdijk: Vertrauen ist keine deutsche Das ist eine Langzeitbewegung, bei der die eine Nation mehr erregen als die WM im Option. Wir kennen ja Lenin: „Vertrauen Männer abrüsten und als Klientel für koseigenen Lande? Es gibt immer noch eine ist gut, Kontrolle ist besser.“ Die Deut- metische Angebote entdeckt werden. Menge Leute, denen beim Gedanken an schen machen daraus: „Vertrauen ist gut, SPIEGEL: Ist die deutsche Nationalmannein erregtes Deutschland mulmig wird. Gemecker ist besser.“ Es gibt einen un- schaft ein Team von Hermaphroditen? Sloterdijk: Natürlich. Wenn man die Erfah- glaublich starken Herabsetzungsaffekt bei Sloterdijk: Im Prinzip ja. Wobei sich Klinsrung gemacht hat, dass die Kollektiverre- unseren lieben Landsleuten. Deswegen mann dagegen wehrt. Ich denke, der hat gungen, um mit Thomas Mann zu reden, ist das Amt des Bundestrainers in die- den Kuranyi nicht wegen der angeblich „dämonisches Gebiet“ sind, dann wird sem Land noch ungemütlicher als in schwachen Leistung rausgeschmissen, sonman vorsichtig bei allem, was aufputscht. anderen Ländern. Doch allgemein gilt, dass dern weil er ihm übelnimmt, dass er eine Wir sind gebrannte Kinder, seit wir erlebt der Nationaltrainer so etwas wie ein halbe Stunde braucht, um sein Bärtchen zu haben, dass Kollektiverregungen auch im- Jagdgruppenleiter ist, und seine Erfol- rasieren. Das ist auch ein antihermaphromer Produkt einer gewissen politischen Regie sein können. Solche emotionalen Liturgien werden nach bestimmten Regeln erzeugt und sind von Hause aus instrumentalisierbar. Die Samstagsunterhaltung und der Wille zum Krieg sind psychologische Verwandte. Daher erweist sich der Enthusiasmus als ein missbrauchbares Phänomen. Also sollte man die deutsche Vorsicht nicht nur als eine Neurose ansehen. Es würde genügen, darauf hinzuweisen, dass man auch die Vorsicht moralisch missbrauchen kann. Wer als Deutscher einmal miterlebt hat, wie Engländer feiern und Hymnen singen, meint unwillkürlich, der Faschismus sei auf die Britische Insel ausgewichen. In uns sitzt ein Pädagoge, der auch den anderen ein Ernüchterungsprogramm made in Germany vorschlagen möchte, weltweit. SPIEGEL: In Deutschland wird Erregung schnell hässlich. Das hat der Streit um Jür- IMAGO Das Singen von Nationalhymnen gehört nicht zu meiner Grundausbildung. SPIEGEL: Nationalmannschaft ist einer der wenigen Begriffe, wo wir uns das Wort Nation erlauben. Was bedeutet die Nationalmannschaft speziell für uns Deutsche? Sloterdijk: Zunächst bedeutet sie dasselbe wie bei allen modernen Nationen, die solche Selbstdelegationen auf ihre Mannschaft vollziehen. Da geschehen Stellvertretungsrituale, an denen sich ein Großteil der Population beteiligen will. Wir Deutschen haben in dieser Angelegenheit – wie in den meisten anderen – eine Sonderstellung, weil wir durch unsere Geschichte, spätestens seit 1918 und dem Versailler Vertrag, ein tiefverwundetes Kollektiv sind, teilweise sogar ein revanchebedürftiges. Und nach 1945 wiederum ein Kollektiv, das selbst vor seinen Revancheimpulsen Angst hat und auch die wegzensiert. Wir sind eine bizarre Gruppe, d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 71 Gesellschaft · Sport ANTONIO BELLO PIXATHLON ders als im modernen Theater, wo ditisches Votum von Klinsmann, ein von Anfang an nur Verlierer auftreAnti-Model-Protest. ten, die über ihre Probleme reden SPIEGEL: Ihr Kollege, der Berliner und sich dabei immer weiter verPhilosoph Gunter Gebauer, sagt: knoten, geht es in der modernen Bis heute bleibe das Spiel mit dem Arena immer nur um die Lust an Fuß ein stummer Protest gegen die der Urunterscheidung: Sieg oder gelehrte Kultur. Niederlage. Sloterdijk: Das sehe ich auch so. Für mich war eine der faszinierendsten SPIEGEL: Fußball ist auch ein extreFragestellungen der jüngeren Kulmes Beispiel für Globalisierung. In turgeschichte die folgende: Warum einigen deutschen Bundesligaverhaben wir die Renaissance vom 15. einen spielt kaum noch ein DeutJahrhundert bis ins 19. Jahrhundert scher, im Finale der Champions immer nur als die Wiederkehr der League waren für Arsenal London antiken Literatur und der Künste zwei Engländer auf dem Platz, für erlebt? Jedes Kind weiß doch, dass Barcelona drei Spanier. die Antike bereits eine faszinierenSloterdijk: Was wir in diesem Finale de Massenkultur hatte, den urgesehen haben, war das Spiel von sprünglichen Sport. Unsere klassizwei Weltauswahlen, die lokale sche Renaissance jedoch hat nur das Clubs simulieren. Das heißt aber wieder heraufgeholt, was dem Pläauch, dass der Fußballclub und seisier der Oberschichten in die Hänne Stadt sich genauso in Standorte de gearbeitet hat. Sehr lange hat verwandeln wie die Städte als solman gezögert, neben dem Künstler, che sich in Standorte verwandeln. dem Philosophen und dem WissenIn der Ära der Globalisierung, also schaftler auch die faszinierendste seit 1492, verwandelt sich Heimat antike Figur wieder heraufzube- „Eine Pornodarstellerin müsste in Standort. schwören, nämlich den Athleten. sich genieren.“ Ronaldinho beim Torjubel SPIEGEL: Wenn die Champions Erst vor 100 Jahren ist dieser League ein Wettbewerb der Standzurückgekehrt, und seither prägt er orte ist, was ist dann die Weltdie Szene. Mit seinem Auftauchen meisterschaft? gibt es wieder Vollbeschäftigung für die verdrängen die Sponsoren und VIPs die Sloterdijk: Eigentlich ein restauratives Untimotheischen Regungen der Menschen. klassischen Fans. ternehmen. In einer Situation, in der die Nach der psychologischen Grundlehre der Sloterdijk: Diese Transformation folgt ei- Nationen im Postnationalisierungstrend alten Griechen besitzen wir nicht nur den nem Grundtrend des entwickelten Kapita- schwimmen, stellen sich dann dem Turnier Eros, der uns Dinge begehren lässt, son- lismus: der Verwandlung der Arbeiter in zuliebe die Nationen wieder als Nationen dern wir haben auch den Thymos, sprich Spieler, in Börsianer. Für diese ist typisch, auf. Das ist ein bisschen merkwürdig. das Streben danach, die eigenen Vorzüge dass sie bereit sind, die Verbindung zwi- SPIEGEL: Warum? geltend zu machen. schen Leistung und Bezahlung zu durch- Sloterdijk: Nationalmannschaften haben SPIEGEL: Heutzutage zeigen wir unsere trennen. Was Lohn ist, wissen wir unge- außerhalb des Turniers fast keine Realität. fähr, weil er mit einer Leistung zu tun hat. Im Turnier stellen sie so etwas wie NatioVorzüge durch gekonnte Dribblings? Sloterdijk: Auch. Wir haben es endlich ge- Heute aber genügt Lohn nicht mehr, man nalsimulatoren dar, die eine Population wagt, die antike Massenkultur wirklich zu will die Überbelohnung. Das Verlangen daran erinnern, dass sie sich, wenn sie zitieren – das heißt, neue Kampfspiele nach Überbelohnung ist die aktuelle Form will, auch national identifizieren kann. aufzuführen. Darum bauen wir seit kur- der Gewinnerwartung. Diese Gesellschaft SPIEGEL: Das funktioniert? zem neuantike Kampfstätten – das grie- trifft sich natürlich auch in den Stadien. Sloterdijk: Überaus gut, weil die PartizipaDa ist man unter sich. Die Leute auf dem tionsgefühle der Menschen sonst chronisch chische Stadion und die römische Arena. SPIEGEL: Warum hat man den Athleten erst Rasen sind mit denen in der Lounge ein unterbeschäftigt sind. Wir leben nicht in eiHerz und eine Seele. Alle wissen, dass es ner Welt, die Partizipationsbedürfnisse anso spät wiederentdeckt? Sloterdijk: Man hat wohl gespürt, dass es ge- nur noch um Überbelohnung geht. Wie spricht. Im Gegenteil: Man gehört eigentfährlich wird, wenn man mit diesen Ener- gefährlich das ist, beginnen wir erst all- lich immer sich selbst, bestenfalls der eigien spielt. Erlaubt man dem Volk, sich in mählich zu verstehen, denn wir bekom- genen Zukunft. Obendrein hat man ein Arenen zu versammeln, könnte das leicht men die demoralisierenden Folgen des paar Beziehungen oder ist, wie man so politisch brisant werden. Erst als klar war, Systems nur nach und nach zu Gesicht. schön sagt, vernetzt. Aber Menschen, die dass diese Formen der sportlichen Massen- Im Übrigen ist auch das postmoderne Sta- vernetzt sind, sind ja sowieso in einer postversammlung nicht in Revolutionen um- dion eine harte Wahrheitsmaschine. An- nationalen Situation. Im Allgemeinen will man die Besessenheit durch die Gemeinschlagen, hat man überall diese neuen Geschaft nicht mehr. Die Zivilisationsdrift hege der Massenkultur hingestellt. Die geht dahin, die Gemeinschaften aufzulöAntike hatte ja hier einen vollkommenen sen, und zwar aus einem guten Grund: Archetypus hinterlassen – die Arena mit Weil selbstbewusste Individuen die perihren steigenden Stufen. Selbst wenn man manente Belästigung durch Zugehörigdie modernsten Stadien ansieht, wie die keitsgruppen zunehmend schlechter erAllianz Arena in München, erkennt man tragen. Wir wollen weder Repräsentanten sofort: Das ist noch immer das Kolosseum. des eigenen Stammes sein noch die eigene SPIEGEL: In den modernen Arenen mit Nation im Ausland darstellen müssen. ihren Lounges und Business-Bereichen Trotzdem gibt es Situationen, in denen man sich für ein paar Stunden wieder naSloterdijk, SPIEGEL-Redakteure* * Dirk Kurbjuweit und Lothar Gorris in Sloterdijks tional identifiziert. Karlsruher Wohnung. „Sie wollen harte Fouls sehen?“ 72 d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 DUCCIO MALAGAMBA SPIEGEL: Wenn sich in der Nationalin meinem Leben begegnet ist. Ich mannschaft das Nationale zeigt, selbst habe natürlich überhaupt wäre es dann nicht logisch, in den nichts verstanden. Ich merkte nur, Einwandererfragebogen beispielsdass sich die Erwachsenen alle sehr weise die Frage reinzuschreiben: merkwürdig benahmen und begeisWer hat 1974 für Deutschland im tert taten aus einem Grund, der mir Endspiel gespielt? Als Beweis dafür, völlig undurchsichtig blieb. SPIEGEL: Haben Sie vom WM-Titel wie sehr sich jemand für dieses 1974 mehr mitbekommen? Land interessiert? Sloterdijk: Warum nicht? AndererSloterdijk: Damals galt: „Was kümseits müsste es auch die Möglichmert mich der Vietnam-Krieg, wenn keit geben, durch die gegenteilige ich Orgasmusschwierigkeiten habe.“ Antwort zu beweisen, dass man Das konnte man in Bezug auf so gut hierhergehört. Die schlechten Deutwie alles sagen, auch in Bezug auf schen waren ja bisher die guten Fußballdramen. SPIEGEL: Ein richtiger Fan wird aus Deutschen – das sollte man auch Ihnen wohl nicht mehr. Ausländern erlauben. Wer einSloterdijk: Ich fürchte, nein. Das wandern will, soll die Freiheit haEinzige, was mich beim Fußball ben zu sagen: „Ich bin ein schlechwirklich zutiefst beeindruckt, das ter Patriot, deswegen passe ich ist diese Fähigkeit der jungen Spiehierher. Diese Mischpoke, Beckenler, hinzufallen und wieder aufzubauer und Co., kann mir gestohstehen. Das finde ich begeisternd. len bleiben. Ich finde den Sport SPIEGEL: Sie wollen harte Fouls sehen? idiotisch, und es ist besser, wir verSloterdijk: Nein, ich will nur sehen, lieren. Folglich habe ich ein Recht, wie Männer wieder aufstehen. Ich ein Mitglied dieser Nation zu „Man sieht: Das ist immer noch das finde das ein Manifest der Antiwerden.“ SPIEGEL: Aber das Wunder von Bern Kolosseum.“ WM-Arena in München gravitation. Wenn man älter und sollte der Einwanderer kennen? schwerer wird, dann weiß man ja, Sloterdijk: Man könnte etwa die Frawie es sonst zugeht. Ich falle gelege stellen: „Was ödet Sie am meisgentlich vom Fahrrad, und die ten an?“ Wenn einer das Wunder von Bern ge Interpretationen für triviale Ereignisse Mühe, wieder auf die Beine zu kommen, ankreuzt, ist er ein Fall für die Fremden- formulieren. ist eine grauenvolle Beleidigung. Deshalb polizei. Wer das Wunder von Bern in Fra- SPIEGEL: Wie erinnern Sie 1954? habe ich großen Respekt vor diesem rage stellt, steht vermutlich einer terroristi- Sloterdijk: Ich habe die kritischen Tage als schen Aufstehen bei hingefallenen Spieschen Vereinigung nahe. Kind in München miterlebt. Meine Mutter, lern. Das sind Momente, wo ich innerlich SPIEGEL: Wie erklären Sie sich die hysteri- die mit Fußball absolut nichts am Hut hat- total beteiligt bin. Das Hinfallen gehört zur sche Verklärung, die der WM-Titel von te, nahm mich eines Tages an der Hand Sache, aber erst das Wiederaufstehen 1954 hierzulande ausgelöst hat? und ging mit mir eilig auf die Prinzregen- macht sie großartig. Ich beklage darum Sloterdijk: Das hat vor allem mit der Intel- tenstraße, wo sich die deutsche Mannschaft auch die neue Zwangsverarztung auf dem lektualisierung des Fußballs zu tun. Seit es nach dem Sieg in Bern zeigte. Auf diese Feld: Ein angeschlagener Spieler, der noch die Massenkulturforschung gibt, wird die Weise habe ich Fritz Walter mit dem Pokal laufen könnte, muss sich auf einer Bahre Popularkultur insgesamt verklärt. Diese gesehen. Als meine Mutter mich zum Auf- wegtragen lassen. Schauderhaft. Forschung ist ein Zufluchtsort derjenigen bruch drängte, habe ich gespürt, dass da SPIEGEL: Das passt nicht zum Jäger, oder? gewesen und geblieben, die den Neomar- bei ihr irgendwas nicht in Ordnung war. Sloterdijk: Früher sind die Spieler heroisch xismus überlebt haben und nach seinem Für sie war das vielleicht eine Anknüp- selbst an den Rand gehumpelt. Jetzt werDahinscheiden neue Arbeitsfelder gesucht fung an ihre Zeit beim Bund Deutscher den sie obligatorisch abgeschleppt, das halhaben. Beim Thema Fußball konnte man Mädel, wo man von Staats wegen Stolz- te ich für eine Verirrung. irgendwie dem Interesse für das Proletariat gefühle zu entwickeln hatte. Ansonsten SPIEGEL: Herr Sloterdijk, wir danken Ihnen treu bleiben. Man musste nur höherwerti- war sie der unpolitischste Mensch, der mir für dieses Gespräch. FRANCESCO PISCHETOLA / AFP Gesellschaft · Sport Argentinischer Nationalspieler Messi (vorigen Dienstag in Salerno gegen Angola): Vorgesehen für Beckhams Thron WM-STARS „Leo, wir beten für dich“ Lionel Messi ist die Entdeckung der Saison. Nun lasten auf dem Supertalent des FC Barcelona die Titelträume Argentiniens. Bislang hielt der Ausnahmestürmer jeglichem Druck stand. D er Carabiniere mit dem Doppelkinn musste abwägen, ob er seine Pflicht erfüllen oder seiner Leidenschaft nachgeben sollte. Seine Pflicht bestand darin, den Innenraum des Stadions von Salerno nach dem WM-Vorbereitungsspiel zwischen Argentinien und Angola zu sichern. Seine Leidenschaft galt einem Spieler der Südamerikaner, der soeben die hohe Kunst des Fußballs zelebriert hatte. Der Uniformierte entschied sich für die Leidenschaft, kommandierte einen jungen Kollegen an seine Stelle, zog Papier und Kugelschreiber aus seiner Jackentasche und postierte sich vor dem Kabinentrakt. Er wollte ein Autogramm von Lionel Messi. Doch der Beamte hatte Pech. Auf den Moment, in dem das Supertalent des FC Barcelona vor die Tür trat, hatten auch mehrere Dutzend Journalisten gewartet. Es gab so viel zu fragen. „Leo, kannst du deinen Fans in Argentinien, die dich lieben, sagen, wie dein rechtes Bein auf die Belastung reagiert hat?“ „Leo, du bist doch beim ersten WMSpiel gegen die Elfenbeinküste dabei?“ 74 „Leo, wirst du Argentinien zum Titel schießen?“ Messi antwortete im Telegrammstil, belangloses Zeug, seine dünne Stimme war kaum zu hören. Bei seinem Anblick schien es absurd, dass dieser schüchterne, kleingewachsene Teenager, dessen Kinn und Hals von Pickeln übersät ist und dessen Blick Beklemmung verriet, als einer gehandelt wird, der bei der WM zum Topstar aufsteigen könnte. Vier Bodyguards befreiten Messi schließlich aus der Umlagerung. Als er im Mannschaftsbus verschwand, rief ihm ein Mädchen, das sich die argentinische Nationalflagge um die Schultern gelegt hatte, hinterher: „Leo, alles Gute, wir beten für dich.“ Für ein Land wie Argentinien, das sich im Fußball zur Avantgarde zählt, ist die Bilanz der letzten Weltmeisterschaften ziemlich dürftig: Seit 1994 ist das Team spätestens im Viertelfinale gescheitert. Die Auftritte vor vier Jahren bescherten der nach Anerkennung gierenden Nation gar ein kollektives Trauma. Denn die „Selección“, gespickt mit hochdotierten Spielern d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 aus den besten Vereinen Europas, schied bereits in der Vorrunde aus. Doch nun glaubt Argentinien wieder an Großes, und die Hoffnungen ruhen auf Lionel Messi, 18. Mit seinen Tempodribblings und seiner überbordenden Kreativität war der nur 1,69 Meter große Stürmer des FC Barcelona die Entdeckung der abgelaufenen europäischen Fußballsaison. Seine Auftritte, frühreif und genialisch, haben etwas von einem Naturereignis. „Leih mir diesen Teufel aus“, flehte Fabio Capello, Trainer von Juventus Turin, seinen Kollegen Frank Rijkaard an, nachdem Messi die Italiener in Barcelona vorgeführt hatte. „Fußballerisch ist er ein Monster“, schwärmt auch sein Teamkollege Ronaldinho, derzeit der beste Spieler der Welt, „Leo macht Dinge mit dem Ball, von denen selbst ich keine Ahnung habe.“ Das Problem ist nur: Der Youngster ist angeschlagen. Das Spiel in Salerno war erst der zweite Einsatz seit einem Muskelfaserriss im rechten Oberschenkel Anfang März. Auf den schleppenden Heilungsverlauf angesprochen, redet Argentiniens Trainer José Pekerman verkniffen von „einer rebellischen Angelegenheit“ – eine diplomatische Floskel. Denn in Messis Umfeld werfen sie den Ärzten des FC Barcelona vor, die eigentlich banale Verletzung nachlässig behandelt zu haben. Messi hätte, so kritisieren sie intern, bereits zum Champions-League-Finale am 17. Mai gegen Arsenal London wieder einsatzbereit sein müssen. Wie für den englischen Ausnahmestürmer Wayne Rooney, 20, der nach einem mehrfachen Knochenbruch im Mittelfuß PANORAMIC / IMAGO REUTERS Der Schritt nach Europa dokumentiert Als eine Art Urknall ist dabei der Sieg um seinen Einsatz bei der WM bangt, ist das Weltturnier auch in Messis Karriere- der argentinischen U-20-Nationalelf bei der allerdings auch, wie unbeirrt Lionel Messi plan fest vorgesehen. Es geht um Ruhm, es Junioren-WM 2005 in Holland anzusehen. seinen Weg ging. Der Druck, bereits als 13geht um weltweite Vermarktung, um Mil- Der Angreifer aus Barcelona sorgte für den Jähriger der Versorger einer sechsköpfigen lionen von Euro. Und es wäre nur die logi- Titel fast im Alleingang: Er schoss die meis- Emigrantenfamilie zu sein, berührte ihn sche Fortsetzung seiner bisherigen Lauf- ten Tore und wurde zum besten Spieler nicht im Geringsten. Messi, den alle nur „la bahn, wenn Messi auch in Deutschland eine des Turniers gekürt. Vergleiche mit Diego pulga“ nannten, den Floh, war schüchtern und sprach kaum. Messi spielte. Maradona machten die Runde. Protagonistenrolle übernehmen würde. Ex-Profi Guillermo Hoyos, einer seiner Ganz sicher wäre Messis Karriere geSeit der Junge aus Rosario mit seinen Eltern und den drei Geschwistern Anfang wöhnlicher verlaufen, wenn er gewachsen Jugendtrainer in Barcelona, erinnert sich: 2001 nach Katalonien übersiedelte und als wäre wie ein normales Kind. Im Alter von „Er war vom ersten Tag an für den Rest 13-jähriger Niemand beim FC Barcelona neun Jahren diagnostizierten Endokrino- der Jungs ein natürlicher Anführer. Sie anheuerte, hat er die Erwartungen, die in logen bei ihm jedoch einen hormonellen hatten so etwas wie blindes Vertrauen in ihn gesteckt wurden, immer übertroffen. Defekt. Messi wurde erst mit Levothyroxin seine Qualität, das Messi mit absoluter „Auf dem Platz habe ich Leo noch nie ner- behandelt, später mit dem Präparat Nor- Natürlichkeit annahm. Er war ein stiller vös gesehen“, sagt sein Vater Jorge, der ditropin. Die Kosten, etwa 900 Dollar mo- Anführer, der niemals die Stimme erhob.“ Und so dauerte es mehr als fünf auch sein Manager ist, „der Junge Jahre, ehe sich Lionel Messi erstist absolut resistent gegen Druck.“ mals ungefragt zu Wort meldete: Fast alle italienischen Topclubs Es war Mitte Mai, am Tag nach waren schon vor einem Jahr hinter dem Champions-League-Finale in dem Argentinier her, und besonParis, das er wegen seiner Verletders Massimo Moratti, Besitzer von zung verpasst hatte. Inter Mailand, schien zu allem beWährend die knapp 600 Gäste reit. „Es gibt einen Spieler, für den am Flughafen Charles de Gaulle ich den Kopf verlieren würde“, bedie zweigeschossige Boeing bestiekannte der Erdölmagnat, „und diegen, die das Team und die Edelfans ser Spieler heißt Lionel Messi.“ nach Barcelona fliegen sollte, Doch Barcelona vermochte den schnappte sich Messi das BordHochbegabten zu halten, 50 Milmikrofon. „Presi“, rief er und lionen Euro Gehalt soll er angebmeinte den Barça-Präsidenten Joan lich bis 2014 beziehen. Laporta, „Sie müssen sofort in die Wie heiß die Aktie Messi im gloKabine nach oben kommen und balen Fußball-Business inzwischen die Sache mit den Prämien regeln. gehandelt wird, zeigte sich auch Bitte, wir warten hier auf Sie. Anfang Februar. Da gab Adidas – Argentinische Idole Maradona, Messi: Stiller Anführer Schluss mit den Uhren, es reicht!“ aufs engste verbunden mit dem arDie ersten Zuhörer brüllten, gentinischen Nationalteam – seine Messi fuhr fort: „Es scheint ein Zusammenarbeit mit dem Stürmer Witz, Presi, aber es ist keiner. Prebekannt. Nike, der Weltmarktfühsi, wir sprechen hier ganz im Ernst, rer für Sportartikel und aufs engste der Mannschaftsrat erwartet Sie verbunden mit dem FC Barcelona, hier oben. Ich weiß nicht, ob Sie es zog umgehend vor ein katalanigehört haben, aber wir haben uns sches Gericht: Messi stehe bei ihhier oben gezofft. Wir wollen eine nen im Wort. Wohnung für jeden. Wenn Sie sich Adidas, das Argentiniens Team umschauen, werden Sie das Gewährend der Weltmeisterschaft im sicht von Ronaldinho sehen und firmeneigenen Sportzentrum in ein bisschen weiter hinten das von Herzogenaurach beherbergt, geKapitän Puyol. Die wollen mit Ihwann die juristische Schlacht. Nun nen reden. Wir wiederholen: werden die Franken alles daransetSchluss mit den Uhren! Wir wolzen, Messi weltweit als Identifikationsfigur ihrer bedeutendsten Clubkollegen Messi, Ronaldinho: Fußballerisch ein Monster len keine Uhren mehr! Chema, der Zeugwart, sagt, er wolle ein Auto. Käuferschicht, der 14- bis 17-Jährigen, zu positionieren. Noch thront dort natlich, übernahm zunächst der Stahlkon- Wenn für ihn keine Wohnung rausspringt, zern Acindar, bei dem Messis Vater ange- gibt er sich mit einem Auto zufrieden. Und David Beckham. jetzt ist gut: Lasst uns fliegen, wir werden Auch in Argentinien ist das Rennen der stellt war. Als das Unternehmen seine Zuschüsse erwartet in Barcelona!“ Konzerne um Messis Gunst längst entMessi war endgültig angekommen, in schieden. Er posiert für Weltunternehmen kürzte, bat der Vater die Vereinsbosse des wie Pepsi, Mastercard oder Danone, was Erstliga-Clubs Newell’s Old Boys, in dessen der Gesellschaft der Fußballprofis, in der bemerkenswert ist, weil er in seiner Heimat Jugendmannschaften das Können seines Welt der Stars. Für den Redner gab es Ovanie als bekanntes Gesicht gelebt hat. An- Sohns bereits Aufsehen erregte, den feh- tionen, als hätte er nach grandiosem Dribbders als die unzähligen Talente, die nach ei- lenden Betrag zu übernehmen. Der Club ling soeben das entscheidende Tor gegen ner kurzen Karriere bei einem argentini- weigerte sich, ebenso wie die Vereinsbos- Real Madrid erzielt. Sollte Argentiniens Team erst am 10. Juli, schen Club nach Europa transferiert und se von River Plate, die den 13-Jährigen dort zu Stars werden, verließ Messi das nach Buenos Aires holen wollten. Und so dem Tag nach dem WM-Endspiel, in RichLand als namenloser Jugendlicher. Auf- stimmte Messis Vater einem Probetraining tung Buenos Aires abheben, dann sei nun merksam auf seine Künste wurden die Fans beim FC Barcelona zu – für die Katalanen damit zu rechnen, sagen Messis Wegbegleierst via Satellit. So wurde Messi zum ersten waren die paar hundert Dollar pro Monat ter, dass der Jungstar wieder zum Bordfür die Medikamente nicht der Rede wert. mikrofon greife. virtuellen Nationalhelden Argentiniens. Michael Wulzinger d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 75 Gesellschaft · Sport DEUTSCHE NATIONALELF Die ungleichen Drei ROLF VENNENBERND / DPA Eifersüchteleien führen zu Scharmützeln im Umfeld der deutschen Mannschaft. Sportdirektor Sammer, Trainer Klinsmann und Manager Bierhoff suchen ihre Rollen für die Zukunft. DFB-Manager Bierhoff, -Sportdirektor Sammer: „Zwei starke Persönlichkeiten“ * Am 16. Juni 1996 im EM-Gruppenspiel gegen Russland (3:0) in Manchester. 76 Attacken inbegriffen. So tritt wohl erstmals bei einer Weltmeisterschaft ein gesamtdeutsches Team nicht für den Deutschen Fußball-Bund (DFB) an, sondern gegen ihn. Das Team Klinsmann, ein mit ausgesuchten Vertrauten des Bundestrainers besetzter Betreuerstab, hat die Nationalmannschaft vom Verband nahezu abgekoppelt. Und Bierhoff, nach eigenem Verständnis sowohl „ganz klar DFB-Mann“ als auch Sprachrohr des Trainerteams, sieht sich zwischen allen Stühlen: „Ich hüpfe hin und her.“ BERND WEIßBROD / PICTURE-ALLIANCE / DPA D er Teammanager Oliver Bierhoff saß dieser Tage auf dem schwarzen Ledersofa einer Stadionloge, als die Rede aufs Atmosphärische kam. Er sprach von Spannungen, „wahnsinnigen Spannungen“ sogar, und sein Lächeln wirkte ein bisschen bemüht. Die Sache mit dem Gemeinsinn im deutschen Lager ist demnach etwas kompliziert. Der Teamgeist wird nämlich nur im engen Zirkel der Mannschaft mit Inbrunst beschworen, im Umfeld formieren sich die streitenden Gruppen. Scharmützel, die vor allem Bierhoff zu schaffen machen. Es waren die Tage des Trainingslagers von Genf, da blickte der smarte Ex-Profi bang über den Tag des Berliner WM-Endspiels hinaus: „Meine Hauptaufgabe wird sein, die Klüfte zu schließen.“ Denn während auf dem Rasen bis zum Eröffnungsspiel gegen Costa Rica an der „vertikalen Spielweise“ gefeilt wird, wie Jürgen Klinsmann die innovativen Steilpässe nennt, pflegen die Funktionsträger eher altdeutsche Tugenden – rustikale Fußballer Bierhoff, Sammer*: „Die Klüfte schließen“ d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 Erste Unruhe hatten die Einwürfe des neuen DFB-Sportdirektors Matthias Sammer ins deutsche Lager getragen. Der drohte in „Bild am Sonntag“ zum Entsetzen des Stabs an, bei einem „Vakuum“ nach der WM einen „Beitrag zu leisten“: Er wolle nötigenfalls mithelfen, einen neuen Bundestrainer auszusuchen. Sofort war Alarm, und gleich sortierten sich die Fraktionen. Klinsmann gegen die Funktionäre, die ihm gegen seinen Willen für konzeptionelle Aufgaben den unbequemen Sammer zur Seite gestellt hatten und sich nicht länger wie „Moppelgreise“ vorführen lassen wollten, wie der Vizepräsident Karl Schmidt klarstellte. Und Sammer gegen Bierhoff, deren Eifersüchteleien zuletzt in einen Disput über die Größe der Dienstwagen mündeten. Bierhoff habe zwar jetzt bis 2010 einen Vertrag, aber „noch lange kein Standing“ beim DFB, streut die Sammer-Partei. Sammer habe als Sportdirektor „eine gewisse Wertigkeit“, spöttelte Bierhoff – aber bei der Klinsmann-Nachfolge nichts zu entscheiden. Das, raunt unterdessen ein DFBMann, habe Bierhoff – „ein Egomane wie Klinsmann“ – im Prinzip auch nicht. Schon sah sich der geschäftsführende Verbandspräsident vergangenen Dienstag herausgefordert, Manager und Sportdirektor in Leverkusen zum Gespräch zu bitten. Bierhoff und Sammer seien nun mal „zwei starke Persönlichkeiten“, bilanzierte Vermittler Theo Zwanziger dann etwas hilflos. Damit „die Schnittstellen der Aufgabenfelder klarer werden“, seien noch weitere Erörterungen vonnöten. So wachsen die Schnittstellen allmählich zum deutschen Problem heran. In die „Schnittstellen der Abwehr“ spielen die Gegner allzu mühelos ihre gefährlichen Pässe, wie die Trainer klagen. Und in denen der Funktionsträger lodern die Konflikte. Wie ein Unfall der deutschen Fußballgeschichte erscheint es in diesen Tagen, dass drei Verbündete der so verschworenen Europameister-Elf von 1996 sich derart beharken. Sammer, damals Abwehrchef, galt als eigenwilliger Anführer. Mannschaftskapitän Klinsmann, wichtigster Getreuer des Bundestrainers Berti Vogts, repräsentierte das Unternehmen und hielt den Teamspirit hoch. Bierhoff, Schütze wichtiger Tore, kämpfte als Spätberufener mit bescheidenem Talent um die Anerkennung der Kameraden. Ähnliche Rollen spielen die ungleichen Drei heute noch. Bierhoff, einst beneideter Liebling der Werbung (Shampoo, Pudding, Investmentfonds), macht immer noch in erster Linie Reklame. Einem Uhrenhersteller, für den er selbst als „Markenbotschafter“ firmiert, verschaffte er jetzt Eingang in deutsche Fernsehbeiträge über das Freizeitprogramm der Nationalspieler: Den Uhrmacherkurs, geleitet von seinem Partner IWC, hatte der Teammanager selbst vermittelt. Und wie ein PR-Chef, der den THOMAS BOHLEN / REUTERS Gesellschaft · Sport Bundestrainer Klinsmann, Nationalspieler: In der Wohnortfrage nicht kompromissbereit eigenen Vorstand preist, eröffnete er unlängst ein Hintergrundgespräch des Trainerteams mit Journalisten: Unaufgefordert zog er ein „Fazit“ der Klinsmannschen Amtszeit und trug „schöne Zuschauerzahlen bei öffentlichen Trainingseinheiten“ wie Wirtschaftsdaten vor. Jetzt in Leverkusen, nach dem Testspiel gegen Japan (2:2), warb er um Verständnis für den schlappen Eindruck, als sei er der Trainer: „Wir haben zuletzt viel im Fitnessbereich gearbeitet.“ Klinsmann hob Bierhoff in den Job, doch jetzt möchte sich der „Vermarktungsoffizier“ („taz“) allmählich vom Bundestrainer emanzipieren. Künftig will er dem Chefcoach, wer immer das sein wird, weisungsbefugt sein: „Wenn jetzt der Jürgen sagt, er mache bei dem oder dem Werbespot nicht mit, müsste ich mich an den Generalsekretär oder Präsidenten wenden, damit die ihn überzeugen.“ Fraglich erscheint jedoch, ob ein Klinsmann-Nachfolger neben den DFB-Direktoren für Marketing und Medien einen zusätzlichen Verkäufer braucht. Der scheidende DFB-Präsident Gerhard Mayer-Vorfelder jedenfalls hält Bierhoff weiterhin für „ein Stück vom System Klinsmann“ und dessen Vertragsverlängerung, die der künftig alleinregierende DFB-Chef Zwanziger unabhängig von der Trainerfrage durchsetzte, für einen Fehler. Bierhoff soll in Fragen der Jugendausbildung ein „wichtiges Bindeglied“ zum Sportdirektor sein, meint Zwanziger. Das dürfte schwierig werden. Wenn Bierhoff etwa über seine Vorstellungen vom DFB als „EliteUni“ für Trainer spricht, klingt es verdächtig, als wisse er es besser als Sammer. Vielleicht ist es auch so. Als Bierhoff Anfang des Jahres im Auftrag des DFB die Sportdirektor-Kandidaten prüfte, fertigte er 78 eine sogenannte Swot-Analyse (Strengths, Weaknesses, Opportunities, Threats) nach den Regeln der Business-Welt an: Die meisten Pluspunkte erhielt Klinsmanns Favorit, der Hockey-Bundestrainer Bernhard Peters. Sammer dagegen hatte das schriftliche Konzept, das Bierhoff per Mail angefordert hatte, nicht geliefert. Das DFB-Präsidium gab Sammer den Job trotzdem. Die Entscheidung, von Klinsmann als „Ohrfeige“ aufgefasst, wie dessen Mitstreiter wissen, führte geradewegs ins Zerwürfnis. Sammer, sagen nun die einen, habe WM-Chef Franz Beckenbauer persönlich eingeschaltet, um auf den gewünschten Posten zu gelangen. Bierhoff, behaupten die anderen, habe den Bewerber Sammer hereinlegen wollen und ihm ohne Wissen der DFB-Oberen vorzeitig abgesagt. Das bestreitet der Manager. Auf einer Terrasse mit Blick auf den Genfer See knetete Delegationsleiter Mayer-Vorfelder in den Tagen der WM-Vorbereitung gedankenverloren einen herumliegenden Beipackzettel irgendeiner Arznei. Er wolle ja „den Teufel nicht an die Wand malen“, sagte er, aber für tragfähig hält er ein Zukunftsmodell mit den Führungskräften Sammer und Klinsmann nicht. Der Sportdirektor soll laut Präsidiumsbeschluss „in enger Abstimmung mit dem Bundestrainer“ eine gemeinsame Spielphilosophie für alle Jugendteams entwickeln. Mayer-Vorfelder gefällt es, was Klinsmann und dessen Kompagnon Joachim Löw auf diesem Gebiet ausheckten. Sammer jedoch, „im Hauruck-Verfahren ohne jede Not“ noch vor der WM installiert, hält er praktisch für eine Fehlbesetzung: „Auf der Position ist eine gewisse Hinwendung zur Theorie gefragt. Matthias Sammer ist nach meiner Erfahrung eher ein Mann der Praxis.“ d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 Gegenseitige Geringschätzung prägt derzeit das Klima. Als Sammer bei einem Jugendfußball-Symposium in Hoffenheim ausgerechnet den mäßig filigranen Ex-Abwehrhaudegen Karlheinz Förster zum Vorbild erhob, schwoll dem Modernisierer Klinsmann der Kamm. Umgekehrt fühle sich Sammer, sagt einer aus dem DFBStab, von Klinsmanns Bemerkungen „gedemütigt“. Sie klängen, als fehle es ihm für den Direktorenposten an Verstand. Zumindest war der rothaarige Sachse der Partei Klinsmann seit Beginn der Bewerbungsphase suspekt. Beraten von dem früheren „Bild“-Reporter Ulrich KühneHellmessen, parkte Sammer wohl zu nahe am Boulevard. Als Kühne-Hellmessen im Herbst in einem TV-Talk beim DSF die Arbeit des Bundestrainers bemäkelte, beschwerte sich Klinsmann-Berater Roland Eitel beim DFB. Ein Verbands-Insider rechnet mit einem „Shootout nach der WM“. Einstweilen gehen sich die Streithähne aus dem Weg. Sammer, der es als Unverschämtheit empfand, dass ihn Bierhoff Ende Februar per Anruf am Besuch des Länderspiels in Florenz hindern wollte, kündigte zwar sein Erscheinen bei deutschen WM-Spielen an. Mit erstaunlicher Gelassenheit aber kommentierte er, dass er im Teamquartier unerwünscht ist. Der frühere Trainer von Borussia Dortmund und des VfB Stuttgart wartet ab. Mancher seiner Ratgeber glaubt, dass Klinsmann sich „zu viele Feinde geschaffen hat“, um nach der WM im Amt zu bleiben. DFB-Schatzmeister Heinrich Schmidhuber stellt zudem die Kostenfrage. Klinsmanns Crew, die er maliziös das „Imperium“ nennt, verschlinge mehr als doppelt so viel wie der Stab der WM 2002, war zu hören. Allein Torwarttrainer Andreas Köpke soll 500000 Euro im Jahr kassieren, Vorgänger Sepp Maier bezog eine Tagespauschale von 300 Euro. Mit Blick auf die Heim-WM habe der DFB „gewisse Zugeständnisse“ gemacht, sagt Schmidhuber, danach werden „die Karten neu gemischt“. Die Fitmacher aus Arizona, „Gymnastikfreaks“, wie ein Funktionär höhnt, stünden ebenso zur Disposition wie Klinsmanns Heimflüge nach Los Angeles. Auch die – kein Geschenk des DFB-Partners Lufthansa, wie häufig angenommen, sondern „ein Ausgabenposten, der zu Buche schlägt“ – müssten „neu verhandelt werden“, kündigt der strenge Schatzmeister an. Die Fronten sind verhärtet, vor allem in der Wohnortfrage wird der Wahlkalifornier nicht mit sich reden lassen. Ob er angesichts solcher Widerstände den Vertrag überhaupt verlängern will? Ein Argument könnte ihn wohl zum Bleiben bewegen, meint ein enger Klinsmann-Mitarbeiter. „Man müsste ihm nur sagen: Sonst macht’s der Sammer.“ Jörg Kramer Gesellschaft · Sport Die Blutspendergrätsche Ortstermin: In Düsseldorf gibt Berti Vogts alles für die WM. 80 d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 Nebenan bedankt sich der Professor bei Berti Vogts und erklärt, dass bei sportlichen Großereignissen wie der WM natürlich – mit so viel Welt zu Gast bei Freunden – auch mehr als sonst passiere, dass aber gerade in solchen Zeiten die Spendenbereitschaft sinke, daher die Aktion. Er lasse zur WM hier eine Großbildleinwand installieren, um die Menschen vom Sofa in die Blutspendezentrale zu locken; Hilfsslogan: „Steht auf, wenn ihr Spender seid“. Vogts, stehend, spricht kurz von der Sonnenseite des Lebens und vom Rand der Gesellschaft und all so was, und da es keine Fragen mehr gibt, fährt er mit dem Signieren fort. Von allen Stationen hat sich Personal zusammengerottet, Fußbälle und Blutspendengummiknetbälle werden ihm angereicht, und Vogts kringelt und kringelt, erzählt dabei, dass er zuletzt vorgestern, beim Rasieren, Blut verloren habe, dass das Eröffnungsspiel sehr wichtig sei, dass 1974 alles noch nicht so schlimm war mit den Medien und dass sein Favorit die Italiener seien. Nur die könnten Brasilien schlagen. Außer, pardon, Deutschland natürlich. Er selbst werde während der WM Spiele beobachten und sie „natürlich analysieren“ und diese Erkenntnisse dann dem DFB zugänglich machen. Denn da sei viel verpasst worden, vor allem im Nachwuchsbereich. Deutschland braucht frisches Blut. Ein Arzt möchte dem Professor einen signierten Ball abschwatzen. Die sind für Spender gedacht, sagt der Professor, lassen Sie sich doch Ihren Kittel signieren. Der Arzt zieht beleidigt von dannen. Berti Vogts will die Sache nun zu Ende bringen und sein Blut loswerden. Aber auch ein Weltmeister muss sich testen lassen, bevor er spenden darf, sagt der Professor, heute wird das nichts mehr. Melden Sie sich?, fragt Vogts nachdrücklich, auf dem Platz wurde er Terrier genannt. Der Professor nickt. Und weil Vogts ein Mann ist, auf den Verlass ist, wenn es hinten eng wird, deshalb wird der graue Porsche in ein paar Tagen wieder vor der Blutspendezentrale parken. 500 Milliliter Blut sind abzuliefern und ein paar Autogrammkarten für die Intensivstation. Wie vereinbart. FOTOS: ULRICH BAATZ D eutschland braucht frisches Blut, her, Blitz, Blitz, erst mal die Fotos. Vogts ist das ist ja klar. Besonders bei Groß- der Einladung der Agentur Special Key geereignissen, sagt Professor Rüdiger folgt, hier heute „Cause Marketing“ zu beScharf. Er steht mit seiner Frau und einigen treiben, was früher mal „Guter Zweck“ geJournalisten vor dem Eingang zur Blut- nannt wurde. Das ist Frau Vis, sagt der Professor und spendezentrale des Universitätsklinikums Düsseldorf und wartet. Er trägt einen deutet auf eine der liegenden Personen, weißen Kittel, seine Frau ein hübsches ro- Frau Vis spendet regelmäßig bei uns, sie ist tes Stehempfangskleid, sie tippelt von ei- Lehrerin. Frau Vis hat auch zwei Fußbälle dabei, die sie sich signieren lassen möchte nem Fuß auf den anderen. Am vergangenen Wochenende hat der – für ihre Schüler. Autogramme von Berti von der Boulevardpresse so genannte – für einen halben Liter Blut. Ich muss doch Amok-Stecher in Berlin eine „800 Meter die Kanüle anlegen, jammert die von Folange Blutspur durch das Regierungsvier- tografen zur Seite geschobene Krankentel“ gestochen, und die Angst der Deut- schwester, die an der Ellenbeuge von Frau schen vor der Weltmeisterschaft gilt nun Vis rumfuhrwerkt. Vogts malt Eddingkringel auf die Ledernicht mehr nur den brasilianischen Stürmern. Falls irgendwo rund um die Stadien bälle, höchstwahrscheinlich heißt, was er Blut fließen sollte nach dem 9. Juni, muss da kringelt: Berti Vogts. Es könnte aber vorher welches geflossen sein. Das ist wichtig, dafür muss man werben, und dafür braucht man Leute, auf die man sich verlassen kann. Ein Porsche biegt um die Ecke, der Professor federt zum Parkplatz, wo der Porsche gerade sanft ausblubbert. Es steigt aus: Berti Vogts. Na endlich. Schön, dass es geklappt hat, sagt der Professor, und Berti Vogts bekommt einen Button ans Revers gepinnt, „Mein Blut tut D’dorf gut“. Sie streiken ja gar nicht, sagt Berti Vogts. Nee, nee, lacht der Professor. Na dann, nickt Berti Vogts und fragt, ob er denn auch direkt an Blutwerber Vogts: „Steht auf, wenn ihr Spender seid“ eine Kanüle angeschlossen werde. Er ist wie früher auf dem Platz, Ärmel auch „Blut Spenden“ heißen. Oder „Düshochkrempeln und grätschen, bis Blut fließt. sel Dorf“ – es sind eben richtige AutoAber sie wollen sein Blut erst mal nicht, gramme, die er da aufs Leder quietscht. Jetzt mal mit den Kindern reden, forsie wollen nur seinen Namen. Er solle heute nur Fußbälle signieren, „nur“ in An- dert ein Fotograf, obwohl Vogts längst führungsstrichen, sagt der Professor und spricht. Los, Berti!, ruft der Fotograf. Warum glaubst du denn, dass wir nicht Weltlacht wieder. Doch Vogts lässt nicht locker: Kann ich meister werden, fragt Vogts einen 13-Jähridenn überhaupt noch spenden, in meinem gen im Ballack-Trikot. Weil die Spieler zu schlecht sind, sagt Manuel, MittelfeldspieAlter?, fragt er. Wie vieles, so wurde auch die Alters- ler bei Teutonia St. Tönis. Wart mal ab, grenze für Blutspender hochgesetzt, bis die werden über sich hinauswachsen, sagt zum 68. Lebensjahr ist das nun möglich. Vogts, pustet seine Signatur trocken und gibt Manuel den Lederball zurück. Wir haDann geht das ja, sagt Vogts. Im Blutspenderaum liegen ein paar Frei- ben’s dann so weit, danken die Fotografen, willige, denen schon die Arme abgebunden und die Meute zieht einen Raum weiter, wurden, zwischen ihnen stehen fünf Jungs endlich kann die Blutentnahme bei Frau in Trikotmontur, mit Fußbällen in der Vis beginnen. Sie knetet einen Gummiball, Hand, dazwischen wuseln Fotografen um- damit das Blut schön pumpt. Benjamin von Stuckrad-Barre Wirtschaft Trends PLAMBECK / LAIF NORBERT FÖRSTERLING / PICTURE-ALLIANCE / DPA BAH N-I M MOBI LI EN Arbeitsagentur (in Berlin) Rechnungshof fordert Geld zurück erade hat Bahnchef Hartmut Mehdorn im monatelangen Konflikt um G die Zuordnung der Bahn-Immobilien eingelenkt, droht schon der nächste Krach mit der Bundesregierung um eine Rückzahlung der in diesem Fall zu viel gezahlten Fördermittel. Hintergrund: Nach der Bahnreform von 1999 hätte der Konzern alle „betriebsnotwendigen Immobilien“ wie Bahnhöfe und Gleise an die jeweiligen Infrastrukturtöchter, DB Station & Service AG und DB Netz AG, übertragen müssen. In vielen Fällen geschah das nicht, wie der Bundesrechnungshof im Sommer 2005 feststellte. Insider schätzen, dass 30 bis 40 Prozent dieser Immobilien bei der DB AG geblieben sind, darunter Filetstücke wie die Hauptbahnhöfe von Frankfurt am Main, Hamburg und Stuttgart. Der Rechnungshof hatte erst kürzlich das Verkehrsministerium aufgefordert, „un- Callcenter (in Heilbronn) HARTZ IV Sechs Prozent Falschmeldungen M SPENDEN Kritik an Krombacher ie Umweltorganisation World Wide Fund for Nature (WWF) kommt D erneut unter Druck wegen der Zusam- DANIEL MODJESCH / ACTION PRESS menarbeit mit dem Bierbraukonzern Krombacher. Bis zum Endspiel der Fußballweltmeisterschaft am 9. Juli soll von jeder verkauften Flasche Bier jeweils ein Cent an den WWF, das Deutsche Kinderhilfswerk oder die Deutsche Knochenmarkspenderdatei abgeführt werden. Auf der Stuttgarter EnviComm, einer Fachkonferenz für Industrievertreter und Umweltverbände zur gesellschaftlichen Verantwortung von Unternehmen, wurde die WWF-Aktion, die bereits 2002 rund 2,4 Millionen Euro für ein Regenwaldprojekt in Zentralafrika eingespielt hatte, als „Umwelt-Marketing“ kritisiert. So sei auch der Einsatz der TV-Stars Günther Jauch oder des Fußballers Rudi Völler, über deren Honorierung nach Angaben von Krombacher „Stillschweigen der Kooperationspartner“ vereinbart wurde, vor allem auf den Produktverkauf gerichtet und nicht auf ein dauerhaftes soziales oder gesellschaftliches Engagement. Die Kunden, die beim Getränkehändler, per Internet oder via SMS über den Spendenempfänger entscheiden können, lassen den Naturschutz zudem links liegen: Für den WWF mit dem Wappentier Panda entscheiden sich bislang nur ein Viertel der Spendenwilligen. Völler d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 PAUL LANGROCK / ZENIT indestens sechs Prozent der Hartz-IV-Empfänger beziehen ihre Unterstützung zu Unrecht oder erhalten zu hohe Leistungen. Das ist das Ergebnis einer neuen Telefonumfrage, mit der die Nürnberger Bundesagentur für Arbeit derzeit einen Teil ihrer Hartz-IV-Empfänger überprüft. Dabei waren rund 35 Prozent der Angerufenen trotz mehrfacher Versuche nicht erreichbar oder nicht bereit, mit den Agenturmitarbeitern zu sprechen. Von den Übrigen mussten in rund sechs Prozent der Fälle Leistungen gekürzt oder zurückgenommen werden, weil die Betroffenen inzwischen einen Job gefunden oder sonstige Einkünfte nicht korrekt angegeben hatten. Bei den unter 25-Jährigen lag der Anteil sogenannter Statusänderungen bei fast zwölf Prozent, bei den über 50-Jährigen dagegen bei lediglich knapp vier Prozent. Die Nürnberger Bundesagentur hat seit Jahresbeginn rund 100 000 Bezieher von Arbeitslosengeld II in rund 20 Jobcentern im ganzen Bundesgebiet befragt. Gleisanlagen (in Frankfurt am Main) verzüglich eine Korrektur der Eigentumsverhältnisse“ durchzusetzen. Begründung: Die DB AG verlange von ihren Töchtern, deren Abspaltung bei einem Börsengang zur Debatte steht, für eigentlich ihnen zustehende Immobilien auch noch Pacht, jährlich etliche Millionen Euro. Dadurch werde deren „ohnehin angespannte Eigenmittelsituation zusätzlich belastet“. In der Folge zahle der Bund für Baumaßnahmen, die die Infrastrukturtöchter „aus Eigenmitteln hätten finanzieren müssen“ – aus Sicht der Prüfer Verschwendung von Bundesmitteln. Der Rechnungshof kommt zu dem Schluss, dass der Bund unnötig an die DB AG gezahlte Zuschüsse samt Verzinsung zurückfordern müsse. „Wir werden eine mögliche Rückzahlung prüfen, sobald uns der ausführliche Bericht vorliegt“, heißt es aus dem Ministerium. 83 Trends HANDEL Geiz bleibt geil ange waren die deutschen Verbraucher nicht mehr so konsumfreudig wie in den ersten vier Monaten dieses Jahres – um 3,5 Prozent stieg die private Nachfrage nach Gütern des täglichen Bedarfs. Dennoch haben die Kunden ihre Geiz-ist-GeilMentalität nicht abgelegt. Vor allem beim Lebensmitteleinkauf, dem größten Posten im Konsumbudget, achten sie nach wie vor auf den Preis. Kräftig gestiegen sind deshalb in den ersten vier Monaten nur die Umsätze der Discounter Aldi und Lidl – und zwar um rund 7 Prozent nach Berechnungen des Marktforschungsunternehmens GfK. Der traditionelle Lebensmittelhandel kam nur auf ein Plus von 2 Prozent. Die großen Verbrauchermärkte mussten sich gar mit einem Minizuwachs von 0,3 Prozent begnügen. Die meist auf der grünen Wiese angesiedelten Verbrauchermärkte litten vor allem unter den gestiegenen Benzinpreisen. In deren Folge, so die GfK, hätten die Kunden ihre Fahrten zu den Großmärkten um vier Prozent reduziert. FELIX HEYDER / PICTURE-ALLIANCE/ DPA L Kaufhaus (in Düsseldorf) BOEING KOR RU P T ION SBE K Ä M PF U NG Teltschik auf dem Abflug D allem Polit-Profis wie den ehemaligen Kanzleramtsberater Horst Teltschik, 65, anheuerte. Das soll sich nun ändern. Auf den Posten von Pickering rückte bei Boeing kürzlich eine hochrangige Topmanagerin des Konzerns, die anstelle der Altpolitiker verstärkt industrieerfahrene Lobbyisten einsetzen möchte. In Deutschland wird dieser Strategiewechsel bereits im Sommer umgesetzt. Vor einigen Wochen signalisierte Teltschik, einst enger Vertrauter von Altbundeskanzler Helmut Kohl, dem neuen Boeing-Chef James McNerney, dass er seinen Vertrag in Berlin nicht verlängern und Ende Juni ausscheiden will. J. H. DARCHINGER ECO CLEMENT/ GAMMA / STUDIO X er US-Flugzeugriese Boeing will den Abgang von zwei prominenten Cheflobbyisten nutzen, um sein weltweites Beziehungsnetz umzubauen. Auslöser ist der Rückzug des ehemaligen Spitzendiplomaten Thomas Pickering, 74, der seit 2001 die Abteilung für internationale Angelegenheiten des Konzerns leitete und am 1. Mai in den Ruhestand wechselte. In seiner Amtszeit hatte der Manager rund ein Dutzend Statthalter in europäischen Metropolen ernannt, die den Amerikanern neue Geschäftschancen fern der Heimat erschließen sollten. Der Erfolg der großangelegten Werbeoffensive hielt sich aber in Grenzen, weil Pickering vor Kohl, Teltschik (1984) 84 Politiker dürfen WM-Tickets annehmen rotz des Ermittlungsverfahren wegen Vorteilsgewährung gegen T EnBW-Chef Utz Claassen, der mehre- McNerney d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 ren baden-württembergischen Landespolitikern WM-Tickets geschickt hatte, brauchen sich die meisten Politiker keine Sorgen machen. Denn deutsche Volksvertreter in Bund, Ländern und Kommunen dürfen von jedermann beliebig Geschenke annehmen – nur der Verkauf von Stimmen bei konkreten Abstimmungen oder Wahlen ist ausdrücklich verboten. Dabei hat der Europarat bereits 1999 ein Strafrechtsübereinkommen zur Korruptionsbekämpfung abgeschlossen. In diesem Papier werden Abgeordnete mit Beamten und Amtsträgern gleichgestellt, so dass auch die Bestechlichkeit bei Volksvertretern mit Strafe bedroht wird. Die Annahme von teuren Geschenke wie WM-Karten wäre dann für einen Abgeordneten strafbar, wenn er sich als „Gegenleistung“ für eine bestimmte Angelegenheit einsetzen oder seinen Einfluss geltend machen würde. Deutschland gehört jedoch wie Frankreich zu den 12 der 46 Mitglieder des Europarates, die das Übereinkommen immer noch nicht ratifiziert haben, während selbst Staaten wie Moldawien, Aserbaidschan oder die Türkei die Vorgaben bereits in nationales Recht umgesetzt haben. Geld GENERIKA E in ungewöhnlich aggressiver Preiswettbewerb sorgt auf dem deutschen Generika-Markt für trübe Stimmung. Marktführer Sandoz/Hexal, seit vorigem Jahr Teil des Novartis-Konzerns, war mit einem Preisnachlass von jährlich 67 Millionen Euro auf das gesamte Sortiment seiner patentfreien Medikamente vorige Woche vorgeprescht. Nummer zwei und drei in Deutschland, die private Ratiopharm und die börsennotierte Stada AG, die mit Hexal zusammen fast 60 Prozent des deutschen Markts beherrschen, zogen nach. Besonders die Stada AG, die vorigen Dienstag Preissenkungen zum 1. Juli von 50 Prozent in der Spitze ankündigte, wurde von den Anlegern mit einem Kurseinbruch bestraft. Doch die Reaktion scheint übertrieben. Denn Gesundheitsministerin Ulla Schmidt verbot sogenannte Naturalrabatte, Gratispackungen im Wert von mehreren hundert Millionen Euro, mit denen vor allem die drei großen Generika-Hersteller die Apotheker zur Abgabe ihrer Produkte bewegten. Die Großen können nun darauf hoffen, dass kleine Anbieter nicht mehr mithalten können und deren Marktanteile frei werden. Die Stada AG hält trotz Preisrutsch an den positiven Prognosen für das laufende Jahr fest. Pharma-Aktien Kurse in Euro 47 Quelle: Thomson Financial Datastream 40 38 46 36 34 45 32 30 44 28 26 43 Jan. Febr. März April Mai Jan. Febr. März April Mai JENS RÖTZSCH / OSTKREUZ Übertriebener Kurseinbruch Grandhotel Heiligendamm IMMOBILIENFONDS Luxus lohnt nicht F ondsanleger, die in Luxusimmobilien der Fundus-Gruppe investiert haben, müssen genügsam sein. Wer sich am Fünf-Sterne-Grandhotel Heiligendamm an der Ostsee beteiligt hat, wurde mit jährlichen Ausschüttungen von fünf Prozent angelockt. Tatsächlich gab es 2004 gar keine Ausschüttung. Für 2005 wird es nach Auskunft eines Sprechers der Fundus-Gruppe ebenfalls nichts geben, auch 2006 sieht es mau aus. Erst 2007 soll mit der Ausrichtung des G-8Gipfels in Heiligendamm der große Durchbruch kommen. Derweil hoffen die Fundus-Leute auf den Stadtrat von Bad Doberan, der weniger betuchten Touristen den Spaziergang durch das renovierte Prunkstück am Meer verbieten soll. Auch viele Anleger, die insgesamt rund 220 Millionen Euro Eigenkapital in das Berliner Adlon-Hotel investiert haben, sind vergrätzt. Da Fundus nicht mehr genug Neuanleger finden konnte, sollen die Eigentümer des geschlossenen Immobilienfonds nun einer Erhöhung der Fremdkapitalquote zustimmen. Die Ausschüttung lag 2005 bei zwei Prozent. Goldmine (in Australien): Würde die Lieferung von Erzen eine Woche aussetzen, käme die globale Produktion ins Stocken B O D E N S C H ÄT Z E Die Macht der Minenriesen M it 36 Jahren war der Mann aus dem Erzgebirge, der sich später Charles Rasp nannte, noch auf der Suche nach seiner Bestimmung. Die Frau, die er liebte, eine Gräfin, durfte er nicht heiraten. Und die Gräuel, die er als Offizier der Königlich Sächsischen Armee im Krieg von 1870/71 erlebte, hatten ihn tief erschüttert. Sein bester Freund war an der Front gefallen. Rasp wanderte nach Australien aus, nach New South Wales, er hielt sich mit Hilfsjobs auf Farmen über Wasser. An einem Septembertag des Jahres 1883 war er als Grenzreiter unterwegs, da fiel ihm auf einer Anhöhe namens Broken Hill dieser besondere Felsen auf. Das Gestein schimmerte schwarz und glänzte matt – Zinn, dachte sich Rasp. Er nahm ein Stück mit und untersuchte es. Tatsächlich enthielt die Probe Zinn, aber 86 außerdem noch Zink, Blei und Silber. Rasp, so würde sich bald herausstellen, hatte eines der weltgrößten derartigen Vorkommen entdeckt. „Ich war ziemlich naiv“, bekannte er später. Er steckte den Claim ab, 16 Hektar groß, und gründete mit sechs Farmkollegen einen Minenbetrieb, den sie „Broken Hill Proprietary Company“ nannten, kurz: BHP. Heute ist es der größte Bergbaukonzern der Welt. 37 000 Menschen arbeiten für BHP Billiton, wie das Unternehmen inzwischen heißt. Es fördert fast alles, was die Erde hergibt: Eisenerz, Kohle und Kupfer, Öl und Gas, Gold und Silber, sogar Diamanten. Die Zentrale liegt im Zentrum von Melbourne an der Londsdale Street, ein schickes neues Gebäude, erst zwei Jahre alt. Man kann es sich leisten. Dem Unternehmen geht es blendend. „The Big Australian“, wie der größte Ind e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 dustriekonzern des Landes auch genannt wird, legt Rekordergebnisse in Serie vor. Dem stehen die anderen Großen der Rohstoffbranche kaum nach. Weder der alte BHP-Rivale Rio Tinto, der in Melbourne nur drei Straßen weiter seine Dependance unterhält, noch der britisch-südafrikanische Minenkonzern Anglo American oder der brasilianische Eisenerzgigant CVRD (Companhia Vale do Rio Doce). Ihre Produkte sind begehrt wie lange nicht mehr. Nach zwei Jahrzehnten der Stagnation erlebt die Traditionsbranche eine fulminante Rückkehr. Mit ungeheurer Dynamik treiben die Wachstumsmärkte in China und Indien das Geschäft an. Inzwischen dauert der Aufschwung der Branche schon länger als jeder andere nach dem Krieg. Und die Konzerne investieren weiter, als könne es immer nur aufwärtsgehen. GREG WOOD / AFP Umbruch in der Bergbauindustrie: Die Unternehmen erzielen Rekordgewinne, nur eine Handvoll Konzerne bestimmt weltweit das Geschäft. Je länger aber der Boom anhält, umso größer wird das Risiko: Lohnt es sich noch, weiter in den Ausbau zu investieren? Eine riskante Strategie: Sie setzt voraus, dass der Bedarf kontinuierlich weiterwächst. Das aber hängt ganz und gar von einem Faktor ab, den sie kaum beeinflussen können: der Nachfrage aus China. Skeptiker wie der Morgan-Stanley-Analyst Stephen Roach warnen, dass China versuchen werde, die Rohstoffabhängigkeit seiner Volkswirtschaft zu reduzieren: „Die Theorie ständig steigender Rohstoffpreise basiert auf der falschen Annahme, dass China auf dem gleichen Kurs bleibt wie in den vergangenen 27 Jahren“, meint Roach. Seine Prognose: „Auch diese Blase wird platzen.“ Tatsächlich fühlten sich die Skeptiker in den vergangenen Wochen bestätigt, als die Preise einiger Rohstoffe zwischenzeitlich kräftig nachgaben. Praktiker wie der BHP-Vorstand Bob Kirkby sind zuversichtlicher. Der Heißhunger auf Rohstoffe werde so lange anhalten, erwartet der Manager, „wie das chinesische Volk so leben will wie wir“. Kirkby war zuletzt für den wichtigsten Unternehmensbereich zuständig, die Eisenerzsparte. Er kennt das Auf und Ab im Geschäft, er hat im Laufe der Jahre so manchen Zyklus mitgemacht. Doch noch keiner glich auch nur annähernd dem jetzigen. Als er in den sechziger Jahren seine Karriere startete, stieg Japan gerade zur ökonomischen Weltmacht auf, gefolgt von Südkorea. Die Nachfrage nach Bodenschätzen wuchs damals sprunghaft an. Heute geschehe mit China etwas ganz Ähnliches, „allerdings in einem anderen Maßstab“, sagt Kirkby: „Es gibt etwa 125 Millionen Japaner und 50 Millionen Südkoreaner – in China geht es um ein Fünftel der Menschheit.“ In nur vier Jahren hat BHP Billiton die Verkäufe in die Volksrepublik verfünfzehnfacht, der China-Faktor hat das Gesicht der gesamten Rohstoffbranche komplett verändert: Nur noch eine Handvoll Unternehmen bestimmt das globale Geschäft. Wohl keine andere Industrie hat RAINER WEISFLOG (L.); DAVID GRAY / REUTERS (R.) Wirtschaft Stahlarbeiter, Riesenlaster: Monatelange Lieferzeiten für Spezialpneus in den vergangenen Jahren einen solch tiefen Strukturwandel erlebt. Angetrieben wird er durch eine Welle von Akquisitionen, meist bar bezahlt aus den dank des Rohstoffbooms kräftig gestiegenen Gewinnen. In den Konzernen sind komplette Stäbe nur damit beschäftigt, vielversprechende Kandidaten zu identifizieren. Milliarden werden lockergemacht, um neue Firmengebilde zu schaffen. Viele alte Namen des Gewerbes verschwinden ein für alle Mal von der Bildfläche. Der kanadische Kupferproduzent Rio Algom etwa fiel im Jahr 2000 an das südafrikanische Unternehmen Billiton; ein Jahr später wurde Billiton wiederum von BHP geschluckt. Auch Minenbetreiber wie North, Ashton oder Comalco sind nicht mehr eigenständig, sie alle hat Rio Tinto übernommen. Die neuen Bergbaugiganten decken die ganze Palette an Rohstoffen ab. BHP Billiton etwa ist weltweit die Nummer eins im Markt für Kokskohle, die Nummer zwei bei Kupfer und die Nummer drei bei Nickel. Selbst im Öl- und Gasgeschäft spielt die Gesellschaft eine bedeutende Rolle, im Golf von Mexiko gehört sie zu den wichtigsten Förderern. Lizenz zum Schürfen UMSATZ 31,8 Mrd. $ GEWINN 6,4 Mrd. $ MITARBEITER 37 000 AKTIENKURS in Euro 19 Gleichzeitig schreitet die Konsolidierung auch in den einzelnen Rohstoffklassen voran. Im Markt für Nickel etwa, dessen Preis sich seit Jahresbeginn mehr als verdoppelt hat, liefern sich gerade mehrere Unternehmen eine milliardenschwere Übernahmeschlacht um den kanadischen Produzenten Falconbridge. Das Kalkül hinter solchen Feldzügen ist klar: Die Exploration neuer Lagerstätten ist mühsam, sie zieht sich über Jahre hin und trägt stets das Risiko des Scheiterns in sich. Wer hingegen ein erschlossenes Vorkommen übernimmt, weiß recht genau, wofür er sein Geld ausgibt. So sind die Erzproduzenten immer größer und mächtiger geworden. Ihr Einfluss ist in den vergangenen Jahren derart gewachsen, dass es ihren Abnehmern zuweilen schwerfällt, mit ihnen auf Augenhöhe zu verhandeln. Im Eisenerzgeschäft kontrollieren nur drei Konzerne – CVRD, Rio Tinto und BHP Billiton – etwa drei Viertel des weltweiten Angebots. Würde dieses Oligopol bloß eine Woche die Lieferungen an die Stahlfirmen aussetzen, käme die gesamte Industrieproduktion ins Stocken. Die Welt- Die größten Minenkonzerne der Welt UMSATZ 29,4 Mrd. $ GEWINN 3,5 Mrd. $ MITARBEITER 195 000 AKTIENKURS in Euro UMSATZ 19,0 Mrd. $ GEWINN 5,2 Mrd. $ MITARBEITER 27 800 50 AKTIENKURS in Euro 30 40 UMSATZ 13,9 Mrd. $ GEWINN 4,3 Mrd. $ MITARBEITER 38 800 AKTIENKURS in Euro 40 15 30 12 30 20 Quelle: Thomson Financial Datastream 9 2005 2006 2005 2006 d e r s p i e g e l 2005 2 3 / 2 0 0 6 2006 20 2005 20 2006 87 Historische Gipfel Wie Fondsmanager und Kleinanleger vom grassierenden Rohstofffieber profitieren wollen D ie Männer in den blauen Overalls wirken völlig entspannt, der Anblick der glänzenden Schätze um sie herum löst beim Personal des Hanauer Heraeus-Konzerns keine Ehrfurcht aus. Wie beim Pferdeschmied wird da gerade ein dicker Barren mit groben Hammerschlägen behandelt. Der Brocken ist 33 Kilogramm schwer, besteht aus Platin-Rhodium und hat einen Wert von 2,5 Millionen Euro. Arbeiter mit Schutzbrille und silberfarbenen Handschuhen bis zu den Ellbogen kochen und gießen in der Edelmetallschmelze täglich Millionenwerte. Mit Zangen greifen sie sich die glühenden Barren, die vor zwei Jahren noch fast die Hälfte wert waren. Im Mai 2004 lag zum Beispiel der Platinpreis bei 800 Dollar je Feinunze, heute sind es über 1300. Der Goldkurs hat sich in dieser Zeit ebenfalls beinahe verdoppelt. Die Unze lag Mitte Mai gar über 700 Dollar. Die Preisrallye lockt auch die Kleinanleger. Und für jeden Geschmack gibt es das richtige Produkt – für Risikofreunde wie für Nummer-Sicher-Geher. Die ängstliche Fraktion bunkert gern Hanauer Goldprodukte im Tresor. „Seit rund eineinhalb Jahren hat der Umsatz mit Goldbarren spürbar zugenommen“, freut sich Hans-Günter Ritter, Chef des Edelmetallhandels. Nicht nur Gold und Platin glänzten in jüngster Vergangenheit mit wahren Wertexplosionen. Beinahe die gesamte Rohstoffpalette sorgt für eine selten dagewesene Geldvermehrung. Ähnliche Höhenflüge gab es zuletzt vor 25 Jahren. Egal ob Öl, Kupfer, Zink, Silber oder Titan – an den Warenbörsen in New York, London, Tokio oder Chicago schaffte es beinahe jeder Rohstoff in den vergangenen Monaten auf historische Preisgipfel. Die US-Investmentbank Goldman Sachs verarbeitet die täglichen Kursdaten von 24 Rohstoffen in einem Index, dessen Wert sich innerhalb von drei Jahren glatt verdoppelt hat (siehe Grafik). Blind vertrauen dabei viele Anleger auf den anscheinend unstillbaren Rohstoffhunger der prosperierenden Riesenreiche China und Indien. Fonds pumpen plötzlich Unsummen in Aktien von Förderfirmen und die vergleichsweise kleinen Rohstoffmärkte. „Die Jahres88 produktion von Palladium im Wert von 2,5 Milliarden Dollar verfrühstückt ein einziger Hedgefonds“, beschreibt Ritter das Phänomen der engen Märkte. Das Frischgeld der mächtigen Spieler sorgt für schnelle, aber gefährlich schwankende Preisentwicklungen. Entsteht da schon eine neue Spekulationsblase? Ist das ökonomische Blutbad nach dem Ende des Internet-Booms vor sechs Jahren bereits vergessen? Droht bald der Crash? Vorvergangene Woche fühlten sich die Untergangspropheten erstmals bestätigt. Im Zuge der Angst vor konjunkturbremsenden Zinserhöhungen der USNotenbank brachen auch die Notierungen für Kupfer, Gold und andere Rohstoffe ein. Fonds hatten Kasse gemacht. Inzwischen scheint das Debakel schon fast wieder vergessen. Vor allem die Preise für Basismetalle erholten sich schnell, weil die Lagerbestände weiter sinken. „Wie im Tollhaus“, umschreiben allerdings Händler die derzeitige Situation am Terminmarkt für Kupfer, wo die Preise besonders gefährlich schwanken. Gebetsmühlenartig predigen die Banker ihren Kunden derzeit, einen Anteil von fünf bis zehn Prozent im Depot zu halten. Selbst die kleinsten Kunden kriegen nun Anrufe von ihren Beratern, die sie zum Kauf von Rohstoffaktien-, Rohstoffindex-Fonds oder den komplexeren Zertifikaten, die sich von einem einzel- Goldman Sachs Rohstoffindex Der GSCI Rohstoffindex beinhaltet die wichtigsten 24 Rohstoffe aus den Bereichen Edelmetalle, Industriemetalle, Energieträger, Agrar- und Tierprodukte 450 Quelle: Thomson Financial Datastream 400 350 300 250 200 2003 d e r 2004 s p i e g e l 2005 2006 2 3 / 2 0 0 6 Edelmetallschmelze von Heraeus Selten dagewesene Geldvermehrung nen Basiswert wie zum Beispiel Gold ableiten, überreden wollen. Nach anfänglichem Zögern steigen institutionelle Großanleger wie Pensionskassen ebenso ein wie Kleinaktionäre. Bei der US-Investmentbank Merrill Lynch floss allein aus Deutschland im ersten Quartal des Jahres die Rekordsumme von 500 Millionen Euro netto in die Kasse des World Mining Fund. Mit einem Volumen von weit über sechs Milliarden Dollar gilt der Fonds, der nur in Aktien von Rohstofffirmen wie etwa Rio Tinto investiert, weltweit als erste Adresse. Der Geologe Graham Birch ist Chef des Fondsteams. Die Branchenlegende steigt vor dem Investment schon mal persönlich in eine Goldmine. Birch schaffte mit dem World Mining Fund eine Dreijahresrendite von über 250 Prozent. Dagegen wirken die Verhältnisse bei heimischen Anbietern bescheiden. Die Deutsche-Bank-Tochter DWS produzierte etwa mit ihrem Commodity Plus seit März 2005 eine Rendite von 18 Prozent. Laut Branchenstatistik flossen vergangenes Jahr rund eine halbe Milliarde Euro Frischgeld in alle deutschen Rohstofffonds. In den ersten vier Monaten dieses Jahres sind es schon 640 Millionen Euro – Treibstoff für neue Exzesse. So erlebte zum Beispiel die australische Uran-Aktie Paladin Resources seit Anfang 2004 eine sagenhafte Kurssteigerung von über 7000 Prozent. Und das, obwohl das Unternehmen bislang noch gar kein Uran gefördert hat. Beat Balzli Wirtschaft drei Millionen Dollar, liegen bei mindestens 18 Monaten. Inzwischen ist es sogar üblich, Neufahrzeuge ohne Reifen zu verkaufen: Die Fünf-Tonnen-Spezialpneus sind noch schwerer zu bekommen. Michelin und Bridgestone, die Hauptanbieter, zögern, ihre Kapazitäten zu erweitern. Sie haben schlechte Erfahrungen gemacht: Vor Jahren gaben sie einmal dem Drängen der Bergbauindustrie nach, doch dann blieb die erwartete Nachfrage aus – und die Branche auf der Ware sitzen. Ausgesprochen zyklisch entwickelt sich auch der Personalbedarf im Rohstoffgewerbe. Vor einigen Jahren kam es vor, dass sich Geologen in Perth als Taxifahrer verdingen mussten. Heute gehören Leute mit solchen Qualifikationen zu den begehrtesten Kräften Australiens. Wer nach dem Examen einen Vertrag unterschreibt, steigt zuweilen mit einem Jahresgehalt von umgerechnet fast 100 000 Euro ein. Mehr noch als die Personalkosten machen der Bergbaubranche aber die Ausgaben ausgerechnet für Rohstoffe zu schaffen. Eine Minenanlage besteht schließlich vor allem aus Eisen und Stahl. Und für die Herstellung der Metalle werden Unmengen Energie benötigt. Die Aluminiumhütte nahe dem südaustralischen Portland verbraucht zwölf Prozent des Stroms, der im Bundesstaat Victoria erzeugt wird. In einer Halle von 750 Meter Länge stehen kleine Hochöfen aufgereiht wie Sarkophage. In ihnen wird bei 950 Grad Celsius per Elektrolyse Aluminium gewonnen. Alcoa, der weltgrößte Aluminiumkonzern mit Sitz im amerikanischen Pittsburgh, stellt hier jährlich 345 000 Tonnen Aluminium her. Mit der dazu nötigen Energie könnte man rund 700 000 Einfamilienhäuser ein Jahr lang versorgen. Jetzt investiert das Unternehmen gut eine Milliarde Dollar in eine neue Schmelze, die erste seit 20 Jahren. Sie wird in Island gebaut. Dort ist dank des vulkanischen Untergrunds Erdwärme im Übermaß vorhanden und Energie entsprechend günstig. SINOPIX / LAIF TIM WEGNER wirtschaft stünde bald vor dem Kollaps. Kein Wunder, dass die Rohstofflieferanten derzeit überaus günstige Konditionen durchsetzen können. In diesem Jahr haben sie den Preis um 19 Prozent verteuert, ein Jahr zuvor betrug der Aufschlag sogar mehr als 70 Prozent. Das Einzige, was sich nicht verändert hat, ist das Procedere der Verhandlungen. Jedes Frühjahr kommen die Einkaufschefs der großen Erzlieferanten mit den Vertretern der wichtigsten Stahlfirmen in Japan, China und Europa zusammen. Jeder verhandelt mit jedem: die Brasilianer vorzugsweise mit den europäischen Abnehmern, die Australier und Briten sitzen japanischen und chinesischen Stahlmanagern gegenüber. Man trifft sich in Luxushotels in Tokio, Peking oder London. Meist liegt ein Golfplatz in der Nähe. Die Gespräche ziehen sich über Wochen hin, bis sich eine der Verhandlungsrunden zu einer Zahl durchringt. Nach diesem Pilotabschluss richten sich alle anderen. In diesem Jahr hat überraschend ThyssenKrupp Stahl den Vorreiter gespielt. Das größte deutsche Stahlunternehmen akzeptierte am Ende, dass CVRD die Preise um 19 Prozent erhöht. Solche Sprünge sind beispiellos in der jüngeren Geschichte des Rohstoffgewerbes. Allerdings haben die Produzenten Kosten zu verkraften, die ebenfalls noch nie dagewesen sind. Laster, Bagger, Bohranlagen: Sämtliche Gerätschaften sind erheblich im Preis gestiegen – sofern ein Minenbetreiber überhaupt von Herstellern wie Caterpillar, Komatsu oder Liebherr versorgt wird. Die Lieferzeiten für Riesentrucks, Stückpreis Stadtansicht von Shanghai: „Auch diese Blase wird platzen“ d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 Island selbst verfügt über keinerlei Bauxitvorkommen. Das rötliche Erz, das zu Aluminium verarbeitet wird, gelangt per Schiff in den hohen Norden, angeliefert aus so fernen Ländern wie Brasilien oder Australien. Dort liegen die sogenannten Weltklasse-Vorkommen, also Lagerstätten, die besondere Eigenschaften miteinander vereinen: ein großes Volumen, einen hohen Rohstoffgehalt, niedrige Förderkosten, eine lange Lebensdauer und vor allem eine politisch stabile Umgebung. Lagerstätten mit solchen Voraussetzungen finden die Rohstoffkonzerne immer seltener – auch das treibt ihre Kosten. In den achtziger Jahren seien seine Leute in 80 Metern auf Kohle gestoßen, heute müssten sie 200 oder 300 Meter in die Tiefe gehen, sagt Ken Talbot, Chef des südaustralischen Kohlenförderers Macarthur Coal: „Das sind neue Herausforderungen.“ So wirkt die Hochstimmung, die seit Monaten die Rohstoffmärkte bewegt, etwas fehl am Platze. Tatsächlich stehen die Konzernchefs vor schwierigen Entscheidungen. Die Multi-Milliarden-Dollar-Frage lautet: Wie lange hält dieser bemerkenswerte Zyklus an? Lohnt es sich noch, in den Ausbau weiterer Vorkommen zu investieren? Vor allem: Wie sollen sie die gegenwärtig steigende Nachfrage bedienen? Durch Zukäufe zu wachsen, wird allmählich unerschwinglich. Die andere Strategie, in eher unsichere, aber rohstoffreiche Regionen der Welt wie Zentralafrika zu expandieren, ist mühsam und riskant. Eine dritte Möglichkeit wäre es, nun auch zweit- oder drittklassige Lagerstätten zu erschließen. Mit dieser Option sind die Konzerne allerdings schon in den siebziger Jahren gescheitert: Als die Weltwirtschaft stagnierte und die Nachfrage einbrach, mussten sie diese Minen abschreiben. BHP-Manager Kirkby hat diese bitteren Jahre miterlebt. Er hält nichts von der Exploration mittelmäßiger Vorkommen. Dann würde er schon eher den Ausbau in heiklen Regionen vorantreiben. Als BHP vor fast 20 Jahren mit der Erschließung der chilenischen Mine Escondida begann, regierte noch das Militärregime des Generals Pinochet, erinnert er sich. Heute ist Escondida die größte Kupfermine der Welt und Chile eine respektierte Demokratie. „Man muss dorthin gehen, wo die Erzvorkommen sind.“ Unter diesen Umständen dürfte das Unternehmen wohl kaum zu seinen Ursprüngen zurückkehren: Die Erzader bei Broken Hill ist weitgehend erschöpft. In der australischen Minenstadt erinnern nur noch Straßennamen wie Bromide- oder Sulphide-Street an die glanzvolle Vergangenheit. Trotzdem ist in den alten Schächten noch Leben. Jeden Tag erkunden Besuchergruppen das Tunnelsystem. Die Touristen lassen sich erzählen, wie hier einst geschuftet wurde: Ihre Führer sind ehemalige Minenarbeiter. Alexander Jung 89 Wirtschaft KARRIEREN Weißes Haus statt Wall Street CHARLES DHARAPAK / AP Bushs designierter Finanzminister Henry Paulson ist einer der reichsten Manager der USA und überzeugter Umweltschützer. Bekommt Washington eine neue Wirtschaftspolitik? gründete der Präsident seine Entscheidung. Das scheint bei Bush auch vonnöten. Aufklärung über seine Wirtschaftspolitik ist dringend erforderlich. Zwar zeigt die US-Ökonomie seit Jahren ein gesundes Wachstum; im ersten Quartal legte sie gar um 5,3 Prozent zu. Die Arbeitslosenquote beträgt 4,7 Prozent. Doch für Bush zahlt sich das nicht aus. Seine Umfragewerte rutschen auf immer neue Tiefststände. Und schuld daran ist nicht allein der Irak-Krieg. Die milliardenschweren Steuergeschenke aus Washington helfen vor allem den Konzernen und der rasch wachsenden Kas- Präsident Bush, Finanzmanager Paulson, Snow: Kluft zwischen Arm und Reich reißt auf K ein Schild am Eingang deutet darauf hin, dass an der Adresse 85, Broad Street eines der mächtigsten Geldhäuser der Welt residiert: Goldman Sachs. Diskretion herrscht auch weit oben in der Chefetage mit Blick über Manhattan. Dicke Teppiche gibt es da, holzvertäfelte Wände und einen Vorstandschef, der beim Interview erst einmal selber Fragen stellt. Was wird aus Schröder?, wollte Henry („Hank“) Paulson beim Gesprächstermin im vergangenen Oktober wissen. Citibank oder Gasprom als Arbeitgeber? Der Banker witterte schon damals, dass der Altkanzler die russische Karte ziehen würde. Nun wechselt er selbst den Job, die Seite und die Gehaltsklasse – was in seinem Fall mit deutlichen Abstrichen verbunden ist. An der Wall Street lagen seine Bezüge allein 2005 bei astronomisch anmutenden 38,8 Millionen Dollar. Künftig erhält er 183 500 Dollar. Das dürfte indes nicht der Hauptgrund gewesen sein, dass es doch einiger Überredungskunst bedurfte, bis er George W. Bushs Ruf folgte und sich zum neuen US-Finanzminister nominieren ließ. Paulson könne „in klaren Worten ökonomische Zusammenhänge darstellen“, be90 te der Milliardäre und Multimillionäre in den USA. Bei den mittleren und unteren Schichten dagegen stagnieren die Einkommen oder gehen gar zurück. Zwischen Arm und Reich reißt die Kluft immer weiter auf. Wie angespannt die Stimmung bereits ist, hat sich beim Aufruhr um den jüngsten Anstieg der Benzinpreise gezeigt: Mit hektischen Gesetzesinitiativen versuchten Bushs Republikaner, die Wut der Verbraucher zu lindern. Im November stehen Wahlen für den US-Kongress an. Da mussten Signale her, gerade was die Finanzpolitik angeht, die von dem früheren Eisenbahn-Manager John Snow im US Treasury drei Jahre lang wie von einem farblosen Pressesprecher dirigiert wurde. Der einflusslose Finanzminister wurde abwechselnd von den Demokraten und dem eigentlich Bush-freundlichem „Wall Street Journal“ attackiert. Henry Paulson, 60, ließ sich denn auch längere Zeit umwerben. Es gab Einladungen zum Staatsbankett mit Chinas Präsident Hu Jintao und zum Wochenendbesuch im Weißen Haus. Erst danach sagte er zu, obwohl politisches Engagement bei Goldman Sachs durchaus zum Geschäft gehört. d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 Ex-Bankchef Jon Corzine ist zurzeit Gouverneur von New Jersey. Der einstige Co-Chairman Robert Rubin wurde in den neunziger Jahren zu Bill Clintons Finanzminister. Paulson sah sich wohl in die Pflicht genommen. Dennoch war für ihn Vorsicht angebracht. Schließlich ist er seit Jahren der Erste im Washingtoner Machtzirkel, der nicht aus Bushs ideologischem Dunstkreis stammt. Was aber steht auf der Agenda des Bankers, der Goldman Sachs jahrelang Rekordergebnisse bescherte? Lässt sich einer der mächtigsten Wirtschaftsführer Amerikas überhaupt in den straff geführten Regierungsapparat integrieren? Selbstverständlich ist Paulson, seit 1974 bei Goldman Sachs, ein entschiedener Verfechter von Freihandel und Globalisierung. Strafzölle gegen chinesische Billigimporte wären für ihn Teufelszeug. Die Abhängigkeit des Dollars von den Chinesen, die Exportschwäche der Vereinigten Staaten, das historisch einmalige Außenhandelsdefizit – all das ist für ihn kein Problem, solange die US-Wirtschaft weiter anzieht und damit auch die Weltkonjunktur in Schwung bleibt. „Das alles ist mir lieber als kein Defizit – und gleichzeitig auch kein Wachstum“, sagt Paulson. Trotzdem dürfte er versuchen, in Bushs Wirtschaftsprogramm ein paar bislang ungewohnte Akzente zu setzen. Schon dass er ein überzeugter Umweltschützer ist, macht ihn rund ums Weiße Haus zur Ausnahmefigur. Erst kürzlich spendete er 100 Millionen Dollar aus seinem auf insgesamt 700 Millionen geschätzten Privatvermögen für den Naturschutz. „Regierungen haben die Pflicht, das Armutsproblem anzugehen“, sagte Paulson im SPIEGEL-Gespräch. In für einen Investmentbanker fast warmherzigen Worten spricht er über Kranken- und Altersversicherung sowie die gesellschaftlichen Schattenseiten der Globalisierung. Das in New Orleans nach dem Hurrikan „Katrina“ zu besichtigende Elend war für ihn „ein Schock“, der ihn sogar nach einer stärkeren Rolle des Staates rufen ließ. So viele Demokraten-Töne hat man in Bushs Nähe lange nicht gehört. „Wir sprechen hier über die Kluft zwischen den Wohlhabenden und den Habenichtsen, den Reichen und Armen“, sagt er: Da sei in den USA noch viel zu tun. Noch vorigen Dienstag sagte Paulson in Washington, die Vereinigten Staaten müssten nun „Schritte unternehmen, um ihre Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten“. Die Analysten seiner eigenen Bank sehen die US-Wirtschaft ohnehin seit einiger Zeit eher kritisch. Sinkendes Verbrauchervertrauen, wachsende Probleme auf dem Immobilienmarkt, das gewaltige DoppelDefizit – „das Wirtschaftswachstum wird sich deutlich abkühlen“, orakelt ein erst eine Woche altes Papier. Frank Hornig RAINER DREXEL / BILDERBERG Wirtschaft Bankenmetropole Frankfurt am Main: Mit Hochglanzbroschüren und Seminaren auf der Jagd nach Kommunalbeamten GE L DA N L AGE Kämmerer im Zockerrausch Mit riskanten Spekulationen versuchen hochverschuldete Kommunen, ihre Zinslast zu mindern. Die Banken freuen sich über ein Milliardengeschäft, Fachleute sind beunruhigt. G ünter Hall nimmt das Sparschwein variable. Denn auf den Finanzmärkten gibt von der Fensterbank, streckt es in es andere Schuldner, die sich auf einen soldie Höhe und sagt: „Der Vorgänger chen Tausch (Englisch: „swap“) einlassen, weil sie die künftige Entwicklung der Sätze hat es mir überlassen, es ist fast leer.“ Dann stellt Hall, der die Neusser Fi- anders einschätzen oder an einer bestimmnanzverwaltung leitet, das Schwein wie- ten Laufzeit interessiert sind. Eine Bank der hin, blickt aus dem Rathausfenster und wickelt den Swap ab und kassiert dafür sagt Sätze wie: „Modernes Schuldenport- eine Gebühr. Die kommunalen Glücksspiele sind foliomanagement kann helfen, die Zinslast zu mindern. Wir haben mit Swaps bereits legal – aber nicht ungefährlich: Sollte beispielsweise die Europäische Zentralbank gute Erfahrungen gemacht.“ Das Fachchinesisch geht dem kommu- die Leitzinsen in den kommenden Monanalen Finanzbeamten leicht über die ten kräftiger erhöhen als von manchen Lippen. Wie viele seiner Kollegen handelt Kämmerern prognostiziert, könnte die er neuerdings mit Derivaten – letztlich Jubellaune schnell in Katerstimmung umWetten auf die künftige Entwicklung von schlagen. Katastrophen gab es zumin- 115,6 Zinssätzen und Wechselkursen. Wer die Wetten gewinnt, streicht fette dest zu früheren Zeitpunkten 115 Gewinne ein. Um fast 500 000 Euro hat immer wieder: Bereits Ende die nordrhein-westfälische Stadt Neuss der achtziger Jahre hatte 110 ihren Haushalt in nur eineinhalb Jahren der Londoner 108 aufgebessert. Salzgitter in Niedersachsen Stadtbezirk 105 meldet allein für 2005 Zinseinsparungen Hammer102 in Höhe von 1,4 Millionen Euro, „mit stark smith 99 100 steigender Tendenz“, wie der Kämmerer 96 betont. Sogar die Ruhrpottgemeinde Dors95 95 ten freut sich über ein 24-Monate-Plus von 400 000 Euro. 90 Gute Nachrichten werden dringend benötigt: Die 12 630 deutschen Kom85 munen haben innerhalb von Jahr- 85 zehnten einen Schuldenberg von mehr 80 als 115 Milliarden Euro angehäuft. in Milliarden Euro Viele Kredite mussten sie zu Zins75 sätzen aufnehmen, die weit über den heutigen liegen. Nun drücken 70 horrende Zinskosten. Mit Derivatgeschäften können 70,0 65 Kämmerer hohe Zinssätze gegen niedrige tauschen, oder feste gegen 91 93 95 97 99 01 03 05 Verschuldung von Städten und Gemeinden 92 d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 and Fulham mit Zins-Swaps 500 Millionen Pfund in den Sand gesetzt. 1994 verlor das Orange County in Kalifornien mit Derivaten und anderen riskanten Geschäften sogar 1,7 Milliarden Dollar. Auch Günter Hall hat erfahren, wie mit derlei Deals schwarze Zahlen rasch rot anlaufen können. Für die Stadtentwässerung von Neuss, deren Chefposten er in Personalunion bekleidet, hat er sich von der Deutschen Bank einen sogenannten Spread-Vertrag empfehlen lassen. Die Wette lautet: Beträgt die Spanne (Englisch: „spread“) zwischen zwei Referenzzinssätzen, einem kurz- und einem langfristigen, mehr als 0,8 Prozentpunkte, wird Geld aufs Konto der Stadtentwässerung gespült – andernfalls trocknet es aus. Das Spiel begann am 20. August vergangenen Jahres. Hall machte sich keine Sorgen, hatte er doch Kurven studiert, die bis ins Jahr 1995 zurückreichen: Die Differenz lag fast immer bei mehr als 0,8 Prozentpunkten. „Bis November lief alles prima, dann kamen die Probleme“, sagt Hall. Die Sätze spielten plötzlich verrückt, der Kontostand schlitterte tief ins Minus. Kurz vor Weihnachten setzten sich die Neusser Finanzbeamten mit ihren Bankern an einen Tisch und diskutierten. An das „Geschrei“ erinnert sich Hall nur ungern. Schließlich einigte man sich darauf, den Vertrag zugunsten der Stadtentwässerung zu ändern – die aber der Bank zum Jahresende mehr als 200 000 Euro überweisen musste. Die Deutsche Bank will den Fall nicht kommentieren. Für die Geldhäuser sind die kommunalen Schulden ein Bombengeschäft. Während mit simplen Krediten kaum noch Geld zu verdienen ist, locken bei Swaps und Spreads hohe Gebühren. Kommunen sind als Kunden besonders attraktiv: Verzockt sich ein Kämmerer, muss der Staat dafür geradestehen. Mit speziellen Hochglanzbroschüren und Seminaren werden den Finanzbeamten die Derivate schmackhaft gemacht. „Modernes Zinsmanagement“ könne die kom- Christoph Pauly, Sebastian Ramspeck 96 T E L E KO M M U N I K AT I O N „Moderne Wegelagerei“ Mit versteckten Gebühren sahnen die Mobilfunkbetreiber bei ihren Kunden kräftig ab. Jetzt wollen die Regulierungsbehörden in Bonn und Brüssel eingreifen. WILLIAMSON / IMAGES.DE munalen „Haushalte massiv entlasten“, schreibt etwa die Deutsche Bank. Besonders die nordrhein-westfälischen Gemeinden ließen sich verführen. Allein mit der WestLB haben sie im vergangenen Jahr Derivate-Deals im Wert von 4,1 Milliarden Euro abgeschlossen. Die Bank übernahm bei zwei Dutzend Kommunen das komplette „Schuldenmanagement“, die Kommunen brauchen nur zuzuschauen. Geht die Sache gut, kassiert die Bank eine erfolgsabhängige Prämie – die Verluste muss die Kommune dagegen allein tragen. Die Deutsche Bank setzt lieber auf Hilfe zur Selbsthilfe: Die Kämmerer werden beraten, müssen sich aber schon ihre eigene „Zinsmeinung“ bilden. Dann stehen 9000 Händler bereit, um für den Kunden „maßgeschneiderte Produkte“ zu fertigen und am Markt unterzubringen. Fachleute sind beunruhigt. „Es ist zu befürchten, dass viele Kommunen nicht über das geeignete Personal und das notwendige Know-how verfügen, um solche Geschäfte verantwortungsvoll abzuwickeln“, sagt zum Beispiel Gerhard Schleif, der als Geschäftsführer der Bundesrepublik Deutschland Finanzagentur GmbH die Derivatgeschäfte des Bundes abwickelt. Schließlich setzt die Regierung in Berlin beim Schuldenmanagement auf hochqualifiziertes Personal. Berater bieten bereits bankenunabhängige Seminare für kommunale Kämmerer an. Für Roland Eller aus Potsdam gleichen Beamte im Zockerrausch oft „VW-Fahrern am Steuer eines Ferrari“. Eller hat Hunderte Kommunalpolitiker und Beamte durch seine Seminare geschleust. Dort hört er manchmal von abenteuerlichen Deals, die er „James-Dean-Geschäfte“ nennt: „Denn die Beamten, sie wissen nicht, was sie tun.“ „James-Dean-Geschäfte“ hatte die Deutsche Bank etwa dem Geschäftsführer der Stadtwerke von Salzwedel in SachsenAnhalt im Jahr 2000 aufgeschwatzt. Die Zins- und Währungs-Swaps erwiesen sich schnell als Verlustgeschäft, es folgte ein jahrelanger, komplizierter Rechtsstreit zwischen Stadtwerken, ihrem früheren Geschäftsführer und Deutscher Bank. Am 21. März wies der Bundesgerichtshof eine Nichtzulassungsbeschwerde ab, das Geldinstitut musste der Nachfolgefirma E.on Avacon 370 000 Euro Schadensersatz plus Zinsen überweisen – wegen eines „Beratungsfehlers“. Günter Hall aus Neuss hofft derweil, dass das Geschäft, das er mit der Deutschen Bank neu ausgehandelt hat, besser verläuft als der erste Spread. „Bis jetzt sind wir in der Gewinnzone“, sagt Hall, „aber erst 2013 wird man sagen können, ob das ein gutes Geschäft war.“ Der Chefbeamte ist dann 67, das ausgehungerte Sparschwein auf der Fensterbank seines Büros wird er dann vermutlich seinem eigenen Nachfolger überlassen haben. Handy-Nutzerin (auf Mallorca): Horrende Aufschläge im Urlaub D ie Drohung kam schon kurz vor Weihnachten. In gleichlautenden Briefen teilte die Bundesnetzagentur den Betreibern aller vier Mobilfunknetze in Deutschland mit, dass sie ihre Gebühren „entsprechend den europäischen Standards bei vergleichbaren effizienten Netzbetreibern“ senken müssten – ansonsten werde die Behörde eingreifen. Viel Kopfzerbrechen bereitete die Drohung den Mobilfunkmanagern zunächst nicht. Wie so oft hatte die Netzagentur nämlich auch diesmal eine Hintertür offen gelassen. Durch freiwillige Vereinbarungen könnte eine staatliche Aufsicht vermieden werden, teilte das Amt mit. Alles sah nach dem üblichen Procedere aus: Die Netzagentur droht, die Branche bewegt sich in kleinen Trippelschritten voran. Und so waren sich T-Mobile, Vodafone und O2 auch diesmal schnell einig über eine moderate Absenkung der Gebühren. Nur einer machte nicht mit beim freundlichen Getuschel. Völlig überraschend weigerte sich der Düsseldorfer Mobilfunker E-Plus, die von T-Mobile und Vodafone diktierten Vereinbarungen zu unterschreiben. „Das Duopol der marktbeherrschenden Konzerne“ lasse keinen fairen Wettbewerb zu, klagte E-Plus-Manager Thorsten Dirks. Da die „Selbstregulierung in unserem Markt offensichtlich versagt“, müsse jetzt d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 der Regulierer „seiner Pflicht nachkommen und handeln“, fordert der E-PlusMann – und bekommt dafür großen Beifall von den Verbraucherschützern. Seither ist in der sonst so geschlossen auftretenden Zunft der Teufel los. „Das ist ein ungeheuerlicher Vorgang“, schimpft T-Mobile-Chef René Obermann. Nur weil sich E-Plus „querstellt“, müsse „die gesamte Branche mit staatlichen Eingriffen rechnen“. Das sei „völlig inakzeptabel“. Sein Ärger verwundert nicht weiter: Jahrelang konnten die Mobilfunker weitgehend frei schalten. Nahezu tatenlos sahen die Regulierungsbehörden zu, wie vor allem die beiden Pioniere immer dickere Gewinne einfuhren. Die Folge: Kaum irgendwo in Europa ist das Telefonieren per Handy so teuer wie in Deutschland (siehe Grafik). Zwar sind im vergangenen Jahr die Mobilfunkkosten mit dem Auftauchen diverser Discountanbieter um rund zehn Prozent gefallen. Im internationalen Vergleich aber haben die Preissenkungen kaum etwas an der deutschen Position im Spitzenfeld verändert. Das könnte nun anders werden. Denn nachdem Anfang Mai die letzte Chance für eine freiwillige Regelung geplatzt ist, wird die Netzagentur die Branchengrößen jetzt mit einer Regulierungsverfügung an die Kandare nehmen. Dann müssen die Wirtschaft Mobilfunkpreise d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 etwas anderes übrigbleiben, als nachzugeben. Denn die neuen Zahlen, die Miller kürzlich der EU-Kommission präsentierte, belegen eindrucksvoll, wie weit sich die Durchleitungsgebühren von ihrem ursprünglichen Zweck, der Kostendeckung für die Netze, entfernt haben. So fährt Vodafone Deutschland im Jahr 2006 nach Berechnungen von durch E-Plus beauftragten Gutachtern allein über Terminierungsentgelte einen Reingewinn von 576,7 Millionen Euro ein, bei T-Mobile seien es 577,3 Millionen Euro. Ein Senkung der Gebühren, heißt es deshalb in der EU-Behörde, sei „zwingend notwendig“. Man werde die Vorschläge der deutschen Netzagentur „sorgfältig prüfen“ und wenn nötig vom „Veto-Recht“ Gebrauch machen. Konkret bedeutet das nichts anderes, als dass sich die deutschen Mobilfunkbetreiber darauf einstellen müs- JUERGEN MOERS / VARIO-PRESS lein die Branchenriesen T-Mobile und Vodafone, so errechneten Experten der Beratungsfirma WIK Consult, haben zwischen 1993 und 2003 gut 18 Milliarden Euro einkassiert – und damit deutlich mehr, als sie für den Aufbau ihrer gesamten GSMNetze ausgaben. An der versteckten Maut halten die Konzerne verbissen fest. Zwar wurde sie inzwischen auf etwa elf Cent reduziert, liegt aber immer noch deutlich über den echten Kosten, die bei der Vermittlung in ein anderes Netz anfallen. Maximal fünf bis sechs Cent, so meinen Experten, seien dafür angemessen. „Moderne Wegelagerei“ nennt Stan Miller neuerdings solche Abzockpraktiken. Der Chef des in Brüssel ansässigen Mobilfunk-Discounters Base, der wie E-Plus zur niederländischen Telefongesellschaft KPN gehört, will da nicht mehr mitmachen und hat dem Konzern eine neue Strategie verordnet: Telefonieren soll billiger werden, lautet sein Credo. Der ungewöhnliche Vorstoß ist wohlkalkuliert. Denn kleine Netzbetreiber wie E-Plus oder O2 profitieren längst nicht so stark von der Telefon-Maut wie die Branchenriesen. Da Miller wenig zu verlieren hat, macht er nicht nur bei der Regulierungsbehörde in Bonn, sondern auch in Brüssel bei der für Telekommunikation zuständigen EU-Kommissarin Viviane Reding Druck – mit wachsendem Erfolg. Schon seit Monaten liefert sich die Luxemburgerin eine Fehde mit den großen europäischen Mobilfunkern und hat inzwischen tiefe Einblicke in deren Kalkulationsmethoden erhalten. Anlass für ihre Untersuchung waren die sogenannten internationalen Roaming-Gebühren. Warum, fragte die Kommissarin anfangs noch ziemlich naiv, müssen Handy-Kunden eigentlich horrende Aufschläge auf Monatliche Gesprächskosten* von ihre Gesprächspreise akzeptieren, wenn Handy-Nutzern in Euro sie im Ausland telefonieren? Entstehen den Firmen tatsächlich Kosten, Deutschland Vodafone, Vodafone 100 53,90 die Minutenpreise von bis Deutschland T-Mobile, TellyActive More Talk zu rund drei Euro recht48,80 fertigen? Oder nutzen die HanItalien Vodafone, Vodafone Easy dy-Gesellschaften einfach ihre 43,80 Marktmacht aus, um sich ganz neGroßbritannien O2, O2 100 benbei jährlich etwa zehn Milliarden 40,40 Euro an Zusatzeinnahmen zu sichern? Österreich T-Mobile, Relax Light Plausible Antworten blieben Voda37,20 fone und Co. bis heute schuldig. So Spanien Vodafone, 37,20 drohte Reding unter dem Aufschrei fast Contrato Autonomus aller Netzbetreiber damit, notfalls rechtFrankreich SFR, Le Compte 2h30 35,60 lich gegen die überhöhten Gebühren vorzugehen. Schon die Drohung zeigte Tschechien T-Mobile, T 80 32,00 Wirkung. Um eine juristische AuseinanSchweden Tele 2, Comdersetzung zu vermeiden, versprachen Voviq Knock-Out 19,20 dafone, T-Mobile und die spanische TeleDänemark Sonofon fónica mit ihrer Tochter O2 bereits, die umKvantum 99 16,90 strittenen Sondertarife demnächst um bis Quelle: EUFinnland Sonera Kommission zu 60 Prozent zu reduzieren. Ob das der Netto 16,70 Stand: 2005 EU-Kommission reicht, ist offen. * Preise für 48 abgehende Mobil-Gespräche, 27 Gespräche Auch im Streit um die Terminierungsins Festnetz, sowie 35 SMS; ausgewählte Anbieter entgelte dürfte den Mobilfunkern kaum Netzbetreiber erstmals ihre Bücher offenlegen und nachweisen, ob die hohen Gebühren wirklich den Kosten entsprechen. Die Verfügung, die wahrscheinlich im Herbst erlassen wird, markiert für die erfolgsverwöhnte Zunft einen tiefen Einschnitt. Denn nicht nur die Bonner Behörde macht Druck, auch die Brüsseler EUKommission sieht „Handlungsbedarf in Deutschland“. Gleichzeitig ist der Markt nahezu gesättigt, große Wachstumsraten sind vorerst nicht mehr zu erwarten. Im Mittelpunkt des Interesses der Behörden steht eine Gebühr, die auf keiner Handy-Rechnung auftaucht, aber oft dafür verantwortlich ist, dass die Telefonkunden so kräftig zur Kasse gebeten werden: das sogenannte Terminierungsentgelt. Die Gebühr wird bei jedem Gespräch kassiert, bei dem der Anrufer eine Nummer in einem anderen Handy-Netz anwählt. Elf bis zwölf Cent pro Minute sind zurzeit allein für die Durchleitung fällig. Die Netz-Maut, die zum Beispiel bei den neuen Discounttarifen mehr als 50 Prozent der gesamten Gesprächskosten ausmacht, ist ein Relikt aus den Anfangstagen des Mobilfunks. Damals schien der Einstieg in das Handy-Geschäft noch hochriskant. Für den Netzaufbau mussten Milliarden investiert werden. Ob die Kunden die damals Backstein-schweren Telefone nutzen würden, war kaum absehbar. Um die Risiken zu minimieren, einigte sich die Branche auf eine möglichst stabile Einnahmequelle, von der alle profitieren sollten – die Durchleitungsgebühr, die anfangs sogar mit 60 Cent pro Minute festgelegt wurde. Ungeheure Summen sind da im Lauf der Jahre zusammengekommen. Al- E-Plus-Zentrale (in Düsseldorf) Ungewöhnlicher Vorstoß sen, dass ihr gemütliches Oligopol demnächst empfindlich gestört wird und dass sie ihre Kunden – per Verordnung – um einige Milliarden entlasten müssen. Selbst Festnetztelefonierer können auf niedrigere Preise hoffen. Denn auch dort wird bei Gesprächen in die Mobilfunknetze ordentlich zugelangt. Genau 22,8 Cent pro Minute verlangt etwa die TelekomTochter T-Com von ihren Kunden im Standardtarif für ein Gespräch in die Mobilfunknetze E-Plus und O2. Nach Abzug sämtlicher Kosten und Gebühren verbleiben dem Telefonmulti davon als reiner Gewinn rund 14,34 Cent pro Minute, rechnet Miller vor. „Das entspricht einer Marge von 110 Prozent und ist nichts anderes als modernes Raubrittertum“, schimpft der BaseManager. Es gebe auch andere Tarife, mit denen Gespräche in Mobilfunknetze deutlich preiswerter seien, hält die Telekom dagegen. Seine brisanten Kalkulationen hat Miller inzwischen nicht nur der EU-Kommission, sondern auch der deutschen Monopolkommission und der Bonner Netzagentur zugeleitet. „Wir hoffen“, sagt er, „dass die Aufseher auch diesen Markt sehr genau unter die Lupe nehmen.“ Frank Dohmen, Klaus-Peter Kerbusk 97 Medien PRESSE „Nicht gut fürs Image“ 98 Jaffé Kirch-Filmlager I N S O LV E N Z E N Erstes Geld für Kirch-Gläubiger M ehr als vier Jahre nach der spektakulären Pleite des Medienimperiums von Leo Kirch im April 2002 können Geschädigte erstmals damit rechnen, dass ein kleiner Teil ihrer Forderungen beglichen wird. „Eine erste Abschlagszahlung ist in Arbeit und soll noch in diesem Jahr erfolgen“, bestätigt Insolvenzverwalter Michael Jaffé, der zur erwartbaren Quote indes keine Angaben machen möchte. Insider rechnen mit einer Insolvenz-Quote von insgesamt rund zehn Prozent, die in Gänze allerdings erst zum Ende des Verfahrens überwiesen werde. Damit sei nicht vor 2013 zu rechnen. Ein Gläubiger, bei dem Kirch mit 1000 Euro in der Kreide stand, könnte nach Ablauf dieser Frist also insgesamt rund 100 Euro erwarten. Der jetzt in Aussicht gestellte Abschlag SAMMELBILDER Lehmann reloaded T entspricht jedoch voraussichtlich nur etwa drei Prozent. Aktuell umfasst die Liste der Kirch-Gläubiger 1900 Eintragungen – von der 21-Euro-Forderung einer ehemaligen Mitarbeiterin bis zu dreistelligen Millionenforderungen einzelner Hollywood-Studios. Ursprünglich lagen die Gesamtforderungen bei rund 9,3 Milliarden Euro, darunter fanden sich auch viele Schadensersatzansprüche. In den vergangenen Monaten erzielten Jaffé-Mitarbeiter mit zahlreichen Großgläubigern wie zuletzt dem Hollywood-Studio Columbia (erste Forderung: rund zwei Milliarden Euro) Einigungen. Mit Warner Brothers und Disney werden Abschlüsse im Sommer erwartet. Dann wäre der Weg frei für die erste Abschlagszahlung, die im dritten Quartal erfolgen könnte. könnten die Fans dann im Album krankheitsbedingte Ausfälle ersetzen, schlägt Panini-Deutschland-Chef Frank Zomerdijk vor. Die Überraschungsnominierung David Odonkor wird dagegen keine klebrigen Konsequenzen haben – für den Debütanten will Panini die Druckerpressen nicht wieder anwerfen. orwartfehler verzeihen echte Fans selten. Das bekam nun auch der Klebebildchen-Hersteller Panini zu spüren. Es hagelte Nachfragen von Sticker-Sammlern, die im WM-Album bislang ausgerechnet auf die Nummer eins im deutschen Tor verzichten mussten. Statt auf Jens Lehmann hatte Panini in der früh angelaufenen Bildchen-Produktion ausschließlich auf Oliver Kahn gesetzt. Dieser Fehler soll nun gutgemacht werden: Panini druckt zwei Millionen Lehmanns nach. Die Torwart-Bildchen werden den Zeitschriften „PC-Welt“, „Macwelt“, „GameStar“ und „Just Kick-it!“ beigelegt. Damit Panini-Bilder d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 CHRISTIAN JUNGEBLODT / LAIF JENS KALAENE / PICTURE-ALLIANCE/ DPA SPIEGEL: Aus Protest gegen Ihre Personalentscheidung erschien am Dienstag nur eine Notausgabe der Zeitung. Wie fühlt man sich, wenn die eigene Redaktion derart rebelliert? Skulimma: Darüber kann niemand glücklich sein. Das ist weder gut für die Zeitung noch für den Verlag. Und es ist auch nicht gut fürs Image. Aber wir hatten es von Beginn an mit einer außergewöhnlichen Situation zu tun. Jetzt schauen wir nach vorn. SPIEGEL: Der Eklat wäre vermeidbar gewesen: In einer von allen Redakteuren unterschriebenen Petition hatten diese ein Vetorecht in der Chefredakteursfrage gefordert. Skulimma: Wir haben von Anfang an klargemacht, dass wir ein solches – im Übrigen in der Verlagswelt unübliches – Vetorecht nicht akzeptieren. Aber wir stehen zu anderen Punkten des geforderten Redaktionsstatuts und werden darüber auch weiterverhandeln. SPIEGEL: Was qualifiziert den Boulevardmann Depenbrock – und wohin soll er das Blatt bewegen? Skulimma: Er hat viele Jahre Erfahrung als Journalist und Medienmanager und steht zum Profil des Blattes als führender Qualitätszeitung der Hauptstadt. SPIEGEL: Im Dezember haben Sie die ambitioSkulimma nierten Renditeziele der neuen Investoren intern präsentiert. Die Anzeigenerlöse liegen indes aktuell unter Plan – wie wollen Sie die Ziele erreichen? Durch weiteren Personalabbau? Skulimma: Zahlen und Anzeigenentwicklung kommentiere ich nicht. Gehen Sie davon aus, dass alle Verantwortlichen nichts unternehmen werden, was der Qualität der Zeitung schaden könnte. Einen Stellenabbau konnten wir nie ausschließen – auch heute nicht, schon aufgrund des heißen Wettbewerbs in Berlin. SPIEGEL: Ist der „grobe Vertrauensbruch“, den die Redaktion Ihnen vorgeworfen hat, wieder zu kitten? Skulimma: Das ist unser Ziel. Wir wollen konstruktiv zusammenarbeiten. Ich bin sicher, dass wir das notwendige Vertrauen wieder neu schaffen. BRENNINGER / SÜDD. VERLAG (L.); AP (R.) Peter Skulimma, 39, Geschäftsführer des Berliner Verlags, über den Eklat in der „Berliner Zeitung“ nach der Berufung von Josef Depenbrock zum Chefredakteur TV-Vorschau La finta giardiniera – Die Gärtnerin aus Liebe Montag, 10.40 Uhr, 3sat An Pfingsten wird der Heilige Geist ausgegossen, vielleicht wäre das eine gute Gelegenheit, sich diese MozartOper, die 2003 in Stuttgart Premiere hatte, drei Stunden (trotz Kürzungen) anzutun. Die Kritiken waren geteilt. Am Dirigenten Lothar Zagrosek lobte die „Neue Zürcher Zeitung“ dessen Gefühl für die Finessen der Partitur, Regisseur Jean Jourdheuil wurden einerseits „erlesene Ästhetik“, aber auch „Sterilität“ bescheinigt. Der zehnte Sommer Montag, 12.35 Uhr, ZDF ASTRID WIRTH / ZDF In einem spießigen deutschen Provinzstädtchen, 1960: Kalli „König“ (Martin Stührk), gerade neun Jahre alt, verbringt die Sommerferien damit, mysteriöse Ereignisse in seinem Revier aufzuklären – nur auf das eine hätte er lieber verzichtet: Sein Vater (Kai Wiesinger) besucht auffallend häufig die geheimnisvolle Nachbarin. Mit Märchenerzähler-Stimme und Visionen der phantasievollen SpürBär, Göring in „Tatort: Hundeleben“ nase blickt der Film nach Dieter Bongartz’ Jugendroman lächelnd auf die Erwachsenenwelt (Regie: Jörg Tatort: Hundeleben Grünler). Wonneproppen-Kinder und Sonntag, 20.15 Uhr, ARD ein Kapuzineraffe runden das warmherOberkommissar Schenk (Dietmar zige Sechziger-Jahre-Märchen ab. Bär) liefert seine Großmutter (Helga Göring) im Altenheim ab, das sich Tatort: Blutschrift schnell als Brutstätte des Bösen erMontag, 20.15 Uhr, ARD weist. Die Wiederholung von 2004 Die Leipziger Hauptkommissare (Peter (Buch: Nina Hoger, Regie: Manfred Sodann, Bernd Michael Lade) geraten Stelzer) lohnt: ein nachdenklicher in die heimtückische Welt der Bücherund zugleich unterhaltsamer Film. würmer. Eine Antiquitätenhändlerin wird ermordet, ein Bücherforscher Austerlitz, Napoleons (Hans-Werner Meyer) macht sich langer Marsch zum Sieg verdächtig, einem fast bankrotten Sonntag, 20.40 Uhr, Arte Antiquar (Gert Baltus) samt TochRegisseur Jean-François Delassus erter (Bernadette Heerwagen) ist klärt dem Zuschauer die Schlacht von nicht zu trauen. Dazu geistert ein Austerlitz, in der Napoleon (Bernardtausend Jahre alter Schmöker, Pierre Donnadieu) 1805 durch geniale „Die Blutschrift“, herum, in dem Strategie die Russen und Österreicher ein Benediktinermönch Unheil schlug. Der Grundton ist Bewundeprophezeit. Dan-Brown-Flair rung. Erst am Schluss wird durch den macht aus einem deutschen TVMund des französischen AußenminisKrimi (Buch: Holger Jancke, Reters Talleyrand Kritik an Napoleons gie: Hajo Gies) dann aber doch Unfähigkeit geübt, eine Friedensordkeinen Thriller, sondern nur ein nung zu entwickeln. reichlich zähes Stück. Stührk in „Der zehnte Sommer“ UWE STRATMANN / WDR Fernsehen Medien TA L K S H OW S Öder als Schröder Unter der Harmonie der Großen Koalition leiden vor allem die politischen TV-Plauderrunden. Wo sich niemand mehr streitet, regiert schnell Langeweile. Deshalb laden Christiansen, Illner, Maischberger und Co. immer seltener Mandatsträger ein. N * Journalist John A. Kantara, Politiker Matthias Platzeck, Daniel Cohn-Bendit und Günther Beckstein am 21. Mai in Berlin. 100 ARD-Talkerin Christiansen, Gesprächspartner*: Polit-Theater ohne Schurken und Helden ist auf P.S.I. BONN / ULLSTEIN BILDERDIENST ur mal angenommen, Harald Schmidt hätte recht gehabt, als er neulich bei „Sabine Christiansen“ diesen einen Satz so locker in die Runde warf. Es war eine Replik auf FDP-Mann Wolfgang Gerhardt, der gerade große Linien gefordert hatte statt des kleinen Karos der Großen Koalition. Er müsse ihn enttäuschen, sagte daraufhin Schmidt: Das Volk wolle nicht nur seine Ruhe und keinen Streit. „Das Volk will auch keine Konzepte.“ Da lachten alle. Und es klang so befreit, dass fast was dran sein muss. Eigentlich hätte man das Studio danach auch dichtmachen können. Denn mit diesem einen Satz schien die ganze Wahrheit endlich auf Christiansens Glastischchen zu liegen. Und die Wahrheit lautete: Das alles hier macht keinen Sinn. Geht nach Hause, oder lasst es bleiben! Schaltet ein oder aus! Ist alles egal. Schmidts Befund jedenfalls ist schlagend. Wenn das Volk klare Konzepte wollte, hätte es vielleicht anders gewählt. Wenn das Volk richtigen Streit wollte und nicht das aktuelle fade Geplänkel, hätte es besser die alte Regierung im Amt gelassen. Nun hat es weder das eine noch das andere bekommen, sondern das große, halbgare Nichts. Und alles ist noch öder als bei Schröder. Das Volk, das keine Konzepte will, könnte abschalten. Aber das Volk ist nicht allein. Es hat immer noch Sabine Christiansen, Maybrit Illner und Sandra Maischberger. Es hat Frank Plasberg mit „Hart aber fair“ vom WDR, „Das Duell“ auf N-tv und „Was erlauben Strunz?“ auf N24. Und die müssen ihre Sesselchen jede Woche füllen. Aber mit wem reden? Und worüber? Politiker im Fernsehen sind inzwischen so aufregend wie die Beobachtung trocknender Dispersionsfarbe. Wo sich vor ein paar Monaten noch Showgrößen wie Joschka Fischer, Friedrich Merz und Guido Westerwelle eifersüchtige Gefechte lieferten, wo Edmund Stoiber aufgeregt stotterte und das Testosteron aus des Kanzlers Anzug zu quellen schien, herrscht nun lähmende Harmonie. Der deutsche Polit-Talk hat sich selbst ad absur- TV-Moderatorin Maischberger, Studiogast Dalai Lama: „Kehrt das Patriarchat zurück?“ d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 MARCEL METTELSIEFEN / NDR INA PEEK / IMAGO f Doch die Show ist aus. Zurück bleibt der Talk, der nun oft derart spröde wirkt, dass auch die Quoten zu leiden beginnen. Zumindest „Sabine Christiansen“, die Mutter aller TV-Polit-Runden, merkt das längst. Marktanteil von Juni bis September 2005: 18,0 Prozent. Marktanteil in den vergangenen sechs Monaten: 12,9 Prozent. Polit-Theater ohne Schurken und Helden ist auf Dauer so fesselnd wie Torwandschießen ohne Ball. „Die Kleinen möchten sich gern mit den Großen streiten. Die Großen möchten sich aber nicht mit ihnen streiten. Sie decken die Streitthemen mit Harmonie zu“, sagt Sabine Christiansen. Darum lade ihre Redaktion verstärkt Nichtpolitiker als Gäste ein. „Mehr Politiker bringen nicht unbedingt mehr Erkenntnisgewinn“, glaubt die öffentlich-rechtliche Talk-Diva. Sandra Maischberger hat in ihrem täglichen Talk auf N-tv Hunderte Interviews mit Politikern geführt. Dass sie die Sendereihe kürzlich beendete, hat auch mit dem Ausgang der letzten Bundestagswahl zu tun. Bei einer anderen Konstellation hätte sie womöglich weitergemacht. So talkt sie nun über andere Themen. In den vergangenen beiden Wochen waren das: „Du sollst den Mann ehren – Kehrt das Patriarchat zurück?“ Und: „Freud ist schuld: Schluss mit dem Sexwahn.“ Auch bei ihrer verbliebenen „Menschen bei MaischDauer so fesselnd wie Torwandschießen ohne Ball berger“-Runde in der ARD sitzen oft Politiker auf dem Sofa, aber möglichst wenige. Sie setzt nicht mehr auf den Schlagabtausch nach Parteibuch, eher auf skurrile Paarungen. Da sitzt dann etwa Alt-Kommunarde Rainer Langhans neben der traditionsbewussten Marianne Fürstin zu Sayn-Wittgenstein-Sayn. Hauptsache, es kommt nicht zu dieser speziellen Begegnungsroutine, die Politikern so entsetzlich eigen geworden ist, weil sie sich untereinander ohnehin ständig sehen – und alle das Gleiche reden. „Wir müssen schauen, dass es mehr Arbeit in Deutschland gibt“, sagt Saarlands Ministerpräsident PeZDF-Frontfrau Illner: Die neue Sachlichkeit ist Gift dum geführt. Mit all seiner TV-gerechten Konfliktgier, seinen ewig gleichen Phrasen und dem manischen Drang, jedes Tabu zu knacken, solange man dafür nicht mehr als 30 Sekunden Sende-/Redezeit braucht, lockte er erst Zuschauer an und stößt sie nun genauso kraftvoll wieder ab. Und beide, Wahlvolk wie Moderatoren, erwischt der große Kater. Die neue Sachlichkeit ist Gift – auch und vor allem für das unter allen Medien am meisten auf Action und Krawall gebürstete Fernsehen. Talkshow heißt das Genre. d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 ter Müller in „Berlin Mitte“ im ZDF. „Richtig“, sagt Moderatorin Maybrit Illner. „Dazu haben wir jetzt ungefähr schon 200 Sendungen gemacht.“ Immer die gleichen Leute. Immer dieselben Sprüche. Dabei ist das Klagelied über die Polit-Talkshows nicht mal neu. Im Bauch der Fernsehnation rumpelt und rumort es seit Jahren. Doch statt Langeweile war das vorherrschende Gefühl zuletzt eher die Wut. Der Kabarettist Georg Schramm hat das im Jahr 2003 versucht zu kanalisieren. Damals ließ er seine Figur des zornigen Rentners Lothar Dombrowski über die „Bühne der Berliner Puppenkiste“ schimpfen. Die Politiker würden „in den öffentlich-rechtlichen Bedürfnisanstalten bei den Klofrauen Christiansen und Illner ihre Sprechblasen entleeren“. Es sollte ein Einmal-Gag sein für den ARD-„Scheibenwischer“. Etwas später nahm Schramm den Satz dann in sein Tourprogramm auf. „Ich habe gespürt, dass die Leute auf diesen Satz gewartet haben. Und für keinen anderen Satz habe ich regelmäßig so viel Begeisterung geerntet wie für diesen“, sagt er. Meist kam er gar nicht bis zum Ende, weil er vom Applaus unterbrochen wurde. Nach der Show bedankten sich die Zuschauer bei ihm. Für diesen einen Satz. Irgendetwas müssen diese ritualisierten Polit-Plauderrunden also an sich haben, das die Zuschauer rasend macht. Selbst das Entertainment des verbalen Boxkampfs ist verschwunden. Vielleicht sind Politiker und ihre Gastgeber gar nicht so weit voneinander entfernt in diesem Fall. Vielleicht haben Langeweile und Wut einen gemeinsamen Grund. Ein Gefühl der Ohnmacht. Dazu muss man etwas tiefer in die Befindlichkeit der Fernsehnation eindringen, dorthin, wo es rumort und grummelt. Der Psychologe und Buchautor Stephan Grünewald („Deutschland auf der Couch“) macht das. In seinem Kölner Institut Rheingold führen er und sein Team tiefenpsychologische Interviews mit Konsumenten. Zu einem großen Teil geht es dabei um Fernsehgewohnheiten. Rund 5000 Deutsche werden jährlich befragt. Eineinhalb Stunden dauert so ein Gespräch. Das hat seinen Grund. In der ersten halben Stunde erzählen die Interviewten nur das sozial Erwünschte. Erst wenn sie allmählich Vertrauen fassen, geben sie auch das persönlich Peinliche preis. Wozu man nachts die Erotikfilmchen tatsächlich nutze zum Beispiel. In diesen Interviews bekommt Grünewald auch heraus, wie das so abläuft, abends im Kopf des Zuschauers bei „Sabine Christiansen“ & Co. Sagt er. Nach politischer Bildung klingt das eher nicht. In den ersten 15 Minuten erwarte 101 der Zuschauer eine echte Lösung für ein politisches Problem. „Er will den gordischen Knoten tatsächlich lösen. Doch dann geht ihm irgendwann der Faden verloren zwischen Details und Expertenkauderwelsch, und er versteht nichts mehr.“ Frustriert wechsle der Zuschauer dann sein Interesse und schaue sich „Sabine Christiansen“ an wie einen Boxkampf. Er suche sich einen Freund und einen Feind und schaue, wie die sich schlagen. Doch am Ende der Sendung gebe es ja, anders als beim Sport, niemanden, der zum Sieger des Kampfs erklärt WDR-Moderator Plasberg wird. Dann erinnere sich der Mit wem reden – und worüber? Zuschauer wieder, weshalb er die Sendung überhaupt gucke. Und aus Tageszeitungslandschaft gibt es im deutdem Chaos ziehe er den Schluss: Es gibt schen TV-Journalismus keine Streitkultur, keine Lösung. „Also lohnt es sich auch die über das Abfragen von Statements hinnicht, dass wir überhaupt irgendwas ver- ausgeht. Es sei denn, man zählte den rituändern. Alles kann bleiben, wie es ist.“ alisierten Ärmelschonerkommentar in den Jetzt, da selbst das Entertainment des nächtlichen „Tagesthemen“ schon dazu. verbalen Boxkampfs verschwunden ist, Die Politik allein jedenfalls liefert die bleibt nur noch der Frust. Das Nichtver- nötige Streitkultur nicht mehr. Sabine stehen. Die Öde. Christiansen vermisst „Politiker mit klaDoch die Polit-Talks reagieren auf die ren Positionen, um die gerungen wird“. neue Situation seit Monaten mit den alten Früher habe man auch nur Horst Seehofer gegen Ulla Schmidt stellen müssen und Friedrich Merz gegen Oskar Lafontaine. „Die Politik fürchtet sich „Doch wenn heute Herr Beck sagt, wir stedavor, mit dem hen fest an der Seite der CDU, dann verBürger zusammenzutreffen.“ wischen Konturen bis zur Unkenntlichkeit.“ Alles richtig, alles wahr. Doch was Reflexen. Wenn sich aus den Plauder- folgt daraus? Dass man statt dieser Langrunden überhaupt keine Originalität mehr weiler eben andere einlädt? pressen lässt, werden immer häufiger Sicher ist, dass es die Politik den TalkEinspielfilmchen gezeigt, in denen das shows nicht leicht macht. Die Redaktion Straßenvolk kurz sagen kann, was ihm von „Sabine Christiansen“ etwa hat für diestinkt. Zur Erhellung trägt das nicht bei. sen Sommer eigentlich mehrere Sendungen Aber es gäbe eine gute Materialsammlung im sogenannten Townhall-Format geplant, ab für eine Doktorarbeit über die Deut- bei der Politiker quasi mit dem eigenen schen und ihre Ressentiments. Wahlvolk konfrontiert werden, ein direkter Das ist die Antwort des hiesigen Fern- Schlagabtausch zwischen Volk und Polisehjournalismus auf die Große Koalition: tik gewissermaßen. Doch die angefragten Nebenkriegsschauplätze, Scheingefechte, Politiker bis hoch zum Bundespräsidenten Spiegelfechterei. Wo die Politik den TV- hätten fast alle abgesagt. „Die Politik“, verLeuten die Aufreger nicht mehr frei Haus mutet man in Christiansens Redaktion, und gut portioniert ins Haus liefert, kommt „fürchtet sich davor, mit dem Bürger zunicht etwa irgendwer auf die Idee, mal sammenzutreffen.“ Denn da unten, das wirklich etwas Neues zu machen. Man merken auch sie, scheint etwas zu brodeln. hofft einfach weiter. Man mag die Feigheit vor dem Wähler Zurzeit kracht es gerade ein bisschen in tadeln. Aber das ist nur die halbe Wahrder Großen Koalition, SPD und Union sind heit. Das öffentlich-rechtliche Fernsehen, sich auch öffentlich ein klein wenig böse. Abteilung politische Volksbildung, ist geDoch wer glaubt, die Flaute in den Talk- fesselt in seiner Moderatorenrolle: Wenn shows sei damit passé, könnte sich irren. sich die Parteien nicht gegenseitig beißen, Weder Mehrwertsteuererhöhung noch sieht man erst, wie zahnlos es ist. Hartz-IV-Krach vermögen das Fernsehvolk Doch das ist kein Gegenentwurf zu einer zu elektrisieren. Regierung, die letztlich auch nur eine Und die Stimme der Opposition? Ist so Talk-Runde repräsentiert, moderiert eben leise geworden, dass man ihren Wider- von Angela Merkel nach dem Motto: Ich spruch kaum hört. Leider zeigt sich, dass glaube, jetzt sollten wir mal Herrn Müntedem Fernsehen eine Stimme des Wider- fering zu Wort kommen lassen, und dann Markus Brauck spruchs überhaupt fehlt. Anders als in der ist Herr Glos dran. 102 d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 TEUTOPRESS Medien Ausland Panorama FRANKREICH Tragikomisches Finale erwickelt in eine politische Verleumdungskampagne, belastet V durch Bestechungsvorwürfe und giftige BRENDAN ESPOSITO / FAIRFAX Kabalen im Kabinett, desavouiert durch die Fehltritte seines Premiers und politischen Ziehsohns – Jacques Chirac, einst als dynamischer „Bulldozer“ gefeiert, gilt längst als apathische Verkörperung des französischen Verfalls. Und jetzt wird der angezählte Präsident, ein Jahr vor dem Ende seiner zwölfjährigen Amtszeit, auch noch der Lächerlichkeit preisgegeben. Zwar ließ er sich gerade in Lateinamerika noch als Staatsmann der Grande Nation hofieren; zurück in der Heimat, gibt der Präsident dagegen, wenn auch diesmal ohne eigenes Zutun, Australische Sicherheitskräfte in Dili S Ü D O S TA S I E N Schwere Last für die Ordnungsmacht Plakat zum Chirac-Film die Rolle eines grotesken Polit-Clowns. Der satirische Dokumentarfilm „In der Haut von Jacques Chirac“, der jetzt in Frankreichs Kinos anläuft, entlarvt ihn als widersprüchlich, wankelmütig – und vor allem als tragikomische Figur. Der 90-Minuten-Film ist aus Originalaufnahmen und TV-Auftritten Chiracs montiert, die lange in Archiven verschüttet waren. Kommentiert werden die Szenen der Bürgermeister- und Präsidentenkarriere von einem Stimmenimitator im Chirac-eigenen Pathos. Die Kritik lobt den Zusammenschnitt als „maliziöses und leidenschaftliches Werk“, dabei sehen sich die Filmemacher durchaus nicht als Trittbrettfahrer einer grassierenden „Chiracophobie“. Eine „nichtautorisierte Autobiografie“ nennt Regisseur Karl Zéro seine Arbeit und versichert: „Jacques Chirac wird erkennen, dass der Film ehrlich ist.“ enn in der Region die Erde bebt oder Unruhen die politische Stabilität erschüttern, ist Australiens selbsterklärter Anspruch als führende Ordnungsmacht auf eine harte Probe gestellt. Die Welt erwarte, „dass wir in dieser Region den Großteil der Last auf unsere Schultern nehmen“, hat Premierminister John Howard erst kürzlich erklärt. Angesichts des schweren Bebens vor Java mit über 6000 Toten und der anhaltenden Kämpfe in Osttimor wiegt die Verantwortung derzeit besonders schwer. Schon wenige Stunden nach den verheerenden Erdstößen, die weite Teile Yogyakartas und der Umgebung zerstörten, bat Indonesiens Präsident Susilo Bambang Yudhoyono in Canberra telefonisch um medizinische Hilfe. Australiens Außenminister Alexander Downer sagte umgerechnet 1,78 Millionen Euro Soforthilfe zu. Doch auch die prompte Unterstützung vom fünften Kontinent konnte nicht verhindern, dass die internationale Hilfsaktion nur schleppend anlief. Die medizinische Versorgung war selbst Tage nach dem ersten Beben in entlegenen Gebieten katastrophal. In der Erdbebenregion lebten Mitte Erdbebenopfer auf Java d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 vergangener Woche 200 000 obdachlose Menschen, viele wegen fehlender Zelte schutzlos unter freiem Himmel. In der einstigen indonesischen Provinz Osttimor, die seit 2002 unabhängig ist, versuchte australisches Militär zur selben Zeit, Ruhe und Ordnung wiederherzustellen. Auf Wunsch der Regierung in Dili schickte Canberra rund 2000 Soldaten, die sofort mit schwerem Gerät strategische Punkte besetzten. In dem ehemaligen Bürgerkriegsland hatten zunächst 600 der insgesamt 1450 Soldaten gegen die eigene Regierung gemeutert. Danach zogen bewaffnete Jugendbanden brandschatzend durch die Hauptstadt. 50 000 Menschen flohen vor der neuen Gewaltwelle. Osttimors Präsident Xanana Gusmão übertrug den Australiern einstweilen die Sicherheitshoheit über Dili, und das trifft sich durchaus mit den Interessen des reichen Nachbarn. In der Region habe „kein Land der Welt eine größere Rolle zu spielen als Australien“, rühmt sich Regierungschef Howard. DENNIS M. SABANGAN / DPA W Panorama NAHOST Abbas droht mit Rücktritt m Streit mit der Hamas-Regierung verbindet Palästinenserpräsident Mahmud Abbas seine Zukunft mit dem Ausgang der von ihm geforderten Volksabstimmung zur Klärung des politischen Kurses. „Wenn das Referendum scheitern sollte, hat der Präsident keine Macht mehr“, sagt Abbas’ Sprecher Walid Awad und droht unverhohlen mit dessen Rücktritt: „Ich glaube nicht, dass er sein Amt dann weiterführen wird.“ Die Palästinenser sollen nach dem Willen von Abbas über einen 18-Punkte-Plan abstimmen, den in Israel inhaftierte Landsleute veröffentlicht haben. Der Aufruf wurde von Gefangenen fast aller politischen Gruppierungen unterzeichnet und sieht unter anderem die Gründung eines palästinensischen Staates in den Grenzen von 1967 vor, was eine Koexistenz mit Israel bedeuten würde. Die Hamas-Führung lehnt einen solchen Entscheid ab und kündigte den Boykott an. Für eine Volksabstimmung gebe es keinen Grund, sagte Außenminister Mahmud al-Sahar, „niemand wird Israel anerkennen“. Die Extremisten wissen nur LIBERIA Wohin mit Taylor? A REUTERS I Abbas (in Ramallah) zu gut, dass das von Abbas angeregte Referendum mit großer Wahrscheinlichkeit Erfolg haben dürfte. Einer aktuellen Umfrage zufolge unterstützen 85 Prozent der Palästinenser die GefangenenInitiative. Selbst von den Hamas-Sym- King. An die Eröffnung des TaylorProzesses sei dann gar nicht mehr zu denken. „Wenn man will, dass Gerechtigkeit waltet“, appellierte King an die Geberländer, „muss man die nötigen Mittel aufbringen.“ Die Regierungen der Region indes, allen voran Liberias Präsidentin Ellen Johnson-Sirleaf, 106 d e r s p i e g e l würden das heikle Verfahren gegen Taylor sowieso lieber an den Internationalen Gerichtshof in Den Haag abschieben, schon weil der Ex-Staatschef noch immer viele gewaltbereite Anhänger in Westafrika hat. Den Haag ist dazu auch bereit, hat aber ein ganz anderes Problem: Die niederländische Regierung will den Angeklagten nur einreisen lassen, wenn garantiert ist, dass sie ihn nach dem Prozess und einer möglichen Verurteilung auch wieder loswird. Bislang hat Uno-Generalsekretär Kofi Annan allerdings kein Land gefunden, das für Taylor eine Zelle frei hätte; vergebens hat er etwa in Schweden, Österreich und Dänemark nachgefragt. Außerdem kämen auch auf den Gerichtshof in Den Haag Finanzprobleme zu: Auf wessen Kosten Hunderte Zeugen aus Westafrika einfliegen sollten, ist völlig ungeklärt. GEORGE OSODI / AP us Geldmangel und wegen diplomatischer Ränkespiele kommt der Prozess gegen Westafrikas berüchtigtsten Kriegsverbrecher nicht in Gang. Charles Taylor, Ex-Präsident von Liberia, unter dessen Patronat in den neunziger Jahren Rebellengruppen das benachbarte Sierra Leone mit Massenmorden, Vergewaltigungen und Plünderungen überzogen, sitzt seit März in Freetown im Gefängnis und wartet auf sein Verfahren. Doch dem von der Uno unterstützten Gerichtshof in der Hauptstadt Sierra Leones, der die Massaker untersucht, geht das Geld aus. Selbst derzeit anhängige Verfahren könnten ohne neue Mittel kaum zu Ende gebracht werden, warnt der Präsident Taylor im Gericht in Freetown des Gerichts, George Gelaga pathisanten wollen 72 Prozent für die Vereinbarung stimmen. Konkret gefragt, ob sie eine Zwei-Staaten-Lösung auf Basis der Grenzen von 1967 akzeptieren würden, antworten derzeit 55 Prozent der Hamas-Anhänger mit Ja. 2 3 / 2 0 0 6 Ausland der Ostukraine wie auch die Stadträte von Charkow und Sewastopol auf der Krim haben den Schritt bereits vollzogen – gegen den energischen Widerstand der Regierung in Kiew. Zu Protestkundgebungen kommt es auch gegen den von Präsident Wiktor Juschtschenko favorisierten Nato-Beitritt des Landes. Zugleich wird es für den angeschlagenen Hoffnungsträger immer Z wei Monate nach der Parlamentswahl gerät die Stabilität des Landes zunehmend ins Wanken. Die Führung ist gelähmt, eine Lösung der politischen Krise durch ein tragfähiges neues Regierungsbündnis noch immer nicht in Sicht. Und der Druck von der Straße wächst. Auf dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew, wo vor anderthalb Jahren noch die „Revolution in Orange“ bejubelt wurde, demonstrierten Ende Mai Tausende Gewerkschafter gegen die steigenden Strom- und Gaspreise. Anlass für den wachsenden Unmut ist die grassierende Arbeitslosigkeit, die in manchen Gegenden, etwa auf der Krim, bei 70 Prozent liegt. Die soziale Krise lässt vor allem im inDemonstranten in Kiew dustriellen Osten des Lanschwieriger, bei der Regierungsbildung des wieder Rufe nach einer stärkeren die Moskau-freundliche Partei der Anlehnung an Russland laut werden. Regionen von Ex-Premier Wiktor JanuEtwa 80 Prozent der Ukrainer sprechen kowitsch zu umgehen. Die von dubiosich in Umfragen inzwischen dafür aus, sen Industriebaronen finanzierte Partei Russisch gesetzlich als regionale Amtswurde bei der Wahl mit 32,1 Prozent sprache anzuerkennen. Die Gebietsparder Stimmen stärkste Kraft. lamente von Donezk und Lugansk in E U R O PA Manipulation mit Mais arallel zur hitzigen Gen-Debatte in der Großen Koalition in Berlin P steckt auch Brüssel in einer Zwickmüh- PAUL LANGROCK / ZENIT le: Bis Mitte Juni muss die EU-Kommission erklären, ob sie dem Europäischen Parlament bislang geheime Studien überlässt, auf deren Basis gentechnisch veränderte Futterpflanzen und Lebensmittel für den Import in die EU zugelassen sind. Lehnt die Kommission das Ersuchen ab, muss sie vor den Kadi. Die Grünen-Abgeordnete Hiltrud Breyer will die Herausgabe der brisanten Unterlagen vor dem Europäischen Gerichtshof erzwingen. Aber selbst wenn die Kommission den geforderten Einblick gewährt, muss sie mit einer Klage rechnen – in diesem Falle angestrengt vom US-Konzern Monsanto. Der Hersteller der umstrittenen genetisch manipulierten Mais- und Baumwollsorten betrachtet die Unterlagen als Betriebsgeheimnisse. Nach der ersten Veröffentlichung einer Monsanto-Zulassungsstudie auf Geheiß eines deutschen Gerichts im vergangenen Juni – für das Maisprodukt MON 863 – hatten Wissenschaftler und Politiker Zweifel an der Stichhaltigkeit der EU-Entscheidungen geäußert. So hätte Monsanto gerade einmal 90 Tage lang Ratten mit Labormais gefüttert – für verlässliche Aussagen eine viel zu kurze Testphase, so die Kritiker. Zudem seien negative Erkenntnisse als „biologisch nicht relevant“ einfach unter den Tisch gefallen. Protest gegen Gen-Mais (in Brandenburg) d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 Roter Gutsbesitzer arum eigentlich zahlt Göran Persson keine Wohnsteuer? Diese Frage W stellen einfache Eigenheimbesitzer immer nachdrücklicher. Dem sozialdemokratischen Premier Persson könnte sie bei der Wahl im September zum Verhängnis werden. Denn Geschichten und Skandälchen um seinen Landsitz belasten zunehmend den Wahlkampf der Regierungspartei. Private Immobilienbesitzer müssen im Hochsteuerland Schweden, natürlich, eine jährliche Abgabe an den Fiskus entrichten. Je schöner Lage und Hausausstattung, desto mehr. Seeblick oder Sauna kosten extra – eigentlich. Nicht für den Premier. Im April 2004 kaufte er mit seiner Frau ein ansehnliches Gut in der Provinz Södermanland, Seebesitz inklusive, und begann mit Bau und Umbau eines Herrenhauses mit 350 Quadratmeter Wohnfläche. Kosten: rund 20 Millionen Kronen (zwei Millionen Euro). Der Clou: Landsitze, egal wie prunkvoll, genießen Steuervergünstigungen, sobald Ackerland und Wald vorhanden sind. Und davon hat Persson reichlich: 277 Hektar Felder, Weiden und Bäume. Seitdem sticheln Zeitungen über den vom Arbeiterführer zum steuerfreien SCANPIX / DANA PRESS (O. + U.) Präsident in der Klemme SCHWEDEN REUTERS UKRAINE Landsitz, Persson „Gutsbesitzer“ mutierten Sozi und erinnern genüsslich daran, dass Vorgänger wie Olof Palme oder Ingvar Carlsson allenfalls im Reihenhaus lebten. Zu allem Überfluss ermittelt nun auch noch die Staatsanwaltschaft gegen den Premier, einmalig im Musterland der Demokratie, ob er beim Bau gegen den Arbeitsschutz verstoßen habe – bei einer Inspektion waren Sicherheitsmängel etwa beim Baugerüst ruchbar geworden. Eine Geldbuße droht. Schwerer wiegt wohl der politische Schaden. „Ich hätte besser aufpassen müssen“, sagt Persson. Das sagen viele Sozialdemokraten inzwischen auch. 107 Ausland USA Tod in Haditha In einer Stadt am Euphrat starben 24 Menschen bei einem Massaker, begangen von Marines – das ist das Resümee von Untersuchungen, die das Pentagon anstellen ließ. Erst ein halbes Jahr nach der Gräueltat kommen Einzelheiten ans Tageslicht und sorgen für Entsetzen in Washington. LUCIAN READ / WPN / AGENTUR FOCUS H Geborgene Leichen in Haditha: „Diese Morde sind ein Verrat am amerikanischen Volk“ Euphrat Schauplatz des Massakers SYRIEN I RKirkuk AK Die Ereignisse am 19. November 2005 in der irakischen Stadt Haditha Haditha 1 Frau und drei Kinder 4 Vier Brüder 250 km 5 Taxi Vier Studenten und der Fahrer 3 Hajj-al-Sina N i-Stra 5 ße Satellitenbild: Google Earth d e r 2 Sieben Zivilisten, darunter eine 3 Acht Zivilisten, darunter fünf Kinder SAUDIARABIEN Weg des HumveeKonvois 2 108 Angeblich von US-Soldaten in Folge der Explosion getötete Iraker: Bagdad Eine Bombe explodiert unter einem US-Konvoi und tötet einen Marineinfanteristen Richtung Stadtzentrum Samarra Balad Falludscha 1 7.15 Uhr: 4 IRAN aditha ist eine kleine staubige Stadt am Euphrat. Sie liegt 200 Kilometer nordwestlich Bagdads in der Provinz Anbar, von der sich vor allem sagen lässt, dass hier Tag für Tag noch öfter als irgendwo sonst im Irak gestorben wird, denn diese sunnitische Region beherrschen die Aufständischen. Die amerikanischen Marines versuchen periodisch, den Widerstand zu brechen, ehe sie sich wieder auf ihre Stützpunkte zurückziehen. Nur dort sind sie sicher, einigermaßen. Sobald sie auf Patrouille gehen oder fahren, geraten sie in Lebensgefahr. Haditha ist auch die Hölle für die Bauern, die in der Stadt leben. Sie sterben, wenn die behelfsmäßig fabrizierten Bomben hochgehen, da die Aufständischen selten Rücksicht auf Zivilisten nehmen. Und sie sterben, wenn die Marines den Ort unter Beschuss nehmen. Die Marines vom 3. Bataillon der ersten Division sind durchweg Veteranen dieses Krieges, viele sind schon auf der zweiten Tour im Land, eine Minderheit auf der dritten. Haditha ist nicht die erste Hölle, die sie kennenlernen. Im Sommer vorigen Jahres waren 20 Marines in einem drei s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 Tage währenden Gefecht mit den Aufständischen ums Leben gekommen, 14 von ihnen starben, als eine Bombe am Straßenrand hochging, 6 Scharfschützen gerieten in einen Hinterhalt und wurden abgeknallt. Alltag im Irak. Der 19. November 2005 begann wie so viele Tage mit einer Explosion. Morgens um 7.15 Uhr fuhren vier Geländefahrzeuge der Marines auf einer Hauptstraße langsam durch Haditha. Die Bombe war diesmal so sorgfältig versteckt worden, dass sie nur einen Humvee, aber keinen Zivilisten Patrouillierende Marines in Haditha: „Angst und Terror statt Frieden und Sicherheit“ traf. Miguel Terrazas, 20, der einen der Humvees steuerte, war sofort tot, zwei andere Soldaten zogen sich Verwundungen zu. Den anderen Soldaten vom 3. Bataillon passierte nichts. Die US-Streitkräfte buchen solche Attentate normalerweise unter die unvermeidlichen, aber üblichen Vorkommnisse in der Anbar-Provinz ein. Was daraus entstand – so lautet das Resümee vorläufiger Untersuchungen, die die US-Armee selbst in Auftrag gegeben hatte –, wäre aber das größte Kriegsverbrechen, das sich US-Soldaten seit Vietnam zuschulden kommen ließen: ein irakisches My Lai. Ein Massaker an Unschuldigen, an Kindern, Frauen und unbewaffneten Männern, das sogar Abu Ghureib, den Inbegriff folternder Barbarei im Irak, in den Schatten stellt. 24 Menschen starben an diesem Tag. Ein alter Mann hatte im Rollstuhl gesessen, die Mütter versuchten vergebens, ihre Kinder zu schützen. Nur die Halbwüchsige, die schnell wegrannte, und das Mädchen, das so tat, als wäre es tot, überlebten. Zuerst muss Totenstille über Haditha gelegen haben, wahrscheinlich bargen die Marines erst einmal den Toten und die beiden Verletzten. Die Bewohner beobachteten sie aus ihren Ziegelhäusern und den kleinen palmenbesäumten Innenhöfen. Die Marines standen um den ausgebrannten Humvee, sie wirkten wie unter Schock. Dann, sagten hinterher ein paar Leute, habe einer der Marines irgendetwas ge- brüllt – und daraufhin zogen sie los, wahrscheinlich entfesselt durch den Tod ihres Kameraden und den Irrsinn dieses Krieges. Vier Stunden lang terrorisierten sie Haditha, töteten wahllos die Menschen, die das Pech hatten, ihnen vor die Flinte zu geraten. So hat das Nachrichtenmagazin „Time“ die Vorgänge rekonstruiert. Sie drangen zuerst ins Haus von Abd alHamid Hassan Ali ein, der an Diabetes litt und im Rollstuhl saß, weil ihm ein Bein amputiert worden war. Im Haus waren außer ihm seine Frau, 66, zwei Männer mittleren Alters, die Schwiegertochter und vier kleine Kinder zwischen zwei Monaten und acht Jahren. Der Schwiegertochter gelang es, mit dem Baby zu fliehen. Der alte Mann hatte neun Schüsse in Brust und Bauch, die Eingeweide quollen aus einer klaffenden Wunde im Rücken. Es war anscheinend nicht genug, die Marines brachen noch ins Nachbarhaus ein. Sie schossen aus allernächster Nähe und warfen Handgranaten in die Küche und ins Bad. Die Eltern, 43 und 41 Jahre alt, die Schwester der Frau, sie starben mit fünf Kindern zwischen 3 und 14 Jahren. Die 13jährige Safa Junis Salim überlebte, ihre sterbende Mutter fiel über sie, und sie verlor das Bewusstsein, die Marines hielten sie vermutlich für tot. Im dritten Haus brachten die Marines vier Brüder um. Die letzten Toten dieses Tages in Haditha waren vier Studenten und ihr Taxifahrer, die im falschen Mod e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 SEIGLE / MARINE CORPS / AP ment auftauchten. Sie wollten übers Wochenende nach Hause fahren, der Taxifahrer legte noch schnell den Rückwärtsgang ein, weil sie wohl ahnten, was da vor sich ging. Sie starben so wie die anderen. Erst vor wenigen Tagen hatten George W. Bush und Tony Blair Asche auf ihr Haupt gestreut und verspätet eingestanden, dass Amerika und England etliche Fehler im Irak unterlaufen waren. Symbolisch erwähnte der amerikanische Präsident Abu Ghureib. In diesem Gefängnis haben sich amerikanische Soldaten Exzesse der Grausamkeit geleistet. Sollten sich die Vorwürfe bestätigen, wäre Haditha aber eine Steigerung der Barbarei, der systematische Mord an Unschuldigen zum Zwecke der Vergeltung. Haditha steht dann in einer Reihe mit My Lai, jenem Massaker, das in die Geschichtsbücher eingegangen ist. 504 Zivilisten starben damals am 16. März 1968, als die Soldaten der 11. Infanteriebrigade unter Führung von Leutnant William Calley unter ihnen wütete. Es dauerte fast zwei Jahre, bis das „Life“-Magazin erstmals über die Gräuel in der Siedlung an der Grenze zu Nordvietnam berichtete und so das Schweigen durchbrach, das die Streitkräfte über My Lai gelegt hatten. Gerade eben erst kam auch ein Fünkchen Hoffnung im Irak auf. Fünf quälende Monate hatte es gedauert, bis endlich eine Regierung unter Nuri al-Maliki zustande kam. Überdies tasten sich Amerika und Iran 109 REUTERS (L.); AP (R.) Videoaufnahmen im Leichenschauhaus 110 von der Moschee hinaus auf den US-Stützpunkt an. Die Kleriker erinnerten die Amerikaner daran, sie hätten „versprochen, dem Land Frieden und Sicherheit zu bringen anstatt Panik, Angst und Terror“. Sie bekamen gesagt, die Mordorgie sei ein Versehen gewesen. Die Marines stellten nicht etwa von sich aus eine Untersuchung an, im Gegenteil, sie versuchten die Spuren zu verwischen. Nach ihrer offiziellen Darstellung waren die 24 von den Aufständischen getötet wor- NATIONAL ARCHIVES an Gespräche heran, wie sich das Land auf lange Sicht befrieden lassen könne – als vertrauensbildende Maßnahme für Verhandlungen über Teherans Nuklearprogramm. Haditha macht viel zunichte, Haditha bestärkt den Verdacht, dass die Besatzungsmacht USA zu Grausamkeiten fähig ist, sie erst vertuscht und dann aufklärt, wobei jeder Fall zum Einzelfall erklärt wird. Haditha schwächt Amerika und dürfte dazu beitragen, dass der Krieg des mittlerweile unpopulären Präsidenten noch unpopulärer wird. „Solche Zwischenfälle wirken verheerend“, sagt Zalmay Khalilzad, der amerikanische Botschafter in Bagdad, im Gespräch mit dem SPIEGEL (siehe Seite 111). Die arabischen Sender alDschasira und al-Arabija berichten ausführlich über Haditha und die Folgen. Im Washingtoner Establishment haben die Vorgänge Entsetzen ausgelöst. Senator John Warner, ein älterer Herr mit gutem Ruf und dazu noch Republikaner, nannte als Erster Haditha in einem Atemzug mit Abu Ghureib. Er leitet den StreitkräfteAusschuss, der Anhörungen über die vier Stunden am 19. November anberaumte, und stellte eine entscheidende Frage: „Wie eigentlich haben die Offiziere der Marines unmittelbar darauf reagiert?“ John Murtha ist ein hochdekorierter Offizier der Marineinfanterie aus dem Vietnam-Krieg und sitzt heute für die Demokraten im Abgeordnetenhaus. Er sagt, er hege keinerlei Zweifel, dass die Marines Unschuldige getötet hätten und dann die Umstände verschleiern wollten. Ihm sei von offiziellen Stellen mitgeteilt worden, die Soldaten hätten „kaltblütig“ eine Frau erschossen, die sich schützend über ihr Kind gebeugt und um Gnade gefleht habe. Murtha will vor allem wissen, ob Generalstabschef Peter Pace „Order gab, die Affäre zu vertuschen“. Passenderweise übergab der neue irakische Botschafter Samir al-Sumeidai am Dienstag im Weißen Haus sein Beglaubigungsschreiben. Gleich danach gab er CNN sein erstes Interview: „Diese Morde sind ein Verrat am amerikanischen Volk.“ Nach dem Massaker führten die Prediger und die Clanchefs des Ortes einen Zug Im März veröffentlichte das Magazin einen Artikel, der die Version der Marines entkräftete. Die Reporter hatten 28 Zeugen in Haditha interviewt und so die Vorgänge am 19. November rekonstruiert. Inzwischen kursiert das Videoband, das der Student Thabit drehte, überall im Nahen Osten. Kopien gelangten an Moscheen in Syrien, Jordanien und Saudi-Arabien. Vermutlich sorgte das weite Netzwerk der Qaida für umsichtige Verbreitung. Im Februar begann Oberst Gregory Watt mit dem Verhör der 13 Marines. Sie blieben bei ihrer Version, die 24 seien durch die Bombe und den Schusswechsel gestorben, aber die Tatsachen sprachen dagegen. Vor allem der Tod der Studenten und ihres Taxifahrers widerlegte die Lesart der Marines: Die fünf besaßen keine Waffen, sie hatten keine Anstalten gemacht, den Soldaten gefährlich zu werden. 15-mal begutachteten die Ermittler der Streitkräfte die Tatorte. In den Wänden der drei Häuser fanden sich Dutzende Einschusslöcher. Die Schüsse, aus kurzer Distanz abgefeuert, durchschlugen die Körper. Dazu tauchten neue Fotos der Leichen auf, die offenbar gezielt unterschlagen wurden. Die Ermittler ließen das Massaker nachstellen, am Ende fiel die Version der Marines in sich zusammen. Zu den Hauptverdächtigen gehören Unteroffizier Frank Wuterich, der die Patrouille führte, und zwei Wehrpflichtige; ihnen droht eine Anklage wegen Mordes. 9 der 13 Marines haben aller Wahrscheinlichkeit nach mitbekommen, was sich in Haditha zutrug, ohne einzugreifen. Der Kommandeur des Bataillons, Jeffrey Chessani, und zwei andere Offiziere sind mittlerweile ihrer Posten enthoben worden. Sie stehen unter Vertuschungsverdacht. Von Chessani soll auch die Anweisung stammen, die Familien der Opfer materiell zu entschädigen. Bargeld dürfen die Marines nur auszahlen, wenn Unschuldige ums Leben gekommen sind. Der Obergefreite Ryan Briones, 21, gehörte dem 3. Bataillon an, er war in Haditha, er gehört allerdings nicht zu den Beschuldigten, er wurde abkommandiert, um die Toten zu bergen. Miguel Terrazas war sein Freund, die beiden waren zusammen im Fitness-Studio der Einheit, sie zechten gemeinsam. Briones bedeckte die Leiche mit einem Poncho und sprach ein Gebet. Etwas später, erzählt er, habe er ein kleines Mädchen vom Boden aufgehoben, sie war tot, ein Kopfschuss, Gehirnmasse sei auf seine Kampfstiefel getropft. Diese Bilder, sagt er, werde er wohl nie vergessen. „Sie sind in meinem Kopf und in meinem Herzen.“ Georg Mascolo, US-Soldaten in My Lai (1968) Symbol des Grauens den und nicht etwa von den Soldaten. In ihrem Kommuniqué vom 20. November steht, der Obergefreite Terrazas und 15 irakische Zivilisten seien zunächst von der Bombe getötet worden, die anderen neun beim anschließenden Feuergefecht mit Heckenschützen. Die Familien der meisten Getöteten bekamen 2500 Dollar, das ist der Höchstbetrag nach den Vorschriften der Marines. Das war ein erstes Eingeständnis, dass Haditha mehr war als nur einer der üblichen Anschläge mit der üblichen hohen Zahl an Opfern. Am Tag nach dem Gemetzel in Haditha machte Tahir Thabit, ein Student der Journalistik, Videoaufnahmen von den Toten im Leichenschauhaus. Er brachte den Stein ins Rollen. Das US-Magazin „Time“ kam im Januar in den Besitz des Videos und gab eine Kopie an Oberst Barry Johnson weiter, der eine förmliche Untersuchung einleitete. d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 Gerhard Spörl Ausland SPI EGEL-GESPRÄCH „Sechs entscheidende Monate“ Amerikas Botschafter im Irak, Zalmay Khalilzad, über Washingtons Abkehr von allzu ehrgeizigen Kriegszielen, den anhaltenden Terror aufständischer Milizen, Teherans Versuche, dem Nachbarn seinen Willen aufzuzwingen, und die „schrecklichen Fehler“ beim Wiederaufbau Wo ist denn nun der positive Effekt der Irak-Intervention? Chefin, Außenministerin Condoleezza Rice, hat zugegeben, dass Khalilzad: Wir Amerikaner sind im Irak „Tausende taktische Fehimmer so ungeduldig. Manchler“ gemacht worden seien. Präsimal lässt der Fortschritt auf sich dent Bush bedauert vor allem den warten. Folterskandal von Abu Ghureib. SPIEGEL: Es gibt also bislang keine Was halten Sie für Amerikas entkonkreten Erfolge? scheidenden Fehler? Khalilzad: Nehmen Sie Libyen. Da würde ich nicht ausschließen, dass Khalilzad: In meinem Job bemühe die Operation im Irak ihren Anteil ich mich, nach vorn zu schauen. am Kurswechsel hatte. Außerdem Die Historiker haben große Fragab es inzwischen in mehreren gen zu beantworten: War es eine arabischen Ländern Wahlen – degute Idee, nach Kriegsende die ren Ergebnisse man natürlich Kontrolle den Besatzungsmächten nicht kontrollieren kann, siehe zu überlassen, statt von Anfang Hamas. an auf eine irakische Regierung SPIEGEL: Die ehemalige USzu setzen – wie wir es in AfghaAußenministerin Madeleine Alnistan gemacht haben? War es bright behauptet, der Westen richtig, die Armee aufzulösen und müsse sich nun einmal darauf einso viele Mitglieder der Baath-Parstellen, dass im Nahen Osten islatei aus ihren Ämtern zu vertreimistische Regime an die Macht ben? Hat man zu lange gewartet, gewählt werden. um die Sunniten in den politiKhalilzad: Nicht unbedingt. Hätten schen Prozess einzubinden? wir zum Beispiel in Pakistan freie SPIEGEL: Jetzt kommt es womögWahlen, dann – das wage ich zu lich noch schlimmer: In der westbehaupten – würden die Religiöirakischen Stadt Haditha soll ein sen nicht gewinnen. Im Irak war Trupp US-Marineinfanteristen 24 es umgekehrt, hier haben die IslaZivilisten, darunter Kinder, kaltmisten bei den letzten Wahlen zublütig erschossen haben. Können Sie sich vorstellen, welche Folgen gelegt. Es gibt heute grundlegenZalmay Khalilzad de Auseinandersetzungen innerdas haben wird? halb des politischen Islam – auf Khalilzad: Ich habe bislang zu vertritt die Vereinigten Staaten, nach zwei Jahren als Botschafter der einen Seite die fundamentawenige Informationen und warte in Kabul, seit Juni 2005 in Bagdad. Bushs ehemaliger Berater listischen Kräfte, auf der anderen darauf, was mir die Militärs bein Sicherheitsfragen wurde 1951 im nordafghanischen Masar-idie gemäßigten. Für die Welt richten. Aber wir bedauern den Scharif geboren, studierte Politikwissenschaften in Beirut und kommt viel darauf an, wer wo die Verlust jedes Menschenlebens. Chicago und lehrte an Universitäten in New York und San Diego. Oberhand behält. Außerdem werAus Abu Ghureib haben wir geWährend der Clinton-Jahre gründete er ein Zentrum für Nahostden sich viele islamische Bewelernt, dass solche Zwischenfälle Studien. Khalilzad ist verheiratet, hat zwei Söhne und ist ranggungen verändern, sobald sie poverheerend wirken. höchster Muslim in der Washingtoner Regierung. litische Verantwortung tragen. Ich SPIEGEL: Amerikas erklärtes Ziel bin da gar nicht so pessimistisch, war es, durch den Einmarsch nicht nur dem Irak Demokratie zu bringen, Eindämmungspolitik gegenüber der So- denken Sie doch an die Türkei, wo sich sondern den ganzen Nahen Osten zu mo- wjetunion im Kalten Krieg. Ich glaube die Islamisten heute wie eine Art christdedernisieren. Ist das nicht gründlich fehl- nicht, dass militärisches Eingreifen immer mokratische Partei in Europa benehmen. das richtige Rezept ist. Gefragt ist eine um- SPIEGEL: „Ich bin nicht überzeugt“, hielt der geschlagen? Khalilzad: Ich halte die Modernisierung des fassende Strategie, welche Demokratisie- deutsche Außenminister Joschka Fischer Nahen Ostens für die zentrale Herausfor- rung, Wirtschaftsreformen und die Gleich- kurz vor Kriegsbeginn US-Verteidigungsderung unserer Zeit. Diese Region agiert berechtigung der Frauen vorantreibt. minister Donald Rumsfeld entgegen. Wer verhaltensgestört, wenn Sie den klinischen SPIEGEL: Die Aussichten sind eher düster. hat denn nun recht behalten? Ausdruck entschuldigen. Die meisten Pro- In Palästina ist die radikal-islamische Ha- Khalilzad: Darauf kommt es doch gar nicht bleme, mit denen die USA, Europa und mas gewählt worden, andere autokratische mehr an. Die Probleme, mit denen wir es Asien konfrontiert sind, haben hier ihren Regime denken gar nicht an Reformen – heute zu tun haben, sind so groß, dass uns Ursprung. Dem Nahen Osten zu helfen Ägypten zum Beispiel. Auch im Libanon gar nichts anderes übrigbleibt, als zusamist eine ähnlich große Aufgabe wie die schwindet die Hoffnung der Demokraten. menzuarbeiten. Wenn der Irak scheitert, HADI MIZBAN / AP SPIEGEL: Herr Botschafter, Ihre d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 111 Ausland KHALID MOHAMMED / AP wenn der konfessionelle Bürgerkrieg aus- liberalen Kräften, viel Mühe darauf ver- Khalilzad: Wir haben sehr intensive Gebricht und die Nachbarstaaten in diesen wandt, das zu verhindern. In der Verfas- spräche. Auch die Aufständischen haben Konflikt hineingezogen werden, wenn die sung steht, dass die Scharia nicht die ein- auf die Bildung der neuen Regierung geKurden sich unabhängig machen und al- zige, sondern eine grundsätzliche Quelle wartet und beraten jetzt, ob ihre Führer Qaida eine ganze Provinz übernimmt, der Rechtsprechung ist. ausreichend vertreten sind. dann werden die Konsequenzen drama- SPIEGEL: Glauben Sie, die Planer dieser In- SPIEGEL: Die USA prangern Irans Untertisch sein. vasion haben sich über solche Feinheiten stützung schiitischer Milizen an. Was genau werfen Sie Teheran vor? SPIEGEL: Woher droht derzeit die größere Gedanken gemacht? Gefahr – von den Aufständischen oder Khalilzad: Nicht dass ich wüsste. Ich selbst Khalilzad: Wir Amerikaner haben Iran von vom Streit der Konfessionen? habe mir das sehr wohl überlegt, denn seinen schlimmsten Feinden befreit, den Khalilzad: Es gibt einen Teufelskreis: Die in Afghanistan, wo ich vorher Botschafter Taliban in Afghanistan und von Saddam. Terroristen wollen Bürgerkrieg. Die Qaida war, stand ich vor dem gleichen Problem. Meinem iranischen Kollegen in Kabul habe greift die Schiiten an. Die schiitischen SPIEGEL: Heute stehen im Irak 130 000 US- ich manchmal gedroht, ich würde ihm eiMilizen rächen sich an den Sunniten. Und Soldaten, etwas über 20 000 aus an- nes Tages einmal eine dicke Rechnung die Sunniten werden extremistischer, man- deren Ländern und 250 000 einheimische dafür ausstellen. Aber ernsthaft: Iran fährt che schließen sich der Qaida an. Bei den Sicherheitskräfte. Trotzdem kommen je- im Irak eine zweigleisige Strategie. EinerAufständischen selbst ist seits sind die Iraner nach eine Spaltung zu erkennen. Jahrzehnten der FeindEinige laufen zum Terroschaft an guten Beziehunristenführer Abu Mussab gen interessiert, andereral-Sarkawi über, andere seits wollen sie das Land drängt es in die Politik, schwach halten und die wieder andere warten Region dominieren. ab. Das alles kann nur Wir können mit Sicherheit im Zusammenhang gelöst sagen, dass sie Gruppen werden: das Problem der unterstützen, welche die Aufständischen, der MiliKoalitionstruppen angreizen, der inneren Aussöhfen. Sie verwenden dieselnung. Es freut mich, dass be Munition, um gepander neue Ministerpräsident zerte Fahrzeuge zu zerNuri al-Maliki genau das stören, die sie auch an die als seine große Aufgabe Hisbollah im Libanon lieerkannt hat. fern. Sie zahlen Geld an schiitische Milizen und bilSPIEGEL: Derartige Verspreden einzelne Gruppen aus. chen haben die Iraker jeWir können nicht sagen, des Mal gehört, wenn eine ob Teheran al-Qaida unneue Regierung antrat. terstützt, aber wir wissen, Khalilzad: Diese ist anders, Premier Maliki (vorn M.), Parlamentarier: „Seine große Aufgabe erkannt“ dass Qaida-Leute aus Padiesmal sind auch die sunnitischen Araber dabei. Das ist eine abso- den Monat 1500 Menschen ums Leben. kistan über Iran hierherkommen. Und Anlut notwendige Voraussetzung, aber noch Warum bekommen Sie die Lage nicht in sar al-Sunna, eine Partnerorganisation von Sarkawis Netzwerk, besitzt einen Stützden Griff? keine Garantie für den Erfolg. SPIEGEL: Wie viel Zeit hat Maliki? Khalilzad: Aus drei Gründen: Wir haben punkt in Nordwestiran. Khalilzad: Die nächsten sechs Monate wer- die Terroristen nicht ausschalten können, SPIEGEL: Sie selbst haben vorgeschlagen, den entscheidend sein, um die Gefahr ei- Sarkawi und sein Netzwerk bleiben mäch- direkt mit der iranischen Regierung über nes Bürgerkriegs einzudämmen. Schafft tig. Dann sind die Aufständischen da, die die Lage im Irak zu sprechen. Teherans die Regierung das nicht, hat sie verspielt. wir in den politischen Prozess einbinden Außenminister hat das vorige Woche abSPIEGEL: Viele Iraker sind tief beunruhigt, müssen. Drittens haben wir das Problem, gelehnt. Ist die Initiative damit gestorben? dass in der neuen Regierung, bei Sunniten dass wir die Milizen auflösen, entwaffnen Khalilzad: Dazu kriegen wir aus Iran alle wie Schiiten, die religiösen Eiferer die und ihre Kämpfer irgendwo unterbringen 14 Tage ein neues Signal. Irakische PoliÜbermacht haben. Im Verkehrsministe- müssen. Die Grundrichtung ist zweifellos, tiker beispielsweise haben uns gesagt, dass rium sollen jetzt alle Frauen Kopftuch tra- dass die Iraker Schritt für Schritt selbst die Teheran durchaus mit uns sprechen wolle. Verantwortung für ihre Sicherheit über- Unsere Haltung jedenfalls ist dieselbe gegen, selbst die Christinnen. blieben. Khalilzad: Ich teile diese Sorge. Vor allem in nehmen. der letzten Regierung gab es die Tendenz, SPIEGEL: Glauben Sie wirklich, die kurdi- SPIEGEL: Viele irakische Politiker haben dass Minister ihre Ministerien als persön- schen Peschmerga werden freiwillig ihre lange im iranischen Exil gelebt. Wie stark liche Lehen betrachtet und Budgetmittel Waffen abgeben? ist Teherans Einfluss im Irak heute? direkt an ihre Parteien abgeführt haben. Khalilzad: Die irakische Verfassung garan- Khalilzad: Im Südirak arbeitet Iran massiv Diesmal versuchen wir, jedem Minister tiert regionale Streitkräfte. Welche Waffen daran, seinen Einfluss auszubauen. Gleicheinen Stellvertreter der jeweils anderen sie tragen dürfen und welche Aufgaben sie zeitig nimmt der aber umso mehr ab, je Seite zuzuordnen. Die letzte Wahl war eine haben, darüber muss noch gesprochen weiter der politische Prozess im Irak fortIdentitätswahl. Die Iraker entschieden werden. Schwieriger ist die Frage, wie wir schreitet. Wir haben erlebt, wie irakische ihrer Herkunft und ihrer Konfession ent- mit den Aufständischen umgehen, den Politiker sich dem Druck aus Teheran wisprechend. Bei der nächsten Abstimmung selbsternannten Widerstandskämpfern. dersetzen, auch solche, die da gelebt haben. geht es hoffentlich mehr um Inhalte. Vielleicht wird man manche von ihnen – SPIEGEL: Selbst einflussreiche amerikaniSPIEGEL: Sie glauben also nicht, dass es zur wie die Mitglieder der Milizen – am Ende sche Politiker wie Senator Joseph Biden in die Sicherheitskräfte aufnehmen. sprechen inzwischen offen über Teilung „Islamischen Republik Irak“ kommt? Khalilzad: Sicher nicht im Sinne des irani- SPIEGEL: Stehen Sie immer noch mit Füh- entlang ethnisch-religiöser Grenzen. Wäre das eine Lösung? schen Modells. Wir haben, zusammen mit rern des Aufstands in Kontakt? 112 d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 HADI MIZBAN / AP Schwierigkeiten, die Energieversorgung aufrechtzuerhalten. SPIEGEL: Besonders dramatisch ist die Situation im Ölsektor, der doch eigentlich den Wiederaufbau finanzieren sollte. Khalilzad: Der Irak exportiert zurzeit etwa 1,7 Millionen Barrel pro Tag. Aber auch hier haben wir mit der schwierigen Sicherheitslage zu kämpfen. Und nicht alle Nachbarn sind am wirtschaftlichen Erstarken des Irak interessiert. SPIEGEL: Das Pentagon, das diesen Krieg geplant hat, interessierte sich im Gegensatz zum US-Außenministerium nie für den Prozess des „nation building“. Und doch ist es genau das, womit Sie heute überwiegend beschäftigt sind. Haben die Diplomaten letztlich recht behalten gegenüber den Geostrategen im Verteidigungsministerium? Khalilzad: Dieses „nation building“ ist unsere zentrale Aufgabe, sowohl in Afghanistan als auch im Irak. Und Staaten, Nationen bildet man nicht mit militärischer Macht. Es ist trotz aller Schwierigkeiten sehr eindrucksvoll zu sehen, wie die Kurden, die arabischen Sunniten und Schiiten hier zusammenfinden, wie sie gemeinsam definieren, auf welchen Grundlagen ihr Staat ruhen soll, welchen politischen Kurs dieser Staat verfolgen will, wer welchen Kabinettsposten bekommen soll. SPIEGEL: Die frühen Jahre der Bush-Regierung waren von moralischem Rigorismus geprägt, von einem missionarischen Eifer, die Welt zu demokratisieren. Ist das jetzt die Rückkehr zur Realpolitik? Khalilzad: Es kommt darauf an, seine Ideale und seine Interessen gleichermaßen umzusetzen. In der Ära des Kalten Krieges ging es um die Eindämmung des sowjetischen Einflusses, und da haben wir manches autoritäre Regime geduldet, solange es uns in dieser Hinsicht genutzt hat. Heute konvergieren unsere Werte und unsere Interessen – vor allem im Nahen Osten, denn diese Region muss endlich funktionieren, politisch und wirtschaftlich. Nur so lässt sich die globale Gefahr des Extremismus bekämpfen. Und das geht nicht von heute auf morgen. SPIEGEL: Herr Botschafter, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. Khalilzad: Diese Frage müssen die Iraker selbst entscheiden. Ich glaube nicht, dass sie das wollen. Hier ist nicht der Balkan, wo die Völker wirklich auseinanderstrebten. Das Gefühl, Iraker zu sein, verbindet alle Volksgruppen dieses Landes. Selbst die Kurden, die traditionell auf einen eigenen Staat aus sind, sehen die Vorteile der gegenwärtigen Lage: Sie haben einen autonomen Status in Kurdistan, bestimmen aber gleichzeitig die Entscheidungen in Bagdad mit. Wenn etwa die Nachbarstaaten eine Teilung des Irak vorantrieben, wäre das ein schrecklicher Fehler. SPIEGEL: Also doch ein einheitlicher Irak? Khalilzad: Warum sollten sich etwa die Schiiten abspalten wollen? SPIEGEL: Weil sie dann den Großteil des irakischen Öls unter sich aufteilen könnten. Khalilzad: Aber sie sind doch schon heute die Mehrheit! Die Sunniten sehen sich, womöglich aus nostalgischen Gründen, nach wie vor als die einflussreichste Gruppe und wollen einen starken Zentralstaat – ganz anders als Minderheiten in anderen Ländern. Die Verhältnisse sind viel komplexer, als sich das manche Leute in Washington vorstellen. SPIEGEL: Die USA haben Milliarden in den Wiederaufbau des Irak gepumpt, die offenbar wirkungslos verpufft sind. Was ist da schiefgegangen? Khalilzad: Wir haben schon bei der Planung schreckliche Fehler gemacht, zudem leiden wir unter der verheerenden Sicherheitslage. Bei unseren Projekten gehen im Schnitt 20 Prozent der Gesamtkosten für den Schutz der Leute und Objekte drauf. Wir mussten riesige Summen kurzfristig umleiten, um Polizisten auszubilden. Erst jetzt beginnen manche Projekte, sich zu rentieren. In der Stromerzeugung werden wir bis Mitte Juli die Kapazität von 4200 auf 6000 Megawatt erhöhen. SPIEGEL: Gestern hatte Bagdad eine einzige Stunde Strom. Khalilzad: Im Schnitt haben wir derzeit vier Stunden, und wir wollen das auf zwölf Stunden ausbauen … SPIEGEL: Und solche mageren Ergebnisse machen Sie nicht wütend? Khalilzad: O ja, ich werde manchmal zornig, fragen Sie meine Leute hier in der Botschaft. Aber man muss auch bedenken, dass dieses Land im Umbruch ist. Die Infrastruktur liegt am Boden, und wir haben * Mit den Redakteuren Hans Hoyng und Bernhard Zand vergangenen Montag in Bagdad. d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 DER SPIEGEL / AGENTUR FOCUS Explosion einer Autobombe in Bagdad: „Diese Region agiert verhaltensgestört“ Khalilzad beim SPIEGEL-Gespräch* „Modernisierung des Nahen Ostens“ 113 Ausland Prügelopfer Beck in Moskau, Parade in Warschau JEREMY NICHOLL / LAIF (L.); TUCHLINSKI / REPORTER / EASTWAY (R.) Westlich-dekadenter Lebensstil MINDERHEITEN Polens Retter Homosexuelle werden in Osteuropa gern verprügelt und verspottet. Ob in Budapest, Riga oder Moskau – populistische Politiker haben sie als Sündenböcke entdeckt. D as Handy von Tomasz Baczkowski piept: „Wir beobachten dich, Sieg Heil“, steht auf dem Display. Solche elektronischen Botschaften empfängt der Vorsitzende der Warschauer „Stiftung für Gleichheit“ mehrfach am Tag, seit Rechtsradikale seine Nummer im Internet veröffentlicht haben. Baczkowski ist derzeit die Hassfigur Nummer eins der national-katholischen Rechten, denn er organisiert die diesjährige „Parade der Gleichheit“ in der Warschauer Innenstadt. Samstag kommender Woche soll sie stattfinden. In den vergangenen zwei Jahren hatte Lech Kaczyński, damals noch Bürgermeister an der Weichsel, inzwischen aber Staatspräsident, die Demonstration für die Gleichberechtigung von Homosexuellen verboten. Egal, ob die Stadtväter diesmal ihr Placet geben, Polens Schwule und Lesben werden am 10. Juni auf die Straße gehen – und mit ihnen wieder hasserfüllte Gegendemonstranten. Unvergessen die hässlichen Bilder von den Prügeleien im vergangenen Jahr. Homosexuelle leben gefährlich – nicht nur zwischen Oder und Bug. Besorgt notiert der britische „Guardian“ Vorurteile, die eine „neue Linie zwischen Ost und West“ in Europa ziehen. Schließlich habe sogar das katholische Spanien die Schwulenehe zugelassen, während die Minderheit im Osten des Kontinents vielerorts schweren Diskriminierungen ausgesetzt ist. Im Juli vorigen Jahres mussten ganze Hundertschaften Polizei in der lettischen Hauptstadt Riga einige Dutzend Schwule vor einem wütenden Mob schützen. In Rumänien und Moldau verboten die Behörden Umzüge gegen die Diskriminierung von Homosexuellen von vornherein. 116 Dass russische Rechtsradikale während einer Schwulendemo am letzten Mai-Wochenende in Moskau auf den Grünen-Politiker Volker Beck einprügelten, überrascht daher wenig. Der Bundestagsabgeordnete trug eine Platzwunde am Kopf davon, die Täter wurden nicht gefasst. Osteuropas Schwulenhasser dürfen sich sicher fühlen, sie handeln mit Billigung von ganz oben. Moskaus Bürgermeister Jurij Luschkow wetterte unlängst: „Mögen westliche Länder mit ihrer Zügellosigkeit dergleichen dulden, Russland tut dies nicht.“ Lettlands Premier Aigars Kalvitis sprach sich für ein generelles Untersagen derartiger Demonstrationen aus, denn man sei „ein auf christlichen Werten gegründeter Staat“. Als erstes EU-Land haben die Balten das Verbot der Schwulenehe sogar in der Verfassung festgeschrieben. Auch Zsolt Semjén, Fraktionschef der christdemokratischen Partei in Ungarn, fand es im Wahlkampf schick, mit schwulenfeindlichen Sprüchen auf Stimmenfang zu gehen: „Wenn sie wollen, dass ihr Sohn seine ersten sexuellen Erfahrungen mit einem bärtigen älteren Mann sammelt, dann sollten sie für die Liberalen stimmen.“ Als Warschauer Oberbürgermeister ließ Lech Kaczyński die Parade der Gleichheit früher bereits einmal durchgehen. Doch kaum näherte sich der Präsidentschaftswahlkampf, besann er sich auf seine katholischen Prinzipien und untersagte das bunte Treiben. Seit seine Partei „Recht und Gerechtigkeit“ zusammen mit der national-katholischen „Liga polnischer Familien“ regiert, ist die Luft noch dünner geworden für Polens Homosexuelle. Denn in der Jugendorganisation der Liga wird obsessiver Schwulenhass ged e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 pflegt. Wojciech Wierzejski, stellvertretender Vorsitzender der Liga-Fraktion im Sejm, forderte vom Innenministerium jüngst sogar, man möge Verbindungen der Schwulenszene mit dem „Umfeld der Pädophilen und der Drogenmafia prüfen“. Jahrzehntelang hatte die kommunistische Propaganda Homosexuelle stigmatisiert, sie galten als Vertreter eines westlich-dekadenten Lebensstils. Für Liebe zwischen Männern kam man in der Sowjetunion bis zu fünf Jahre in Haft. An die Tabus von damals knüpfen osteuropäische Politiker heute an. Sie stoßen damit vor allem bei jenen auf offene Ohren, die von den Veränderungen der letzten Jahre überfordert sind. Homosexuelle geben ideale Sündenböcke ab, sie haben kaum eine Lobby. Ihnen lässt sich die Schuld zuschieben am vermeintlichen Werteverfall, an Aids, Drogenmissbrauch, Kinderschändung – ja selbst am organisierten Verbrechen. Tadeusz Janiszewski hält das für unerträglich. Der Schauspieler am „Theater des achten Tages“ in Posen hat zu kommunistischen Zeiten gegen Intoleranz und Diskriminierung angespielt, musste deswegen ins Exil nach Italien. 16 Jahre nach der Wende fürchtet der Dissident von einst um sein Lebenswerk. Janiszewski war dabei, als die Polizei vergangenen November eine Schwulendemo niederknüppelte: „Das fühlte sich an wie damals im Kriegszustand, als die Kommunisten die Solidarno£ƒ-Bewegung erstickten.“ Trotzdem will er am 10. Juni wieder mit den Homosexuellen auf die Straße, weil es „um mehr als die Rechte von ein paar Schwulen geht“. Auch aus Berlin werden Hunderte Unterstützer anreisen. Nicht nur, weil Tausende polnische Schwule in den vergangenen Jahren in das offene Klima der deutschen Hauptstadt geflüchtet sind. Auch politische Prominenz hat sich angesagt, darunter der lädierte Volker Beck. Schüler und Studenten wollen sich anschließen, ebenso die postkommunistische Linke. Sogar der auch in Deutschland bekannte Popstar Michal Wi£niewski („Keine Grenzen“) hat zugesagt. So verwandelt sich die kleine polnische Schwulenbewegung inzwischen peu à peu in eine Bürgerinitiative gegen die Intoleranz der national-katholischen Regierungskoalition. „Die Gays könnten Polens Retter sein“, freut sich ein liberaler Warschauer Journalist. Chef-Organisator Baczkowski erwartet diesmal mehr Nicht-Schwule zu seiner Parade als Homosexuelle. Denn: „Unsere Demonstration war nie ein Karneval wie im Westen, sondern schon immer sehr politisch – eine Parade der Demokratie.“ Jan Puhl Ausland Aufständische Kämpfer in der Unruheprovinz Darfur: Verzweifeltes Aufbegehren gegen ein skrupelloses Regime S U DA N Die schwarzen Dschandschawid Obwohl es ein erstes Friedensabkommen zwischen Rebellen aus Darfur und der Regierung in Khartum gibt, geht der Krieg in Afrikas größtem Staat weiter. Jetzt könnte sich das Gemetzel gar zu einem Brudermord ausweiten, in Flüchtlingslagern werden Tausende Guerilleros rekrutiert. D er Herr trägt plötzlich Nadelstreifen. Minni Arkou Minawi, Führer eines mächtigen Flügels der Sudan Liberation Army und für gewöhnlich in den graublauen Drillich des Buschkämpfers gehüllt, sitzt in maßgeschneidertem Zwirn in der Lobby des Novotels in Tschads Hauptstadt Ndjamena. Gemeinsam mit einem General aus dem Tschad trinkt er Coca-Cola, mit Strohhalm. Um ihn herum fläzen sich ebenfalls herausgeputzte Kampfgesellen und einflussreiche Gönner in den Korbstühlen, die Klimaanlage kühlt das Foyer auf angenehme 20 Grad, von der gutbestückten Bar klingt kubanische Musik herüber. Minawi wirkt etwas unsicher im vornehmen Ambiente des Hotels. Unablässig hacken seine Finger auf der Stuhllehne 118 herum, sein Blick huscht von einer Ecke des Raums in die nächste: von den französischen Marine-Infanteristen in ihren kurzen Wüstenhosen zu den vier finnischen Kaufleuten, die Karten spielen. Minni Arkou Minawi hat gleich einen Termin beim Präsidenten des Tschad, Idriss Déby. Déby ist ein launischer Mensch, eine „Ein-Mann-Mafia“, wie eine westliche Diplomatin sagt. Laut Statistik der Anti-Korruptions-Organisation Transparency International ist sein Land das korrupteste der Erde, und Déby ist hier der uneingeschränkte König der Diebe. Der Staatschef hat Minawi, den Rebellenführer, einbestellt. Er soll ihm erklären, warum er vor wenigen Tagen in Nigeria ein Friedensabkommen mit der sudanesischen Regierung unterschrieben hat. Hoffd e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 nungsträger nennen ihn seitdem die einen, Verräter schimpfen ihn die anderen. Die erste Gruppe sitzt in den Büros der Europäischen Union in Brüssel, der Vereinten Nationen in New York oder des State Department in Washington; die zweite – das sind jene, die im Staub riesiger Flüchtlingscamps im tschadisch-sudanesischen Grenzgebiet hausen, in den Rebellenlagern in Darfur oder bei Minawis bisherigen Verbündeten, in Eritrea oder dem Tschad. Seit einigen Jahren schon kämpfen Aufständische in Darfur gegen die Regierung in Khartum. Sie führen einen verzweifelten Guerillakrieg gegen ein kampferprobtes, skrupelloses Regime, das zudem Stammeskonflikte und einen arabischen, antiafrikanischen Rassismus schürt. Es hat sich nicht gescheut, mordlustige arabische Rei- Zerstörtes Dorf in Darfur TSCHAD Port Sudan Darfur Khartum ERITREA Faschir Bredjing Ndjamena 500 km r ee NIGER ÄGYPTEN M tes Ro LIBYEN LYNSEY ADDARIO / CORBIS (L.), SVEN TORFINN / LAIF (R.) Schwere Hungersnöte drohen SUDAN Kassala ÄTHIOPIEN Süd-Sudan Afrika KENIA Nairobi REUTERS DEM. REP. KONGO Rebell Minawi (2005) Verräter oder Hoffnungsträger? terbanden zu bewaffnen, die „Dschandschawid“, und mit ihnen einen Wüstensturm zu entfachen, der an Grausamkeit kaum noch zu überbieten ist. Die Rebellen wehren sich gegen diese Übermacht, sie haben einen breiten Streifen des Landes erobert, doch sie sind eingekeilt zwischen arabischen Siedlungsgebieten und der Grenze zu Sudans westlichem Nachbarland Tschad. Ohne die Unterstützung aus dem Tschad wäre Minawis Mannschaft militärisch erledigt. Sie würde ihre Nachschubbasis verlieren. Minawi weiß nicht, ob Tschads Diktator Idriss Déby besonders glücklich darüber ist, dass er sich nun mit dem Regime in Khartum verständigt hat, denn auch der Tschad befindet sich in einer Art Kriegszustand mit dem Sudan. Der Rebellenchef steckt deshalb in einem Dilemma. Er könnte leichte Beute werden für seine Rivalen in der Widerstandsbewegung. Eine Zeitlang gab es nur zwei Truppen, die den Aufstand gegen Khartum führten, die eine nennt sich Sudan Liberation Army (SLA), die andere Justice and Equality Movement (JEM). Beide kämpfen für mehr Rechte der Schwarzen im Westen Sudans, die Leute von der JEM jedoch sind auch noch fromm, die meisten waren früher in islamistischen Parteien aktiv. Doch es gibt d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 noch eine andere, viel gefährlichere Sollbruchstelle in der Rebellenfront. Ein Großteil der afrikanischen Bevölkerung Darfurs gehört zum Stamm der Fur, daher auch der Name der Region. Da sind aber auch noch der Stamm der Massalit und jener der Saghawa von Minni Arkou Minawi. Lange Zeit war ein Fur der alleinige Anführer der SLA; er heißt Abd al-Wahid Mohammed al-Nur, ist ein lebensfroher, wohlgenährter Mann und lebt die meiste Zeit in Nairobi. Als Minawi genug davon hatte, sich von einem meist abwesenden Fur herumkommandieren zu lassen, machte er sich mit seinen Leuten selbständig. Doch nicht genug damit: Seit die Rebellen anfingen, in Nigerias Hauptstadt Abuja mit der Khartumer Regierung zu verhandeln, teilte sich die Liberation Army erneut. Auch Chamis Abdullah Abakr, ein Massalit, verließ mit einer Gruppe von 18 weiteren Anführern die alte SLA und kämpft seither auf eigene Rechnung. Das Friedensabkommen in Abuja hat nur Minni Arkou Minawi unterzeichnet. Statt Frieden könnte das Papier Sturm bringen: einen Bruderkrieg der Afrikaner in Darfur, einen Krieg im Krieg, der bisher nur eine Auseinandersetzung mit den Arabern war. Minawi sagt, er habe unterschrieben, weil er den Dialog suche, „weil die Menschen aus den Flüchtlingslagern endlich in ihre Heimat zurückkehren wollen und weil das Blutvergießen auf beiden Seiten beendet werden soll“. Zwar ist er jetzt für eine gewisse Zeit der Liebling des Westens, doch zu Hause, da trauen sie ihm nicht mehr. Sie glauben, er habe die Interessen seines Volks verkauft. In der rauen Wirklichkeit der Wüstensöhne kann das einem Todesurteil gleichkommen. Monatelang hatten die Verhandlungen in Abuja gedauert. Sie begannen im Oktober 2005. Jede Rebellendelegation bestand aus mehr als 30 Vertretern, sie waren anfangs also rund einhundert Leute. Sie diskutierten ewig, ließen vorbereitete Dokumente in allerlei Sprachen übersetzen und stritten viel dabei. Doch die meiste Zeit saßen sie in ihren Gallabijas, den weiten weißen Umhängen, im Chida International und tranken süßen Tee. Eine Nacht im Chida kostet zwischen 120 und über 300 Dollar, es gibt eine Cocktailbar und einen Massagesalon. Die Rebellen hatten keine Eile. Aber die Amerikaner brauchten einen Erfolg bei diesen Verhandlungen. Schon im Juli 2004 hatte der US-Kongress das Abschlachten in Darfur einen Völkermord genannt. Minni Arkou Minawi ist nicht der einzige Rebellenführer, der in diesen Tagen im Novotel der Tschad-Hauptstadt Ndjamena vorbeischaut. Gerade hat sich Chalil Ibrahim, der Führer der JEM, in seinem funkelnden Landcruiser vorfahren las119 Ausland THILO THIELKE / DER SPIEGEL US-Vermittler Robert Zoellick, daheim ger ist aus dem Käfig, der kommt nicht sen. Zwei Kombattanten mit Kalaschnikows springen aus dem Wagen und reißen Vize-Außenminister, platzte irgendwann freiwillig zurück.“ Dass Rebellenführer Minawi auf der Lisder Kragen. „Er fuchtelte mit den Armen dem Chef die Wagentür auf. Die meiste Zeit hat Ibrahim einen Mann in der Luft herum und brüllte“, sagt Nou- te des Internationalen Kriegsverbrecherim Gefolge, der Mao-Jacken trägt und rain Minawi, der Mann vom Justice and tribunals steht, wird schon seit langem verschwarze Lederslipper: Nourain Minawi. Equality Movement. Und habe immer ge- mutet. Er soll für Morde an Intellektuellen Der studierte Anthropologe und Soziologe rufen: „Ihr kommt vors Kriegsverbrecher- verantwortlich sein und im Mai 2004 einen eigenen Stammeskönig zu Tode gefolwar in Abuja dabei, er ist der Berater und tribunal, wenn ihr nicht unterschreibt.“ Es war ein bisschen wie in einem billigen tert haben. „Er hat dessen Hände und das Sprachrohr Chalil Ibrahims. Er glaubt nicht, dass das Abkommen Film. Die Führer der verschiedenen Frak- Füße zusammenbinden und ihn dann von Abuja Frieden stiftet. Im Gegenteil, tionen wurden einzeln von Vertretern der kopfüber an einem Baum aufhängen lassagt er: „Wir sind bereit zu kämpfen. Wir Afrikanischen Union in ein Zimmer geru- sen. Der König blieb so lange dort oben, respektieren das Darfur-Friedensabkom- fen. „Unterschreibst du?“, fragte der Mann bis er tot war“, erzählt Schugar: „Und das men nicht. Gut möglich, dass die Kämpfe von der Afrikanischen Union. „Nein“, ant- war kein Einzelfall. Minawi wusste, warum jetzt erst eskalieren, seit Minawi die Seiten wortete Abd al-Wahid al-Nur für die Fur, er das Abkommen unterschrieb.“ In einem kalkweißen Bürokomplex in er müsse sich erst mit seinen Leuten beragewechselt hat.“ Dann kündigt er eine Ausweitung des ten. Chamis Abdullah Abakr, der Massalit, Nairobis vielbefahrener Lenana-Road hat Krieges an: „Wir werden auch unsere Leu- lehnte ebenfalls ab. Und Chalil Ibrahim, David Mozersky sein Büro. Mozersky ist Sudan-Experte der Internate im Osten des Sudan zu tional Crisis Group und der den Waffen rufen.“ vielleicht genaueste Chronist Die Verhandlungen in Nides Staatszerfalls im Sudan. geria, sagt Nourain Minawi, „Wenn wir nicht aufpasseien eine Farce gewesen. sen, fliegt uns der ganze SuDas Ergebnis spiegele ledigdan um die Ohren“, sagt er: lich die Positionen Khartums „Die Gemetzel in Darfur wider. Etliche Forderungen weiten sich bereits zu einem der Aufständischen wie die Krieg mit dem Nachbarland nach einer Entschädigung für Tschad aus. Und im Osten Kriegsopfer seien nicht bebefürchten wir einen Aufrücksichtigt worden. „Nach stand der Rebellen der Easdem Friedensabkommen soltern Front.“ len wir lediglich einen MiSo zeichnet sich im Sudan nisterposten in Khartum beeine Entwicklung ab, die chakommen statt wie gefordert rakteristisch war schon für drei, nur 12 Sitze in einem viele andere Kriege auf dem Parlament von 450 AbgeordKontinent. Zunächst drehen neten, und auch der Posten sich die Kämpfe noch um ereines Vizepräsidenten des kennbare politische Ziele wie Sudan wird uns verwehrt“, Zwangsrekrut Mohammed: Dürftige Rationen, regelmäßige Prügel Zugang zu Land oder Rohklagt Nourain Minawi: „Diese Abmachung ist die 120 Seiten nicht wert, der Mann von der JEM, sagte, das gehe stoffen, dann aber zerfasert der Konflikt jetzt nicht, denn das sei „die Position Khar- immer mehr. Rebellengruppen spalten sich, auf denen sie niedergeschrieben wurde.“ Nach den endlosen Verhandlungen da- tums“. Nur Minni Arkou Minawi unter- lokale Warlords kämpfen auf eigene Rechmals in Abuja lagen irgendwann die Ner- schrieb. Und wird dafür, so soll es ihm ver- nung und in eigenem Interesse. Der Krieg ven blank. In Darfur starben die Men- sprochen worden sein, von der Liste der wird zum Selbstzweck, eine friedliche Einigung rückt in immer weitere Ferne. schen, die nächste Regenzeit stand bevor. Kriegsverbrecher gestrichen. Es war der 5. Mai, als Minawi den VerSudans Süden gibt ein beredtes Beispiel: Und die Hilfsorganisationen klagten über immer weniger Unterstützung für immer trag mit Khartum abschloss, am selben Tag Die Rebellen der südsudanesischen Sudan mehr Flüchtlinge. Die Zeit also drängte, wurde in Labado in Süd-Darfur sein Bru- People’s Liberation Army (SPLA) haben doch die Rebellen der SLA verfügten über der Jussuf Arkou Minawi von Regierungs- zwar mit der Regierung in Khartum im Januar 2005 ein Friedensabkommen unterwenig politische Erfahrung. Viele haben truppen erschossen. Minawis Alleingang hat die anderen Re- zeichnet. Dennoch wird noch immer zwinie eine Schule besucht. Irgendwann nahmen die eingeflogenen bellen verbittert, zum Beispiel die Männer schen verschiedenen Milizen gekämpft. Währenddessen halten Korruption und Krisenmanager von den Vereinten Natio- von Massalit-Führer Chamis Abdullah nen, der Afrikanischen und der Europäi- Abakr. Sie sitzen im Schatten einer stau- Misswirtschaft Einzug in der Region. Es schen Union, der Regierung der Vereinig- bigen Veranda in Ndjamena und trinken droht eine Sezession in diesem Teil des Suten Staaten und Großbritanniens die Sa- Tee. Der Wüstenwind treibt Sand herüber, dan und die Entstehung einer neuen afriche selbst in die Hand. „Ruht euch aus“, es ist fast 40 Grad heiß. Die Männer auf kanischen Diktatur. Vom Süden, dessen Vertreter jetzt erst mal in Khartum mitresagten sie den Rebellen und zogen sich der Veranda sprechen vom Krieg. „Wenn sich Minawis Leute, wie es in gieren, ist bei der Lösung der Darfur-Krizurück. Nach 15 Tagen waren sie wieder da: Sie hatten ein langes Dokument vor- dem Abkommen heißt, in Khartums Ar- se so wenig Hilfe zu erwarten wie von der bereitet, gaben den Rebellen einen Tag mee integrieren lassen und gegen uns Afrikanischen Union. Seit Wochen fordert US-Präsident Bedenkzeit und forderten deren Zu- kämpfen, kommt es zum Bürgerkrieg der Schwarzen in Darfur“, sagt Wortführer George W. Bush deshalb, dass das Mandat stimmung. Doch die andere Seite wollte nicht un- Adam Ali Schugar: „Minawi ist ein der Afrikanischen Union auf die Vereinten terschreiben. „Was ist mit der Entschädi- schwarzer Dschandschawid geworden.“ Nationen übertragen wird, damit Blauhelgung für unsere Leute?“, fragten die Su- Schugar glaubt im Übrigen nicht, dass die me endlich das Gemetzel stoppen und die danesen. Und sagten, dass sie ihre Waffen Regierung in Khartum in der Lage sei, die Bevölkerung besser versorgt werden kann. Dschandschawid zu entwaffnen: „Der Ti- Dass dies eine Sisyphusarbeit wird, eine behalten wollten. 120 d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 Flüchtlingslager Bredjing im Tschad REUTERS THILO THIELKE / DER SPIEGEL Unwirtlichste Gegend der Erde Friedenspartner Minawi (l.)* Das Papier kann einen Sturm auslösen „Verwaltung der Nato“ erforderte und man „wahrscheinlich die doppelte Anzahl Peacekeeper“ braucht, hat der Chef des Weißen Hauses erkannt. Doch der Übel ist damit noch kein Ende. Spätestens ab November befürchtet die Deutsche Welthungerhilfe „eine schwere Hungersnot im ganzen Land“. Aber die Hauptstadt hat ganz andere Sorgen. Seit Bush die Nato ins Spiel brachte, bekommen Khartums Islamisten plötzlich wieder Oberwasser. Darfur werde zum „Friedhof der Imperialisten“, tönt Präsident Umar al-Baschir und ruft zu Massendemonstrationen gegen einen möglichen Einsatz der Uno auf; der Führer der Nationalen Jugendgewerkschaft erklärt seine Anhänger gar zum Dschihad bereit. Ab und an marschieren ein paar tausend auf Lastwagen der Regierung herangekarrte Hardliner vor dem Regierungspalast auf, sie schwenken Plakate, auf denen „Tod den ausländischen Soldaten“ steht. Es hat auch nicht lange gedauert, bis sich Weltterrorist Osama Bin Laden per Tonband aus dem Untergrund meldete und * Mit dem Präsidenten der Afrikanischen Union, Alpha Oumar Konaré, bei der Unterzeichnung des Abkommens in Abuja am 5. Mai. 122 zur heiligen Schlacht um den Sudan hetzte. „Alle Mudschahidin und ihre Unterstützer, besonders im Sudan und auf der Arabischen Halbinsel“ müssten sich auf einen langen Krieg gegen die „plündernden Kreuzzügler im Westsudan vorbereiten“, verkündete er bei al-Dschasira. Auch Lam Akol war früher Rebell. Mal kämpfte er an der Seite der südsudanesischen SPLA gegen die Araber, mal machte er gemeinsame Sache mit der Regierung. Doch nie ging es ihm so gut wie heute: Seit Inkrafttreten des Friedensabkommens zwischen Nord und Süd ist er Außenminister des Sudan – und kommt zu verblüffenden Schlussfolgerungen. Alles in seinem Reich laufe nach Plan, sagt er nun. Selbst in Darfur. Schuld an den Verletzungen der Waffenruhe in Darfur trügen die Aufständischen selbst. Die Uno lasse man unter keinen Umständen ins Land, und einen eigenständigen Staat für die Darfur-Bewohner gebe es auf keinen Fall. Vor nicht allzu langer Zeit hatte das alles ganz anders geklungen, da hatte die SPLA noch „ihre Brüder“ zum Krieg gegen die Araber angestachelt, Waffentransporte aus dem Süden organisiert und eigene Soldaten nach Darfur zum Kämpfen geschickt. Heute scheint es allein um die baldige Unabhängigkeit der eigenen Region zu gehen und um möglichst großen Profit für deren Führer. In Darfur rüsten die Parteien nun zur nächsten Schlacht. Die Rebellenfraktionen, die sich mit Khartum nicht einigen konnten, suchen neue Rekruten für den Waffengang. Kaum ein Ort ist für die Sammlung neuer Kombattanten so geeignet wie die riesigen Flüchtlingslager im Tschad, nahe der sudanesischen Grenze. Bredjing ist so ein Lager. Gerade einmal 60 Kilometer sind es von hier bis zur Grenze. Es ist ein Platz mitten in einer der unwirtlichsten Gegenden der Erde. Die einstmals weißen Zelte des Flüchtlingsd e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 hilfswerks UNHCR sind längst von einer feinen Sandschicht bedeckt; zum Schutz vor dem unbarmherzigen Wüstenwind haben die Menschen Einfriedungen aus getrocknetem Gras und Dorngestrüpp, aus Plastikplanen und Pappkartons errichtet. Mohammed Dschuma Mohammed, ein Dorflehrer, gehört zu den Vertriebenen, er ist bereits seit zwei Jahren im Tschad. Am 18. März ist er wie jeden Morgen auf dem Weg zum Schulplatz, als plötzlich ein paar junge Männer den Weg versperren. Sie sagen, dass sie von der SLA kämen und Mohammed verhaftet sei, und bringen den Lehrer auf einen Sammelplatz. Dort kauern schon über 200 andere Männer, 6 Wächter halten die Menge in Schach. Zwei tragen Pistolen, die anderen Stöcke. Schließlich setzt sich der ganze Zug in Bewegung. Acht Stunden dauert der Fußmarsch, bis die Gruppe den Ort Arkum erreicht. 3716 junge Rekruten kommen binnen kurzem auf diese Weise zusammen. Sie werden jeden Tag zweimal durchgezählt, erhalten eine dürftige Ration Brei und werden regelmäßig verprügelt. Die meiste Zeit jedoch müssen die Männer trainieren: durch die Gegend robben, rennen, strammstehen. Bis sie irgendwann ahnen, wo sie eigentlich gelandet sind: „Ihr seid jetzt Soldaten der SLA, und euer Kommandeur ist Chamis Abdullah Abakr.“ Dass sich der Massalit-Führer Chamis Abdullah Abakr kurz zuvor vom Rest der SLA getrennt hatte, wissen die neuen Rekruten nicht. Sie ahnen nichts vom Bruderzwist der Schwarzen und davon, dass nach dem Krieg gegen die Araber längst der nächste Konflikt ausgebrochen ist. Sie haben nur furchtbare Angst: Wenn jemand versucht, dem Terror zu entkommen, treiben ihn die Bewacher unter Stockhieben ins Lager zurück. Er wird in ein Erdloch geworfen, zwischen dorniges Gestrüpp. Im ganzen Lager kann man dann nachts seine Schreie hören. Dorflehrer Mohammed immerhin gelingt mit zwei anderen Leidensgenossen nach zehn Tagen die Flucht aus dem Rebellenlager. Sie kehren in ihr Camp nach Bredjing zurück. Die Angst allerdings lässt sie nicht los. Selbst wenn nun harmlose Pick-ups durchs Lager rasen und Staub aufwirbeln, verstecken sie sich. So ist der Horror bis nach Bredjing gekommen. Diesmal nicht in Gestalt der apokalyptischen Dschandschawid, der Wüstenreiter. Jetzt geht die Gefahr von jenen aus, die vorgeben, im Namen der Elenden aus Darfur Krieg zu führen. Dieser Kampf hat sich zu einem Krieg jeder gegen jeden entwickelt. „Und dieses neuerliche Gemetzel“, sagt der „Flüchtlings-Präsident“ von Bredjing, Dschamal al-Din Daud, „hat gerade erst begonnen.“ Thilo Thielke, Volkhard Windfuhr Ausland Das Vertrauen ist zerstört Der Oppositionspolitiker und Ex-Premier Sadik al-Mahdi, 70, über die Stationierung von Uno-Friedenstruppen und die drohende Spaltung des Sudan AXEL KRAUSE / LAIF SPIEGEL: Bürgerkriege und Aufstände im dschawid“-Reiterbanden gegen die rebellieSudan haben bisher zwei Millionen Men- renden Bauern von Darfur in Marsch zu setschenleben gefordert. Doch trotz Inter- zen. Ströme von Blut flossen, Hunderttauvention der Vereinten Nationen und der sende flohen. Die Stationierung afrikaniAfrikanischen Union geht das Morden scher Friedenstruppen hat leider nur wenig weiter – wird das Land auseinanderbre- bewirkt. Deswegen brauchen wir jetzt Unochen? Einheiten. Aber wir sollten auf der Hut sein. Mahdi: Wenn das Regime in Khartum so SPIEGEL: Vor den Vereinten Nationen? weitermacht wie bisher und mit den Re- Mahdi: Wenn Amerikaner an Friedensopebellen im Westen … rationen beteiligt sind, was auch im Sudan SPIEGEL: … in der Region Darfur … nicht auszuschließen ist, kommen fast imMahdi: … und in den anderen aufbegeh- mer politische und wirtschaftliche Sonderrenden Regionen im Osten, wie in Kassa- interessen zum Tragen. Das wäre sicher la und am Roten Meer, nicht ehrliche Ver- kaum anders in Darfur, wo Erdöl und anhandlungen beginnt, wird es tatsächlich so dere Bodenschätze lagern. kommen. Der Machthunger des Regimes SPIEGEL: Der Einsatz von Uno-Truppen blockiert jeden der dringend notwendigen scheint nur eine Frage der Zeit zu sein. Mahdi: Aber das Grundproblem wird daSchritte. SPIEGEL: Was müsste jetzt geschehen? mit nicht gelöst. Die Vertrauensbasis zwiMahdi: Weil alle Welt auf schen Zentralregierung Darfur schaut und einund Bevölkerung ist unschneidende internationawiderruflich zerstört. SPIEGEL: Wollen die Rele Sanktionen drohen, bellen in Darfur eine Absollte sich die Staatsfühspaltung der Region? rung nicht länger gegen Mahdi: Seit sich die Reeine internationale Trupgierung mit den Südsudapenpräsenz in der Krisennesen auf einen weitgeregion sträuben. Doch unhenden Autonomiestatus sere Machthaber betreider Südprovinzen geeinigt ben eine Hinhaltepolitik, hat, fühlen sich die Aufum Zeit zu gewinnen – in ständischen in Darfur und der Hoffnung auf ein im Osten in ihrem Kampf Wunder, mit dem das Einbestärkt und verlangen rücken von Blauhelmeine bessere Verteilung Kontingenten noch verder Staatseinnahmen. Ich hindert werden könnte. SPIEGEL: Warum hat die denke, dass unsere RegieMannschaft von Präsident Regimekritiker Mahdi rung auf Zeit spielen wird. SPIEGEL: Aber im mehrUmar al-Baschir Angst „Ströme von Blut in Darfur“ heitlich christlich-animisvor solch einer Truppe? Mahdi: Weil die Sudan-Problematik mit tisch besiedelten Süden gibt es bereits eine deren Einsatz internationalisiert würde, eigene Armee und eine Separatwährung, was natürlich ein Armutszeugnis für unse- im Osten fordern Rebellen mehr Selbstänre Regierung und der Anfang vom Ende digkeit – kann der Sudan diese Zerreißdes Regimes wäre. Auch die Opposition, probe überstehen? meine Umma-Partei eingeschlossen, wäre Mahdi: Ich habe die Hoffnung nicht verloüber die Intervention des Auslands nicht ren. Das Abkommen mit den Rebellen im Süden hat immerhin den am längsten togerade begeistert. SPIEGEL: Ist die Lösung des Darfur-Problems benden Bürgerkrieg Afrikas beendet. ohne tatkräftiges Eingreifen des Auslands SPIEGEL: Aber was passiert, wenn sich die überhaupt noch möglich? Südsudanesen in fünf Jahren in dem mit Mahdi: Jetzt nicht mehr. Khartum hat auf Khartum ausgehandelten Volksentscheid die Hilferufe der sich ausgegrenzt fühlenden für das Ausscheiden aus dem StaatsverBevölkerung immer nur mit Polizeieinsät- band entscheiden? zen geantwortet. Als sich dann politische Mahdi: Dann müssten wir den Traum einer und bewaffnete Widerstandsorganisationen funktionierenden arabisch-afrikanischen bildeten, beging unsere Regierung den Symbiose in Afrikas größtem Flächenstaat schweren Fehler, die berüchtigten „Dschan- begraben. d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 123 Ausland DUBA I Heidi ja, Kate nein danke Global Village: Die Fluglinie Emirates sucht nach den schönsten Stewardessen der Welt. 124 d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 anderen die Araber oder die Afrikaner. Jeder hat seine Stärken.“ Auf Emirates-Flügen arbeiten Inderinnen und Pakistanerinnen zusammen, Serbinnen und Kroatinnen, katholische Irinnen und protestanische Nordirinnen, Irakerinnen und Amerikanerinnen. „Ich mache diesen Job seit zwölf Jahren“, sagt Ali. „Es gab genau vier Vorfälle, in denen wir einen Streit schlichten mussten.“ Vor zwei Wochen traf die Regierung der Vereinigten Arabischen Emirate eine epochale Entscheidung. Sie verlegte das Wochenende, bislang Donnerstag und Freitag, auf Freitag und Samstag. Das erleichtert die Zusammenarbeit mit internationalen Geschäftspartnern und gibt ein Beispiel für die Lösung eines Problems à la Dubai ab: Das Business hat Vorrang. Übersetzt in die Sprache der Zivilluftfahrt heißt das: Asiatinnen, entspannt euch. Levantinerinnen, haltet eure Gestik im Zaum. Spielt eure Stärken aus, aber kommt euch nicht in die Quere. Wer diese Mitte findet und sich wohl darin fühlt, hat mitunter viel Spaß bei der Arbeit. „Natürlich merkt eine Stewardess, wenn ihr die Blicke der Passagiere folgen“, sagt eine Iranerin, die seit Jahren mit Emirates um die Welt fliegt. „Aber täuscht euch nicht. Manchmal flüstern wir uns in der Pause beim Take-off zu: Hast du diesen Mann auf 32B gesehen?“ Flug EK 923 nach Kairo hebt mit leichter Verspätung um 15.20 Uhr ab. Es geht in einer Kurve hinaus auf den Persischen Golf, links verschwinden die künstlichen Inseln von Dubai im Dunst, rechts taucht die Küste Irans auf. Nach zehn Minuten ist das Band mit den Sicherheitshinweisen durchgelaufen, die Stewardessen schnallen sich los, es meldet sich der Purser, aber etwas ist anders als auf anderen Flügen. „Die Sprachen, in denen Sie sich auf diesem Flug mit unserem Personal unterhalten können, sind: Arabisch, Englisch, Farsi, Finnisch, Koreanisch, Thai, Ukrainisch, Kisuaheli und Malaiisch.“ Multikulti lebt an Bord, Emirates total global. Bernhard Zand RICHARD ALLENBY-PRATT W er definiert Schönheit im Zeit- in halbhohen Pumps an die Feuerlöscher alter der Globalisierung? Heidi in den Gepäckfächern heranreichen. Mehr Klum? Kronprinzessin Masako nicht.“ Außerdem sollten sie souverän mit Menvon Japan? Sonia Gandhi? „Eine Frau ist schön“, sagen arabische Männer, „wenn schen jeder Herkunft klarkommen, nicht man sie zart drückt und der Daumen dabei nur mit den Passagieren, sondern auch mit in ihrem Unterarm versinkt.“ Die Reize den täglich wechselnden Crew-Mitgliedern, mit denen sie auf beengtem Raum an von Kate Moss sind anderer Art. Abd al-Asis al-Ali ist Personalchef von Bord zusammenarbeiten. „Asiatinnen sind Emirates, der rasant wachsenden Flug- sehr zurückhaltend in ihrer Körperspragesellschaft mit Sitz in Dubai. Er muss ei- che, man nimmt sie kaum wahr, wenn sie gentlich wissen, was und wer schön ist, er in der Galley hantieren. Mediterrane Tysetzt die Standards für seine rund 5000 pen dagegen fuchteln beim Reden gern herum“, sagt Mira, 29. Sie ist seit fünf JahStewardessen. Mit ihren sandfarbenen Uniformen, ih- ren bei Emirates, sie ist Palästinenserin und ren roten Mützen und Haargebinden, mit weiß, wovon sie spricht. ihrer Eleganz und Weltläufigkeit sind sie das Markenzeichen der Airline. Sie sind einfach die Schönsten ihrer Zunft. Ali ist Mathematiker und scheut ästhetische Festlegungen. Unter seinen Flugbegleitern sind 108 Nationalitäten vertreten, und mit jeder Woche werden es mehr. Allein im Juni werden Personalberater der Gesellschaft in 13 Ländern auf fünf Kontinenten unterwegs sein, um Tausende Bewerberinnen zu sichten, oft auch in Städten, die Emirates noch gar nicht anfliegt: Peking, Vancouver, Algier, São Paulo. Was schön ist, lässt sich unter diesen Umständen Emirates-Stewardessen: Elegant und weltläufig nur schwer beschreiben. „Wenn zwei Araberinnen auf dem gleiDen Idealtypus gibt es nicht, es gibt viele chen Flug Dienst haben, stecken sie autodavon. Was schön ist, weiß man erst, wenn man matisch in jeder freien Minute die Köpfe es sieht, meint Ali. Und bescheiden sollen zusammen: Habibi guck mal, Habibi hör die Stewardessen sein. Ihr Einstiegsgehalt mal – das kann andere in der Crew irritieist enttäuschend niedrig, knapp 1600 ren“, sagt Jacques, 40, ein Libanese, der Dollar steuerfrei, dazu ein paar Privile- seit 14 Jahren dabei ist. Mira und Jacques bilden die Neugien und ein Freiflug ins Heimatland pro ankömmlinge im Kabinensimulator aus: Jahr. Die verwöhnten Töchter der wohlha- technische Pannen, Notwasserungen, Evabenden Emirater lockt der Job daher we- kuierungen. Da müssen Befehle gebrüllt nig: Nur 51 der Stewardessen stammen aus und Leute angefasst werden, da dürfen sie nicht zimperlich sein. „Du merkst schon im den Vereinigten Arabischen Emiraten. „In Dingen der Schönheit sind wir nicht Training, dass das nicht jeder leichtfällt – religiös“, sagt Ali. Fettleibige und Mager- zumal wenn die in vielen Kulturen wichsüchtige können sich die Mühe einer Be- tige Distanz zwischen Männern und Frauwerbung sparen, räumt er ein, aber schon en fällt“, sagt Jacques und lacht. Mira bei der Mindestgröße verweigert er jede lächelt. „Im einen Fall sind die Briten konkrete numerische Angabe. „Sie müssen diplomatisch“, sagt Personalchef Ali, „im Kultur Szene KUNST Buntes für Basel eine Malerei war mal abstrakt, seit einigen Jahren ist sie anschaulich, dabei auf eine gespenstische Art bunt – und extrem begehrt. Die Bilder des in Hamburg und Berlin lebenden Künstlers und Malereiprofessors Daniel Richter, 43, zeigen Geister und Skelette, sie heißen „Brun, Baby Brun“ oder „Capitain Jack“, und sie sind keine Schnäppchen. Auf Auktionen werden längst sechsstellige Summen ausgegeben. Natürlich gehört einer wie Richter dorthin, wo der Kunstmarkt besonders heftig boomt, also jetzt gerade nach Basel: Fast zeitgleich zur Messe „Art Basel“ beginnt am 11. Juni im Basler Museum für Gegenwartskunst Richter-Gemälde „Nerdon“ (2004) eine Richter-Ausstellung. Die Stadt will den Sammlern, die aus aller Welt anreisen, schließlich wundern. Wer will, kann sich auf der Messe nach dem aktueletwas bieten, da darf dann das Museum auch einmal zum len Preisniveau erkundigen. Einen Richter zu kaufen ist allerShowroom werden. Keines der präsentierten Gemälde wird dings schwierig – die Schlange, beziehungsweise die Warteliste, älter als fünf Jahre sein, auch ganz Neues ist dann zu be- ist lang. STARTRAKS / ACTION PRESS „Politisch aufgeladen“ Der US-Künstler Matthew Barney, 39, über seinen neuen Experimentalfilm „Drawing Restraint 9“ – ein „Horror-ÖkoMusical“ („FAZ“), das am 8. Juni in die deutschen Kinos kommt SPIEGEL: Mr Barney, in Ihrem neuen Film zelebrieren Sie und Ihre Ehefrau, die isländische Popsängerin Björk, eine Art Hochzeitsritual auf einem japanischen Walfangschiff. Was will uns der Künstler damit sagen? Barney: Es ist eine Liebesgeschichte. Noch Ende der achtziger Jahre war es tabu, in der Kunst Geschichten erzählen zu wollen. Das hat sich mittlerweile geändert. SPIEGEL: Wie haben Sie die öffentlichkeitsscheuen Walfänger überredet, Sie mit einer Kamera an Bord zu lassen? Barney: Mein erster Antrag, auf dem Schiff zu drehen, wurde sofort abgelehnt. Keine Chance, hieß es. Daraufhin habe ich viel über Walfang und dessen Verbindung zum Schintoismus gelesen und ins Skript integriert. Ein Historiker des Walfang-Verbands hat mir schließlich alle Türen geöffnet. SPIEGEL: Walfang wird fast überall als überflüssige Schlachterei angesehen. Eine bewusste Provokation von Ihnen? Barney: Ich bin im US-Bundesstaat Idaho aufgewachsen; auch dort ist die Jagd, allerdings auf andere Tiere, ein Teil des täglichen Lebens. Auf Festivals in Europa und Nordamerika hat sich niemand über meinen Film aufgeregt. SPIEGEL: Haben Sie also Ihr Ziel ver- fehlt? ALAMODE FILM FILM Björk in „Drawing Restraint 9“ d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 Barney: Nein, ich bin sehr zufrieden damit. Es ging mir darum, auf dem Walfangschiff, also einem politisch extrem aufgeladenen Stück Architektur, etwas zu inszenieren, ohne es zu bewerten. SPIEGEL: Trotzdem eine Wertung bitte: Wie schmeckt Walfleisch? Barney: Wie eine Mischung aus Rind und etwas, das im Meer lebt – also etwas verwirrend. SPIEGEL: „Restraint“ bedeutet „Einschränkung“. Legen Sie sich absichtlich Hindernisse in den Weg? Barney: Ja, darum geht es immer bei meiner Kunst. Auch ein Muskel braucht Widerstand, um wachsen zu können. Ich habe früher American Football gespielt; seitdem kenne ich mich mit Muskeln ein bisschen aus. SPIEGEL: Ihre Frau Björk hatte nach dem Krach mit Lars von Trier beim Dreh zu „Dancer in the Dark“ geschworen, nie wieder als Schauspielerin zu arbeiten. Wie war die Zusammenarbeit mit Ihnen? Barney: Es gab keinen Zweikampf zwischen uns. Vielmehr geht alles einfacher, wenn man sich gut kennt. Man muss nicht so viel reden. 127 HORT FAMILY COLLECTION S Szene L I T E R AT U R Unbegreifliches Doppelleben Maeve Brennan: „Mr. und Mrs. Derdon“. Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser. Steidl Verlag, Göttingen; 192 Seiten; 16 Euro. 128 Probe zum Ibsen-Stück „Baumeister Solness“ am Münchner Residenz Theater T H E AT E R Wankender Platzhirsch D er Baumeister Solness, ein alternder Titan, ist hin- und hergerissen zwischen der Sehnsucht nach Jugendlichkeit und der Angst vor der nachdrängenden Jugend. Mit Ehefrau Aline verbindet ihn nur noch ein düsteres Geheimnis. Die junge Hilde verkörpert letzte Hoffnung und verstärkt doch vor allem die Ausweglosigkeit. Henrik Ibsens Stück „Baumeister Solness“, das gerade am Münchner Residenz Theater Premiere hatte, enthält alle Ingredienzen einer 08/15-Schnulze. Doch unter der Regie von Tina Lanik wird daraus ein dichtes Kammerspiel voller hintergründiger Anspielungen. Der wankende Platzhirsch (Lambert Hamel) ist tragisch, aber nicht lächerlich. Die Gattin (Cornelia Froboess) erstarrt reizvoll in Mädchenhaftigkeit und Unglück. Die junge Verführung (Marina Galic) kommt selbstbewusst ohne Lolita-Getue aus. Eine Inszenierung – klassisch und trotzdem aktuell. Märchenheldin Sheeta zeichnet, wird er nur alle paar Jahre mit einem neuen Werk fertig. Doch um seinen Fans die Wartezeit zu verkürzen, kommt nun das 20 Jahre alte Schloss-Märchen aus seinem Zauberladen in die deutschen Kinos. Die Abenteuerfabel um die kindliche Heldin Sheeta mag schlichter sein als die Storys manch späterer Filme des Meisters, doch seine visuelle Fabulierlust entfaltet sich in ihrer ganzen Virtuosität: Biedermeierliche Kulissen, bizarre Luftschiffe wie aus einem UNIVERSUM FILM m Jahr 1917, in dem Maeve Brennan in Dublin auf die Welt kam, wurde ihr Vater als einer der Rädelsführer des irischen Osteraufstands von 1916 zum Tod verurteilt. Doch das Blatt der Geschichte wendete sich rasch. Mitte der dreißiger Jahre ging Robert Brennan, inzwischen begnadigt, mit seiner Familie als Diplomat in die USA, von 1938 an war er erster Botschafter des Freistaates Irland in Washington. Als die Familie später in die Heimat zurückkehrte, blieb Maeve, ganz und gar amerikanisiert, als Journalistin in den USA. 1949 wurde sie in den Kreis der „New Yorker“-Autoren aufgenommen, und das exklusive Wochenblatt blieb für gut drei Jahrzehnte ihre eigentliche Heimat. Die stets untadelig schicke, scharfzüngige Autorin war als Kolumnistin zuständig für Fragen der Mode und all das, was heute „Lifestyle“ heißt – doch führte sie ein nahezu unbegreifliches literarisches Doppelleben und schrieb strenge, durch und durch irische Kurzgeschichten: Storys, die in nur zur Käfighaltung von Spießern geeigneten Reihenhäuschen im Dubliner Stadtteil Ranelagh spielen, genauer: unter der Glasglocke eines Fatalismus, der Hoffnung und Leidenschaft erstickt. Es sind, in ihrer Schönheit wie in ihrer Bitterkeit, sensationelle Erzählungen. Kollegen wie Paula Fox oder John Updike haben ihre Bewunderung ausgedrückt. Doch Brennans späte Jahre waren überschattet von psychischen Problemen; sie starb verarmt und vergessen 1993 in New York. Ihre Wiederentdeckung, nun als irische Schriftstellerin, begann mit der Publikation einer nie gedruckten frühen Novelle, „Die Besucherin“ (auf Deutsch 2003), und mit einem Sammelband, der die verstreuten Ranelagh-Erzählungen überzeugend zu einem romanhaften Mikrokosmos bündelte. Sechs dieser Kurzgeschichten, die episodisch das Leben eines Paares über etwa 40 Jahre umspannen, sind nun unter dem Titel „Mr. und Mrs. Derdon“ erschienen. Schmal und schwer und herzzerreißend. THOMAS DASHUBER I „Das Schloss im Himmel“. Weil der japanische Kinomärchen-Erzähler Hayao Miyazaki, 65 („Chihiros Reise“), Computer geringschätzt und seine phantastischen Szenerien noch immer in Handarbeit d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 Kultur AU S ST E L L U NGE N Ehre für einen Zeitlosen in ganzes Jahr vergeht wie im Flug, eine Minute zieht sich endlos hin. E Der schottische Videokünstler Douglas JAN BAUER / AP Gordon, 39, hat seine eigene Auffassung von Zeit, von der Bedeutung des einzelnen Augenblicks, von dem, was ewig währt. Vor 13 Jahren dehnte er den Filmklassiker „Psycho“ zu einer 24 Stunden dauernden Projektion aus, zu einem zeitbezogenen „Blow up“. Die Begeisterung über die Entdeckung der Langsamkeit, die Steigerung des Horrors, war groß. Auf der Biennale von Venedig hat er ein paar Jahre später einen „Text für 30 Sekunden“ auf eine Wand projiziert – das war dieses Mal Videokünstler Gordon kurz und makaber, und damit genau das Richtige fürs Biennale-Publikum, das es stets eilig hat und rasch gelangweilt ist. Hier erfuhr es auf die Schnelle, dass jemand, dessen Kopf abgeschlagen wird, noch 30 Sekunden lang ansprechbar ist. Dafür erhielt Gordon den Premio 2000 der Biennale und wurde später mit vielen Ausstellungen gewürdigt. „What have I done“ hieß eine Schau im Jahr 2002. Und auf diese Frage, was er getan habe, kann man antworten: viel. Zeit hat er jedenfalls keine vergeudet. Zu seinen neuen Werken gehört ein Film, den er gemeinsam mit dem Franzosen Philippe Parreno drehte und der jetzt in Cannes gezeigt wurde. Die beiden stellten 17 Kameras auf – und richteten sie auf das Gesicht des französischen Fußballgottes Zinedine Zidane während einer Begegnung von Real Madrid und Villarreal. Das Museum of Modern Art in New York eröffnet am 11. Juni eine Gordon gewidmete Schau namens „Timeline“. Dass diese Institution einem vergleichsweise jungen Künstler die Ehre einer Einzelausstellung zuteil werden lässt, ist eine kleine Sensation. Für ein anlässlich der Ausstellung erscheinendes Künstlerbuch hat Gordon aus Fotos eine Art Zeitreise zusammengestellt; er dokumentiert, was in den vergangenen 40 Jahren sonst noch so geschah – gleich mehrmals taucht Michael Jackson auf, der Mann, an dem die Jahre, vor allem aber die Schönheitschirurgie nicht spurlos vorübergingen. Der Begriff „Psycho“ erscheint auch hier naheliegend. So schließt sich der Kreis. Kino in Kürze Jules-Verne-Roman und graziöse Roboter kommen in einem unverwechselbaren Universum zusammen, das irgendwo über allen Wolken dahinsegelt – doch Vorsicht: Die irdischen Kategorien von Gut und Böse gelten dort nur bedingt. irrt der Film zwischen Realismus und grotesker Überzeichnung hin und her und kann den Zuschauer nur für kurze Momente berühren. d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 STARDUST „Ghetto“ setzt die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung durch die Nazis im litauischen Vilnius als bizarren Totentanz ins Bild. Basierend auf einem Bühnenstück von Joshua Sobol, erzählt Regisseur Audrius Juzenas von einer Theatertruppe, die im Ghetto Tag für Tag um ihr Leben spielt, und von den inneren Qualen eines jüdischen Ghetto-Polizisten, der sich gezwungen sieht, sogar Kinder in den Tod zu schicken. Etwas orientierungslos Szene aus „Ghetto“ 129 DEFD (R.) Kultur Stars Patel, Meera in „Nazar“ (2005), Shahrukh Khan in „Indian Love Story“ (2003): Bollywood sucht den Frieden mit Pakistan FILMINDUSTRIE Big Bang Bollywood Sie sind produktiver als Hollywood, sie erreichen mehr als drei Milliarden Menschen, sie begeistern in Slums wie in Vorstandsetagen: Indiens Filmemacher mit ihrer Hauptstadt Bombay erobern die Welt – und bevorzugen Drehorte wie das Berner Oberland und Heppenheim. Von Erich Follath 130 DERMOT TATLOW / LAIF F ilmalaya heißt das Freilichtstudio am Rande von Bombay. Um hierher oder in eine der anderen Traumfabriken zu gelangen, die sich in der unwirklichen Brachlandschaft kilometerlang wie FataMorgana-Visionen aneinanderreihen, müssen die Stars das ganze Spektrum indischer Wirklichkeiten durchleben: Luxus und Leid, Glamour und Grausamkeit. Shahrukh Khan, muskelbepackter Hauptdarsteller vieler Schurkenstücke und Heldenepen, wohnt wie die meisten MegaErfolgreichen der Filmbranche in einer Villa des Nobelviertels Bandra. Eine Gegend für Genießer, wo es boomt und blüht: Im Restaurant Vie servieren internationale Chefs Hummer in Olivensoße nebst ofenfrischem Korianderbrot, durch weiße, wehende Zeltplanen schimmert auf der Terrasse das Mondlicht; anschließend lässt sich die Nacht perfekt in der Discothek Enigma zwei Kilometer strandaufwärts mit Champagner durchfeiern – und der Superstar feiert gern, wenn er nicht gerade seinen Schönheitsschlaf ausschöpft. Unterwegs zu Dreharbeiten muss „King Khan“, wie Indiens Presse den 40-Jährigen nennt, dann allerdings die Gegend der Reichen und Schönen verlassen. Eintauchen in das andere Indien. Die Strecke nach Filmalaya führt durch die Slums von Andheri. An Ampeln recken sich dem Star im BMW-Sportwagen spindeldürre Kinder entgegen, mit hastig zusammengebundenen Blumengirlanden oder billigem Kaubetel kratzen sie an der Windschutzschei- CINETEXT (L.); LAURENT EMMANUEL / AP (R.) Tanzszene aus „Paheli“ (2005), Superstar Rai in Cannes: „Die Welt dreht sich in Richtung Indien“ be – in den fiebrigen Augen Hoffnung auf ein paar Rupien für ein Linsengericht. Zerlumpte Frauen versuchen, ihre verkrüppelten Gliedmaßen ins Blickfeld des Mannes im abgedunkelten Fond zu rücken. Wenn Khan kommt, öffnen sich die Tore automatisch, und die Wächter salutieren wie einem Vier-Sterne-General. Seine Entourage weiß immer, wo er ist, hat ihn auf dem Studiogelände per SMS längst angekündigt. Der Wagen gleitet durch Filmalaya, eine Welt künstlich bewässerter Rasenflächen mit idyllischen Blumen- beeten für die Liebesszenen und düsteren Kneipen für die Action. Freundlich gibt Khan den Komparsen Autogramme – ein indischer Gott zum Anfassen. Und der Star mit der weltweit größten Fangemeinde. Bei Dreharbeiten in Malaysia, erzählt sein Manager, sei Khan von Dorfbewohnern erkannt und verschleppt worden – ins Gemeindehaus, wo seit Jahren ein Schrein mit Räucherstäbchen und Porträts aufgebaut ist. Zwei pakistanische Jugendliche robbten sich kürzlich durch die Minenfelder von Kaschmir auf das Gebiet des Erzfeindes – sie wurden als Terroristen verhaftet und dann nach tagelangen Verhören freigelassen: Sie hatten glaubhaft gemacht, dass sie die „heiße“ Grenze nicht für den Dschihad überwinden wollten, sondern nur um einmal ihr Idol Shahrukh Khan in Bombay zu treffen. „Er bekommt jetzt auch immer mehr Briefe aus Los Angeles und London“, sagt einer der Khan-Betreuer. Indiens Traumfabrikanten erobern die Welt. Sie produzieren in Bombay, Madras und Haiderabad jährlich gut 900 Kinofilme, und damit weit mehr als das amerikanische Mekka. Ihr Zielpublikum sind vor allem die Menschen auf dem Subkontinent – die Songs aus den Kinohits sind so ziemlich das Einzige, was analphabetische nepalesische Basarhändler, muslimische Militärs in Pakistan und indisch-hinduistische Software-Millionäre verbindet. Aber die grellbunten Bollywood-Produktionen faszinieren bei weitem nicht nur Menschen in Südasien, sondern auch in Nahost und in Afrika. Sie feiern kommerzielle Erfolge in den USA und Großbritannien, Filme aus der ehemaligen Kronkolonie haben es in London mehrfach in die Top Ten geschafft. 3,6 Milliarden Menschen rund um den Globus sehen die Hindi-Märchen von Liebe und Laster, US-Produktionen müssten sich mit einer Milliarde weniger begnügen, errechnete kürzlich das Magazin „National Geographic“. Und auch Filmplakate in Bombay „Bunte Palette aller Emotionen“ d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 die große Politik verneigt sich vor den Filmemachern: George W. Bush hob bei seinem Staatsbesuch in Neu-Delhi im März ausdrücklich die „beeindruckenden Erfolge von Bollywood“ hervor. Indien werde seine Kino-Vormachtstellung ausbauen, sagte der indische Finanzminister Palaniappan Chidambaram in Berlin bei einem Vortrag im Juni 2005 – und wagte eine kühne Behauptung: „Amerikanische Jugendliche werden in 20 Jahren glauben, dass sich der Name Hollywood von Bollywood ableitet.“ Der Produzent Amit Khanna schrieb: „Die Welt dreht sich jetzt in Richtung Indien, und die ultimative Rache ist, dass wir mit unserer kulturellen Aggression den westlichen Geist erobern.“ Auch Deutschland hat sich nun an der kitschigen Kunst aus dem Reich der Gurus und Gandhis infiziert, Bollywood macht weit über Programmkinos hinaus Furore. RTL II nahm eine Reihe indischer Filme in sein Programm – der Privatsender erzielt damit einen Überraschungserfolg mit TVMarktanteilen, die weit über seinem sonstigen Publikumszuspruch liegen. „Masala-Movies“ nennen Kenner die Bollywood-Produkte nach einer Gewürzmischung und behaupten, es sei diese Melange aus verlässlichen Bestandteilen, die die Zuschauer fasziniere: die Liebe, die alle gesellschaftlichen Barrieren überwindet; der soziale Aufstieg aus niedrigsten Verhältnissen; der Sieg des Guten im Kampf gegen Korruption. Das „Saubere“, das „Bürgerliche“ mache das Geheimnis des indischen Films aus, sagen die einen. Ganz im Gegenteil, sagen die anderen, es sei das „Subversive“. Faszinierend sei besonders der suggestive Sex. Gerade weil Indiens Regisseure so wenig zeigen dürften – Nacktszenen, aber auch oben ohne und sogar Zungenküsse sind tabu –, seien sie zu besonders phantasievollen Liebesszenen gezwungen. Politisch sei Bollywood keinesfalls immer nur reaktionär, gelegentlich sogar Avantgarde: Gerade in diesen Tagen zeigten mehrere Filme, wie sich Frauen aus ihrer von Kaste und Konven131 tion vorgeschriebenen Rolle befreien. Und in Sachen Friedensschluss mit Pakistan sei Bollywood ohnehin Vorreiter. Welche Rolle spielt Indiens Kino wirklich? Wie prägt und verändert es das Reich der über einer Milliarde Menschen, das sich anschickt, zur nächsten politischen und wirtschaftlichen Großmacht der Welt zu werden? Worin liegt über die Exotik der prallen Bilderflut hinaus der universelle Appeal dieses Big Bang Bollywood? Szene eins. Zu Gast beim gefürchteten Kritiker-Guru in seinem Redaktionsbüro der Bombay-Zeitung „Mid Day“. Khalid Mohammed scheucht einen jungen Kollegen weg wie eine lästige Fliege, bestellt bei seinen Sekretärinnen Tee, seufzt über die Qualität des Getränks, die ihm irgendwie symptomatisch erscheint: „Es ist mein Schicksal, dass ich mich mit unterdurchschnittlichem Kram herumschlagen muss, mit unbegabten Regisseuren, mit mediokren Schauspielern, für die man nie und nimmer Zelluloid verschwenden dürfte.“ Khalid weiß alles über den indischen Film. Dessen Ursprünge reichen weit zurück, erzählt er – bis zum Jahr 1896, als die Brüder Lumière nur ein paar Monate nach der ersten Präsentation des Kinematografen in Paris das Wunder der bewegten Bilder auch in Bombay zeigten. Ein Bombayer namens Bhatvadekar drehte bereits 1899 kurze Unterhaltungsfilme über Zirkusaffen und Ringkämpfe. Indische Filmemacher umgingen geschickt die Zensur, um in den dreißiger Jahren mit patriotischen Untertönen Politik zu machen. Später experimentierten sie auch mit anspruchsvollem Kino; Satyajit Ray holte in den Fünfzigern mit seinem New-Cinema-Film „Auf der Straße“ in Cannes einen Preis und gewann später auch einen Goldenen Bären in Berlin. Bis heute versuchen indische Regisseure, Kunstkino mit Unterhaltungselementen zu kombinieren: „Salaam Bombay!“, ein trauriger Film über die Kids der Unterwelt, wurde ebenso wie das lustige „Monsoon Wedding“ ein internationaler Kritikererfolg; „Lagaan“ („Landpacht“), ein Monumentalwerk über die britische Kolonialzeit, schaffte 2002 sogar eine Oscar-Nominierung. Und Indien wird jetzt zum Vorreiter visueller Effekte. Während Los Angeles schläft, sorgen Bombayer Künstler dafür, dass Spiderman übermenschliche Kräfte entwickelt, machen für „Narnia“ Pferde zu Zentauren und animieren die Comic-Katze Garfield. Doch das Mainstream-Bollywood von heute ist Massentraum und Musical, Ausstattungsorgie mit aufwendig choreografierten Gesangs- und Tanznummern und schönen Menschen, die unter Schmerzen zueinanderfinden, „die bunte Palette aller Emotionen, ohne jede Angst vor Kitsch“, wie Kenner Khalid sagt. Der indische Un132 WILLIAM ALBERT ALLARD / NATIONAL GEOGRAPHIC Kultur Zeltkino im Dorf Sangola in Maharashtra: „Zeitlose indische Werte“ terhaltungsfilm ist eine Synthese aus der Erzählkraft der Hindu-Epen „Ramayana“ und „Mahabharata“ mit ihren schrecklich netten, allzu menschlichen Götterfamilien und mit Klassikern von der anderen Seite der Welt wie „Romeo und Julia“. Die gelungensten Bollywood-Werke schaffen eine Atmosphäre, in der die gravierenden Alltagsunterschiede wie Kastenwesen, Religion, Sprachbarriere vergessen werden. Solche Filme stammen aus einer „vor-zynischen Welt“, wie der indische Autor Suketu Mehta einmal geschrieben hat: Sie erzählen von der vollkommenen (oder wiedergefundenen) Familie, von der reinen Liebe, vom Mutterglück, vom Nationalstolz. Kaum irgendwo im realen Indien sind diese angeblich „zeitlosen indischen Werte“ intakt – aber sowohl das heimische Publikum in einer von Umbrüchen geprägten Sexszenen sind tabu – also lassen die Regisseure es auf enge Saris regnen. Gesellschaft als auch die indische Diaspora suchen und finden dieses Idealbild offensichtlich in den Bollywood-Märchen: Sie bündeln die Sehnsüchte der Menschen, ihre Träume von Glück und sozialem Aufstieg. Superstar Shahrukh Khan, als Muslim geboren, hat eine Hindu geheiratet und nennt sich einen praktizierenden Buddhisten. Von den Schauspielerinnen ist eher die Oberweite als die Konfession bekannt – und das in einem Land, das täglich durch soziale und religiöse Konflikte gefährdet ist. Als eine Filmcrew kürzlich in der Unruheprovinz Bihar drehte, erkundigte sich der Regisseur nach den letzten Ausschreitungen, von denen er gehört hatte. „Oh, die sind vorbei“, sagte sein Gesprächspartner. „Aber wenn Sie wollen, können wir jederzeit neue Krawalle veranstalten.“ Die Kinohelden sind Kult, nur noch Kricketgrößen erreichen eine annähernd vergleichbare Popularität. Heerscharen d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 von Klatschjournalisten bei Blättern wie „Cineblitz“ und „Filmfare“ verfolgen jeden sexuellen Fehltritt der Stars und Sternchen, beschreiben ihre neuesten Marotten: Esha hat ihre Konkurrentin geohrfeigt! Kareena hat zugenommen – schwanger? Sanjay hat einen neuen Ferrari, aber kein Glück in der Liebe! Jeder kann es nach oben schaffen, suggerieren die bunten Blätter und Filmplakate, die an den Wänden der neuen Hochhäuser ebenso kleben wie in den Slums der indischen Vorzeigestadt, wo nach den neuesten Statistiken über sechs Millionen Menschen leben – fast die Hälfte aller Bombayer. Der Kinobesuch ist billig, manche Sitze kosten nicht mehr als umgerechnet 15 Cent. Eine Einladung zum Film ist zudem – bei allen Schichten – der übliche Annäherungsversuch junger Männer ans andere Geschlecht; für viele Mädchen, von den Eltern streng überwacht, liefert Bollywood auch eine Art Anfängerkurs im Flirten. Gemeinsam genießen junge Leute für drei Stunden ein Leben, aus dem die langweiligen Alltagsszenen herausgeschnitten sind. Der scharfzüngige Kritiker Khalid, eine Art Curry-Karasek, hat sich selbst als Regisseur versucht und vier Filme gedreht. Beispielhafte Streifen, wie er auch im Rückblick noch meint, „in die ich mein ganzes Wissen um die richtige Formel gepackt habe“. Kollegen haben seine Werke verrissen, Regisseure spuckten Gift und Galle. Die Höchststrafe aber sprach das Publikum aus: Indiens Kinogänger ignorierten die Filme des Filmexperten. Szene zwei. Dreharbeiten für den Film „Money, Money“ im Freilichtstudio Filmistan. Regisseur Sangeeth Sivan erklärt geduldig: Es geht um den Einbruch in eine Villa, bei dem die Verbrecher gestört werden. Der Kameramann sitzt auf einem Kran in der Höhe der Palmenwipfel. Beleuchter hantieren unten am Boden mit Dutzenden Kabeln. Schauspieler am Set: 4. Komparsen: 40. Ge- CINETEXT wickelt? Der Regisseur schüttelt den Kopf. Allerdings ist für ihn unverkennbar, dass Bollywood gern Vorreiter einer politischen Friedensentwicklung wäre: der Versöhnung mit dem Erzfeind Pakistan. „Wir haben jetzt schon mehrere Filme, die das zum Thema machten – und sogar schon Schauspieler von drüben.“ Bollywood-Produktion „Paheli“*: Träume von Glück und sozialem Aufstieg tränkeboys, Stühlerücker, Gaffer: 140. „Action!“, ruft Sivan, und plötzlich wird aus dem Chaos höhere Ordnung. In einer Pause erläutert der quirlige Regisseur mit dem schulterlangen HippieHaar: Er drehe eine „romantisch-mythologische Sexkomödie mit Thriller-Elementen“, einen „Multi-Genre-Film, wie es die meisten Bollywood-Werke sind“. Es geht um eine Schmuckkiste, die gestohlen wird und deren Verbleib nur ein kleiner Hund klären kann; bei der Jagd auf den Schatz gibt es allerlei Verwicklungen mit Leidenschaft, Intrigen und Happy End. Drei Szenen hat Sivan am Vormittag abgedreht, nie mehr als zwei Klappen waren dafür nötig. Er weiß, den Erfolg seines Films wird nicht die Handlung ausmachen, primär geht es um die Stars. Am liebsten hätte er Indiens Diva Nummer eins verpflichtet, Aishwarya Rai, 32, die ehemalige Miss World. Aber die Schöne verlangt Phantasiegagen, seit sie in HollywoodFilmen und als Cannes-Jurorin auch international beachtete Auftritte hat. An attraktiven Frauen herrscht in Bollywood allerdings kein Mangel: Mit der Ex-MissWorld konkurrieren eine ehemalige Miss Universe und diverse Top-Models. Der „Money“-Filmemacher konnte Riya Sen an Land ziehen, die sich mit ihrem sexy Hüftschwung und seidigem schwarzem Haar unter den Bollywood-Aficionados in letzter Zeit einen Namen gemacht hat. Sie arbeitet an einem halben Dutzend Filmen gleichzeitig, was in der Branche durchaus üblich ist (den Rekord hält Shashi Kapoor mit 140 Filmverträgen in einem Jahr). Sie wird drei der acht bis zehn Filmlieder tanzen, die das Gerüst jedes Bollywood-Films bilden. Kein Filmemacher muss sich Sorgen machen, wie er diese Tanzszenen inhaltlich begründet. So engstirnige Richtlinien wie Logik gelten nicht in Bollywood – der Regisseur kann Kostüme und Orte wechseln, * Mit Shahrukh Khan (M.). Traumsequenzen zur Handlung dazudichten, das stört keinen. Hauptsache, Song und Tanz zünden. Anders die Zensur, die muss ernst genommen werden. Miniröcke, knappe Tops sind erlaubt, Sexszenen tabu. Die Einschränkungen machen erfinderisch, Bollywood-Regisseure spielen gern Wettergott: Um möglichst viel Figur zu zeigen, regnet es in fast jeder Tanzszene heftig und unvermittelt, die nassen Saris der Schauspielerinnen kleben verführerisch. Die Fans reagieren unterschiedlich. In den schicken Multiplex-Kinos von Bombay und in anderen Metropolen pfeifen sie schon mal oder rufen anzügliche Worte; beim dörflichen Freiluftkino mit der Leinwand auf zwei Bambusstangen unterm Sternenhimmel werfen die Zuschauer Blumen oder opfern ihren Stars andächtig Räucherstäbchen, lachen und weinen mit ihren Vorbildern. Höchstens drei von zehn Filmen schaffen es im Durchschnitt, ihre Produktionskosten einzuspielen, einer wird ein Hit. Dazu muss auch der zentrale Filmschlager in die Charts kommen. Die Songs werden übrigens durchgängig von Profis gesungen, die Schauspieler bewegen nur ihre Lippen. Hindi-Filmmusik hat einen riesigen Anteil an Bollywoods universaler Zugkraft; sie mixt in ihren besten Stücken HipHop und afrikanische Trommeln, Dudelsack und Sitar zu einer eingängigen Weltmusik. Lange Zeit galt es als offenes Geheimnis, dass Bollywood hauptsächlich von Unterweltkreisen finanziert wurde, die so ihr schwarzes Geld wuschen. Produzenten machten sich abhängig von den Syndikaten, Gangster terrorisierten widerspenstige Regisseure und erpressten Schauspieler. Vor fünf Jahren erkannte Indiens Regierung dann die Filmbranche als förderungswürdige Industrie an und ermöglichte so günstige Bankkredite. Seitdem ist die Abhängigkeit vom organisierten Verbrechen stark zurückgegangen. Sieht Sivan einen neuen Trend, wird die Masala-Formel variiert oder weiterentd e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 Szene drei. Die pakistanische Mimin mit dem Künstlernamen Meera empfängt in dem Appartement, das ihr Produzenten für die Dreharbeiten in Bombay zur Verfügung stellen. Vier große Zimmer. Nur das Notwendigste: Bett, Stereoanlage, ein riesiger Schminktisch mit etwa 200 Tuben, Dosen, Sprays. Anwesend: zwei Make-up-Artisten; der Manager, der jedes Wort mitstenografiert. Manchmal ist Meera, 29, gar nicht so sicher, ob sie wirklich der pakistanische Vorzeigestar im indischen Bollywood sein will, ob sie die Bestbesetzung ist für eine Friedensrolle. Das bringt zwar Kinoruhm, katapultiert die Karriere – aber es kann auch das Leben kosten. Sie wirkt nervös, fährt sich mit den Händen ständig in die langen, pechschwarzen Haare, lässt die Augen zwischen Fenster und Tür wandern, als erwarte sie in dieser Nacht noch ungebetenen Besuch. „Meine Eltern sind Geschäftsleute aus Lahore, religiöse, aber weltoffene Muslime wie die meisten in dieser Stadt der Architekten und Künstler“, erzählt sie. „Es ist auch das traditionelle Zentrum des pakistanischen Films – Lahore wird Lollywood genannt.“ Das hochbegabte Mädchen dreht schon mit 15 Jahren und wird einer der größten pakistanischen Stars. Doch Lollywood erlebt im Vergleich zur indischen Konkurrenz im vergangenen Jahrzehnt einen dramatischen Niedergang durch den alle Lebensbereiche durchdringenden Islamismus und die immer schärfere Zensur. In der großen Politik aber beginnt zwischen Islamabad und Neu-Delhi jetzt das Tauwetter. 2004 erhält Meera ein Angebot aus Bollywood, darf ausreisen und spielt die Heldin in „Nazar“ („Der Anblick“). In einer leidenschaftlichen Liebesszene umarmt sie ihren Partner, dargestellt von Ashmit Patel, einem Inder mit HinduGlauben. Bilder vom Set finden ihren Weg in die pakistanische Presse. Es folgt ein Sturm der Entrüstung – die „Film-Hure“ habe den Islam geschändet, ihre Nation verraten, das Schamgefühl verletzt. „Ich bekam anonyme Todesdrohungen“, sagt Meera. „Ich war plötzlich so vogelfrei wie Salman Rushdie.“ „Nazar“ wird in Indien zum Erfolg, in Pakistan darf der Film – wie alle indischen Streifen seit 1965 – offiziell nicht gezeigt werden. Aber er ist wie die meisten BollywoodHits auf dem Schwarzmarkt leicht erhältlich. Meera schwört in Interviews selbstkritisch dem „leichtlebigen“ Bollywood mit seiner „anderen Kultur“ ab. Als auch das 133 nichts nützt, fordert sie Polizeischutz. Schließlich nimmt sich Präsident Pervez Musharraf persönlich des Falles an, lädt sie zum Tee ein. Von Regierungsseite ist sie nun rehabilitiert. Aber Meera weiß: Die militanten Islamisten hassen den USfreundlichen „Busharraf“ mindestens so wie sie, und sie werden nie Ruhe geben. Die Schauspielerin versucht jetzt ein Leben in zwei Welten: Sie pendelt zwischen Pakistan und Indien. In Bombay kann sie zwischen zahlreichen Angeboten auswählen und trifft überall auf Goodwill. Das dürfte viel mit den beiden mächtigsten Männern im indischen Film zu tun haben, den Bollywood-Paten Amitabh Bachchan und Yash Chopra. Sie bereiten gerade den Frieden mit Pakistan vor – und könnten dabei mindestens so erfolgreich sein wie die Top-Politiker. Altstar Bachchan, 63, hat sich zwischenzeitlich erfolglos als Politiker versucht und in seiner Schauspielerkarriere durchaus auch aufwiegelnde, antipakistanische Filme gedreht. Doch heute ist er vor allem an seinem Vermächtnis, seiner positiven Rolle in der Geschichte interessiert. Er gibt sich als überzeugter Versöhner und hat gerade vorgeschlagen, als Friedensgeste doch die „Oscar“-ähnliche Veranstaltung mit der Pakistans militante Islamisten hassen „Busharraf“ – und die „Film-Hure“ Meera. Übergabe der Bollywood-Preise künftig jedes Jahr in Pakistan abzuhalten. Ähnlich wie die Juden in der Gründerzeit Hollywoods sind auch viele der frühen Bollywood-Filmschaffenden Flüchtlinge. Starproduzent Chopra, 73, ist einer von ihnen. Der Hindu ist in Lahore aufgewachsen, musste als Schuljunge miterleben, wie bei der Teilung des Subkontinents Zigtausende niedergemetzelt wurden. „Ich habe die Schreie der Sterbenden nie vergessen“, sagt Chopra. Er will die Wunden heilen helfen – mit Friedensaufrufen, mit Spenden und auch mit Bollywood-Filmen, die Verständnis für die „andere Seite“ wecken. Sein „Veer und Zaara“ ist die erste indisch-pakistanische Liebesgeschichte; der Film handelt von einem Piloten, der sich in ein schon verlobtes Mädchen jenseits der Grenze verliebt. Weitere Annäherung: Bollywood-Kollege Akbar Khan darf am 26. April 2006 erstmals nach über 40 Jahren wieder offiziell einen indischen Film im pakistanischen Lahore präsentieren: „Taj Mahal“. Auch Neu-Delhis Kulturminister ist anwesend. Jetzt schlägt die Stunde der BollywoodGastarbeiterin. Meera fährt demnächst nach Mauritius. Aber sie träumt von verschneiten Winterlandschaften mit verwunschenen Schlössern und märchenhaften Marktplätzen. Ein Produzent hat ihr verlockende Prospekte aus Europa gezeigt, 134 d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 Bilder von Fachwerkhäusern und Ritterburgen: Heppenheim. „Ist es wirklich so romantisch in Deutschland?“, fragt Meera mit einem Augenaufschlag, der selbst die kriegslüsternsten Generäle auf andere Gedanken bringen müsste. Szene vier. Im hessischen Heppenheim an der Bergstraße. Ein Marktplatz mit viel Fachwerk, die Apotheke, in der Justus Liebig lernte und angeblich das Chloroform erfand, das Wohnhaus, in dem die Oma von Grace Kelly aufwuchs. Ein Ort mit Tradition: Heimat der FastnachtGesellschaft Bottschlorum und des Gesangsvereins Frohsinn 1912 e.V. ROBERT FLEISCHANDERL / AGENTUR ANZENBERGER Kultur Bollywood-Dreharbeiten in den Tiroler Alpen Sehnsucht nach europäischer Romantik Landrat Matthias Wilkes, 46, ist ein rühriger Zeitgenosse, der seiner CDU immer wieder sagt, dass die Globalisierung nicht nur Probleme macht, sondern auch Chancen bietet. Er hat gelesen, dass sich Bollywood-Produzenten für ihre „exotischsten“ Szenen gern europäische Drehorte aussuchen. Das pittoreske Bergdorf Engelberg im Berner Oberland erwarb sich in Fachkreisen dabei schon einen legendären Ruf: Oben auf dem eiskalten TitlisGletscher drehte so manche BollywoodCrew Sari-Soaps mit heißen Tänzen, unten im Tal bot das Milka-Land mit seinen Kuhglocken bizarre Kulisse. Findige Schweizer Tourveranstalter erfanden ein „Rundum-sorglos-Paket“ für die Filmleute – mit sprachlicher Betreuung, Bussen, Hotelpauschalen und sogar einem Curry-Koch. Aber nicht nur die Filmwelt wurde von der Kaschmir-Ersatzlandschaft angelockt, sondern auch die betuchte indische Mittelschicht: Sie wollte die Originalschauplätze der Bollywood-Balz sehen und fotografieren – die Übernachtungszahlen der Gäste vom Ganges im Berner Oberland explodierten Anfang dieses Jahrzehnts förmlich. Ein sattes Geschäft zur Zufriedenheit aller. Als dann auch noch ein Schweizer Bergsee nach dem indischen Starproduzenten „Lake Chopra“ getauft wurde, flossen Tränen der Rührung. Engelberg aber hat heute einen gewichtigen Nachteil: Es ist dem Inder schon zu vertraut. Bollywood muss öfter mal etwas Neues bieten. Konkurrenten der Schweizer treten auf den Plan. Das Stubaital im schönen Tirol lockt die Filmemacher mit günstigen Allinclusive-Angeboten, auch das polnische Zakopane in den Karpaten strengt sich mächtig an. Warum da nicht die hessische Bergstraße ins Spiel bringen, mit ihren romantischen Ritterburgen, den sattgrünen Weinbergen und den märchenhaften Fachwerkhäusern? Politiker Wilkes lud in Zusammenarbeit mit der Hessischen Filmförderung elf Produzenten aus Bombay ins Bembel-Land. Er brachte sie mit der Spargelkönigin von Lampertheim zusammen und mit der Gurkenkönigin von Biblis, zeigte ihnen Klöster wie Kneipen, bewirtete großzügig mit Handkäs und anderen unwiderstehlichen Hessen-Spezialitäten. Zumindest einer biss an. Vinod Kumar Singh entschloss sich, einige Szenen seines Films „Humraah“ („Der Verräter“) in Heppenheim zu drehen. Der Regisseur kam mit seiner Crew im November. Das Landratsamt wurde für Stunden geschlossen und zu einem indischen Gerichtsgebäude umfunktioniert. Die Feuerwehr beleuchtete den historischen Marktplatz; Hauptdarstellerin Valeria Mei schmachtete vor dem Fachwerkhotel „Goldener Engel“ von ihrer unglücklichen Liebe. Aber zur Verblüffung der Einheimischen wollte der Regisseur die meisten Szenen in der eher unromantischen Fußgängerzone drehen, in der Nähe des Tchibo-Ladens, mit vielen Rentnern, die durchs Bild schlendern sollten. Und das auch noch im Nebel und bei Sprühregen. „Ich brauche Deutschland für den traurigen Teil meines Films“, erklärte der Regisseur der „Süddeutschen Zeitung“. „Der Verräter“ ist in Bombay noch nicht angelaufen. Angeblich sind noch nicht alle lustigen indischen Szenen abgedreht, ein zweiter Bergstraßen-Termin fürs Filmteam ist geplant. Landrat Wilkes spricht von „Standort-Marketing“ und träumt davon, die Europazentrale des indischen Films an die Bergstraße zu holen. Fürs Frühjahr in Heppenheim angekündigt haben sich bis jetzt allerdings nur die Studenten der Filmhochschule in Offenbach, die hier für einen Wettbewerb drehen wollen. Einige der jungen Deutschen haben den Bollywood-Machern im November zugesehen, ein Stuttgarter Kameramann assistierte sogar. Beim nächsten Outsourcing der Inder in Deutschland wären alle gern dabei. Noch lieber hätten die meisten einen Job in Bombay, über 900 Filme im Jahr – was für eine Chance, sich zu beweisen. „Aber da braucht man sicher eine indische Green Card oder so etwas“, sagt einer. ™ d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 135 Kultur dieser: „Ich schaute hin und sah einen Schmetterling, der gerade die Flügel zuL I T E R AT U R sammenfaltete; zugleich senkte Judith die Wimpern.“ Was neben allem anderen durchaus auch eines der schönsten Semikolons der deutschsprachigen Literatur enthielt. Dann gab es Zeiten, in denen Handke Skandal mit Ansage: Die Vergabe des Heine-Preises an Peter weniger gelesen als verehrt wurde. Zeiten, Handke und die Wiederaberkennung ist eines der in denen sein Verleger ein Manuskript wie eine Monstranz vorsichtig durchs Wohnbizarrsten Spektakel der letzten Jahre. Von Matthias Matussek zimmer trug und einer zufällig anwesenden Schriftstellerin zuan kann den Glücksfall, den Heinhauchte: „Es ist das Neue. Von rich Heine für die deutsche LiteHandke.“ ratur bedeutet, nicht oft genug feiSchließlich dann Zeiten, in deern. Und was ist besser, als es dadurch zu nen Handke nicht mehr verehrt tun, dass man einen Preis nach ihm bewurde, aber immerhin wieder nennt. Womöglich macht dieser Einzelgelesen, allerdings nur noch gänger dann doch Schule. kopfschüttelnd. Das waren die Heine war Dichter und Journalist, einer, Tage seiner Reportagen aus dem der genau hinschaute und recherchierte ehemaligen Jugoslawien in den und trotzdem sang. Heine, der Jude, der neunziger Jahren, in denen der Außenseiter, der an den Mächtigen vorbei Dichter in seiner Eigenschaft als zum Publikum sprach, frivol und witzig „großer Eigenwilliger“ mit eiund hinreißend einzelgängerisch. genwilligen Texten zu den KonDer Heine-Preis funkelte. Jetzt ist er tot. flikten auf dem Balkan Stellung Die Prozedur gelang ziemlich schnell, mit nahm. dem klassischen Dreischritt: Zündung, in Er schrieb von den ernsten Deckung gehen, rums! serbischen Menschen und den Unter Anführung der Kritikerin Sigrid „andersgelben“ Nudelnestern, Löffler hatte die Jury den Heine-Preis der von den Landschaften, von harStadt Düsseldorf an den Dichter Peter ter Arbeit und schließlich dem Handke vergeben, den einigermaßen leerVernichtungskrieg gegen diese geschriebenen Klotzfuß deutschsprachiger Menschen durch den Rest der Rätselhaftigkeit und Inbegriff monumenWelt. Tatsächlich aber trieben talster Humorlosigkeit, der sich letzthin als in jenen Tagen, Monaten und Trauergast am Grabe des Massenmörders Jahren serbische Soldaten und MiloΔeviƒ ins öffentliche Bewusstsein geMilizen Tausende zusammen schoben hat. und ermordeten sie, erschosHandke, der Anti-Heine, der Klimasturz. sen Oppositionelle, liquidierten Nach einer ersten verträumten SchockNonkonformisten in den eigenen pause hatte es die zu erwartenden Proteste Reihen (siehe Kasten Seite 142). gehagelt. Juror Christoph Stölzl, als PoliWer als Reporter im Kosovotiker mit Ambitionen zu blitzschnellen Krieg im Tal des Todes stand, opportunistischen Absetzungs- und Umnördlich von Skopje, und die von gehungsmanövern bestens in der Lage, serbischen Milizen Zusammendistanzierte sich öffentlichkeitswirksam. getriebenen dort im Schlamm Auch Historiker Julius H. Schoeps machte sein Votum gegen Handke publik. Autor Handke*: Eigenwillige Texte zum Balkan-Krieg sah und die Güterwaggons in der Mitte, diese absolute Endstation Handke, der Publikumsbeschimpfer. Politische Irrtümer sind in der deutschen des Menschseins, der konnte und kann im Nun wurde er vom Publikum beschimpft, und nicht immer war es Fachpublikum, Literatur durchaus keine Seltenheit. Von sogenannten „poetischen Nonkonformisdenn wenn Politiker sich einen Reim auf der Nazi-Begeisterung Benns bis zu Brechts tenton“ Handkes nur blasiertes Gewäsch Dichter und deren Verantwortung machen, Stalin-Verehrung gab es durchaus enorme- erkennen. Dieser Ton erfordert keinen Mut, sondern eine ganz erhebliche Portion dann wird es immer schlimm. Fritz Kuhn re Vorbilder. Deshalb auch eilte Botho Strauß seinem an Kaltschnäuzigkeit und zynischer Provorief „schäbig“. Fritz Kuhn! In das anschwellende Geprassel hinein Dichterkollegen zu Hilfe. Gegen das wüste kationslust. Das alles war bekannt. Es war besondementierte Handke, irgendwie erschüt- Gemaule mobilisierte er noch einmal die ternd, er habe die Massaker in den Balkan- Erinnerung – daran nämlich, dass Handke ders bekannt durch den erst ein paar WoKriegen zwischen 1991 und 1995 nie ge- durchaus als einer der großen Wortzaube- chen zurückliegenden Auftritt des Dichters am Grabe von MiloΔeviƒ und die prompt leugnet und habe Slobodan MiloΔeviƒ nie rer deutscher Sprache gelten kann. Ganz sicher, es gab Zeiten, in denen erfolgte Absetzung eines Handke-Stücks als ein Opfer bezeichnet. Die Korrektur war insofern ergreifend, da der Preispott man Handke las. Goldene Zeiten, diese in Paris. Klar war: Die öffentliche Person mit 50 000 Euro nicht schlecht dotiert ist siebziger und achtziger Jahre. Da erschie- Handke ist kein Dichter, sondern ein poliund Handke bereits die Hand ausgestreckt nen Bücher wie „Der kurze Brief zum lan- tischer Fall. Natürlich ist es eine Versuchung für jede hatte, obwohl er zuvor versichert hatte, nie gen Abschied“, in denen Sätze standen wie Kulturbetriebsnudel, so einen zu nomiwieder einen Preis anzunehmen. Wie war nun diese Geste wieder zu deuten? Reuig? * Bei der Trauerfeier für Slobodan MiloΔeviƒ in Po¢arevac nieren. Der Skandal ist garantiert, und jede Menge Geschnatter und Bohei gleich Oder doch nur finanziell bedürftig? am 18. März. Der Preis ist heiß PETAR PAVLOVIC / AP M 140 d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 Kultur Die Freunde von MiloΔeviƒ Die serbische Dramatikerin Biljana Srbljanoviƒ über die Handke-Affäre 142 Erde in Sicherheit war, während wir Übrigen, jeder für sich allein, Schutz im eigenen Schlaf- oder Badezimmer oder sonst wo suchten. Hätte Handke an dem Tag auch bei uns vorbeigeschaut, wäre er der Familie und den Freunden eines anderen „zensierten“ politisch Andersdenkenden begegnet, der am helllichten Tag und vor Zeugen, während er im Wald nahe seinem Haus joggte, gekidnappt, später getötet und aufrecht begraben wurde. Ja, aufrecht, mit Kalk übergossen, der ihn auffraß, so dass man einige Jahre später nur noch einen Oberschenkelknochen und einen Turnschuh von ihm fand. Es war ein Nike-Turnschuh, und der Antiglobalisierungsekel gegen dieses kapitalistische Symbol mag Handke und seine Freunde davon abgehalten haben, auch dieser Beisetzung beizuwohnen, vielleicht eine Rose auf den Sarg mit dem übrig gebliebenen Schenkelknochen zu legen und sich da, über diesem Sarg, die Frage nach MiloΔeviƒ, nach dem Sinn des Lebens oder in diesem Fall des Todes zu stellen. Ich könnte mit meiner Aufzählung lange fortfahren, aber ich begreife, dass dies keinen Sinn hat oder nicht wichtig ist. Denn das einzig Wichtige in dieser ganzen Geschichte ist, dass die Öffentlichkeit endlich aufhört, den Begriff „proserbisch“ zu gebrauchen, wenn diejenigen gemeint sind, die MiloΔeviƒ, Kriegsverbrecher, Gefangene des Haager Tribunals, Mörder und Vergewaltiger in Schutz nehmen. Ich möchte daran erinnern, dass MiloΔeviƒ, bevor er starb, mit Willen des serbischen Volkes entmachtet wurde, wenn man schon von Volk und Na- d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 ZELJKO SAFAR / AP W enn das, was Handke jetzt geschieht, Zensur ist, dann blieb ihm zumindest die nach MiloΔeviƒs Art erspart. Jedes Mal nämlich, wenn sein nun toter Freund jemandem den Mund verbieten wollte, tat er das effizient und mit viel weniger Aufsehen – ein Genickschuss, meistens an der Haustür oder am Rand einer zuvor im Wald ausgehobenen Grube, in die der Zensierte nach der Zensur hineinfiel, damit er verschwand. Und noch etwas. An dem Tag, den Handke mit Trauer und mit Ratlosigkeit im Herzen bei der Beisetzung in Po¢arevac verbrachte, war ich zusammen mit einigen tausend Gleichgesinnten auf dem Hauptplatz Belgrads, wo wir mit einem symbolischen Spaziergang zeigen wollten, dass Serbien nicht trauerte. Wir hatten uns selbst organisiert, jeder hatte wie einst per SMS, E-Mail oder Telefon jemanden benachrichtigt, und so kamen wir zusammen, voller Bedauern, dass Handke nicht bei uns war. Wäre er gekommen, hätte er zum Beispiel die Witwe eines „zensierten“ Journalisten, eines Gegners von MiloΔeviƒ getroffen, der ermordet wurde, als er mit seiner Frau von einem Spaziergang nach Hause kam. Ein Genickschuss, und er fiel zu Boden, ohne die Hand seiner Frau loszulassen, die in den langen Minuten, die dann folgten, nicht begriff, dass sie die Hand einer Leiche drückte. Handke hätte diese Frau treffen und sie fragen können, wie es ist, wenn einem so etwas passiert, und zwar gerade zu Zeiten der Nato-Bombardierung, als die Monate vergingen und wir voller Angst in unseren Himmel starrten und jeder nur daran dachte, seinen Kopf zu retten, wohl wissend, dass der „große Präsident“ zur gleichen Zeit in seinem Bunker 20 Meter unter der tionalität sprechen muss. Er wurde später von der legal gewählten serbischen Regierung an das Haager Tribunal ausgeliefert und war nur einer in einer ganzen Reihe von Angeklagten, die von den Serben festgenommen und dem Internationalen Kriegsverbrechertribunal übergeben wurden. Für MiloΔeviƒ zu sein bedeutete nie und heute erst recht nicht, für Serbien zu sein. Für MiloΔeviƒ zu sein bedeutete nicht nur, seine Verbrechen außerhalb Serbiens zu ignorieren. Diese Verbrechen gehen ins Unermessliche, sie sind grauenvoll, nicht zu leugnen, aber sie sind nicht die einzigen, denn zu MiloΔeviƒs Opfern zählen auch die Serben selbst. Auch sein Volk hat schwer gelitten unter der Herrschaft einer Ideologie, eines irren und grausamen Regimes. Ich habe nie etwas von nationalen Unterschieden gehalten, Patrioten mit der Waffe in der Hand waren für mich stets der größte Gräuel, ich werde mich ewig für die in meinem Namen verübten Verbrechen schämen, werde bis zu meinem Lebensende schwer tragen an den Gedanken an Vukovar, Sarajevo, Srebrenica, aber ich bin eine Serbin. Und wenn jemand ein Freund MiloΔeviƒs ist, ist er noch lange kein Freund Serbiens. Ich verlange nur, dass man mir, dass man uns allen das Recht auf unseren Namen wiedergibt. ART ZAMUR / GAMMA / STUDIO X Srbljanoviƒ, 35, wurde mit ihrer „Belgrader Trilogie“ 1998 über Serbien hinaus bekannt. In ihrem Stück „Der Sturz“ nahm sie den Fall des jugoslawischen Präsidenten vorweg. Die Kriegsgegnerin setzte sich immer dafür ein, im Ausland das von Slobodan MiloΔeviƒ geprägte Bild der „blutrünstigen Serben“ zurechtzurücken. CONTRAST / ACTION PRESS NETZHAUT ROLAND HOLSCHNEIDER / PICTURE-ALLIANCE / DPA mit. Sigrid Löffler war zu schwach, um zu widerstehen; sie und weitere. Natürlich ist der Fall Handke in erster Linie ein Fall Sigrid Löffler und dann ein weiterer Fall in einer Reihe von JurorenMissgriffen, die ja bekanntermaßen selbst den Nobelpreis nicht auslassen. Kritikerin Löffler also, die einst als eingeschnappte Handtasche im „Literarischen Quartett“ der Gestalt gewordene Vorwurf gegen Altmeister Marcel Reich-Ranicki und Hellmuth Karasek und deren literarischen „Populismus“ war, favorisiert eine Literatur der Schwerfälligkeit, der Abwesenheit von Witz, der Langeweile, und besonders gern, wenn sie aus Österreich kommt. Mit einem Wort: Jelinek. Seit dem Eklat im „Quartett“, als sie Reich-Ranicki Sexismus vorwarf und er ihr Prüderie, leitet Löffler das Magazin „Literaturen“ und sitzt überdies in diversen Jurys. Sie ist einflussreich. Ihre Vorstellung von Mut ist der literarische Skandal, und damit war Handke die logische Wahl. Ihr Kulturbegriff ist eine pure Betriebsnudel-Vorstellung, die nichts mit Mut zu tun hat, sondern immer nur mit der Provokation. Es ist immer die gleiche Falle. Der erste Impuls ist natürlich der, dem Nonkonformisten beizuspringen, so lange und ausdauernd, bis er kein Nonkonformist mehr ist, weil er mittlerweile die Mehrheit hinter sich hat. Das Ergebnis dieses Prozesses ist dann der „bejubelte Nonkonformist“, der bisweilen auch „Querdenker“ genannt wird. Kabarettisten schwärmen für solche Leute. Oder Wiglaf Droste, der gute alte „taz“-Haudegen, der meistens mit hochrotem Kopf an seinem Stammtisch steht und schwankend rauszukriegen versucht, was nun das Gegenteil zu allem ist, was er bisher gelesen hat. Das Prinzip Droste ist heute das Mehrheitsprinzip im Kulturbetrieb. In diesem Preisträger Jelinek (o. r., 2004), Jünger (1982), Walser (1998): Den Betrieb aufmischen Fall fordert die antizyklische Peilung: für Handke sein, kann auch gern grob sein. Droste also, so wie er, verschwommen, den Fall Handke sieht: „Handke aber fuhr nach Serbien, schrieb nicht die allseits verlangten Gräuelgeschichten, und nach dem Tod von MiloΔeviƒ sprach er an dessen Grab. Na und?“ Platsch. So ist das mit diesen Preisvergaben. Jeder darf sich erleichtern und riskiert überhaupt nichts dabei. Preisvergaben sind hübsche Gelegenheiten, den Betrieb aufzumischen mit seinem Brimborium aus Ordensketten, Interviews, Festansprachen und möglichen Aberkennungen, Minderheitenvoten, Skandalen. Sie messen die Temperatur. Sie sind Stichworte des nationalen Selbstgesprächs. Im Büchner-Preis für Benn 1951 wurde der große Dichter in seinen politischen Irrtümern und seinen Halbheiten exkulpiert. In Benn klopfte sich die demoralisierte Nachkriegsgesellschaft selbst auf die Schulter. Ein erster großer Skandal dann die Zuerkennung und anschließende Wiederaberkennung des Bremer Literaturpreises 1960 an Günter Grass. Der „Blechtrommel“-Autor war beim zweiten Hingucken zu pornografisch, und alle Welt wusste: Dies ist kein Grass-Problem, sondern ein Bremen-Problem. Stürmisch das Toben anlässlich der Verleihung des Goethepreises an Ernst Jünger 1982. Die Konservativen von der CDU fanden Jünger einen jugendverderbenden Kiffer, und die Grünen um Jutta Ditfurth sahen in ihm einen „Träger des Nationalsozialismus“. Für alle aber war er ein herrlicher Anlass, politisch Krach zu schlagen. So was geschieht auch gern mit Verzögerung, denn es dauert bisweilen, bis die Demonstranten vor Parlament in Belgrad (2000) Kesseltreiben in den eigenen Reihen d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 Skandalsucht Betriebstemperatur hat. Martin Walsers Friedenspreisrede 1998, in der er von der Instrumentalisierung Auschwitz’ als „Moralkeule“ sprach, war von Rhetorik-Professor Walter Jens in Aufbau und argumentativem Ebenmaß bewundert worden, bevor sie allgemeine Empörungsstürme auslöste. Das Totaldesaster des Heine-Preises 2006 ist immerhin ein guter Anlass, ein paar Fragen zu stellen. Erstens: Warum hat man den Preis nicht an eine Person verliehen, die, wie Heine, nicht nur als brillante Erzählerin bekannt ist, sondern auch als Journalistin, die recherchieren kann und im Prinzip eher auf der Seite der Unterdrückten zu finden ist – nämlich an die Jüdin Irene Dische? Zweitens: Wann endlich werden die Durchstechereien und Schiebungen unserer Betriebsnudel-Jurys mal ganz aufgedeckt und transparent gemacht, welche Kritiker welchen Freunden welche Preise zugeschoben haben, durchaus unter Einbeziehung Österreichs samt Löffler, Jelinek und Handke? Drittens: Warum kann wahrscheinlich wieder mal kaum einer aus der Jury ein Heine-Gedicht auswendig? Jetzt aber muss nach vorn gedacht werden. Der Heine-Preis ist nicht durch Handke beschädigt worden, sondern durch jene, die ihn benutzten, um sich selbst zu profilieren, entweder als Königsmacher oder als Königsmörder. Nicht der Dichter hat hier Schiffbruch erlitten, sondern die Betriebsnudeln. Als Wiedergutmachung sollten sie schweigen. Für mindestens ein Jahr. Und keinen Jurys beisitzen. Und das ist für sie die wohl härteste Bestrafung, die es nur geben kann. Und das Geld? Wie wäre es mit einer Spende für die Opfer des MiloΔeviƒ-Regimes? ™ 143 TV-Serien-Familie „Die Simpsons“ TOBIAS RÜCKER / NEON (L.); BIG PICTURES (U.K.) / ACTION PRESS (R.) Ein Blitz surrealer Überraschung S AT I R E Voltaire und Starbucks Der Schriftsteller Daniel Kehlmann über die Fernsehserie „Die Simpsons“, die er zu den intelligentesten und vitalsten Kunstwerken unserer Zeit rechnet Kehlmann, 31, gebürtiger Münchner, lebt in Wien. Sein Roman „Die Vermessung der Welt“ (Rowohlt Verlag) steht seit 35 Wochen auf der SPIEGEL-Bestsellerliste, zurzeit auf Platz zwei. W ürde Thomas Pynchon jemals im Fernsehen auftreten? Natürlich nicht, würden die meisten seiner Bewunderer ausrufen – und erstaunlich wenige wissen, dass er es bereits getan hat. Und zwar nicht in einer Literatursendung, nicht in einer Podiumsdiskussion oder gar bei Oprah Winfrey, sondern in Folge zehn der 15. Staffel der Zeichentrickserie „Die Simpsons“. Natürlich wurde Pynchon von einer gemalten Figur dargestellt, die auch noch zur Wahrung der Anonymität eine Papiertüte mit Sehlöchern über dem Kopf trug. Aber die Stimme war Pynchons eigene. Der enigmatischste Autor der Gegenwart war wirklich aus der Verborgenheit aufgetaucht, um im Studio seine Rolle mit der enthusiastischen Verve eines Laienschauspielers aufzunehmen. „Thomas Pynchon 144 liebt dieses Buch“, sagt er da zu Marge Simpson, die sich als Schriftstellerin versucht hat und nun werbetaugliche Sätze für den Umschlag braucht, „fast so sehr, wie er Kameras liebt!“ Was hat es zu bedeuten, dass Pynchon, dessen Leitthemen die Medienkonzerne und die zerstörerische Macht der Kulturindustrie sind, ausgerechnet in den „Simpsons“ sein 40-jähriges Schweigen brach? Es bedeutet wohl, dass er Humor hat, es bedeutet aber auch einen intellektuellen Ritterschlag für eine Serie, die vom Magazin „Time“ zur besten aller Zeiten gewählt wurde und die die Anziehung auf ein Massenpublikum mit Niveau, satirischer Kompromisslosigkeit und einem verstörend harten Weltbild vereint. Im Springfield der Familie Simpson ist das Dasein so absurd, wie es nun einmal ist: Die Guten verlieren, die Dummen haben Erfolg und die Klugen das Nachsehen, alles, was schiefgehen kann, geht schief, Religion ist ein schlechter Witz, Gott ungerecht und das Leben ein Unternehmen, das nicht gelingen kann – aber all das noch lange kein Grund, den Humor zu verlieren. d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 Ein Plädoyer für die Simpsons? Heute noch? Rennt man damit nicht offene Türen ein, gibt es Figuren, die verbreiteter, die eher allgegenwärtig sind als die Mitglieder von Matt Groenings disfunktionaler gelber Familie? Doch gerade deshalb, weil Homer, Marge, Bart und Lisa überall zu sein scheinen, übersieht man leicht, dass es sich trotz des ärgerlichen Merchandising, trotz der Simpsons-Tassen und SimpsonsToilettenpapierrollen, trotz all der schlechten Comics und dummen Poster um ein Medienphänomen handelt, das mit keinem anderen vergleichbar ist. Die „Simpsons“ haben nicht nur weltweit das Fernsehen verändert und intellektualisiert, sie haben unsere Sehgewohnheiten, ja die Kultur des Humors selbst geprägt. Politische Kabarettisten, die man einst faszinierend originell fand, wirken heute nicht selten mittelmäßig; Komödien, die brillant geschrieben schienen, machen sich beim Wiedersehen schleppend und verstaubt aus. Könnte das daran liegen, dass man seit nun schon 15 Jahren Tag für Tag im Fernsehen mit solch brillantem Witz konfrontiert ist, wie man ihn zuvor nur in seltenen Ausnahmefällen erlebt hatte? Das vom legendären George Meyer angeführte Autorenteam (darin, so der britische „Observer“, zehn Schriftsteller mit Harvard-Abschluss) hat uns an eine Dichte von Pointen, einen tänzerischen Rhythmus der Höhepunkte gewöhnt, der uns für die meisten anderen satirischen Unternehmungen verdorben hat. Wenn der klassische Witz der Aufklärung, der Geist der Erzählungen von Voltaire und Diderot heute noch fortlebt, dann wohl in der trügerischen grafischen Einfachheit und dem souverän heiteren Pessimismus von Matt Groenings Serie. Der typische „Simpsons“-Humor lebt von einer spezifischen Abfolge von Vorbereitung, Pointe, neuer Wendung und dem Sprung in eine verblüffende Erfüllung. Eine gute, aber noch nicht sensationelle Pointe wird zur Basis einer unwahrscheinlichen Entwicklung, die wiederum als Ausgangspunkt für eine bessere Pointe dient: Das Ergebnis ist ein Blitz surrealer Überraschung. So ist es etwa schon ziemlich lustig, wenn Marge einem Polizisten eine falsche Adresse nennen will, unter Druck natürlich keine Idee hat, etwas von „123 – Fake Street“ stottert und der Beamte ihr das tatsächlich glaubt. Dann aber fährt dieser los, um die Adresse zu überprüfen, und natürlich existiert sie, und es findet dort tatsächlich gerade ein Verbrechen statt. Oder: Mister Burns, Homers böser Chef, fordert ihn auf, ihm ins Gesicht zu sehen, damit er ihn anschreien und bestrafen kann. Homer aber, einem klassischen Kin- Kultur derreflex folgend, schließt die Augen, denn in der Schule verspottet, daheim unverwenn Burns ihn nicht sehen könne, so standen – hat es je im Fernsehen ein trauglaubt er, könne ihm dieser auch nichts rigeres Kinderschicksal gegeben als das tun. Die „Simpsons“-typische Wendung der kleinen Lisa? Man könnte noch Barbesteht nun darin, dass Homer absurder- ney Gumble nennen, einst ein junger weise völlig recht hat. Da sein Opfer ihn Mann von vielfältigen Talenten, den sein nicht sieht, ist Burns machtlos und gibt Jugendfreund Homer zum Alkohol geden Disziplinierungsversuch entnervt auf. Oder: Aus purem Übermut zerstört Homer die gesamte Einrichtung im Zimmer seiner Tochter. Zu dem entsetzten Kind sagt er, es solle das positiv sehen, fröhlich Belletristik sein und sich vorstellen, es wäre sein 1 (2) Donna Leon Blutige Steine Geburtstag. „Aber heute ist mein GeDiogenes; 19,90 Euro burtstag!“, schreit Lisa. „Das“, lobt Homer, „ist die richtige Einstellung.“ 2 (1) Daniel Kehlmann Die Vermessung Das ist nun wirklich kein freundlicher der Welt Rowohlt; 19,90 Euro Scherz. Es gibt in den „Simpsons“ ein Element der Brutalität, ja der Düster3 (5) Nicholas Sparks Das Wunder eines nis, das weniger aus speziellen SituatioAugenblicks Heyne; 19,95 Euro nen als dem zugrundeliegenden Welt4 (7) Dan Brown Diabolus bild entsteht. Die „Simpsons“ sind, wie viele Kinder Lübbe; 19,90 Euro auch immer regelmäßig zusehen mögen, 5 (4) Iny Lorentz Das Vermächtnis der definitiv keine Kindersendung. Bei genauWanderhure Knaur; 16,90 Euro em Hinsehen erweist sich die Serie als weit schärfer und härter als etwa „South Park“, 6 (3) Dan Brown Sakrileg wo die grelle Drastik letztlich Selbstzweck Lübbe; 19,90 Euro bleibt. Die „Simpsons“ aber, das ist die Decouvrierung der ursprünglichen Absurdität 7 (8) Tommy Jaud Resturlaub des Lebens, eine Satire im Sinne von Swift Scherz; 12,90 Euro und Ambrose Bierce, eine Anklage weniger des politischen und sozialen Status quo 8 (6) François Lelord Hectors Reise als der missratenen Schöpfung selbst. Was Piper; 16,90 Euro ist denn am Ende schonungsloser? Wenn 9 (9) Leonie Swann Glennkill in „South Park“ Jesus, Buddha und Mohammed als karikaturhaft überzeichnete Goldmann; 17,90 Euro Superhelden umherfliegen oder wenn in 10 (10) Bernhard Schlink Die Heimkehr einer „Simpsons“-Episode die halbe Stadt Diogenes; 19,90 Euro Springfield von einem Wirbelsturm zerstört wird und danach vor der Kirche ein zum 11 (12) Ingrid Noll Ladylike Gottesdienst einladendes Schild verkündet Diogenes; 19,90 Euro „Gott begrüßt seine Opfer“? Und dennoch: Die Kunst der „Simp12 (11) Cecelia Ahern Zwischen Himmel sons“-Autoren erschöpft sich nicht in solund Liebe W. Krüger; 16,90 Euro chen Attacken. Es ist ihnen gelungen, aus den wohl über hundert wiederkehrenden 13 (15) Hera Lind Die Champagner-Diät Mitspielern runde, psychologisch reiche Diana; 16,95 Euro Charaktere zu machen, die man, ohne zu 14 (13) Henning Mankell Kennedys Hirn zögern, so manchen Figuren der Weltliteratur an die Seite stellen kann. Die wichZsolnay; 24,90 Euro tigste Entscheidung bestand darin, dass 15 (16) Stephen King Puls man sich nach den ersten, vor allem dem Heyne; 19,95 Euro kleinen Bart und seinem Anarchismus gewidmeten Folgen immer 16 (20) Joanne K. Rowling Harry Potter stärker auf Homer konzenund der Halbblutprinz trierte. Zu Anfang ein vulgäCarlsen; 22,50 Euro rer Primitivling, wuchs er nach und nach zu einem 17 (–) Simon Beckett Die Chemie des poetisch-dümmlichen EnthuTodes Wunderlich; 19,90 Euro siasten, einem in Phantasiegebilden verlorenen großen 18 (17) John Irving Bis ich dich finde Kind heran, zum vielleicht Diogenes; 24,90 Euro komplexesten Faulpelz seit Gontscharows „Oblomow“. 19 (–) Wolfgang Hohlbein Bewegender Immer mehr ausgestaltet Bericht von Das Paulus-Evangelium VGS; 19,90 Euro einer deutschwurde auch das Drama des indischen Liebe hochbegabten Kindes, geim Schatten des 20 (–) Vikram Seth Zwei Leben boren in die falsche Familie, Dritten Reichs S. Fischer; 22,90 Euro Bestseller 146 d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 Sie alle kennt der „Simpsons“-Seher inzwischen besser, sie beschäftigen ihn mehr und sind ihm präsenter als so manche Freunde und Familienmitglieder. Ein Effekt, den man von großen Romanen kennt, der aber für ein Produkt der Populärkultur völlig einzigartig ist. Die „Simpsons“, das ist die Synthese von Disneyscher Buntheit Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom und Tolstoischer Charakterzeichnung, von Fachmagazin „buchreport“; nähere Informationen und AuswahlVoltaires Schärfe und der massenkompakriterien finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller tiblen Präsenz von Pepsi, Starbucks und Burger King. Was das deutsche Theater Sachbücher seit Jahren so hektisch wie glücklos ver1 (18) Hape Kerkeling Ich bin dann mal sucht, nämlich literarische Kunst auf die weg Malik; 19,90 Euro Höhe modernen Lebensgefühls zu heben, klassisches Drama so in Szene zu setzen, 2 (1) Frank Schätzing Nachrichten dass die Welt von Marken, Pop und Techaus einem unbekannten Universum nologie darin aufgefangen und enthalten Kiepenheuer & Witsch; 19,90 Euro ist, das haben die „Simpsons“ ganz unauf3 (7) Peter Hahne Schluss mit lustig fällig und ohne Kunstprätention spielend Johannis; 9,95 Euro vollbracht. Bald wird in den USA die 400. Folge auf 4 (4) Eva-Maria Zurhorst Sendung gehen, und trotz mancher HöheLiebe dich selbst Goldmann; 18,90 Euro punkte in der letzten Staffel häufen sich 5 (3) Senta Berger Ich habe ja gewußt, nicht nur in den Internet-Foren die Klagen, daß ich fliegen kann dass es allmählich abwärtsgehe. Auch die Kiepenheuer & Witsch; 19,90 Euro Nachricht, dass an einem abendfüllenden Kinofilm gearbeitet wird, lässt Schlimmes 6 (5) Albrecht Müller Machtwahn ahnen. Die besten Folgen sind schließlich Droemer; 19,90 Euro die am wenigsten plotlastigen, und die Notwendigkeit, einen Hand7 (6) Frank Schirrmacher Minimum lungsbogen über zwei StunBlessing; 16 Euro den hinweg zu spannen, 8 (–) Matthias Matussek kann dem Unterfangen nicht Wir Deutschen S. Fischer; 18,90 Euro zuträglich sein. Und auch George Meyer, der am Ge9 (2) Jürgen Roth Der Deutschland-Clan lingen der Serie mindestens Eichborn; 19,90 Euro so viel Anteil haben dürfte 10 (8) Thomas Leif Beraten und verkauft wie Matt Groening selbst, ist C. Bertelsmann; 19,95 Euro nur noch selten unter den Autoren. Der Höhepunkt 11 (9) Corinne Hofmann Wiedersehen Witziges und dürfte überschritten sein. kluges Plädoyer in Barsaloi A 1; 19,80 Euro für einen Das ist enttäuschend, aber modernen 12 (16) Eduard Augustin / Philipp von nicht wirklich traurig. Bald, Patriotismus spätestens wohl nach dem Keisenberg / Christian Zaschke programmierten Misserfolg Fußball Unser Süddeutsche Zeitung; 18 Euro des Films, werden die „Simpsons“ ihre 13 (–) Ben Schott Schotts Sammelsurium Existenz als mitlaufender Kommentar zu – Sport, Spiel & Müßiggang unseren Tagesereignissen beendet haben Bloomsbury Berlin; 16 Euro und ihr Dasein als Klassiker beginnen. Vermutlich wird man dann erst, wenn man 14 (13) Werner Bartens Das neue sämtliche Staffeln auf Silberscheiben ins Lexikon der Medizin-Irrtümer Regal stellen kann, all die kleinen Details Eichborn; 19,90 Euro erkennen und würdigen können. Man wird 15 (10) John Dickie Cosa Nostra – Die bei jener Folge, die eine akribisch durchkomponierte Parodie auf „Lola rennt“ ist, Geschichte der Mafia S. Fischer; 19,90 Euro die Wiedergabe anhalten und Szene für 16 (15) Lars Brandt Andenken Szene zurückspringen oder sich eine AufHanser; 15,90 Euro nahme von Gilbert und Sullivans Oper „The Pirates of Penzance“ besorgen, um 17 (11) Dietrich Grönemeyer Der kleine die von Bart und Sideshow Bob gesungeMedicus Rowohlt; 22,90 Euro ne Kurzversion besser verstehen zu kön18 (–) Roger Willemsen Afghanische nen. Man wird die schwächeren Folgen Reise S. Fischer; 16,90 Euro überspringen, die besseren mehrmals sehen und bei den stärksten das wohl un19 (19) Michael Baigent wiederholbare Phänomen bestaunen, dass Die Gottes-Macher Lübbe; 19,90 Euro unsere Zeit eines ihrer intelligentesten und 20 (12) Shirin Ebadi Mein Iran vitalsten Kunstwerke in einer von MillioPendo; 19,90 Euro nen geliebten Fernsehserie hatte. ™ bracht hat und der seither ein Dasein als rülpsendes Monster fristet, oder den Atomkraftwerksbesitzer Burns, die wahre Weiterentwicklung von Dagobert Duck, dessen Bosheit und Gier eine Vitalität ausstrahlen, der man sich schwer entziehen kann. d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 147 Togoische Fußballfans beim Africa Cup of Nations 2006 in Kairo: „Idee von Freundschaft und Versöhnung“ ULMER / IMAGO SPI EGEL-GESPRÄCH „Egal, wen wir schlagen“ Die internationalen Erfolgsschriftsteller Tim Parks (England), Henning Mankell (Schweden) und Thomas Brussig (Deutschland) über afrikanische Hoffnungen auf die Fußball-WM, italienische Korruption und die Magie von Direktübertragungen SPIEGEL: Mr Parks, Mr Mankell, Herr Brus- sig, pünktlich zu jedem großen Fußballturnier rüsten auch die Journalisten der Tagespresse martialisch auf. Ist die WM ein gigantisches Kriegsspiel? Brussig: Für 90 Minuten ist Fußball eine Schlacht. Und verglichen mit der Aufregung und den Leidenschaften, die jedes Mal losgetreten werden, ist es ein kleines Wunder, dass Fußball bis jetzt tatsächlich erst zu einem Krieg geführt hat, nämlich 1969 zwischen El Salvador und Honduras. Parks: Wenn britische Zeitungen die großen Schlagzeilen veröffentlichen, die diesen bizarren Weltkriegshumor haben, versteht doch wohl jeder, dass sich dahinter ein parodistisches Element versteckt. Aber natürlich geht es bei einem Fußballspiel immer um Gemeinschaften, die das Gefühl haben, miteinander kämpfen zu müssen. Mankell: In erster Linie ist Fußball doch, so wie im Leben überhaupt, Kooperation. Man wird nicht erfolgreich spielen, wenn die Mannschaft nicht untereinander kooperiert. Wenn ich ein wirklich schlechtes Spiel sehe, ahne ich, dass diese Gesell148 schaft wahrscheinlich nicht sehr gut funktionieren kann. SPIEGEL: Herr Mankell, Sie sehen das Spiel also eher von seiner sozialen Seite? Mankell: Ja. In Afrika ist die Idee von Fußball viel häufiger die von Freundschaft und Versöhnung. Ich erinnere an den Bürgerkrieg in Mosambik. Eines Tages stand dann Versöhnung an, und man dachte darüber nach, wie man die Kontrahenten einander wieder näherbringen könnte. Das Erste, worauf sie kamen, war Fußball. Wenn Menschen Fußball spielen, gehen sie normalerweise hinterher nicht los, um sich die Kehle durchzuschneiden. SPIEGEL: Ist es reizvoll, sich für Fußball zu interessieren, ohne leidenschaftlich dabei zu sein, einfach nur als ästhetisches Spiel? Brussig: Nein, man muss Partei ergreifen, sonst langweilt man sich. Aber zu einem Spiel gehört auch, dass es vorbei ist, und dann gehen die meisten Fanatiker friedlich nach Hause und rufen ihre Mutti oder so an. Parks: Für mich besteht ein Spannungsfeld zwischen Regeln und Gewalt. Die Regeln des Spiels sind sehr präzise, und ein wund e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 dervolles Beispiel dafür ist der florentinische Fußball im 15. Jahrhundert: Zwei Gruppen von Männern kämpfen ohne Waffen in einem Rechteck um Ehre – unbewaffnet ist hier das Schlüsselwort –, und sie benutzen einen Ball. Ich finde, Fußball, bei dem es keine Gefühle eines angespannten Verhältnisses, also Aggressionen gibt, wäre extrem langweilig. Aber ich kann mir vorstellen, dass jedes Land das Spiel anders interpretiert. SPIEGEL: Wir leben in einer Welt, die sehr international geworden ist. Und fortschrittliche Intellektuelle möchten am liebsten gar keine Nationalismen mehr. Ist es im Fußball erlaubt, für 90 Minuten Nationalist zu sein? Brussig: Ja, für 90 Minuten. Ich will Deutschland gewinnen sehen. Aber deshalb verweigere ich den Gegnern der deutschen Mannschaft nicht den Respekt. SPIEGEL: Gibt es für Sie, weil wir über Nationen sprechen, Schwierigkeiten, sich mit dem deutschen Team zu identifizieren? Sie sind ja eigentlich Ostdeutscher. Brussig: Die Schwierigkeiten habe ich nicht mehr. Aber es hat eine Weile gedauert. Kultur Gekünsteltes. Aber es ist eine Schande für Deutschland, dass Menschen mit dunkler Hautfarbe vielerorts nicht sicher sind. SPIEGEL: Es gehört zum Zauber des Fußballs, dass ein Triumph die Hoffnungen der Menschen steigern kann. Wie wichtig ist der Gewinn einer Weltmeisterschaft für die Psyche einer Nation? Parks: Man muss sagen, dass Fußball ganz eindeutig ein Vehikel zur Schaffung von Gemeinsamkeit in der modernen Welt ist. Der gemeine Fußballfan wird da für ein Wochenende zum Fundamentalisten – aber eben auch nicht länger. Unter der Woche geht er ins Büro oder in die Schule. Und bei der Weltmeisterschaft wird dieser lustige Rausch über einen längeren Zeitraum gestreckt, aber danach ist dann eben auch Schluss. SPIEGEL: Günter Grass hat kürzlich gesagt, dass Fußball letztendlich kein Volkssport mehr sei. Parks: Das sehe ich genauso. Das Problem fängt doch damit an, dass sich das gemeine Volk im Stadion nicht so aufführt, wie es die Verbände möchten. Englische Stadien sind längst so teuer geworden, dass Brussig: Das erweitert ja auch unseren HOLGER JACOBY JÖRGEN HILDEBRANDT / PANOS PICTURES Begriff vom Deutschen oder Schweden. Wenn ein Spieler wie Asamoah in der deutschen Nationalmannschaft spielt oder ein Spieler wie Ibrahimoviƒ in der schwedischen, dann müsste doch jedem Nationalisten klar werden, dass die Deutschen heute nicht mehr die sind, die sie vor 50 Jahren waren. Dass ein Deutscher heute nicht unbedingt eine weiße Hautfarbe hat und ein Schwede nicht unbedingt Johansson, Svensson oder Pettersson heißen muss, das lehrt uns der Fußball. SPIEGEL: Ganz so harmlos, wie Sie, Mr Parks, die Fußballfanatiker in Ihrem Buch „Eine Saison mit Verona“ schildern, sind sie wohl doch nicht. Für Wirbel sorgte der Spieler Paolo di Canio von Lazio Rom mit einem „Römischen Gruß“ auf dem Rasen. Wo hört für Sie der Spaß auf? Parks: Geschockt hat mich das, ehrlich gesagt, nicht. Das ist eben ein Element von großem Theater und aggressiven Gesten. Sicher schlimm, aber man darf es auch nicht überbewerten. Allerdings, kein Zweifel, in Italien ist ein Migrant eindeutig in einer unterlegenen Position, und das auf eine BERND SCHULLER Genauer gesagt: bis zu diesem Viertelfinale 1998, in dem Deutschland ausgeschieden ist. Als es da gegen Kroatien ging, dachte ich, dass eine Niederlage mir doch die Laune verderben würde. Man will sich von den Kroaten ja nicht jahrzehntelang eine Niederlage unter die Nase reiben lassen (lacht). Zum Glück ist es heute nichts Besonderes mehr, wenn Deutschland verliert. SPIEGEL: Mr. Parks, Sie sind in England geboren und leben seit Jahren in Italien. Haben Sie da ein Identitätsproblem, für welche Mannschaft Ihr Herz bei einem Turnier schlägt? Parks: Ich bin sicherlich eher ein Experte für italienischen Fußball, aber Sie können davon ausgehen, dass ich eher zu England halte. Je länger man im Ausland lebt, desto mehr liebt man die Heimatmannschaft. Aber natürlich schlägt mein Herz auch für das italienische Team – wobei es sicher anstrengend wäre, wenn die Italiener Weltmeister würden. Fußball ist voller gefährlicher Emotionen. Fußball wurde im späten 19. Jahrhundert ein Massenvergnügen, es schafft Gemeinsamkeiten. Thomas Brussig Henning Mankell Tim Parks wurde 1965 in Ost-Berlin geboren, wuchs am Prenzlauer Berg auf und reagierte auf die Erfahrung der Wende mit seinem international erfolgreichen Roman „Helden wie wir“ (1995), der verfilmt und für die Bühne bearbeitet wurde. Er schrieb auch Theaterstücke, darunter den „Monolog eines Fußballtrainers“ (2000). Zuletzt erschien Brussigs Roman „Wie es leuchtet“ (2004). ist derzeit der meistgelesene Erzähler aus Skandinavien. Der 1948 in Stockholm geborene Krimi-Autor stellte den grüblerischmürrischen Kommissar Kurt Wallander ins Zentrum von acht Romanen, die sich weltweit millionenfach verkauften. Auch Jugendbücher und Afrika-Romane hat der häufig in Mosambik arbeitende Autor veröffentlicht, zuletzt erschien auf Deutsch der Roman „Kennedys Hirn“. kam 1954 in Manchester zur Welt, wuchs in England auf und lebt seit 1981 mit Familie in Verona. Der fußballbegeisterte Brite ist mit Romanen wie „Gute Menschen“ und „Doppelleben“ bekannt geworden, hat aber auch Autobiografisches und Essays veröffentlicht („Mein Leben im Veneto“, „Ehebruch und andere Zerstreuungen“). Sein neuer Roman „Cleaver“ soll im August auf Deutsch erscheinen („Stille“). SPIEGEL: Herr Mankell, als Schwede, der zeitweise in Afrika lebt, interessieren Sie sich für das Team Ihrer skandinavischen Heimat? Mankell: Eher weniger. Ich bin zwar an den Spielen interessiert, aber eben wohl doch ein sehr schlechter Fan. Aber die utopischen Gehalte der Spiele faszinieren mich. Man kann nicht von der Hand weisen, was der Fußball für viele junge Migrantenkinder wie etwa Zinedine Zidane und viele andere bedeutet. Fußball bietet eine Dimension, wo Menschen zeigen, dass sie sehr gut miteinander arbeiten können, ganz egal, ob man schwarz, braun oder weiß ist. Art und Weise, wie es meines Wissens im Vereinigten Königreich nicht möglich wäre. SPIEGEL: Deutsche Politiker haben sich mit dem Gedanken befasst, ob man Broschüren an die WM-Besucher verteilen sollte, um vor potentiell gefährlichen Orten im Osten des Landes zu warnen. Halten Sie das für angemessen? Mankell: Ich halte es für eine ausgesprochen widerliche Idee, so etwas zu tun. Dadurch werden weitere Probleme dieser Art doch geradezu provoziert. Wir haben in Schweden auch solche Probleme, aber auf so eine Idee käme dort keiner. Brussig: Im Zusammenhang mit der Fußball-WM hat die Warnung natürlich etwas die Kids da nicht mehr hingehen können. Man muss zwischen knapp 400 und mehr als 1600 Euro für eine Saisonkarte in Chelsea zahlen. Das Ergebnis ist, dass die Stadien sauber bleiben. Aber das führt nun zu einer Menge von Bandenkämpfen unter Kindern aus der Arbeiterklasse und Problemen mit ethnischen Gruppen in Nordlondon. So verprügeln sich in England die bösen Jungs nun gegenseitig außerhalb der Stadien, und die Veranstalter haben diese Art von langweiligen Spielen, die das Fernsehen zu einem risikofreien Vergnügen machen sollen. SPIEGEL: Also, die Fußballverbände wollen Ihrer Meinung nach zwar Fans in d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 149 FRANK AUGSTEIN / AP (L.); BUZZI / IMAGO (R.) Kultur Fußballbegeisterte in Leverkusen, italienischer Spieler di Canio (2005): „Element von großem Theater und aggressiven Gesten“ 150 tuation im heutigen Angola vergleichen kann. Aber in beiden Ländern hat allein die Tatsache, dass sie sich qualifiziert haben, das Selbstbewusstsein enorm gefördert. Und die Tatsache, dass Deutschland 1954 Weltmeister wurde, hatte doch einen gewaltigen Einfluss auf die Zufriedenheit der ganzen Nation. SPIEGEL: Also sollte nicht die beste Mannschaft gewinnen, sondern die bedürftigste? Brussig: Es gehört zu den Eigenarten vom Fußball, dass eben nicht immer der Bessere gewinnt. Und nur darin liegt die Chance der deutschen Mannschaft. Parks: Es sollte sowieso nicht die beste Mannschaft gewinnen, sondern die englische. SPIEGEL: Für die richtigen Skandale sorgen seit geraumer Zeit immer wieder die Italiener. Juventus Turin hat offenbar Schiedsrichteransetzungen manipuliert. In der „Saison mit Verona“ beschreiben Sie die Mauscheleien und Praktiken in der italienischen Serie A sehr offen. Parks: Und viele Menschen haben mir dazu gesagt, ich sei komplett paranoid, aber wie sich jetzt herausstellte, ist alles noch viel schlimmer. Beispiele von Schiedsrichtermanipulationen gibt es doch immer wieder auf der ganzen Welt. SPIEGEL: Aber fühlen sich die Engländer nicht immer betrogen, wenn sie ein wichtiges Spiel verloren haben? DER SPIEGEL den Stadien, aber eben nicht die ungehobelten? Parks: Exakt; schauen Sie sich nur die Ticket-Vergabe für diese Weltmeisterschaft an, die geradezu klassisch dafür ist, was sich im Fußball abspielt. Wenn die Fifa richtige Fußballfans in den Stadien haben wollte, müsste sie ehrlich genug sein und zu allen großen deutschen Fußballvereinen gehen und sagen: „Ihre Saison-Dauerkarte verschafft Ihnen Vorrechte.“ Das wäre das Beste, was dem Fußball passieren könnte. Deutsche Fans zuerst. SPIEGEL: Es war mal bei früheren Weltmeisterschaften unter deutschen Intellektuellen, die normalerweise nichts mit Fußball zu tun hatten, in Mode, aus politisch korrekten Gründen für Kamerun oder Jamaika zu sein, um die Dritte Welt zu beflügeln. Ist so was nicht langweilig, Herr Mankell? Mankell: Es wäre phantastisch für den Fußball in der Welt, wenn eine UnderdogMannschaft vom afrikanischen Kontinent wie Angola wirklich beweisen könnte, was sie draufhat. Brussig: Ich war zu Beginn dieses Jahres während des Afrika-Cups in Ägypten und glaube nicht, dass irgendeine der afrikanischen Mannschaften die Vorrunde übersteht, schon weil die Torhüter einfach zu schlecht waren. Gut war nur der ägyptische, und dessen Mannschaft hat sich für die WM nicht qualifiziert. Mankell: Ich hoffe dennoch auf ein afrikanisches Team. Bei Weltmeisterschaften haben wir immer wieder Mannschaften erlebt, die uns alle überrascht haben. SPIEGEL: Sollte eine afrikanische Nationalmannschaft gewinnen, wäre das doch lediglich eine Stärkung für den einen oder anderen herrschenden Autokraten. Mankell: Fußball ist in jeder Beziehung ein politisches Spiel. Während ich auf dem Weg hierher im Flugzeug saß, habe ich an 1954 gedacht, als Deutschland gewann. Ich glaube, dass man die damaligen Bedingungen in Deutschland nicht mit der Si- Parks (2. v. l.), Mankell (M.), Brussig (r.)* „Es sollten nicht die Besten gewinnen“ d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 Parks: Nicht immer, aber es ist sicherlich schon vorgekommen. Tore der Engländer in Verlängerungen werden doch nie anerkannt … SPIEGEL: … Sie unterschlagen das Wembley-Tor von 1966. Parks: Unser Problem mag ja auch sein, dass die englischen Fans oft am Tag vorher die Niederlage durch ihre Pöbeleien vorwegnehmen. Da wollen dann alle, dass England verliert. Und genauso könnte es bei dieser WM laufen: Wenn die englischen Fans eine deutsche Stadt zerstören, wird England ganz bestimmt das nächste Spiel verlieren. Das versichere ich Ihnen. SPIEGEL: Sie suchen offensichtlich bereits nach einem Grund für die Niederlage der englischen Mannschaft? Parks: So können Sie es sehen. Ich glaube nicht, dass man da so weit vorausschauen muss. Aber meiner Meinung nach ist die Fifa sowieso keine saubere Organisation. Ich habe zum Beispiel nicht das geringste Vertrauen in die ersten Runden dieses Wettbewerbs. SPIEGEL: Was halten Sie von der deutschen Mannschaft? Parks: Ich habe sie schon öfter gesehen – schrecklich. Aber ich bin sicher, dass sie bei der Weltmeisterschaft besser sein wird als jetzt. SPIEGEL: Popkultur und Fußball sind längst miteinander verschmolzen. Es gibt TVSerien um Fußballerfrauen, und die Beckhams spielen sowieso längst in ihrer eigenen Glamour-Liga, im Londoner Wachsfigurenkabinett posierten sie vorletztes Weihnachten als Maria und Josef. Nutzt solcher Wirbel dem Sport, oder schadet er? Parks: Auf hohem Niveau Fußball zu spielen ist auf Dauer schon sehr anstrengend. Und wenn man dann noch sehr berühmt wird, ist es für viele kaum noch zu ertra* Mit den SPIEGEL-Redakteuren Christoph Dallach (l.) und Matthias Matussek (2. v. r.) im SPIEGEL-Haus in Hamburg. gen. Die Beckhams sind doch großartig. Ihre Berühmtheit hat sich längst von der Realität abgekoppelt. Viele ihrer Gesten sind zutiefst ironisch. Sogar David Beckham selbst versteht die Unwirklichkeit dieser Welt. SPIEGEL: Haben Sie als Junge jemals davon geträumt, Fußballstar zu werden? Parks: Ich glaube, ich habe immer gewusst, dass daraus nichts werden würde. Eine Menge davon hat mit der Familie und Familienvorbildern zu tun. Mein Vater war ein Mann der Kirche, und sein einziges Interesse am Fußball war Blackpool, als wir dort lebten. Er verfolgte die Fußballergebnisse aus einem einzigen Grund: Er wusste, wenn Blackpool verlor, gäbe es Gewalt und Trunkenheit in der Gemeinde. Und viele Frauen würden am Abend mit ihren Kindern im Gemeindehaus bleiben und nicht nach Hause gehen. Mein Vater war also tatsächlich besorgt, wenn Blackpool ein Heimspiel verlor. Aber er hat in seinem ganzen Leben nie einen Ball getreten. SPIEGEL: Wo liegt der Unterschied zwischen einem dramatisch guten Fußballspiel und einem Roman? Mankell: Der Unterschied besteht darin, dass man eine Geschichte nicht 1:0 gewinnen kann. Das Einzige, was der Fußball mir geben kann, ist das Gefühl, ob es ein gutes oder ein schlechtes Spiel war. In der Literatur gibt es da einige Möglichkeiten mehr. Brussig: Die Dramatik des Fußballs ist unverwechselbar und auch außerhalb des Fußballs nicht herzustellen. Nicht im Theater, nicht im Film und auch nicht im Roman. Ein Fußballspiel entsteht, indem es stattfindet. Es ist offen, der Ausgang nicht gelenkt. Wenn man ein Buch zu lesen beginnt, dann weiß man, die Handlung hat keine Freiheit mehr, sich so oder so zu entwickeln. SPIEGEL: Der italienische Schiedsrichterskandal belegt das Gegenteil. Brussig: Deshalb ist die Aufregung auch so berechtigt. Der Schiedsrichterskandal tastet das an, was wir am Fußball lieben. Aber man könnte mal folgendes Experiment machen: Die ARD zeigt das legendäre 4:3Halbfinale der WM 1970, Italien gegen Deutschland, eines der schönsten und dramatischsten Spiele, die es im Fußball je gegeben hat. Und im ZDF zeigt man zeitgleich ein relativ bedeutungsloses DFBPokal-Achtelfinale, aber live. Ich wette, die Mehrheit wird das Pokalspiel sehen. SPIEGEL: Was wäre Ihr ideales Finale? Brussig: Deutschland im Finale zu sehen wäre schon schön. Egal, wen wir schlagen. Mankell: Ich drücke Angola die Daumen, aber ich bin nicht sentimental, sie werden nicht gewinnen. Parks: England trifft auf Deutschland. Es wird eine Verlängerung geben, und wir gewinnen 4:3. Aber das ist ein Traumfinale. Letztendlich ist es wahrscheinlich, dass die Brasilianer am Ende wieder abräumen. SPIEGEL: Mr Parks, Mr Mankell, Herr Brussig, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 151 Kultur „Ich will nicht gehn“ Nahaufnahme: Der türkische Sänger Muhabbet ist bei seinen Landsleuten in Deutschland ein Superstar. 152 d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 len Erfolg entfernt. Im Tourbus sitzt Ünal Yüksel, er ist 37 und Musikproduzent. Vor einem Jahr nahm er mit seinem Partner Jochen Kühling den Sänger Muhabbet unter Vertrag. Yüksel hält eine CD hoch, Muhabbets erstes und einziges Album, darauf die Hits aus dem Internet, neu eingespielt, auch mit traditionellen Instrumenten, Saz, Kanun, Daburka. Dann legt Yüksel die CD weg und zeigt auf einen Laptop, „das ist das Problem“. Die jungen Türken gehen nicht in Plattenläden, sie leben, mehr noch als die jungen Deutschen, an ihren Computern; nur im Netz konnte einer wie Muhabbet, der Einwanderersohn aus Köln-Bocklemünd, mit seiner neuartigen Musik so schnell berühmt werden. „Wir müssen diese Welt erweitern“, sagt Yüksel, und man weiß nicht genau, meint er jetzt die Parallelwelt des Internet oder die Parallelwelt der Einwanderer, wahrscheinlich beides, das hängt ja zusammen. Deswegen hat er Muhabbet dieses Album aufnehmen lassen, und deswegen schickt er ihn jetzt auf eine große Tour durch die Musikclubs des Landes. Es ist der Versuch, den Fans klarzumachen, dass der „Türk Günü“ auf Dauer zu wenig ist für einen Sänger, der alle Fähigkeiten hat, ein Star in Deutschland zu werden. Abends, beim Tourauftakt in Berlin, ist der Columbiaclub dann leider ziemlich leer. Vielleicht haben die Plakate an den falschen Stellen gehangen. Oder 20 Euro Eintritt sind zu viel. Möglicherweise dürfen die jungen Mädchen so spät nicht aus dem Haus. Egal, ein paar türkische Familien sind da, Jungs mit ihren Freundinnen, sogar Groupies, das ist doch nicht schlecht, und es wird ein schönes Konzert, unter anderem mit einer hinreißenden ArabeskVersion von „Alle meine Entchen“. Seine Truppe glaubt an ihn. Alle zusammen sind sie Kämpfer, Aufsteiger, sie wollen es schaffen. Die Manager haben neue R’nBesk-Sänger unter Vertrag genommen. Und Murat Ersen, Künstlername Muhabbet, wird jetzt erst mal die deutsche Staatsbürgerschaft annehmen. Malte Henk PA / INTER-TOPICS (O.); BERND FRIEDEL / IMAGO (U.) E in Bus fährt durch Berlin, die Schei- sen und die Geschäftsleute im Anzug, sie ben dunkel getönt, er kommt aus alle wollen etwas von Muhabbet, Fotos, Neukölln und fährt nach Mitte, ins Autogramme, Interviews, dann schieben Zentrum. Der Bus hält am Brandenburger sie ihn auf die Bühne, ihn, der ihrer Jugend Tor, und heraus hüpft dieser Junge in Jeans ein Vorbild ist. Da steht er nun und singt, seine Stimme und Turnschuhen, 21 Jahre alt, glattes, kantiges Gesicht, Erfinder eines west-östlichen klettert über zwei, drei Oktaven, und MuMusikstils und der unbekannteste Super- habbet schlägt sich die Hand aufs Herz. Er hat sie alle drauf, die Posen des Arabesk; star Deutschlands. Er nennt sich Muhabbet, er ist aufge- so heißt diese Musik, die vor vierzig Jahren wachsen in Köln-Bocklemünd, der Vater entstand und die türkische Landflucht rekommt aus der Nähe von Ankara. Mit 17 flektierte, den Umzug der Bauern in die zog Muhabbet zu Hause aus, nahm einen großen Städte und die Sehnsucht danach, Kredit auf, stellte sich ein Tonstudio in dort eine Heimat zu finden. „R’nBesk“ die Wohnung und produzierte Songs, einen nach dem anderen. Er sang wie die großen türkischen Sänger, wie Orhan Gencebay und Müslüm Gürses, traurige Liebeslieder mit klagender Stimme; nur dass Muhabbet seine Lieder mit Beats unterlegte, R’n’B und HipHop, und dass er auf Deutsch sang. Seine Songs stellte er ins Internet, wo sie millionenfach heruntergeladen wurden, fast alle Türken in Deutschland kennen Muhabbet. Sie verehren ihn, besonders die Teenager der dritten Musiker Muhabbet beim „Türk Günü“: Vorbild der Jugend Generation. Weil er in den türkischen TV-Shows, die sie per Satellit nennt Muhabbet seine deutsche Version. empfangen, seine deutschen Lieder singt Er singt, auf der Bühne am Brandenburger und als erfolgreicher „Almanci“ gefeiert Tor, seinen Hit „Ich will nicht gehn“, der wird. Und weil er so smart ist und so höf- von der Liebe handelt, auch von der Lielich und in die Schulen kommt und ihnen be des Einwandererkindes zu Deutschland: sagt, dass sie ihre Hausaufgaben machen „Ich strebe, lebe nur nach dir / Ich gehör und ordentlich Deutsch lernen sollen. Sei- zu dir / Bleib bei mir, steh zu mir und sage ne Fans schreiben ihm jeden Tag 300 mir: Ich fehle dir“. Im Video dazu wird vor der deutschen Beiträge im Internet-Forum. Hallo muhabbet ich bin azize und ich bin ein Flagge getanzt, „Die Tür steht auf / Ich grozre fan von dir. Ich bin eine Türken kann hinaus / Doch ich bleib hier stehn / ich habe dich im Türkische kanal geshn Verdammt, ich will nicht gehn“, es ist ein und in Deutsche. ICH LLLIIEBE DICH. Bekenntnis zum Angekommensein, und Sie hätte es sich auch leicht machen und die Tausenden Teenager am Brandenburger Tor singen das alles mit, auf Deutsch, auf Türkisch schreiben können! Muhabbet ist alles, was nicht Rütli ist, dann schwenken sie ihre türkischen Fahund nirgendwo lässt sich das besser beob- nen und jubeln dazu. Und man sieht, wie achten als beim „Türk Günü“, dem türki- sehr diese Jugend nach einem Vorbild giert schen Kulturfest am Brandenburger Tor. für ihre letztlich bürgerlichen Träume von Es ist der Samstag vergangener Woche, Aufstieg, Erfolg und Sicherheit, nach jeMuhabbet und sein Bodyguard springen mandem, der die Werte ihrer Eltern vereint hinter der Bühne aus dem Bus, mitten hin- mit denen des Landes, in dem sie leben. Das Absurde ist, trotz solcher Auftritte ein in den Wahnsinn, die türkischen Kamerateams, die übermotivierten Hostes- ist Muhabbet noch weit vom kommerziel- Wissenschaft · Technik Prisma OKAPIA Ostsee-Ringelrobbe KLIMA Erwärmung bedroht Ostsee-Robben F ür die Ostsee-Ringelrobbe könnte der Klimawandel den Garaus bedeuten, warnte ein internationales Forscherteam auf der Klimakonferenz des Baltic Sea Experiment (Baltex) in Göteborg. Denn die Erwärmung lässt das Eis auf der Ostsee immer früher im Jahr schmelzen. Da aber Ostsee-Ringelrobben, anders als andere Robben, ihre Jungen ausschließlich auf dem Eis aufziehen, sind sie darauf angewiesen, dass die Eisbedeckung im Winter mindestens zwei Monate anhält. Ein Forscherteam um Markus Meier vom Rossby Centre am Swedish Meteorological and Hydrological Institute in Norrköping hat deshalb anhand verschiedener Klimamodelle berechnet, wie die mittlere Eisbedeckung der Ostsee in den Jahren 2071 bis 2100 aussehen wird. Ergebnis: Große Teile des Bottnischen Meerbusens werden häufig nur noch drei bis sechs Wochen lang von Eis bedeckt sein – zu kurz für die Robbenaufzucht. „Was das für die Ringelrobben bedeutet, ist schwer abzuschätzen“, sagt Meier, zumal Umweltverschmutzung und Jagd die Bestände ohnehin stark dezimiert haben: Lebten Anfang des 20. Jahrhunderts über 180 000 Ringelrobben in der Ostsee, waren es bei der letzten Schätzung vor zehn Jahren gerade noch 5500 Tiere. R AU M FA H R T BIOLOGIE Ost-Kost für den Weltraum Zellkulturen in 3D W U SCHULZ / IMAGO issenschaftler um Byun Myung Woo vom südkoreanischen Atomforschungsinstitut in Daejeon haben Astronautennahrung auf der Basis des Nationalgerichts Kimchi entwickelt. Die traditionelle Beilage, die bei kaum einem koreanischen Essen fehlt, besteht meist aus eingelegtem Chinakohl mit verschiedenen Gewürzen. Byun und seine Kollegen benutzten Gammastrahlung, um das „Space-Kimchi“ zu sterilisieren. Gefriergetrocknet und vakuumverpackt könnte es künftig den Speiseplan im All um eine fernöstliche Note bereichern. „Bislang gibt es ausschließlich westliche Gerichte als Astronautenkost“, erklärt Byun, „Kimchi ist außerdem gut für die Verdauung, weil es sehr faserreich ist.“ Wenn im Jahr 2008 der erste koreanische Astronaut zur internationalen Raumstation ISS aufbricht, soll er Kimchi-Beutel als Mitbringsel im Gepäck haben. Zuvor muss der Astronauten-Snack aber noch als offizielle Weltraumnahrung anerkannt werden. Nationalgericht Kimchi im Lokal (in Seoul) d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 m Zellen im Labor unter lebensnahen Bedingungen untersuchen zu können, haben Wissenschaftler vom MIT bei Boston eine Methode zur Herstellung dreidimensionaler Zellkulturen entwickelt. Im Nährmedium einer flachen Petrischale gedeihen die meisten Zellen zwar prächtig, reagieren jedoch nicht immer so wie in komplexeren Anordnungen. Den Forschern um Sangeeta Bhatia ist es nun gelungen, Zellen in einer Gelmatrix ähnlich anzuordnen wie in lebendem Gewebe. Bislang standen der Wissenschaft nur 3-D-Kulturen zur Verfügung, in denen die Zellen spontan zusammenklumpten. Mit Hilfe eines elektrischen Feldes können die MIT-Forscher die Zellen nun auch in genau definierte Anordnungen lotsen und dann fixieren. Mit den neuartigen Kulturen sollen jetzt Tumor- oder Stammzellen unter realistischen Bedingungen erforscht werden. Auch für die Nachzucht von Gewebe könnte sich die Methode eines Tages eignen. 155 Prisma ROBOTER PSYCHOLOGIE Erotik ist Männersache E ine halbnackte Frau, die sich verführerisch im Sand rekelt, ein Paar in eindeutiger Pose – bei solchen Bildern beginnen männliche Betrachter zu schwitzen. Sie blinzeln seltener, und ihr Blutdruck schnellt in die Höhe. Frauen hingegen bleiben offenbar ungerührt: Zwar bewerten sie erotische Aufnahmen des anderen Geschlechts ebenfalls als erregend, doch ihre körperlichen Reaktionen sind deutlich weniger ausgeprägt. Auf einen ähnlichen Geschlechterunterschied stießen Schweizer Forscher um Patrick Gomez vom Institut de Santé au Travail in Lausanne auch, als sie ihre Probanden mit erotischen Bildern des jeweils gleichen Geschlechts konfrontierten: Die Männer bewerteten Fotos von nackten Männern zwar als nicht erregend, ihr Blutdruck aber stieg dennoch sprunghaft an. Frauen indes beurteilten erotische Bilder von Geschlechtsgenossinnen zwar als relativ erregend, zeigten aber wiederum kaum körperliche Reaktionen. „Männer reagieren offenbar stärker und undifferenzierter auf jegliche Art erotischer Stimuli“, konstatiert Gomez. kann Menschen oder Lasten auch in unebenem Gelände transportieren. „Rollstühle sind nützlich, aber sie können keine Stufen überwinden“, erläutert Roboter-Spezialist Atsuo Takanishi, „daher beschränken sie die Mobilität ihrer Nutzer.“ Für „Waseda Leg 16RIII“ (WL16RIII) dagegen sind weder Treppen noch holprige Pisten ein Problem. Die Laufmaschine ist die erste kommerzielle Entwicklung aus Takanishis Labor. Bisher schuf er eher zweckfreies Gerät wie Roboter-Ratten oder Humanoide, die Querflöte spielen oder den menschlichen Stimmapparat imitieren können. Laufroboter WL-16RIII dagegen soll es in drei bis fünf Jahren zur Marktreife bringen. Gemeinsam mit dem japanischen Unternehmen Tmsuk, das bereits einen Wach-Roboter im Angebot hat, will Takanishi die Technik nun perfektionieren. ATSUO TAKANISHI ONDREA BARBE / CORBIS Rollstuhl ohne Rollen er zweibeinige Laufroboter, den Wissenschaftler der Waseda-UniD versität in Tokio konstruiert haben, RECYCLING Treibstoff vom Autofriedhof S 156 d e r WALTRAUD GRUBITZSCH / DPA tatt auf der Müllhalde könnten sich Überbleibsel von Schrottautos künftig im Öltank wiederfinden: Unterstützt von der Autoindustrie, will die US-Firma Changing World Technologies (CWT) demnächst Autositze, Gummi- und Schaumstoffteile in Öl und andere Rohstoffe verwandeln. Zwar werden auch heute schon große Teile ausrangierter Autos recycelt, rund ein Viertel der Materialien aber landet bislang auf Mülldeponien. Die CWTGründer haben ein Verfahren ersonnen, bei dem Abfälle unter hohem Druck zu den kurzen Kohlenwasserstoffketten von Erdöl und Erdgas zerfallen. Derzeit landen vor allem Schlachtabfälle in der Recycling-Fabrik in Missouri. Laut einer Studie, die CWT gemeinsam mit DaimlerChrysler, Ford und General Motors im April in Detroit vorstellte, eignen sich Autoreste ebenso für den „thermal conversion“-Prozess. Die Forscher haben auch den europäischen Markt im Visier: Ab dem Jahr 2015 müssen in der EU 95 Prozent eines Autos wiederverwertet werden. s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 Titel Wegweiser ins Paradies Archäologen haben in der Osttürkei Spuren einer 11 000 Jahre alten „goldenen Epoche“ der Steinzeit entdeckt. Gazellenjäger schufen dort mächtige Schlangentempel und lebten wie im Garten Eden. Der Verdacht: Adam gab es wirklich, im Gleichnis vom Sündenfall steckt ein wahrer Kern. Schafhirte am Berg Ararat: Verbirgt sich hinter der Geschichte aus der Genesis eine historische Botschaft? U nd Gott der Herr pflanzte einen Garten in Eden, gegen Osten hin und setzte den Menschen hinein.“ So harmlos beginnt die Geschichte. Lauschig sitzen Adam und Eva in einem Park, umgeben von Bäumen, „verlockend anzusehen“. Es ist der Anbeginn aller Tage. „Garten der Freude“ hat das Mittelalter die Heimstatt der ersten Menschen genannt. Bei Dürer und Rubens turnen sie nackt und proper durch blumiges Gelände „und schämten sich nicht“. Ungeheure Wirkung erzielte die Schöpfungsgeschichte, es ist ein Kerntext der Christenheit. Die Kelten hatten Avalon, den Apfelgarten, die Griechen die Inseln der Seligen. Aber nur in Eden sind Sexualität und Geist so schuldhaft verstrickt. 158 Denn die Sache geht schlimm aus: Verführt durch die Schlange, greift die „Männin“ (Luther) zur verbotenen Frucht vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse. Das Obst macht die Esser „klug“ und neugierig („und beiden wurden die Augen aufgetan“) – aber auch lüstern. Als Gott die Fehltat bemerkt, wirft er die beiden Sünder hinaus. So ungeheuerlich ist ihr Verbrechen, dass es sich wie eine ansteckende Krankheit auf alle Nachkommen überträgt. Der Mensch ist für immer unrein geworden – so jedenfalls sah es der Apostel Paulus, der um 50 nach Christus die Theorie der Erbsünde entwarf. Nur 50 Zeilen umfasst der gleichnishafte Bericht über das Paradies. Trotz abnehmender Bibelfestigkeit kennt ihn d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 immer noch jedes Kind. Doch was bedeutet er? Philosophen haben ihn als Mythos vom Erwachen des menschlichen Bewusstseins gedeutet. Sigmund Freud sah darin eine „Massenphantasie von der Kindheit des Einzelnen“. Der Tabubruch symbolisiere jenen Entwicklungspunkt des Vierjährigen, an dem „die Scham und die Angst erwachen“. Oder ist alles ganz anders? Verbirgt sich hinter der Geschichte aus der Genesis eine historische Botschaft? Enthält sie einen steinzeitlichen Faktenkern? Eine erstaunliche Debatte ist da im Gange. Geologen und Klimaexperten, die sich vom Offenbarungscharakter der „Urkunde Gottes“ nicht schrecken lassen, REZA / WEBISTAN / CORBIS (GR.); BPK (KL.) glauben: Das Paradies hat Koordinaten, es war ein realer Ort, und das Alte Testament enthält den Wegweiser dorthin. Vor allem die Erforscher der Jungsteinzeit (12 000 bis 4000 vor Christus) hegen den Verdacht, dass die Erzählung aus dem Ersten Buch Mose („Genesis“) eine reale Basis hat. Der Grund: Leitmotivisch zieht sich das Thema Feldbau durch die biblische Urgeschichte. Aus „Erde vom Acker“ formt Gott den ersten Menschen. Nach der Vertreibung aus Eden muss Adam im Schweiße seines Angesichts „das Kraut auf dem Felde“ essen. Sein Sohn Kain wird Bauer, Abel ist der erste Viehzüchter. Deren tödlicher Streit spiegelt Probleme einer neuen Daseinsform, die vor über Darstellung des Sündenfalls* Nackt und proper durchs Gelände 10 000 Jahren wirklich den Orient erschütterten: Der Mensch wurde damals sesshaft, er hatte Besitz und Eigentum erfunden. Die Folge: Krieg. Schon die erste Hochkultur der Sumerer war geprägt von blutigen Territorialkämpfen und Sklaverei. Dass die Heilige Schrift wahre Einsprengsel enthält, ist zudem lange bekannt. * Altarbild von Michiel Coxcie, 16. Jahrhundert. ** David Rohl: „Legend. The Genesis of Civilisation“. Random House, London; 456 Seiten; 20 Pfund. d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 Der Ararat, an dem die Arche Noah strandet, ist ein Berg in der Türkei. Die Mauern von Jericho gab es ebenso wie den Turm zu Babel. Doch gab es auch das Paradies? Auf den Seychellen wurde es schon vermutet und im Industal. Elmar Buchner, Geologe an der Universität Stuttgart, brachte die Legende jüngst mit dem Klimaumschwung am Ende der letzten Eiszeit zusammen. Eden sei infolge des vielen Schmelzwassers im Persischen Golf versunken. Weit spannender ist der Vorschlag, den der Brite David Rohl vorgelegt hat. In seinem Bestseller „Legend“ (eine deutsche Ausgabe liegt nicht vor) verortet er Adams Wonneland in Nordiran in der Nähe des Urmiasees**. Sumerische Keilschrift159 Wo lebten Adam und Eva? Das biblische Paradies, gedeutet im geschichtlichen Umfeld 1 WURZELN DES ACKERBAUS Die Sesshaftwerdung begann neuesten Erkenntnissen zufolge bereits etwa um 10 000 v. Chr.: Nacheiszeitliche Jäger, die an den Euphrat-Furten erfolgreich ganze Tierherden erlegten, errichteten feste Vorratsbauten. Zugleich begannen sie mit dem Sammeln von Wildgetreide, was den paradiesischen Nahrungsüberfluss in der Region noch steigerte. Als sich das Biotop erschöpfte, wurde die stark angewachsene Bevölkerung im Vorderen Orient zur Ausweitung der Versorgungswirtschaft gezwungen. Es entstan- Schwarzes Meer Vulkan Karacadag den die ersten reinen Bauerndörfer, Ackerbau und Viehzucht. Kerngebiet dieser Entwicklung war Çayönü KERNGEBIET DES ACKERBAUS das Vorland des Taurus- und des Zagrosgebirges. Tig ris Nevali Çori Ta ge urus birg e Urfa Göbekli Tepe Harran Abu Hureira Eu ph rat Mittelmeer Byblos Kerngebiet der Sesshaftwerdung Panorama-Ausschnitt Proto-Siedlungen von Jägern früheste Bauerndörfer Jericho Jawa Städte Jerusalem archive hat der Mann aus London durchstöbert. Er prüfte geografische Hinweise aus der Bibel und fuhr mit dem Jeep bis nach Kurdistan. Rohl stützt sich bei seiner Fahndung auf die Kapitel zwei und drei der Genesis, die den Garten Eden fast wie ein irdisches Ferienziel behandeln. Himmelsrichtungen werden genannt und umliegende Gebiete. Vier Flüsse entspringen im Paradies. Zwei davon sind Euphrat und Tigris. Sie stecken Rohls Zielkorridor ab. Und er scheint auf einer heißen Spur zu sein: Ausgerechnet am Oberlauf von Euphrat und Tigris, wo Adam laut Bibel erstmals sein Korn drosch, wurde tatsächlich der Ursprung der Landwirtschaft ausgemacht. Erst in jüngster Zeit haben die Forscher neue entscheidende Einblicke in diese „neolithische Revolution“ gewonnen. 160 TÜRKEI SYRIEN ISRAEL IRAN IRAK Tempelanlage Es war das sanft ansteigende Vorland des Taurus- und Zagrosgebirges, im Grenzgebiet zwischen Iran, dem Irak und der Türkei, wo sich vor rund 11 000 Jahren der kulturelle Umsturz vollzog. Homo sapiens, bis dahin Nomade und Wildbeuter, legte die Jagdwaffen weg. Über eine Million Jahre lang hatte der Mensch bis dahin Großwild, vor allem Waldelefanten und Flusspferde, getötet und sich von deren Fleisch ernährt. Er lauerte im Unterholz, ein Nomade – und Raubtier. Nun plötzlich begann er damit, Schafe und Ziegen in Pferche zu sperren (um 8400 vor Christus) und Schweine zu züchten. Er erfand Bett und Hütte, den Kochtopf aus Keramik (um 7000 vor Christus) und aß zum ersten Mal Schleim aus selbstgeerntetem Getreide. d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 Wo genau dieser Wandel einsetzte, wo mithin die erste Kornkammer der Menschheit lag, konnten Biologen vom MaxPlanck-Institut für Züchtungsforschung in Köln ermitteln. Sie verglichen das Erbgut von 68 modernen Einkornsorten und führten es auf einen gemeinsamen Urhalm zurück. Die Wildpflanze, gleichsam der Ahnherr allen Getreides, wächst noch heute an den Hängen des erloschenen Vulkans Karacadag (siehe Karte). Wenn Adam wirklich als Erster Mehlspeisen aß, dann also hier. Aber auch im Detail stimmt die Geschichte vom Sündenfall gut mit den wahren Geschehnissen überein. Erst die neuen Grabungen in Syrien und der Türkei zeigen, in welchen Schritten sich die Sesshaftwerdung vollzog: 2 Berg Ararat WO LAG DAS PARADIES? „Und es ging aus von Eden ein Strom, den Garten zu bewässern, und teilte sich von da in vier Hauptarme. Der erste heißt Pischon, der fließt um das ganze Land Hawila, und dort findet man Gold ... Der zweite Strom heißt Gihon ... Der dritte Strom heißt Tigris, der fließt östlich von Assyrien. Der vierte Strom ist der Euphrat.“ Der Brite David Rohl hat die Angaben der Genesis mit altislamischen Schriftquellen und modernen Landschaftsnamen in Iran und in der Türkei verglichen. Seiner Analyse zufolge stehen die rätselhaften Paradiesströme der Bibel „Gihon“ und „Pischon“ für den Grenzfluss Araks und den goldhaltigen iranischen Kisil Usen. All diese „Edenflüsse“ liegen im neolithischen Kerngebiet des Ackerbaus. (Genesis 2, 10 bis 14) Vansee Ara ks Urmiasee Tig ris Zag Ninive 3 ros geb irg e ZWISCHENSTATION SUMER Im 7. und 6. Jahrtausend zogen die ersten Ackerbauern aus den Bergen zum Persischen Golf hinab und gründeten die erste Hochkultur: Sumer. Das Sagengut dieses Volkes enthält Hinweise auf einen paradiesischen Urhügel Du-ku, wo der Ackerbau erfunden wurde. Auch erwähnen die Keilschriften der Sumerer die Motive „Sintflut“, „erstes Menschenpaar“ und „Schöpfung des Menschen aus Erde“. 4 REISE NACH JERUSALEM Der Patriarch Abraham wird in Ur geboren. Einer anderen Lesart der hebräischen Originalbibel zufolge könnte er auch aus Urfa stammen. Von dort zieht er nach Harran. Angeblich um 1800 v. Chr. bricht er dann ins Gelobte Land auf. Auf diesem Weg könnte das Gleichnis von Adam und Eva den Weg in die Bibel gefunden haben. Kaspisches Meer Kisi l Use n T ig r is Babylon Ali Kosch Uruk Ur Euph rat Eridu Satellitenbild: Nasa THE BRITISH MUSEUM Mit Feuersteinsicheln, deren • Noch um 10 000 vor Christus Griff mit Asphalt verklebt war, lebten die Wildbeuter des kappten die Bauern die Halme „Fruchtbaren Halbmonds“ in und droschen die Körner aus einer reichgesegneten Natur. den Ähren. Frauen zerraspelÜppig wucherte das Gras, es ten auf Knien hockend das gab riesige Tierherden. Korn auf Mahlsteinen. Die • Um 7500 vor Christus erArbeit war so anstrengend, schöpften sich jäh die Wilddass sich dabei ihr Skelett debestände. Danach erst schlosformierte. sen sich die Menschen, vom Auch die Viehzucht lief anHunger gezwungen, in Dörfangs schlecht. Zwar ließen sich fern zusammen und begannen die harte Fron des „Adam-und-Eva-Siegel“ (um 2200 v. Chr.): Legende aus dem Morgenland Schafe und Ziegen leicht einfangen, doch die Wildtiere reaFeldbaus. Vor allem in dieser Übergangszeit kam zum Backen sind rund 40 Arbeitsschritte gierten auf die Gefangenschaft mit einem Schock. Fast alle wurden unfruchtbar. Wer es offenbar zu Nahrungskrisen und Hun- nötig. Alles musste erlernt, erfunden, aus- sich dennoch vermehrte, brachte mickrigen gersnöten. Die Leute mussten ihren Alltag komplett umstellen. Überall taten sich getüftelt werden. Mit knurrendem Ma- Nachwuchs zur Welt. Der Vergleich der Skelette von steindabei Probleme auf. Brot zum Beispiel ist gen begann ein Zeitalter der Innovazeitlichen Jägern und ersten Bauern bezwar nahrhaft, doch von der Aussaat bis tionen. d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 161 Ausgrabung eines Tempels am Göbekli Tepe: Als hier geopfert wurde, gab es auf Erden noch kein einziges Bauerndorf IRMGARD WAGNER / DAI weist: Die frühen Farmer schufteten härter, Solch ein Leben, zwischen Grill und sie litten häufiger an Krankheiten und Grasbett, hätte der Mensch nie freiwillig starben jünger. aufgegeben. Doch er musste. Die Bauern aus dem Urdorf Nevali Çori Etwa um 7500 vor Christus war in (um 8500 vor Christus) zeugen von der Obermesopotamien das Biotop erschöpft. Mühsal der neuen Lebensform. Ihr Zahn- Nun wurde der Auerochse nicht mehr geschmelz war schlecht, sie litten an Blähun- jagt, sondern domestiziert. Er schrumpfte gen. Denn weil es bei ihnen mit der sich zum Hausrind mit kaum 1,30 Meter Getreideernte noch haperte, aßen sie vor Schulterhöhe klein. allem Erbsen und Linsen. Einen ähnlich krassen Abstieg schildert Wie schön war da doch das alte Jägerle- auch das Alte Testament. Nach der Verben gewesen! Frei, ungebunden und voller treibung aus dem Garten Eden muss Adam Abenteuer. Gazellen und Wildesel waren Schwerarbeit leisten. Gott nämlich hat den einst durch die grünende Flur Obermeso- Acker verflucht: „Dornen und Disteln lässt potamiens gestreift. „Die Herden bestan- er dir wachsen.“ den aus 100 000 und mehr Tieren“, sagt Gleichwohl mögen viele Kollegen den der Münchner Paläozoologe Joris Peters. Bibel-Detektiven nicht folgen. Sie lehnen Wenn die riesigen Rudel die flachen derlei Indiziensuche schon aus prinziFurten des Euphrat überquerten, traten die piellen Erwägungen ab. „Heute wirst du Steinzeithorden zum großen Schlachten mit mir im Paradies sein“, ruft Jesus einem an. Die neuen Befunde zeigen, dass die reuigen Mitgekreuzigten zu. Er meinte das Nomaden bereits um 12 000 vor Himmelreich, den Ort der ErChristus feste Siedlungen erlösung und des ewigen Heils, wo richteten – als Depots für die alle Qualen enden. erbeuteten Fleischmassen, die Solch einen „Ort des Geissie dörrten und einsalzten. tes“ auf der Landkarte zu suEin Leben wie im Paradies. chen, entrüstet sich der SchweiAuch an die wehrhaften Auzer Alttestamentler Othmar erochsen wagten sich die MänKeel, sei schlicht albern und ner heran. Bis zu tausend Kilo zeuge von den materialistischen wogen die Bullen, deren HörVerwirrungen der Gegenwart. ner wie Flintsteinmesser alles „Genauso gut könnten Sie veraufschlitzten. Wer sich an solch suchen, den Stein der Weisen ein Ungetüm heranpirschte, mineralogisch zu bestimmen.“ schwamm in Adrenalin. Umso Sehnsucht nach Ruhe und größer war hernach das Gefühl Archäologe Schmidt ewiger Jugend, heißt es, spredes Triumphs. Vatikan der Vorzeit che aus dem biblischen Bericht. 162 d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 C. GERBER/DAI Luther zufolge kriegte Adam im Paradies „keine Falten“. Seinem Leib entströmte ein herrlicher Wohlgeruch. Auch andere Kulturen kannten solche Orte des Glücks. In Hesiods „goldenem Zeitalter“ leben die Menschen „fern von Mühen und Leid“. Homer erzählt vom Land der Phäaken. Die Bäume dort, „voll balsamischer Birnen, Granaten und grüner Oliven“, trugen rund ums Jahr Früchte. In der Tat heißt es aufpassen: Jede Menge Krypto-Wissenschaftler und „Die Bibel hat doch recht“-Spinner tummeln sich in der Szene. Unverzagt stöbern sie nach den Planken der Arche Noah. Der Spökenkieker Erich von Däniken hält die Bundeslade für einen Elektroakku. Doch diesmal liegt der Fall womöglich anders. Denn im bergigen Obermesopotamien, der Getreidewiege, wo auch der Zielkorridor von Rohl liegt, sind weitere Entdeckungen gemacht worden. Das Gebiet enthält die ältesten Tempel der Welt. Es sind megalithische Wunderbauten und Zeugnisse einer bislang kaum bekannten „goldenen Epoche“ der Steinzeit. Objekt des Staunens ist ein kahler Hügel nahe Urfa. Auf seiner Kuppe standen einst dicht an dicht Tempel. 4 davon sind ausgegraben, weitere 16 wurden mit Magnetometern erfasst. Steinpfeiler ragen empor, verziert mit Spinnen, Löwen und Hundertfüßern. Im Schutt liegen die Statue eines Wildschweins und ein großer Menschenkopf. Der Chefausgräber des monumentalen Göbekli Tepe (deutsch: Nabelberg), der Titel Berliner Klaus Schmidt, nennt die Anlage ein „Unikat“ mit der „architektonischen Wucht von Stonehenge“. Der schwerste Pfeiler, 50 Tonnen, liegt noch gefesselt in einem nahen Steinbruch. „Weltruhm“, glaubt Schmidt, werde die Stätte bald erlangen. Denn das eigentlich Erstaunliche ist ihr Alter: Der Sakralplatz wurde vor rund 11 000 Jahren errichtet – von Jägern und Sammlern. Es ist ein Ort des Ursprungs wie das Paradies. „Bisher dachte man, dass erst die sesshaften Bauern Tempel und feste Siedlungen bauten“, erklärt der Experte. Und nun das: 300 bis 500 Steinmetze waren nötig, um diesen düsteren Vatikan zu errichten. Stelen und Totempfähle schlugen die Arbeiter aus dem Fels. Priester in Tierfellen lebten dort, grell bemalt. In den Rundtempeln loderten Feuer. Als dort die Opferkulte abliefen, gab es auf dem Planeten Erde noch kein einziges Bauerndorf. In einem Buch hat Schmidt nun Details über die geheimnisvolle Jägerkultur vom Göbekli Tepe vorgelegt*. Die Leute lebten wie im Schlaraffenland, es könnten die Paten von Adam und Eva sein. Um 9000 vor Christus, als das Heiligtum entstand, wehten in Eurasien nach über 100 000 Jahren Eiszeit endlich wieder milde Winde. Tauwetter war angesagt. Obermesopotamien erwachte aus dem Spätglazial, alles keimte auf, große landschaftliche Gebiete begannen aufzublühen. Das Volk vom Göbekli jagte vor allem Gazellen; in gutorganisierten Gruppen von * Klaus Schmidt: „Sie bauten die ersten Tempel. Das rätselhafte Heiligtum der Steinzeitjäger“. Verlag C. H. Beck, München; 284 Seiten; 24,90 Euro. Hunderten Personen trieb es ganze Herden der flinken Paarhufer in die Euphrat-Furten oder in kilometerlange V-förmige Fallen. Tonnen an Fleisch und Fellen wurden so auf einen Schlag erbeutet: genug Nahrung für viele Monate, die die Menschen in großen Fleischhäusern horteten und bewachten – die Urform der Sesshaftigkeit. Zugleich ersannen die findigen Wildbeuter das erste Kraftmüsli. Begünstigt vom milderen Klima der Nacheiszeit, wuchsen in dem Gebiet große Felder mit Wildgetreide. Geübt in der „weiträumigen von Fleisch horteten die Tonnen in großen Vorratshäusern. Kontrolle der Landschaft“, so Schmidt, hätten die Jäger diese Körnerwiesen einfach abgesperrt und gegen „Tierverbiss“ geschützt. Hernach brauchten sie die Felder nur noch abzuernten. Ohne viel Mühe spross dem Steinzeitvolk das Getreide gleichsam in den Mund. Dieses neolithische Land des Lächelns ähnelt verblüffend der Heimat von Adam und Eva. Zwar haben Dichter und Maler den Garten Eden gern als Urwald und wilde Natur gedeutet, in dem die ersten Menschen nur auf der faulen Haut lagen. Doch auch im Gottespark wurde gearbeitet, allerdings locker. Ausdrücklich hält Genesis 2,15 fest, dass Adam den Auftrag erhält, Eden „zu bebauen und zu bewahren“. Er muss Bäume und Gräser hüten – wie die Getreidepioniere vom Göbekli Tepe. Hallt da ein Echo nach? Ist das Gleichnis der Bibel eine verschwommene Kunde aus der „goldenen Epoche“ der Steinzeit? Stutzig macht vor allem ein Plättchen aus Speckstein, das im Geröll des Bergheiligtums lag. Es ist etwa vier Zentimeter hoch und sieht aus wie eine Erkennungsmarke. Eingraviert sind darauf zwei Symbole: Baum und Schlange. Und es gibt weitere Parallelen. Bei der Suche nach dem Garten Eden weisen viele Spuren nach Obermesopotamien: • Im Paradies der Bibel sprudeln Wasserquellen – auch im Taurusgebirge entspringen über ein Dutzend Flüsse. • Laut Hesekiel 28,14 liegt der Garten Eden Wildbeuter auf einem „heiligen Berg“ – wie der Göbekli Tepe. • Die „Geburtsgrotte“ Abrahams befindet sich in der Stadt Urfa – kaum zwei Kilometer von dem prähistorischen Sakralberg entfernt. Immer deutlicher tritt hervor, dass die Landschaft um Urfa ein religiöses Kraftfeld „mit großem mythologischen Gewicht“ (Schmidt) war, ein zentrales Gebiet in der Entwicklung der menschlichen Zivilisation. Schon in der vorkeramischen Phase der Jungsteinzeit wurde die Abrahamgrotte als heilige Quelle verehrt. Dort kam die älteste Großstatue der Welt zutage. Sie ist knapp zwei Meter groß und stammt wahrscheinlich aus dem 10. Jahrtausend vor Christus. An dieses glanzvolle Urzentrum des Fortschritts, an dem sich das Schicksal der Menschheit einst in neue Bahnen lenkte, hatten die Juden womöglich noch Jahrtausende später eine vage Erinnerung, als sie die Schöpfungsgeschichte in Worte fassten. Das biblische Wonneland enthielte demnach eine Erinnerung an die goldene Ära IRMGARD WAGNER / DAI (L.); DAI (M.); MUSEUM SANLIURFA / DAI (R.) Zeugnisse aus Adams Atelier Urfa-Statue Wildschweinplastik Paradiesplakette Fundstücke aus Göbekli Tepe und Urfa: Urzentrum des Fortschritts, an dem sich das Schicksal der Menschheit in neue Bahnen lenkte d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 163 SCALA (L.); JOSEPH MARTIN / AKG (R.) Titel Bibelmythen Turm zu Babel, Arche Noah*: Poetische Nabelschnur zur frühesten Hochkultur der Erde der letzten Wildbeuter – und deren Abstieg in die Niederungen einer korngestützten Breikultur. Von Barden und Musikanten mündlich überliefert, geriet die Sage nach Sumer und von dort schließlich in die Bibel. Mit diesem Ansatz, so gewagt er erscheinen mag, eröffnet sich ein frischer Blick auf den wohl wirkmächtigsten Abschnitt des Alten Testaments, oft gerühmt wegen seiner Klarheit, Tiefe und Schönheit. „Da machte Gott der Herr den Menschen aus Erde vom Acker und blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase“, berichtet der Erzähler. Der magische Vorgang steht in deutlicher Analogie zum Tonkneten. In großer Zahl tauchten Lehmfiguren erstmals um 8500 vor Christus in Nevali Çori auf, nur 50 Kilometer vom Göbekli Tepe entfernt. Anfangs ist Adam solo. „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei“, befindet der Allmächtige und lässt sein Ebenbild in Schlaf fallen. Er entnimmt ihm eine Rippe, Baustoff für Eva. Als Adam die Frau zum ersten Mal sieht, stimmt er ein kleines Freudengedicht an: „Das ist doch Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch.“ Tiefer Sinn für Liebe und die Zugehörigkeit der Geschlechter spricht aus diesen Zeilen. Der modernen Frauenbewegung gehen sie gleichwohl auf die Nerven. Anders als im ersten Schöpfungsbericht der Bibel („Gott schuf den Men* Links: niederländisches Gemälde aus dem 16. Jahrhundert; rechts: Buchmalerei aus dem Stundenbuch Ludwigs von Orléans, um 1490. 164 schen zu seinem Bilde und schuf sie als Mann und Weib“) ist Eva hier nur ein nachträglicher Einfall Gottes. Gierig griff der (wegen seiner Lustfeindlichkeit berüchtigte) Apostel Paulus den Gedanken auf. Er nannte die Frau im 1. Korintherbrief „Abglanz“ des Mannes, die auch sonst wenig zu melden habe. Der Verfasser der Genesis ist da viel vorsichtiger: Mit 16 Worten beschreibt er im hebräischen Original die Erschaffung Adams – genauso viele wie bei Eva. Fast scheint es, als hätte der Erzähler einen Lehrgang in „political correctness“ absolviert. Doch leider spielt das Weib auch beim Sündenfall keine rühmliche Rolle. Die Frau ist es, die den Einflüsterungen der listigen Natter erliegt und die verbotene Frucht verspeist. Eine kognitive Explosion ist die hielt den Orinoco für Columbus vier Paradiesbäche. Folge: Schlagartig wird der Mensch sich seiner selbst bewusst. Er empfindet Scham und kann jäh moralisch urteilen. Die Frucht, heißt es im Alten Testament, schafft Erkenntnis. Einige Verirrte haben versucht, das Rätselobst mit der psychedelisch wirkenden Hanfpflanze in Verbindung zu bringen. Das Kifferszenario dürfte ebenso falsch sein wie die Annahme, bei dem Gewächs handele es sich um einen Apfel. Dieses Missverständnis ergab sich erst, als Mönche die lateinische Bibel ins Deutsche übertrugen. Das Wort „malus“ kann beides bedeuten: „schlecht“ und „Apfelbaum“. d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 Als Gott, der gerade in der Abendkühle durch Eden schlendert, den Tabubruch bemerkt, ist sein Zorn groß. Umgehend wirft er die Schuldigen aus dem Paradies. Dabei handelt er nicht ganz uneigennützig. Er will verhindern, dass seine Geschöpfe auch noch vom anderen verbotenen Stamm, dem „Baum des Lebens“, essen. Dieser verleiht Unsterblichkeit. Edens Pforten schließen sich. Den Eingang bewachen fortan Cherubim mit dem „flammenden, blitzenden Schwert“. Niedergeschrieben hat all dies ein gelehrter Jude, der angeblich um 950 vor Christus als Schreiber am Hof von König Salomo lebte. Der Heidelberger Bibelkundler Bernd-Jörg Diebner dagegen vermutet: „Der geschliffene Text ist die Arbeit eines jüdischen Rabbiners aus dem 2. Jahrhundert vor Christus.“ Nur, wo hatte der die Geschichte her? Dass er einen einen der uralten Sagenstrang anzapfte, wird seit langem vermutet. Schnörkellos, wie mit dem Meißel, schreibt er die Eckdaten auf. Phantastisches drängt er zurück, ihm geht es um Schuld und Sühne, um Fragen der Sittlichkeit. Nur bei den Ortsangaben entwickelt er eine seltsame Detailversessenheit. Der Garten liege im „Osten“, berichtet der Autor, und zwar in Eden, womit er eine bestimmte Landschaft meint. Daran grenze ein Gebiet namens „Nod“. Vier Flüsse entspringen in Eden. Den Verlauf des Tigris („fließt östlich von Assyrien“) gibt er exakt an. Auch der Euphrat ist bekannt. Doch bei den beiden anderen Strömen, die das liebliche Urland umfließen, gibt es Probleme: 10 000 v. Chr. • „Der erste heißt Pischon, der „Goldenes Zeitalter“ fließt um das ganze Land Hader neolithischen Jäger wila, und dort findet man Göbekli Tepe: Gold.“ erste steinerne Die Sesshaftwerdung • „Der zweite Strom heißt Bauten des Menschen in Gihon, der fließt um das ganze Ende der letzten Vorderasien Land Kusch.“ Eiszeit 9000 Schon im Altertum wurde verBeginn von Ackerbau und Viehzucht sucht, den Sinn dieser Bibelworte zu fassen. Einen ersten Versuch Anbau von ... Domestikation unternahm der Geschichtsschreivon ... ... Einkorn ber Flavius Josephus im 1. Jahr... Emmer hundert. Er deutete den Pischon ... Ziege als Ganges und den Gihon als Nil. ... Schaf Eine klare Zuordnung des Para... Linsen, 8000 dieses ergab sich daraus allerdings Flachs nicht. ... Schwein Früheste Gleichwohl malten frühe KarBauerndörfer tografen das biblische Utopia in ihre Atlanten. Sie glaubten fest ans irdische Paradies. Auf der Ebstorfer Weltkarte etwa prangt Eden als ... Rind ummauerter Bezirk ganz im Osten. Ir7000 gendwo in Richtung Indien oder noch viel Keramisches Zeitalter weiter sollte das Glücksland liegen. Dafür gab es vermeintlich gute Gründe. Eigentum Ausbreitung Eine um 1150 verfasste Handschrift war(Stempelsiegel auf des Ackertete mit folgender Geschichte auf: Als Tongefäßen zeigen baus nach Alexander der Große bei seinem antiken Besitz an) MesopotaKriegszug einst den Ganges erreichte, verKünstliche mien und 6000 sperrte eine gigantische Mauer das andere Bewässerung Südeuropa Ufer. Drei Tage ruderte der König stromGöttin aus aufwärts, bis sich in dem Bollwerk endlich SintflutTon (4500 ein Fenster auftat. Daraus blickte ein urartige Überv. Chr.) schwemunalter Mann – und ließ den Feldherrn nicht gen des hinein. Euphrat Dass es sich bei dem Pergament, das in Abschriften bald in ganz Europa um5000 Großer Temlief, um eine Fälschung handelte, kam pel von Eridu den Bürgern des Mittelalters nicht in den (für den Gott Sinn. Enki, dem man Selbst Columbus war noch von der Exiszuschreibt, den Menschen aus tenz des Paradieses überzeugt. Bei seiner Erfindung Ton geformt zu dritten Reise erkundete er im August 1498 des Pflugs haben) die Mündung des Orinoco. Als er dort InBrauen 4000 dios mit Goldschmuck herumpaddeln sah, von Bier hielt er den Regenwaldstrom für den goldFrüheste Städte in Mesopotamien führenden Pischon aus Eden. Dann brach die Suche ab. Zwar brachten Wissenschaftler auch die Peene und die Uruk hat Donau als Paradiesbäche ins Spiel. Doch 50 000 Keilschrift das bewies nur: Die Fahndung war auf den Einwohner Hund gekommen. Verwendung 3000 Erst im 19. Jahrhundert wendete sich von Bronze das Blatt. Mit Elan waren damals die ersten König Gilgamesch Archäologen ins Zweistromland eingerückt und auf Zeugnisse einer glänzenden alten Kultur gestoßen. In den Ruinen von BabySumerische Legenden lon, Ninive und Assur, den frühen Kapitaberichten von len des Morgenlandes, taten sich die wahErste Gesetzestexte ren Wurzeln der Bibel auf. 2000 dem paradiesischen Land Die Ausgräber stießen auf steinerne Dilmun und Stiermenschen, die „Karibu“. Auf Plaketvon der Sintten sind sie als Wächter des „Lebensflut baums“ dargestellt – wie die Cherubim aus der Bibel. Selbst ein Urengel kam zutage. Es ist ein bärtiges Männlein mit vier Flügeln, das auf einem 3500 Jahre alten Zy1000 lindersiegel prangt. Niederschrift der Geschichte vom 166 Garten Eden in der Bibel AKG Vom Jäger zum Städter Beim Durchforsten der erbeuteten Keilschriften ging es dann Schlag auf Schlag weiter. Schon die Zauberwelt des Alten Orients kannte • einen Gott Enki, der den Menschen aus Ton formen lässt; • eine Sintflut, die der Held im selbstgebastelten Schiff überlebt; • das Wort Edin (= Steppe), von dem sich wahrscheinlich das hebräische Wort Eden ableitet. Geballt treten die Motive im Keilschrift-Epos von König Gilgamesch auf, dessen Ursprünge ins 3. Jahrtausend zurückreichen. Auf der Suche nach dem ewigen Leben erreicht der Held nach langer Fahrt einen wunderschönen Park. Danach erfährt er, wo die Pflanze der Unsterblichkeit wächst. Kaum hat er das Kraut in seinen Besitz gebracht, entwindet es ihm – die Schlange. Viele Christen empfanden diese Entdeckungen als Schock. Das Alte Testament hatte seinen Offenbarungscharakter verloren. Es war gar kein durch die Wolken gereichtes Gotteswort, wie im Jahr 1902 der Assyrologe Friedrich Delitzsch in einer Rede vortrug. Mose sei vielmehr nur ein „eifriger Kopist“ gewesen. Sogar die Vorbilder von Adam und Eva schienen aus den Trümmern des Orients aufzutauchen. Ein 4000 Jahre altes Rollsiegel (das heute im British Museum von London liegt) zeigt zwei Personen, die neben dem siebenzweigigen Lebensbaum sitzen. Hinter der Frau windet sich eine Schlange. Delitzsch hielt sie für die beiden Pioniere aus der Genesis. Heute weiß man zwar, dass das „Adamund-Eva-Siegel“ ein Heroenpaar darstellt. Gleichwohl gibt es gute Hinweise, dass auch die Legende vom ersten Menschenpaar aus dem Morgenland stammt: • Das sumerische Wort „ti“ bedeutet zugleich Rippe und Leben. Die Erschaffung Evas könnte auf einem Wortspiel in der Urfassung beruhen, die bereits in Israel verlorengegangen war. • Evas hebräischer Name („chawwa“) heißt übersetzt: „Leben“. Diesen Titel trug auch eine Muttergottheit der Sumerer. Damit stand fest: Die Juden, Mitglieder der semitischen Sprachfamilie, hatten ihre religiösen Stoffe im Zweistromland abgekupfert und – neu gemischt – in ihr Altes Testament eingespeist. Sie waren über eine poetische Nabelschnur mit der frühesten Hochkultur der Erde verbunden. Und deren Wurzeln ragen tief. Schon um 4000 vor Christus, das wissen die Forscher heute, entstanden am Unterlauf des Euphrat die ersten Städte. Bald gab es über 20 große Siedlungen, bewohnt von kräuselhaarigen Königen, Priestern und Astronomen, die auf hohen Stu- Titel Nachhall aus dem Paradies Gilgamesch-Keilschrift Siegel mit engelartigem Wesen Betender fentürmen das Sternenzelt vermaßen. Hier wurde das Bier erfunden, die Schrift, das Rad, das erste Abführmittel. Mit diesen quirligen Urmetropolen standen die Juden in Verbindung. Hier lebte einst Abraham, bevor er ins Gelobte Land zog. Der israelitische Stamm Benjamin siedelte lange am Oberlauf des Euphrat. Moritate und Sagen erklangen damals in den engen Gassen der mesopotamischen Lehmstädte. Zu Leiern und langen quäkenden Holzflöten trugen Bänkelsänger ihre Geschichten vor. Viele davon waren schlicht Tatsachen-Storys. Gilgamesch hat wirklich gelebt, Enmerkar, ein anderer Heros, ebenfalls. Und immer wieder besangen die Sumerer auch ihre alte Heimat. Völlig geklärt ist die Herkunft dieses Gründervolks zwar nicht. Sicher aber ist, dass die Leute aus dem bergigen Norden eingewandert waren. Sie stammten aus dem alten Kerngebiet des Ackerbaus. In diese Bergwelt hielten sie auch Handelskontakte. Von den frühen Herrschern der einst größten Stadt des Erdenrunds, Uruk, ist bekannt, dass sie um 3000 vor Christus Eselkarawanen mit Nahrungsmitteln Richtung Zagros schickten. Im Gegenzug erhielten sie Metalle und Edelsteine. Wer hinter die „sieben Berge“ zog, wie es in den Keilschriften heißt, gelangte in ein Land mit grünen Tälern, das sich zu immer zackigeren Gipfeln auftürmte. Der schneebedeckte Ararat galt schon in der Steinzeit als Götterthron. Auch die Sintflut-Sage beruht vielleicht auf einer realen Naturkatastrophe, die sich hoch im Norden ereignete, wo sich der Euphrat zum Teil durch enge Felsschluchten und Canyons windet. 168 „Ausgelöst durch Erdbeben“ sei das Flussbett vor rund 7000 Jahren mehrfach durch Geröll verstopft worden, erklärt der Archäologe Andreas Schachner. Das Wasser staute sich, bis es die Barriere durchbrach. „Flutwellen von 30 Meter Höhe“ türmten sich auf. Solche Unglücke fanden – vom Volksmund verbrämt und ausgeschmückt – Eingang ins Schrifttum des Orients. Aber später erinnerten sich die Sumerer (und mit ihnen die Juden) auch an das längst versunkene Getreide-Dorado vom Göbekli Tepe? Wussten sie noch etwas von ihren Ahnen aus dem zehnten vorchristlichen Jahrtausend, die mutmaßlich Pate standen für Adam und Eva? Um das zu belegen, bedürfte es festerer Beweisketten: Ortsnamen zum Beispiel und klarer geografischer Indizien. Bibelforscher Rohl Mit dem Jeep bis nach Kurdistan d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 Aber auch hier tut sich eine spannende Fährte auf. Der britische Paradiesfahnder Rohl konnte zeigen, dass der iranisch-aserbaidschanische Grenzfluss Araks noch in frühislamischer Zeit „Gyhun“ hieß – wie der Paradiesfluss Gihon. Und selbst den letzten unbekannten Eden-Strom glaubt der Forscher enttarnt zu haben (siehe Grafik Seite 160). Schlagartig steht so ein klarumgrenztes Gebiet im Fadenkreuz. Der Bibelspion aus England jedenfalls ist sicher: „paradise found“. Verblüffend daran: Rohls Kompass weist nun noch stärker nach Norden – mitten hinein in die einst von goldenen Ähren strotzenden Hochtäler Kurdistans. Damit rückt erneut der seltsame Göbekli Tepe in den Brennpunkt der Betrachtung, dieser gewaltige staubige Götterhügel und Ort einer bislang nicht entschlüsselten Religion. Erst fünf Prozent des Heiligtums sind freigelegt. Im September wird der Ausgräber Schmidt mit der nächsten Kampagne beginnen. Vorher ist es zu heiß. Wer heute die kahlen Bergkuppen der Südosttürkei besucht, mag kaum glauben, dass dort einst Auwälder und Pistazienbäume sprossen. Doch die Jäger vom Göbekli Tepe lebten vor 11 000 Jahren in einer sanften, von Grasland durchzogenen Parklandschaft. Erst Abholzung und Überbeanspruchung des Bodens durch den Feldbau haben das Gelände in eine trostlose Staubhölle verwandelt. Schmidt ist mittlerweile sicher, dass die Tempel einem Totenkult dienten. Er hält die bis zu sieben Meter hohen T-Kopfpfeiler für stilisierte Darstellungen steinerner menschengestaltiger Wesen. „Auf einigen der Stelen sind Arme eingemeißelt“, er- AKG (L. + R.); UNIVERSITÄT FREIBURG (R.) Bronzezeit-Funde aus dem Orient: Das kulturelle Gedächtnis der Menschheit reicht Jahrtausende zurück klärt er. Die hammerartige Verdickung oben sei der Kopf. Fettlampen, in denen kleine Feuer loderten, belegen, dass der Platz auch nachts in Betrieb war. Zum Klang dumpfer Trommeln, umtanzt von Schamanen, so mag man sich den gespenstischen Ritualplatz vorstellen. Seltsame Zeichen, Halbmonde und umgestürzte H sind in die Steine geritzt. Überall prangt bösartiges Getier. Darunter immer wieder Schlangen. Als Zickzack sind sie eingeritzt. Fast jeder zweite Quader zeigt im Hochrelief das kriechende Reptil. Im Schlangentempel sehen die Tiere wie Blitze aus. Sicher ist, dass der Kultplatz vom Anbeginn der Zivilisation große Strahlkraft hatte. Wie Stonehenge oder Angkor Vat besaß er ein riesiges Einzugsgebiet. Ähnliche T-Pfeiler, nur kleiner, fanden die Forscher in einem 200 Kilometer großen Umkreis des Heiligtums. Um all die Schamanen, Steinmetze und herbeiströmenden Wallfahrer verköstigen zu können, experimentierten die Betreiber der religiösen Stätte offenbar mit einer neuen Nahrungsquelle. Sie ernteten im großen Stil wildes Getreide. Dass die Urfarmer zuerst bescheidene Gärtchen anlegten, wie bislang vermutet, glaubt Schmidt nicht. Vielmehr hätten die Leute von Anbeginn „riesige, von Horizont zu Horizont reichende Flächen ihrer ERICH LESSING / AKG Assyrische Stiermensch-Statuen Planung unterworfen“ und sie hernach streng bewacht, damit die Halme nicht Opfer grasender Herdentiere wurden. Vielleicht mit Rasseln und Waffen bewehrt, standen die Aufpasser im Gras. Möglich, dass sie auch Zäune bauten, um Auerochsen, Gazellen oder Wildesel auszusperren. Wie gut das gelang, beweisen Hunderte Reibschalen, die in den Ruinen des Heiligtums lagen. Damit steht fest: Die Jäger vom „Nabelberg“ lebten in einer Zwitterstellung zwischen aneignender und produzierender Lebensweise – genau wie Adam und Eva im Garten Eden. Und der Göbekli Tepe wurde jäh verlassen – ebenso wie das Paradies. Etwa um wurden die Tempel verlassen JähErdreich verfüllt. 7500 vor Christus räumten die Jäger den Hügel und verfüllten die Tempel mit Erdreich. Schmidt spricht von einer „geordneten Bestattung“ der Gebäude – als hätte man den Kultplatz für ewig im Gedächtnis behalten wollen. Es war ein Abschied für immer. Eine ganze Menschheitsepoche wurde damals zu Grabe getragen. Die Jäger hatten das Biotop leergeschossen. Es begann der Aufstieg der Bauern. Zeugnis von den nun einsetzenden dramatischen Umbrüchen legt auch die Siedd e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 lung Abu Hureira in Syrien ab. Dort ging die Zahl der erlegten Gazellen um 7500 vor Christus drastisch zurück. An ihre Stelle traten männliche Ziegen und Schafe – ihr Geschlecht ist ein Indiz dafür, dass die Viehzucht begonnen hatte, denn dabei müssen die weiblichen Tiere für den Nachwuchs geschont werden. Nun erst zwang die Not den Menschen in die Niederungen von Stall und Schweinetrog. In Ali Kosch in Westiran lebten um 7200 vor Christus rund hundert Landwirte in einem schäbigen Hüttendorf und bauten Emmer an. Die Saat für die Felder besorgten sie sich bereits aus der Ferne. 120 Generationen lang, etwa von 9000 bis 6000 vor Christus, dauerte diese brutalste Veränderung, die der Homo sapiens bis dahin durchlaufen hatte. Es wäre ein Wunder, wenn sie in der Bibel kein Echo gefunden hätte. Denn auch dort sind die Plagen von Aussaat und Ernte drastisch geschildert. „Verflucht sei der Acker um deinetwillen“, ruft Gottvater dem gefallenen Adam zu, „mit Mühsal sollst du dich von ihm nähren dein Leben lang.“ Gleichwohl hatten die Bauern am Ende die Nase vorn. Ihr Siegeszug war unaufhaltsam. Denn Getreide ist sehr kalorienreich. Wer sesshaft lebt, kann sein Leben auf ein viel breiteres Fundament stellen. Bereits im siebten Jahrtausend vor Christus zogen die frühen Bauern hinab in die fruchtbaren Ebenen am Persischen Golf. Dort erlernten sie die künstliche Bewässerung und leiteten mit Stichkanälen Euphrat-Schlamm auf ihre Felder. Nun boomte es wirklich. In kurzer Zeit stieg die Bevölkerung rapide an. Das Volk Sumers ballte und staute sich geradezu. Ummauerte Städte entstanden, Rechtssysteme und die Gier nach Besitz und Eigentum. Der Mensch, eben noch ein sorgloser Naturgesell, hatte seine Unschuld verloren. Er verkam zum Fiesling, der beim Handel betrog und mit dem Nachbarn stritt. Nun waren Gesetze nötig, um Mord und Vergewaltigungen einzudämmen. Die Leute Sumers lebten bereits drangvoll beengt – über sich Könige, die unentwegt grausame Territorialkriege ausfochten. und mit Schöne neue Zivilisation! Und wieder scheint die Bibel die Sachlage zu spiegeln. „Als aber der Herr sah, dass der Menschen Bosheit groß war auf Erden“, heißt es im Alten Testament, sinnt er auf Rache und ertränkt alles. Er schickt die Sintflut. Auch die beiden Strafen, mit der Gott die Sünderin Eva belegt, passen gut zu den wahren historischen Vorgängen. Zum einen zwingt er dem Weib Geburtsschmerzen auf – den auch die sumerischen Frauen nun verstärkt erleiden mussten. Sesshaft geworden und gut versorgt, konnten sie fünf und mehr Babys 169 REUTERS / ULLSTEIN BILDERDIENST Oberlauf des Tigris (bei der türkischen Stadt Hasankeyf): Wenn Adam wirklich als Erster Mehlspeisen aß, dann war es hier durchbringen. Sie wurden zu Gebärmaschinen – und starben häufig am Kindbettfieber. Der andere Fluch des Himmelsvaters („Dein Verlangen soll nach deinem Manne sein, aber er soll dein Herr sein“) fügt sich ebenfalls ins Bild. Mit dem Aufstieg des – von Männern getragenen – Bauerntums verlor das alte Mutterrecht seine Kraft. In der Architektur siegte der rechte Winkel über die bauchige Form. Selbst die Kinder wurden nun nach dem Vater benannt. Aus dieser Sicht wirkt die Genesis fast wie ein verschwommenes Stenogramm, als wäre sie eine Flaschenpost von den fernen Gestaden der Zeit. Doch Unbehagen bleibt. Rund 5000 Jahre Schriftlosigkeit hätte die Erinnerung an das alte Feuerstein-Paradies, die Adams und Evas vom Göbekli Tepe, überwinden müssen, bevor sumerische Schreiber sie frühestens hätten aufzeichnen können. Der renommierte Religionsforscher und Ägyptologe Jan Assmann aus Heidelberg hält genau das für möglich. Das „kulturelle Gedächtnis“ der Menschheit, davon ist er überzeugt, könne nahezu unverändert „über Jahrtausende hinweg“ Stoffe speichern und weiterreichen. Außerordentliche Personen, Helden, großes Leid, Kriege oder Umweltkatastrophen ätzen sich demnach tief in die kollektive Festplatte der Menschheit ein. In der Tat enthalten die Tontafeln aus dem Zweistromland auch eine Sage, die verdächtige Kunde enthält und womöglich bis ins zehnte Jahrtausend vor Christus zurückreicht. Es ist das Märchen vom heiligen Berg Du-ku, der Heimat von Schaf und Getreide. Ackerbau, Viehzucht und Webkunst seien auf dem fernen Gipfel erfunden wor170 Ist der „Baum der Erkenntnis“ also nur ein Symbol für den Getreidehalm, von dessen Frucht der Mensch am Ende der Eiszeit zu essen lernte und so den Weg ebnete für einen bis heute nicht beendeten Siegeslauf seiner Spezies? So gesehen wäre auch das Schuldgefühl erklärbar, das Adam und Eva plagt. Wie die Leute vom Göbekli Tepe pfuschten sie dem Herrn ins Handwerk – und entthronten ihn ein Stück weit. Deshalb das schlechte Gewissen. „Ihr werdet sein wie Gott“, hatte die Schlange den Einwohnern Edens geweissagt. In der Realität begann dieser Prozess vor über 10 000 Jahren, als der Mensch zum Agrartechniker und Pflanzenzüchter aufstieg, zum Macher und Schöpfer von Dingen, der sein Schicksal nun selbst in die Hand nahm. st der „Baum der Erkenntnis“ nur ein Keine Frage: Im Puzzle Symbol für den Getreidehalm? vom Adam aus Obermesopotamien passen einige SteiDoch der Verdacht ist in der Welt und ne zusammen. Zwischen dem Irak, der eine Brücke über die Jahrtausende zumin- Türkei und den Steppen des heute für Archäologen schwer zugänglichen Norddest gedanklich geschlagen. Klar ist: Die Leute vom „Nabelberg“ wa- iran wurden einst die Triebfedern für ren echte Titanen und Welterschütterer. In eine gewaltige Entwicklung gespannt. Eine ihrer Bedeutung ist die Erfindung des „unbekannte Welt von Skulpturen“ habe Ackerbaus nur mit der Nutzbarmachung sich dort aufgetan, erklärt der Ausgräber des Feuers vergleichbar. Das zivilisatori- Schmidt. Noch liegt eine Decke aus Staub und sche Beben, das die Helden der Getreidezucht auslösten, könnte als Echo bis ins Je- Geröll auf dieser vergessenen Wiege der Zivilisation. Viele verwitterte Ruinenhürusalem der biblischen Zeit gerollt sein. Selbstbewusst pochten die Adams aus gel ziehen sich von Anatolien bis zum KasKurdistan vor 11000 Jahren ans Himmelstor. pischen Meer. Die meisten sind noch unSie modelten Pflanzen um und begannen berührt. Immerhin: Einen Zipfel des Schleiers damit, Tiere einzusperren und sie auf mehr Milch- und Fleischertrag zu trimmen. Damit haben die Archäologen jetzt gelüftet. Ganz begannen sie eine technische Entwicklung, aufgedeckt, könnte er den Blick auf eine an deren Ende die totale Unterjochung und phantastische Fährte freigeben: den Weg zum Garten Eden. Verfügbarmachung der Natur stand. Matthias Schulz den, erzählt die Legende. Dass die Geschichte uralt ist, folgern die Experten aus der Tatsache, dass die dort lebenden Anuna-Götter noch keine individuellen Namen haben. Im 5000 Jahre alten Pantheon der Sumerer stehen sie wie Fremdkörper da, als wären es Götzen aus einer noch weit älteren Epoche. Der Ausgräber Schmidt, der beim Deutschen Archäologischen Institut in Berlin angestellt ist, wagt viel, wenn er die Du-kuSage in seinem neuen Buch nun direkt mit dem türkischen Tempelberg in Verbindung bringt. „Greift das kulturelle Gedächtnis des Alten Orients unerwartet konkret und weit zurück in die neolithische Vergangenheit dieses Raums?“, fragt er zögernd. Eine Antwort mag er einstweilen noch nicht geben. I d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 Wissenschaft MEDIZIN Mast durch Mikroben Für das grassierende Übergewicht haben Mediziner einen neuen Schuldigen im Visier: Entscheidet die Darmflora darüber, ob ein Mensch fettleibig wird? A zusätzlichen Kalorien aus der Nahrung versorgen. Gordons Gruppe entdeckte, dass die Winzlinge zusätzlich auch biochemische Regelkreise in Darmzellen des Wirts manipulieren und auf diese Weise das Anlegen von Fettpolstern begünstigen. Eine Entkeimung der rund 250 Millionen fettsüchtigen Menschen kommt jedoch nicht in Frage. Nicht nur für die Verdauung, sondern auch für die Immunabwehr sind die Mikroben unverzichtbar. Möglich wäre allerdings, nur dickmachende Keime aus dem Darm zu vertreiben, räsonierten die Forscher. Dazu untersuchten sie, inwiefern sich dünne Mäuse in ihrer Bakterienflora von fettsüchtigen Artgenossen unterscheiden. Und siehe da: In den Därmen der dünnen Tiere gediehen hauptsächlich Exemplare der Gattung „Bacteroides“, in denen SPL / AGENTUR FOCUS MARK RICHARDS / ZUMA PRESS n wenigen Orten geht es so bunt zu wie im menschlichen Dickdarm. An die hundert Billionen Bakterien, zu mehr als tausend verschiedenen Arten gehörig, drängen sich in dieser Finsternis. wicht führt vielleicht nicht nur über Diät und Bewegung, sondern auch über eine Veränderung der Darmflora. Allerdings bedeutet dies nicht, dass füllige Menschen ab sofort Bazillen für ihre Hüftpolster verantwortlich machen können. Zwar wird ein jeder direkt nach der Geburt ohne eigenes Zutun von jenen Mikroben besiedelt, die sich gerade auf der Hebammenhand, am Mutterbusen und in der sonstigen Umwelt finden. Gordon und seine Kollegen vermuten jedoch, dass eine falsche Diät unerwünschte Keime regelrecht heranzüchtet: Besonders fettreiche Nahrung lässt demnach im Gedärm Bakterienarten gedeihen, welche die Nahrung optimal verwerten und ihren Wirt dick und dicker machen. Dass die Darmflora eine gewichtige Rolle bei der Fettleibigkeit spielt, steht Dicke in den USA, Darmbakterien: Jeder schleppt anderthalb Kilo an Mikroben mit sich herum Die Winzlinge haben freie Kost und Logis, im Gegenzug regeln sie die Nahrungsverwertung und versorgen den Menschen mit Vitaminen und Zucker. Doch mitunter gerät das Gleichgewicht aus den Fugen, glauben US-Mikrobiologen erkannt zu haben: Manche Bakterienarten erfüllen ihre Aufgaben allzu gewissenhaft – und lassen so den Wanst ihres Wirtes anschwellen. Die Idee von der Mast durch Mikroben geht zurück auf Jeffrey Gordon von der Washington University School of Medicine in St. Louis, der seit Jahren den Zusammenhang zwischen Darmbewohnern und Körpergewicht erforscht. Er sagt: „Ob wir bestimmte Arten in der Bakteriengemeinschaft unseres Darms haben oder nicht, könnte einen profunden Einfluss darauf haben, wie wirkungsvoll wir Energie aus der Nahrung gewinnen und speichern.“ Das würde heißen: Eine Schar unsichtbar kleiner Bakterien entscheidet darüber, warum der eine Pfund um Pfund anhäuft, während der andere dünn bleibt, egal was er auch isst. Und der Weg zum Normalge172 auch für Jeremy Nicholson, Lebensmittelchemiker vom Imperial College in London, außer Frage. Ein bis anderthalb Kilogramm an Darmbakterien schleppe schließlich jeder mit sich herum. „Da überrascht es nicht, dass sie einen großen Beitrag im Stoffwechsel leisten.“ Wie genau dieser Beitrag aussieht, erforschen die Wissenschaftler um den Mikrobiologen Gordon an Mäusen, in deren Körper keine Bakterien leben. Durch zwei Luftschleusen von der schmutzigen Außenwelt abgeschirmt, leben diese „gnotobiologischen“ Tiere in einem Plastikzelt. Zu fressen bekommen sie nur entkeimte Nahrung. Obwohl die keimfreien Mäuse 29 Prozent mehr Futter fraßen als normal besiedelte Artgenossen, hatten sie nach acht bis zehn Wochen 42 Prozent weniger Fett unterm Fell. Wurden diese mageren Mäuse jedoch mit Darmbakterien besiedelt, waren sie schon nach zwei Wochen genauso fett wie die Vergleichstiere. Die rapide Gewichtszunahme liegt nicht nur daran, dass die Bakterien den Wirt mit d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 der schwergewichtigen Nager breitete sich indessen der Stamm der „Firmicutes“ aus. Auf dem Jahrestreffen der American Society for Microbiology in Florida haben die Forscher den Kreis der Verdächtigen jetzt weiter eingeengt. Einer der möglichen Missetäter heißt „Methanobrevibacter smithii“ und fungiert als Müllschlucker in den Gedärmen. Erst dieser Sauberkeim, so offenbaren aktuelle Mäusestudien, verwandelt den Darm in ein attraktives Biotop für viele andere Bakterienarten. Diese angelockten Siedler wiederum verbessern dann die Futterverwertung. Ob Müllmännchen Methanobrevibacter oder andere Keime tatsächlich die Fettsucht des Menschen befördern, sollen künftige Analysen von Stuhlproben zeigen. Die Fahndung in dieser Flora dient am Ende möglicherweise nicht nur feisten Wohlstandsbürgern, sondern auch Hungernden in armen Ländern: Ausgestattet mit Dickmachern im Darm, könnten sie ihre knappe Nahrung optimal verwerten. Jörg Blech Weingut im französischen Burgund GÜNTER BEER / VISUM W E I N BAU Rasterfahndung unter der Erde Was ist es, das große Weine einzigartig – und teuer – macht? Mit Spähsatelliten, Radarsonden und Analysetraktoren wagen sich Geologen und Mikrobiologen an das größte Rätsel der Feinschmeckerei. E s kam der Tag, da wurde dem kalifornischen Winzer Randall Grahm die Mühsal im Weinberg zu dumm. Er warf einfach ein paar zerklopfte Steine in seine Fässer – Granit ins erste, Sandstein ins zweite, Schwarzschiefer ins dritte. Dann ließ er den Wein neun Monate ziehen. Das Ergebnis war wenig begeisternd. Noch immer wollte die ersehnte Steinigkeit im Geschmack sich nicht so recht einstellen. Mit Nachwürzen, so erkannte Grahm, geht es also auch nicht. Ein Zauberwort hat den wunderlichen Mann behext: Mineralität. Unter Winzern und Weinfreunden ist es groß in Mode gekommen. Die besten Weine dünsten im Glas oft rätselhafte Aromen aus, die an nasse Kiesel oder Schiefer erinnern. Manchmal spitzen auch salzige oder metallische Töne hervor. Sie verwandeln das übliche Tuttifrutti aus Brombeer-, Pflaumen- oder Pfirsicharomen in ein schier unergründliches Spiel von Gaumenreizen. Kenner erschlürfen im Mineralischen gar den Nachgeschmack ferner Erdzeitalter. Ganz abwegig ist das nicht. Die Rebstöcke wurzeln oft metertief in verwittertem Schiefer, Feuerstein oder Tuffgeröll. Sie ernähren sich aus den Sedimenten 174 längst verdunsteter Urmeere, aus dem Auswurf längst erloschener Vulkane. „Was Sie in einer Flasche Wein schmecken, sind hundert Millionen Jahre Erdgeschichte“, behauptet der kalifornische Feierabendwinzer David Jones, im Hauptberuf Geologe an der Berkeley-Universität. Jones ist einer von vielen Gesteinskundlern, die sich neuerdings für den geologischen Unterbau der Rebenkultur interessieren. Überall werden inzwischen Weinberge angebohrt, Bodenproben entnommen, Sensoren postiert. Das Rätsel der Weine, die von einzigartigen Böden irgendwie geadelt scheinen, hat einen starken Reiz: Nicht nur, dass solche Tropfen in Blindproben oft Aufsehen erregen, sie erzielen auch höchste Preise. „Nehmen Sie nur das Burgund“, sagt der US-Geologe Larry Meinert. „Die Lage von PulignyMontrachet bringt sagenhaft teure Gewächse hervor, und gleich nebenan gedeihen nur billige Massenweine.“ Wo Klima und Weinbaumethoden sich gleichen, muss der Unterschied offenbar unter der Erde liegen. Ist es das Angebot an Mineralien? Oder eher die Art, wie der Boden Wasser und Wärme speichert? An der kalifornischen Wein-Universität von Davis haben sich die Forscher dieser d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 Fragen im Großmaßstab angenommen. Zum Einsatz kommt alles, was die neueste Technik hergibt: von diversen Spähsatelliten bis hin zum Bodenradar, einem staubsaugerartigen Gerät, das gerade in den ersten Weingütern erprobt wurde. Die Beratungsfirma Terra Spase bietet ihren Kunden einen futuristischen Analysetraktor. In kurzen Abständen senkt sich eine Art Riesenstocher metertief in den Boden und entnimmt Proben für die chemische Analyse. Sonden am Stocher messen zugleich Feuchte und Beschaffenheit des Untergrunds. Eine Live-Kamera späht die Architektur der Porenräume im meist steinigen Erdreich aus – wichtig für die heikle Wasserversorgung der Rebstöcke. Was die unterirdische Rasterfahndung erbracht hat, erscheint sogleich auf digitalen Bodenkarten, die der Computer mittels GPS-Ortung erstellt. „Wir fanden enorme Unterschiede, oft binnen wenigen Metern“, sagt Firmengründer Paul Skinner. Unterhalb der obersten, eher gleichförmigen Krume geht es offenbar erstaunlich abwechslungsreich zu. Mehr als hundert verschiedene Bodenformationen ergaben Wühlarbeiten im berühmten Napa Valley nördlich von San Francisco. Und je nach Untergrund können Aromen, Gerbstoffe Wissenschaft Gottes Werk und Winzers Beitrag Was das Weinaroma beeinflusst 1 Mikroorganismen Auf den Beeren leben Hefepilze verschiedener Stämme. Sie beeinflussen später bei der Gärung das Aroma des Weins. Jeder Hefestamm benötigt dabei bestimmte Bodenmineralien als Co-Enzyme. 1 2 Beschnitt Der Winzer kann die Aromakonzentration erhöhen, indem er die Sonneneinstrahlung durch Laubbeschnitt dosiert oder einen Teil der Trauben vor der Reife entfernt. 3 3 Boden Die Wasserzufuhr ist der wichtigste Faktor. Günstig sind steinige oder sandige Böden, in denen die Rebe öfter darben muss. 4 Nährstoffe Über die Wurzeln nimmt die Rebe Stickstoff, Mineralien und Spurenelemente (zum Beispiel Zink und Eisen) auf. Die Nährstoffe gelangen teilweise in die Beeren. Ihr direkter 4 Beitrag zum Aroma ist noch unklar. erlebt gerade weltweit eine Renaissance“, sagt HansReiner Schultz, Weinbauexperte an der hessischen Forschungsanstalt Geisenheim. Speziell kleine Weingüter bringen Weine aus Einzellagen auf den Markt, die sich mit Lokalität und Bodenkolorit hervortun. Aber auch die deutsche Großkellerei Reh Kendermann, bekannt für schlichte Massenweine für den Export („Black Tower“), bietet inzwischen „Terroirweine“ an („Riesling Kalkstein“, „Roter Hang“), die irgendwie nach Boden schmecken sollen. Die Branche spekuliert auf den abenteuerlustigen Kunden, den die übliche Fruchtigkeit der verbraucherfreundlichen Weine nur noch langweilt. Während der deutsche Durchschnittszecher 2,71 Euro für die Weinforscher Schultz: „Weltweite Renaissance des ,Terroir‘“ Flasche ausgibt, 20 Cent Vor allem die filigraneren Rebsorten, der weniger als vor fünf Jahren, zahlt der Premiumkunde für seine Sehnsucht nach weiße Riesling und der rote Pinot Noir, „Somewhereness“, wie die Amerikaner können je nach Boden und Klima ganz verschieden ausfallen. Mancherorts wechdas nennen, gern 20 Euro und mehr. Das Verlangen nach Herkunft macht sich seln die Charaktere sogar in einem einziauch bei anderen Genussmitteln bemerk- gen Weinberg. Der Winninger Uhlen an bar. Mit dem Erfolg dunkler Edelschoko- der unteren Mosel zum Beispiel ist ein laden zum Beispiel kam der Kakao, ehe- schwindelnd steiler Felshang, an dem windem ein ortloses Schüttgut, zu unverhoff- zige Terrassen übereinandergestaffelt sind tem Ansehen. Nun steigt die Nachfrage wie die Chöre einer Basilika. Drei Schiefernach Bohnen aus besonderen Lagen oder formationen treten hier zutage, und jede gar einzelnen Plantagen – begehrt ist et- bringt ihren eigenen Riesling hervor. Winzer Reinhard Löwenstein, Anstifter wa die Variante Criollo aus der venezolanischen Ocumare-Region, der deutschen Terroirbewegung, erzielt mit der man betörende Aro- seinen drei Weinen aus dem Uhlen Traummen von Mandeln und noten: Kühl, pikant und etwas salzig kommen die Weine aus der Lage „Blaufüsser Kirschen nachsagt. Die höhere Kaffee- Lay“ daher, wo die Reben in blauem kultur kennt die Ver- Schiefer wurzeln. Im „Laubach“ dagegen, lockungen der Terroir wo die Schiefer grau und kalkreich sind, schon länger. Spitzen- entsteht ein tiefgründiger, samtiger Rieslagen wie das Nyeri-Tal ling, der ein wenig nach überreifem Stein2 in Kenia, wo winzige obst schmeckt. Die „Roth Lay“ schließlich Farmen auf vulkani- mit ihrem roten, eisenhaltigen Emsquarzit schen Lehmböden wirt- liefert einen Wein von fast mysteriöser, schaften, werden unter mineralreicher Würze. Kann es sein, dass sich uraltes Gestein Feinschmeckern verehrt. Selbst bei Grünkohl und Pinkel soll hie und da im Wein irgendwie ausdrückt? Den weitaus die Herkunft nicht mehr gleichgültig sein größten Einfluss auf die Aromen scheint – schon machen die ersten Restaurants mit der Boden als Wasserspeicher zu haben. Je nachdem, wie über Jahr und Tag die Ver„Terroirküche“ auf sich aufmerksam. Alles nur eine Mode? Im Weinbau kann- sorgung schwankt, ändert die Pflanze ihren te jedenfalls schon die Antike den Zauber Stoffwechsel. Als günstig erweisen sich dades Ortes, der sich dem Trinker mitteilt. bei immer wieder karge Böden, die das Aus der Grabkammer Tutanchamuns sind Wasser nicht lange halten. Zu den besten 26 Weinkrüge erhalten, auf denen zur Trauben bequemt sich die Rebe in einer Orientierung des Entschlafenen im Jenseits Art kontrolliertem Dahinkümmern. Eine Fraktion der Weinforscher begenau das Weingut, oft sogar die Parzelle der Herkunft verzeichnet ist. Krug Nr. 571 hauptet, damit sei das Rätsel des Bodens etwa verheißt „Süßwein des Hauses Aton auch schon fast gelöst. Die Rebe mache ihre Früchte eben aus Wasser, Licht, Luft aus Karet, Kellermeister Ramose“. MARTIN LEISSL / VISUM und Farbpigmente stark schwanken, mitunter um das Zehnfache. Die neuen Daten sollen die Winzer nun in die Lage versetzen, jedem Bodentyp den bestmöglichen Wein zu entringen: von der messgenauen Tropfbewässerung der Reben bis hin zum Laubschnitt, mit dem sich das Sonnenlicht dosieren lässt, das auf die Trauben fällt. „Das ist natürlich auch für die sonstige Landwirtschaft interessant“, sagt Skinner. Im sonnigen Westen der USA haben Bodenkundler bereits ganze Weinbaugebiete großflächig inspiziert. Auch in Südafrika, Australien und Chile kommt die Erkundung der Bodenfrage in Gang. Dabei hätten die Winzer dort noch vor wenigen Jahren einmütig bestritten, dass sie überhaupt existiert. Die Bodenverehrung galt als nationale Schrulle der Franzosen. Diese sprechen seit je vom „Terroir“, von der Herkunft des Weines, die ihm etwas Unverwechselbares verleihe. Weinmacher anderswo bespöttelten das gern als Marotte altmodischer Bodentümler, die mit der Technik nicht mehr mitkommen. Die Neue Welt setzte auf gentechnisch optimierte Designerhefen und auf computergesteuerte Vergärungsanlagen, die aussehen wie kleine Ölraffinerien. Sie feierte die Machbarkeit jederlei Geschmacks. Umso erstaunlicher nun die Besinnung auf die Eigenarten der Natur. „Das Terroir d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 175 Wissenschaft TERRA SPASE und einigen Nährstoffen, die aber fast überall reichlich vorhanden sind. Der Rebstock ist aus dieser Sicht eine Art Computer, der aus der jeweiligen Abfolge von Wasserzufuhr und Sonnenschein bis zur Lese das jährliche Aromenprofil seiner Beeren errechnet. Nur kennt noch niemand die Software, die in der Pflanze am Werk ist. Die andere Fraktion geht von einem verzwickteren Zusammenspiel aus, in dem auch die Spurenelemente des Untergrunds wichtig sind: Mangan, Zink, vor allem Eisen, das in roten Böden reichlich vorkommt. Von den verfügbaren Nährstoffen hänge es zum Beispiel ab, welche Gene beim Pflanzenwachstum angeschaltet werden, sagt der Molekularbiologe Brian Forde von der Universität Lancaster: „Es wäre nicht eben erstaunlich, wenn dadurch auch der Geschmack mitgeformt würde.“ Analysetraktor der Firma Terra Spase Riesenstocher mit Live-Kamera Die Bodenchemie spielt, wie man heute weiß, sogar noch nach der Weinlese eine Rolle. „Die Hefepilze, die den Zucker der Beeren in Alkohol vergären, brauchen diverse Mineralien als Co-Enzyme“, sagt der Geisenheimer Weinforscher Schultz. In manchen Gärkellern ist eine wahre Multikultur verschiedener Hefen am Werk. Moselwinzer Löwenstein ließ seine Moste während der Gärung von einem Mikrobiologen untersuchen; darin fanden sich insgesamt 56 Hefestämme. Und ein jeder davon trägt seine höchsteigenen Aromen zum Geschmack des Weines bei. Löwenstein gehört zu der wachsenden Gruppe von Winzern, die sich zugunsten des Terroir mit der Technik zurückhalten. Sie arbeiten nicht mit Designerhefen, sondern mit den riskanteren Gärhelfern, die von selbst auf den Trauben und im Keller hausen. Es sind also die eingeborenen Uhlen-Hefen, die in den Rieslingen von den Uhlen-Böden vor sich hin blubbern – Löwenstein sieht sich eher als Talentförderer, der den Wein halb lenkt und halb lässt. Anders als die Kartoffel, die unverdrossen überall knollt, dankt der Wein erfahrungsgemäß jede Art von Aufmerksam176 keit. Deshalb begrüßt Winzer Löwenstein auch die Datensammelei der Bodenkundler. Er hat seine Winzerkollegen aufgerufen, einen Atlas deutscher Spitzenlagen zu erstellen – vom Dorsheimer Pittermännchen bis zum Heppenheimer Centgericht. Alles Wissen über Gestein, Boden, Mikrobiologie soll darin erfasst werden. Die Neue Welt denkt unterdessen schon wieder ungescheut darüber nach, ob man die Terroirs nicht auch technisch ein bisschen frisieren könnte. Das kalifornische Edelweingut Opus One zum Beispiel war nicht ganz zufrieden mit seinem einzigen Wein (knapp 200 Dollar pro Flasche); es mangelte dem Monument noch an französischem Mundgefühl. Was tun? Weinmacher Michael Silacci besorgte sich kurzerhand aus dem französischen Médoc, wo die größten Bordeaux-Weine wachsen, die Wetterdaten von 1961 bis 1998. Nun simuliert Opus One die französischen Schwankungen im Niederschlag mit kalifornischen Bewässerungsanlagen: Der Wein wird gereizt durch lebensechte Trockenzeiten und Pseudowolkenbrüche. Und schon fallen die Gerbstoffe, sagt Silacci, deutlich „samtiger und eleganter“ aus. Der Australier Richard Smart macht es andersherum: Er speist die Profile großer Terroirs in seinen Computer und sucht dann vergleichbare Gebiete in Gegenden, wo noch gar kein Wein angebaut wird. Wenn alles passt – Klima, Bodendaten, Gelände –, können die Pflanzversuche beginnen. So hat Smart nun ein neues Terroir in Tasmanien abgesteckt, das weitgehend dem Vorbild der neuseeländischen Spitzenlage Marlborough entspricht. Die Suche nach neuen Lagen, die für betörende Charakterweine talentiert sind, dürfte an Dringlichkeit bald zunehmen. Denn den Winzern wird langsam bange vor der globalen Erwärmung. In Deutschland zum Beispiel, dem klassischen Rieslingland, könnte es für die empfindliche weiße Rebsorte südlich der Mosel bald zu warm werden. Steigen die Temperaturen weiter, wird also vermutlich eine globale Wanderung der Rebstöcke in Gang kommen. Die einen müssen dann ausweichen nach Norden oder in höhere Lagen, während andere an ihre Stelle treten. Ob aber den jeweiligen Neusiedlern auch die vorgefundenen Böden behagen, ist fraglich. Dann braucht man das Wissen, das jetzt zusammengetragen wird. So bereitet die Wissenschaft von Klima und Boden nebenher schon die Neuaufteilung der Weinwelt vor. Niemand weiß, wo die großen Lagen der Zukunft zu finden sein werden. Sicher ist nur: Für Versuch und Irrtum nach alter Winzertradition bleibt kaum mehr Zeit. „Wenn es dumm läuft“, sagt Hans Schultz, „gehen die Erfahrungen von zwei Jahrtausenden in 50 Jahren den Bach runter.“ Manfred Dworschak d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 M AT H E M AT I K Arithmetik von al-Qaida Der britische Stochastiker Gordon Woo berechnet die Wahrscheinlichkeit von Terroranschlägen – für die Fußball-WM ist sie erfreulich gering. G elegentlich fragen ihn Freunde, wie denn das zusammenpasse: Mathematik, die reinste aller Wissenschaften, die in Zahlen gegossene Vernunft – und diese bärtigen Verrückten, diese irrlichternden Hassprediger, die Menschen dazu verführten, sich als lebende Bomben in die Luft zu sprengen? Gordon Woo sieht da keinen Gegensatz: „Alles, was al-Qaida tut, folgt einer klaren Rationalität“, verkündet er. „Nichts spricht dagegen, dass sich das Verhalten von Terroristen berechnen ließe.“ Woo ist „Katastrophist“, so die offizielle Berufsbezeichnung. Er berechnet die Wahrscheinlichkeit von Terroranschlägen, er spielt Szenarien möglicher Angriffe durch, er kartografiert deren voraussichtliche Zerstörungskraft. Sein Zahlenwerk dient Versicherungen, die im Fall von Katastrophen – Hurrikanen, Überschwemmungen oder eben Terroranschlägen – einspringen. Die harte Währung dieser Institutionen heißt Risiko, und Woo errechnet es auf Punkt und Komma. Für die Fußballweltmeisterschaft etwa lautet sein Ergebnis: 0,38 Prozent. Diese Zahl steht für die Wahrscheinlichkeit, dass das Großsportereignis in Deutschland wegen eines Terroranschlags abgebrochen oder abgesagt wird. 0,38 Prozent, das Leitstand des Stadions in Kaiserslautern RONALD WITTEK / DPA Absage der WM bei mehr als hundert Toten In seinem Bücherregal stehen mathematische Fachbücher neben Bin-LadenBiografien. „Ich muss mich in die Köpfe der Qaida-Führung hineindenken“, erklärt Woo, und das ist nicht leicht. Denn sein Büro mitten in einem Glasgebäude im Bankenviertel, einen Block hinter dem Themse-Ufer, hat wenig gemein mit den Höhlenverstecken in den afghanischen Bergen. Doch bis zu diesen staubigen Orten, meint Woo, könne die Mathematik vordringen, genauer gesagt die Stochastik. Jener Zweig der Mathematik also, der aus dem Griechischen übersetzt „Kunst des Mutmaßens“ heißt. Oft scheitere ein Großanschlag schon bei der Organisation, erklärt Woo: „Je größer die Tat, desto mehr Menschen erfordert deren Planung. Je mehr Menschen aber involviert sind, desto größer das Risiko aufzufliegen.“ Mit einem roten Filzschreiber malt er dabei Punkte auf, die er mit Strichen verbindet – sie sollen eine Terrorzelle darstellen, wie sie etwa Ende 2001 einen Anschlag auf mehrere Botschaften in Singapur geplant hatte. Immer mehr Attentäter wurden eingeweiht. Doch irgendwann war das Netzwerk zu weit geknüpft, die Behörden kamen den Terroristen auf die Schliche. „Es gibt eine kritische Grenze, die sich mathematisch berechnen lässt“, sagt Woo und krakelt eine komplizierte Formel an die Wand. disziplin der Spieltheorie ganz gut zu bewältigen. Al-Qaida konzentriere sich auf Objekte, die ihr unter den Gläubigen die meiste Zustimmung einbringen. „Jeder Anschlag dient schließlich vor allem dazu, neue Anhänger zu rekrutieren“, so Woo. Das World Trade Center zum Beispiel stand ganz oben auf der Liste. Doch der maximale Propagandagewinn verringert sich durch andere Einflussgrößen. Wie bei Wasser, das stets den Weg des geringsten Widerstands gehe, würden weniger attraktive Ziele bevorzugt, die dafür aber weniger stark gesichert sind. „Bei den Anschlägen in Istanbul zum Beispiel sollte eigentlich das US-Konsulat getroffen werden“, sagt Woo. „Die Attentäter entschieden sich dann aber für das britische, weil es leichter zugänglich war.“ Für die Fußball-WM in Deutschland gelte: Warum die hoch abgesicherte Allianz Arena in München angreifen, wenn der Marienplatz viel einfacher zu attackieren ist? „Wer Terror abwehren will, muss stets bessere Sicherheitsmaßnahmen haben als der Nachbar“, konstatiert Woo nüchtern. In Deutschland hat er eine ganze Menge Alternativorte für Anschläge ausfindig gemacht – genug, um die Wahrscheinlichkeit für eine WM-Absage nach unten zu drücken. Außerdem müssten die Terroristen schon gleichzeitig Bomben in mehreren Stadien zünden, um den Fußballzauber zu stoppen. Erst ab hundert Toten, so seine Berechnungsgrundlage, würde eine Absage wahrscheinlich. HORST A. FRIEDRICHS (L.); REUTERS (R.) sei, so der Brite chinesischer Abstammung, glücklicherweise ziemlich gering. Es entspricht etwa der Wahrscheinlichkeit, dass ein 47-jähriger Mann in den nächsten zwölf Monaten verstirbt. Es ist geringer als das Risiko eines Deutschen, irgendwann einen tödlichen Autounfall zu erleiden, doch wesentlich größer als dasjenige, mit dem Flugzeug abzustürzen. Der Weltfußballverband Fifa hat auf Basis dieser Zahl 0,38 ein Versicherungswerk ersonnen, das sein finanzielles Risiko bei einer WM-Absage abdecken soll. Die FifaTochter Golden Goal Finance Ltd. arbeitet dazu mit einer Anleihe: 260 Millionen Euro zahlten Banken und andere institutionelle Anleger in den Fifa-Fonds ein. Dort liegt das Geld jetzt. Sprengt al-Qaida das Turnier, deckt es die von der Fifa zu zahlenden Entschädigungen, und die Investoren verlieren ihr Geld. Trifft ein solches Unglück nicht ein – und die Arithmetik des Herrn Woo spricht dafür –, dann wird den Anlegern ihr Geld wieder ausgezahlt, mit etwa vierprozentiger Verzinsung. Woo arbeitet als Mathematiker für die Londoner Niederlassung der Bera- Mathematiker Woo, Terrorchef Bin Laden: „Alles, was al-Qaida tut, folgt einer klaren Rationalität“ tungsfirma Risk Management Vieles in seinem Laptop trägt die SignaSolutions (RMS). Sie gehört zu einem „Das ist so wie Wasser, das man abkühlt, tur „vertraulich“. Die Risikobewertung für winzigen Zirkel von verschwiegenen und plötzlich gefriert es.“ Die entscheidende Schwelle liege bei einzelne deutsche Städte etwa oder die Unternehmen, die sich auf die Kalkulation 50 Mitwissern. „Dann hat auch eine mit Wahrscheinlichkeit für einen kleineren des Terrors spezialisiert haben. Unmittelbar nach den Anschlägen auf den dümmsten Ermittlern geschlagene Selbstmordanschlag bei der WM. Für amedas World Trade Center schien ein solches Behörde eine hohe Wahrscheinlichkeit, die rikanische Städte, allen voran New York, Risiko unberechenbar. Ende 2001 kün- Zelle zu zerschlagen.“ Woo malt dazu eine kann RMS sogar das Risikoprofil einzeldigte der Axa-Konzern eine Ausfallpolice grafische Darstellung an die Tafel, deren ner Gebäude angeben. Insgesamt fallen die Prognosen der Mafür die WM in Südkorea und Japan. Doch Kurve bei 50 Personen steil anschnellt. Auch die Auswahl des Anschlagsziels thematiker für die USA viel schlechter aus heute boomt das Geschäft. „Kein Unternehmen kann es sich noch leisten, nicht und der Waffen, so ist Woo überzeugt, fol- als für die WM: Das Risiko eines großen gegen einen solchen Anschlag versichert ge klaren Gesetzmäßigkeiten. Sie sei mit Anschlags schätzen sie dort in diesem Jahr Hilfe der exotischen mathematischen Teil- auf 40 Prozent. zu sein“, sagt Woo. Gerald Traufetter d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 177 Technik sekretär aus Berlin, zu sehr in einem der Haltenetze festgekrallt. Als die Schwerkraft R AU M FA H R T wieder einsetzt, schneidet ihm die Schnur ins Fleisch – typischer Anfängerfehler. Ungerührt wickelt Adamowitsch sich einen Verband um den blutigen Finger. „Ihre Männer machen hier einen tollen Job“, ruft er und klopft Wittig gönnerhaft auf Schwebende Staatssekretäre, taumelnde Professoren – in einem die Schulter. Der Staatssekretär hat etwas Experimentalflug proben Promis die Schwerelosigkeit. von einem preußischen General. Nach den ersten zwei, drei Parabeln haie Frisur sitzt. Sogar in der Schwe- umher, um seinen Gästen all die Experi- ben sich die meisten Erstflieger an den rauschhaften Schwebezustand gewöhnt. relosigkeit. Während ihre Mitrei- mente an Bord schmackhaft zu machen. Doch den Erstfliegern in ihren blauen Einige wirken so entrückt wie Sektensenden unkontrolliert durchs Flugzeug trudeln, hebt Dagmar Wöhrl, 52, im Overalls fällt es schwer, sich für irgend- mitglieder, und Sigmar Wittig ist ihr Guru. perfekten Schneidersitz vom Kabinenbo- welche Versuche zu begeistern. Anfänger Ausgelassen wie ein kleiner Junge stramden ab – als wäre sie eine Schülerin von haben genug damit zu tun, das Abenteuer pelt ein Börsenchef in der Luft. Skispringer ohne Erbrechen und blaue Flecken zu Jens Weißflog („Man fliegt immer nur so Jedi-Meister Yoda. Nach der Landung auf dem Köln-Bon- überstehen – ein Trip in die Schwerelosig- weit, wie man im Kopf schon ist“) dreht Salti. Einem betagten Hochschulgelehrten ner Flughafen klettert sie bemüht lässig die keit ist keine Kaffeefahrt. Als die Maschine das Testgebiet über gelingt ein perfekter Fallrückzieher; in Gangway herab. Zusammen mit den anderen Helden des Tages stellt sich die CSU- der Nordsee erreicht hat, gibt der franzö- Zeitlupe segelt der Fußball davon. Insgesamt zwölfmal schleuPolitikerin zum Gruppenfodert Kapitän Le Barzic seine to auf. Ist ihr schlecht geworPassagiere in den Schwebeden? „Nein, mir ging’s gut“, zustand. Trotz der verabversichert Wöhrl. Und lächelt reichten Medikamente gegen routiniert in die Kamera. Übelkeit versagt beim HimGelernt ist gelernt. In melsrodeo gern mal der Maihrem früheren Leben war gen. „Kotzbomber“ nennen die blonde Fränkin mal Miss die Amis die ParabelflugzeuGermany. Später wurde sie ge, mit denen sie ihre AstroBundestagsabgeordnete. Und nauten trainieren. seit dem Machtwechsel reDenn selbst echten Astrogiert sie mit in Deutschland, nauten wird manchmal übel. als Parlamentarische StaatsVor sechs Jahren umkreiste sekretärin im WirtschaftsGerhard Thiele, 52, mit eiministerium, das sich neuernem US-Shuttle die Erde. dings auch um die Raumfahrt Nun steigt der hagere Mann kümmert – der Ausflug in die blass aus dem Zero-G-AirSchwerelosigkeit ist für Dagbus. „Bei der letzten Parabel mar Wöhrl so etwas wie eine hat’s mich erwischt – die Dienstreise. schnellen Wechsel zwischen Offiziell befindet sich der Überschwerkraft und SchweAirbus A300 (Modell „Zerorelosigkeit sind schlimmer als G“) auf einer Forschungs- Staatssekretärin Wöhrl beim DLR-Parabelflug: Wie Jedi-Meister Yoda ein Raketenstart.“ mission. Während der SchweWarum es den einen trifft und den anrelosigkeit, die durch waghalsige Parabel- sische Kapitän Gilles Le Barzic, ein eheflugmanöver erzeugt wird, experimentieren maliger Kampfpilot, das Startkommando: deren nicht, ist ein Rätsel. Die Weltraumdie Wissenschaftler mit Metalllegierungen, „Pull up!“ Dann rast das Flugzeug mit mediziner können bis heute kein System testen eine faltbare Satellitenantenne und vollem Schub steil nach oben. Die Passa- erkennen. Es trifft Dünne wie Dicke, Fraumessen, wie Pflanzen in der Schwerelosig- giere werden auf den Boden gepresst. Jetzt en wie Männer. Einige fühlen sich nur bei wiegen sie fast doppelt so viel wie normal. den ersten Parabeln unwohl, dann komkeit wachsen. Kaum hat der Steilflug einen Winkel von men sie immer besser klar; andere zerDiesmal dient der Experimentalflug des Deutschen Zentrums für Luft- und Raum- 47 Grad erreicht, nimmt der Pilot den mürbt jede weitere Parabel mehr. Nur die fahrt (DLR) aber auch als Werbetour. Ent- Schub extrem zurück – und die Passagiere Alten verkraften den Trip offenbar besser scheidungsträger und Promis sollen am ei- beginnen zu schweben. Wie ein Stein rast als die Jungen. „Leider können wir bislang nicht vorgenen Leib spüren, wie aufregend Wissen- der Airbus auf die Erde zu. Noch eine Mischaft sein kann; vielleicht hilft’s ja bei den nute, und er würde zerschellen. Rechtzei- hersagen, wie jemand auf die Belastung tig zieht Le Barzic die Maschine wieder eines Parabelflugs reagiert“, sagt der DLRnächsten Etatverhandlungen. Es ist der Tag des Sigmar Wittig. Am hoch, nach 22 Sekunden endet die Schwe- Raumfahrtmediziner Bernd Johannes. Der Boden wirkt der 66-jährige DLR-Leiter relosigkeit – Bundestagsabgeordnete und Forscher hat einige Erstflieger verkabelt, meist nüchtern, wie man es von langjähri- Uni-Rektoren plumpsen unsanft zu Boden. um während der Mission EKG zu erstellen. Um Verletzungen zu vermeiden, ist der Auch Dagmar Wöhrl hat sich in den Dienst gen Universitätsprofessoren kennt. Doch in der Luft ist der deutsche Raumfahrtchef Spezial-Airbus entkernt. Weiche Matten der Wissenschaft gestellt. Doch als Versuchskaninchen ist sie unso aufgekratzt, als hätte er ein Aufputsch- an Boden, Wand und Decke erinnern an mittel genommen: „Ich bin schon viermal eine Gummizelle. Dennoch geht es nicht ergiebig. Für die Mediziner wären die Mesmitgeflogen, und es macht mir jedes Mal ohne Blessuren ab. Während einer Schwe- sungen aufschlussreicher gewesen, wenn mehr Spaß; ich glaube, ich bin süchtig ge- bephase hat sich Georg Wilhelm Adamo- sich die Frau Staatssekretärin übergeben worden.“ Aufgeregt läuft er im Flugzeug witsch, 58, der zweite Wirtschaftsstaats- hätte. Olaf Stampf Dienstreise im freien Fall DLR D 178 d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 Chronik 27. Mai bis 1. Juni SPIEGEL TV DONNERSTAG, 8. 6. 22.05 – 23.00 UHR VOX SPIEGEL TV EXTRA Irgendwas ist immer – Leben in einer Großfamilie Dreißig Unterhosen in der Waschmaschine, bergeweise dreckiges Geschirr und die ständig knappe Haushaltskasse – die Organisation des Alltags ist eine logistische Meisterleistung. SPIEGEL TV Extra über das Kleinunternehmen Großfamilie. Der deutsche Papst besucht den Ort der Vernichtung: Benedikt XVI. am vergangenen Sonntag in Auschwitz. S A M S T A G , 2 7. 5 . KATASTROPHEN Ein Erdbeben der Stärke 6,2 auf der Richter-Skala erschüttert die indonesische Insel Java. Nach Angaben der Behörden kamen rund 6000 Menschen ums Leben, Tausende wurden verletzt, rund 200 000 obdachlos. RECHTSEXTREME Der grüne Bundestags- abgeordnete Volker Beck wird in Moskau als Teilnehmer einer HomosexuellenKundgebung angegriffen und erleidet eine Platzwunde am Auge. Beck wirft der Polizei Versagen vor. S O N N TA G , 2 8 . 5 . STAATSOBERHAUPT Bei der zentralen Trau- erfeier für Paul Spiegel, den verstorbenen Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, ruft Bundespräsident Horst Köhler zu mehr Zivilcourage gegen rechte Gewalt auf. Die Gesellschaft dürfe nicht länger dulden, dass Menschen mancherorts aufgrund ihrer Herkunft oder Religion um ihr Leben fürchten müssen. M O N TA G , 2 9 . 5 . AFGHANISTAN Nach dem Zusammenstoß den Schriftsteller Peter Handke mit dem Heinrich-Heine-Preis zu ehren. Handke habe sich durch seine Sympathie für den früheren serbischen Diktator Slobodan MiloΔeviƒ diskreditiert. KONZERNE Nach einem monatelangen Ab- wehrkampf akzeptiert der amerikanische Spezialchemie- und Katalysatorenhersteller Engelhard die Übernahme durch den deutschen Konzern BASF. Das Angebot liegt bei 5,1 Milliarden Dollar. FAMILIENPOLITIK Der Mainzer Minister- präsident und SPD-Bundesvorsitzende Kurt Beck kündigt an, dass der Kindergartenbesuch in Rheinland-Pfalz bis 2010 schrittweise gebührenfrei werden soll. MITTWOCH, 31. 5. VERFASSUNGSGERICHT Die Karlsruher Richter üben in einem Grundsatzurteil scharfe Kritik am bestehenden Jugendstrafvollzug. Bis Ende 2007 müsse eine gesetzliche Grundlage geschaffen werden, die den besonderen Umständen der Inhaftierung von Jugendlichen gerecht werde. ARBEITSMARKT Die Arbeitslosenzahl sank eines US-Militärlastwagens mit Zivilfahrzeugen in Kabul kommt es zu den schwersten Ausschreitungen seit dem Sturz des Taliban-Regimes 2001. Mindestens 20 Menschen werden getötet. im Mai deutlich, und zwar um 255 000 im Vergleich zum April. Das ist der stärkste Rückgang in einem Mai seit 1990. HIGHTECH Der amerikanische Chiphersteller AMD will in den Ausbau seines deutschen Standorts Dresden 2,5 Milliarden Dollar investieren. Es handelt sich um eines der größten ausländischen Investitionsvorhaben in den neuen Bundesländern. MILITÄREINSATZ Die Bundeswehr über- D I E N S TA G , 3 0 . 5 . KULTURPOLITIK Der Stadtrat von Düssel- dorf stellt sich gegen die Entscheidung, SPIEGEL TV THEMA Mode, Marken und Marotten – Die Deutschen und ihre Garderobe Ob Schuhwerk, Hosen oder Unterwäsche – auch wenn für einige Menschen Kleidung nur eine unwichtige Äußerlichkeit ist, den meisten gilt sie doch als ein wesentlicher Bestandteil der Persönlichkeit. SPIEGEL TV Thema über die Vielfalt in der Bekleidungsindustrie. SAMSTAG, 10. 6. 22.10 – 0.10 UHR VOX SPIEGEL TV SPECIAL Vom Skagerrak bis zum Nordkap – Mit Kreuzfahrtschiffen unterwegs an Norwegens Küste Schwer passierbare Fjorde und verschneite Bergketten machen die Reise mit dem Postschiff „Trollfjord“ entlang der Küste Norwegens zu einem einmaligen Naturerlebnis. Bis über den Polarkreis fahren die Passagiere in der Hoffnung, Zeuge eines spektakulären Phänomens zu werden: In sternenklaren Nächten beginnt der Himmel zu leuchten. SONNTAG, 11. 6. 23.45 – 0.35 UHR RTL SPIEGEL TV MAGAZIN Wir sind Fußball! – von Fans, Ordnungshütern und leichten Mädchen; Tatmotiv: MP3-Player – 14-Jähriger erschlägt 13-Jährige; Parkplatz-Krieg in Manhattan – das seltsame Fahrverhalten der New Yorker. D O N N E R S TA G , 1 . 6 . nimmt das Kommando über die internationale Schutztruppe Isaf in ganz Nordafghanistan. URTEIL Die Mutter der neun toten Babys von Brieskow-Finkenheerd in Brandenburg wird wegen Totschlags zu 15 Jahren Haft verurteilt. Die 40-jährige Frau erhält damit die Höchststrafe, die im Regelfall auf Totschlag steht. d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 BERND WEIßBROD / DPA PAWEL KOPCZYNSKI / REUTERS FREITAG, 9. 6. 22.00 – 0.00 UHR VOX Weibliche Fußballfans 181 Register 32 Teams, ein Ziel: Erleben Sie das Fußballfest im großen SPIEGEL-ONLINESpecial – mit Live-Ticker, Interviews, Analysen, Reportagen und Carsten van Ryssens Videokolumne. 왘왘 POLITIK Nervöse Fahnder: Mit nie gekanntem Aufwand soll die WM vor Terror gesichert werden. SPIEGEL ONLINE analysiert die Schwachstellen im Sicherheitskonzept. 왘왘 WIRTSCHAFT WM-Wetten: Normalerweise schätzen sie, wie die Konjunktur läuft – aber verstehen sie auch was von Fußball? Führende Volkswirte erklären, wer Weltmeister wird. 왘왘 KULTUR Fußballkunst: SPIEGEL ONLINE forscht nach, was nach der Eröffnungsfeierpleite vom WMKulturprogramm übrig geblieben ist. 왘왘 UNISPIEGEL Klappcouch: Die Welt zu Gast bei Deutschlands Studenten. SPIEGEL ONLINE berichtet aus WM-WGs und über geldgierige Zimmervermieter. 왘왘 Dazu täglich mehr als 100 weitere aktuelle Nachrichten, Reportagen und Hintergründe bei SPIEGEL ONLINE. Jeden Tag. 24 Stunden. www.spiegel.de Schneller wissen, was wichtig ist. Shohei Imamura, 79. Als Rebell gegen den gepflegten Studio-Stil hat er von den späten fünfziger Jahren an im japanischen Kino Furore gemacht: mit scharfen, zupackend-aggressiven Filmen, die den Blick auf die Schattenseiten und Tabuzonen der großstädtischen Nachkriegsgesellschaft richteten – auf Korruption, Organisierte Kriminalität und Prostitution – oder auf die archaische Rückständigkeit und Grausamkeit des ländlichen Alltags. Fast immer standen misshandelte, leidende, um ihre Würde und ihr Überleben kämpfende Frauen im Zentrum seiner Filme. Auf europäischen Festivals hat Imamuras strenge, meist düstere Expressivität erst spät die gebührende Aufmerksamkeit gefunden, 1983 mit der bäuerlichen „Ballade von Narayama“, 1989 mit dem Hiroshima-Film „Schwarzer Regen“, 1997 mit dem Schuld-und-Sühne-Drama „Der Aal“. Zweimal (1983 und 1997) wurde er in Cannes mit der Goldenen Palme gefeiert, doch dem westlichen Publikum blieb er fremd. Shohei Imamura starb am 30. Mai in Tokio. 182 d e r DB CENTRAL PRESS / PICTURE-ALLIANCE / DPA ner alten Tradition des Hauses drei Monate lang inkognito als einfacher Lehrling im Familienunternehmen und heute weltgrößten Reifenhersteller Michelin arbeiten. Doch die frappierende Ähnlichkeit mit dem Vater und langjährigen Firmenchef François Michelin entlarvte den jungen Edouard prompt. Später machte sich der studierte Ingenieur und illustre Erbe als neuer Michelin-Chef seinen eigenen Namen. Er begann allerdings mit Negativschlagzeilen, als er im September 1999 trotz steigender Gewinne den Abbau von 7500 Stellen ankündigte. Doch der sechsfache Familienvater mit der Vorliebe für schnelle Autos und gregorianische Gesänge zog Konsequenzen aus der „Jugendsünde“, wie er später sagte. Er erneuerte die Produktion, sorgte für mehr Transparenz und beteiligte seine Mitarbeiter am Gewinn des Unternehmens, das seit der Gründung 1889 fast ohne Unterbrechung von einem Familienmitglied geführt wurde. Michelin erzeugt heute rund 200 Millionen Reifen jährlich und beschäftigt 130 000 Mitarbeiter weltweit. Edouard Michelin ist am 26. Mai aus bisher ungeklärten Gründen beim Angeln vor der bretonischen Küste ertrunken. Henry Bumstead, 91. Mit Holz und Pappmaché verwirklichte der im kalifornischen Ontario geborene Filmarchitekt die kühnsten Visionen von Hollywoods größten Regisseuren: Für Alfred Hitchcock baute er den schwindelerregenden Kirchturm, von dem Kim Novak in „Vertigo“ (1958) in die Tiefe stürzt, für George Roy Hill ließ er in „Der Clou“ (1973) das Chicago der Depressionszeit wiederauferstehen, für Clint Eastwood schuf er in „Space Cowboys“ (2000) einen Satelliten im All. Bumsteads liebevoll-detailgenaue Dekors ermöglichten den Regisseuren wagemutige Kamerafahrten und wuchtige Totalen, eröffneten Stars wie Cary Grant, James Stewart oder Robert Redford ungeahnte Spielräume und erzählten ihre eigene Geschichte: Wer die Boxhalle sieht, die der zweifache Oscar-Gewinner Bumstead mit fast 90 Jahren für Eastwoods „Million Dollar Baby“ (2005) entwarf, glaubt den Schweiß und das Blut von Jahrzehnten zu riechen. Henry Bumstead starb am 24. Mai in Pasadena bei Los Angeles. s p i e g e l ARUN NEVADER / WIREIMAGE.COM WM-FIEBER Der aus einer alteingesessenen niedersächsischen Adelsfamilie stammende ehemalige Nato-Befehlshaber diente als Offizier in drei deutschen Armeen: Die Reichswehr der Weimarer Republik bildete den Kavalleristen noch an der Lanze aus. Unter Hitler war er im Oberkommando des Heeres tätig. Nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 nahm ihn die Gestapo fest. Kielmansegg wurde aber schon bald als Regimentskommandeur auf Bewährung an die Front entlassen. In der Militärpolitischen Abteilung der Bonner Dienststelle Blank, dem späteren Verteidigungsministerium, war Kielmansegg als Leiter maßgeblich am Aufbau der Bundeswehr beteiligt. Er gilt als einer der geistigen Väter des Prinzips der „Inneren Führung“, das mit dem Begriff des Staatsbürgers in Uniform zum Markenzeichen der Bundeswehr wurde. 1965 wurde Kielmansegg dafür mit dem Freiherr-vom-Stein-Preis ausgezeichnet. 1968 beendete er seine militärische Karriere als Oberbefehlshaber Alliierte Landstreitkräfte Mitteleuropa. Johann Adolf Graf von Kielmansegg starb am 26. Mai in Bonn. KOJI SASAHARA / AP KIMIMASA MAYAMA / REUTERS Johann Adolf Graf von Kielmansegg, 99. 2 3 / 2 0 0 6 STAN HONDA / AFP Edouard Michelin, 42. Er sollte nach ei- gestorben Personalien Marie Gillain, 30, belgische BENAINOUS-CATARINA-LEGRAND / GAMMA / LAIF Schauspielerin („Mein Vater, der Held“, „Der Lockvogel“), muss für ihre Vertrauensseligkeit büßen: Sie fiel dem Millionenbetrug ihres Finanzberaters zum Opfer. Die Schöne hatte davon jahrelang nichts bemerkt, bis jetzt eine beträchtliche Steuernachzahlung fällig wurde, die sie sich nicht erklären konnte. Nun fordert sie von ihrem ehemaligen „Vertrauensmann“ insgesamt 1,5 Millionen Euro zurück, mit denen der „Freund der Familie“ sich peu à peu über die Jahre sein Gehalt aufgebessert hatte, bis nichts mehr für die Steuerbehörde übrig blieb. Unmittelbare Not muss die Belgierin allerdings kaum leiden: Sie ist das neue Gesicht der internationalen Werbekampagne des Juweliers „Piaget“ und dreht gerade einen neuen Film nach einem Bestseller von KrimiAutorin Fred Vargas. Gillain NEIL HANNA / TSPL Gordon Brown, 55, britischer Schatzkanzler und Möchtegernnachfolger von Tony Blair, machte sich in seiner schotti- Brown, Jugendspieler des Raith Rovers FC schen Heimat unbeliebt mit Bemerkungen zur Fußballweltmeisterschaft. Der „Sunday Telegraph“ hatte einigen schottischstämmigen Kabinettsmitgliedern Fragen zum World Cup gestellt. Die meisten von Browns Kollegen verweigerten sich diskret, etwa der Staatsminister im Außenministerium Ian McCartney, der sich entschuldigte: „Ich bin Schotte und Anhänger des Rugby, deshalb möchte ich nichts zum englischen Fußballteam sagen.“ Nur Brown beantwortete geradeheraus alle Fragen. So sei seine schönste Fußballerinnerung das Europameisterschaftsspiel gegen Schottland 1996, das Paul Gascoigne mit seinem „großartigen Tor“ für England entschied. Den World-Cup-Gewinn 1966 habe er am Fernseher im heimischen Schottland miterlebt, „natürlich“ unterstütze er England, sagt der Schotte Brown, „zwei Drit- tel aller Schotten“ täten das, er selbst werde in „Köln dabei sein beim Gruppenspielfinale England gegen Schweden“. In Browns Heimatgemeinde Kirkcaldy ist man sauer. Der ehemalige Vorsitzende von Browns geliebtem Raith Rovers Football Club äußerte „absolute Verachtung“ für des Schatzkanzlers Haltung. Ein ehemaliger Schulkamerad, jetzt Lehrer, erinnerte sich an die „Enttäuschung“, als Deutschland 1966 gegen England im WembleyStadion verlor. Kenn McLeod: „Wir waren alle fanatische Fans von Schottland und nicht im Entferntesten erfreut, den alten Feind siegen zu sehen.“ José Manuel Barroso, 50, Kommissionspräsident der Europäischen Union, erhielt einen Nasenstüber von aufgebrachten Umweltschützern. Der Europa-Chef hatte eine Liste von Energiespartipps veröffentlichen lassen, mit denen deutlich werden sollte, was der „Einzelne“ tun könne, um die Bedrohung durch den Klimawandel „in Grenzen zu halten“. Den Sitz der Europäischen Kommission in Brüssel schmückt derzeit ein großes Poster mit der Ermahnung: „Du kontrollierst den Klimawandel. Schalte runter. Schalte aus. Recycle. Gehe“. Letztlich, so Barroso, sei „jeder für sein Verhalten selbst verantwortlich“. Umweltschützer bescheinigten nun dem Kommissionspräsidenten Scheinheiligkeit und verlangten, er möge selbst erst mal seine Forderungen befolgen. Seinen privat genutzten VW Touareg solle er stilllegen. Das allradangetriebene Fahrzeug verpeste die Luft Brüssels mit einem Abgasausstoß, der doppelt so hoch sei wie die ursprünglich von der EU angepeilte Obergrenze für Neuwagen. gute Idee, sich für eine Fotoreportage als treusorgender Vater vor seinem Amsterdamer Haus mit einem Kinderwagen fotografieren zu lassen. Das Bild hat nur einen unsichtbaren Fehler: Das Gefährt ist leer. Iris, die kleine Tochter von Bos und seiner Ehefrau Barbara, schlief, wie das Magazin „HP/De Tijd“ jetzt herausfand, zu jenem Zeitpunkt in ihrem Bett. Fotograf Edwin Smulders, der das Bild bereits im Februar vor zwei Jahren für die Frauenzeitschrift „Privé“ gemacht hatte, auf die Frage, ob er damit nicht die 2,5 Millionen Leser des Blattes betrogen habe: „Privé wollte ein Foto von Bos hinter dem Kinderwagen, und das habe ich gemacht.“ Der frühere ShellManager Bos, der Hollands Jan Peter Balkenende nach den Parlamentswahlen 2007 als Premier ablösen will, wurde nach Bekanntwerden des Coups mit dem leeren Kinderwagen von den Holländern abgestraft. Balkenende legte in der Wählergunst um 7 Punkte auf 33 Prozent zu. Und nur noch 42 Prozent der Niederländer setzen ihr Vertrauen in Bos – statt vorher 48. Bos 184 d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 PETER SMULDERS Wouter Bos, 42, Chef der niederländischen Arbeitspartei (PvdA), glaubte, es sei eine Jacques Chirac, 73, französischer Staats- konsequent jene, die ihren Job nicht gut genug erledigten – jedes Jahr rund 6,5 Prozent. Der Versammlung der Chefs der größten Unternehmen Großbritanniens empfahl der Amerikaner dieselbe Politik des radikalen Schnitts: Die „eigentliche Frage“ sei nie: Sind die Leute gut genug? Die einzig wahre Frage sei: Kann es einer besser? Ballmer ging sogar einen Schritt weiter und warb für seine Methode als ein gewinnbringendes Geschäftsprinzip für alle Unternehmen. Zum Beweis, dass es funktioniert, nannte er die eigene Firma. Vor 26 Jahren habe er sich mit Bill Gates zusammengetan, da gab es bei Microsoft nur 30 Angestellte – „die meisten von ihnen waren nicht sehr gut“. präsident, sorgte ungewollt und indirekt für eine bilaterale Medienzensur in Brasilien, wo er sich vorige Woche zu einem Staatsbesuch aufhielt. Der Elysée-Herr überbrachte in einer Begrüßungszeremonie im Präsidentenpalast in Brasília seinem Gastgeber Luiz Inácio „Lula“ da Silva, 60, neben den Grüßen der Grande Nation eine Stanislaw Dziwisz, 67, Kardinal SIPA PRESS und Erzbischof von Krakau, hat Verständnis für alles Irdische. Kaum hatte Papst Benedikt Sonntagabend um 20.00 Uhr vom Flughafen Krakau-Balice aus Polen in Richtung Rom verlassen, ließ er eine zünftige Grillparty steigen. Mit Bier, Wein und den Honoratioren der Stadt feierte er den erfolgreichen Papstbesuch im Innenhof der Residenz der Krakauer Bischöfe. Seine Landsleute außerhalb der heiligen Mauern, die zwei Tage lang den deutschen Papst umjubelt hatten, mussten derweil mit Wasser anstoßen. Das aus Anlass des hohen Besuchs verhängte strikte Alkoholverbot galt noch bis Mitternacht. Chirac, Ehepaar da Silva Steve Ballmer, 50, auf ein Vermögen von 14 Milliarden Dollar geschätzter Chef der SoftwareFirma Microsoft, gab sich jüngst in Großbritannien als ungebändigter Kapitalist zu erkennen, als er sein Hire-and-fireModell propagierte. Microsoft entlasse von seinen weltweit 61 000 Mitarbeitern Ballmer d e r BRUNO VINCENT / GETTY IMAGES Originalzeichnung des Architekten Le Corbusier. Als der grauhaarige „Lula“ dem Franzosen seine neben ihm höchst jugendlich wirkende Ehefrau Marisa Letícia, 56, vorstellte mit den erklärenden Worten „Sie ist jünger als ich …“, entfuhr dem Pariser Charmeur ein fröhliches „Ah, das war also eine Verführung einer Minderjährigen“. Während Chiracs Entourage erstarrte und die Schuhspitzen betrachtete, reagierten die Brasilianer, denen die Dolmetscherin offenbar eine abgemilderte Version gegeben hatte, zunächst erheitert wie auf ein Kompliment. Kurz darauf jedoch stürzten sich brasilianische und französische Diplomaten auf die Fernsehleute mit der klaren Order: Das sei eine private Begegnung gewesen, die dürfe nicht im Fernsehen gezeigt werden. Die TV-Menschen beider Nationen hielten sich an die Weisung und sendeten Chiracs charmanten Schnitzer nicht. Kay Nehm, 65, seit vergangenem Donnerstag Generalbundesanwalt a. D., reagierte bei seiner Verabschiedung in Karlsruhe geradezu schroff auf die versöhnliche Rede von Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD). Zypries hatte ausdrücklich Nehms „rechtsstaatliche Prinzipientreue“ gelobt. Doch ihr „lieber Herr Nehm“ begrüßte Zypries förmlich mit „Frau Bundesministerin“ ohne Namensnennung. Dafür setzte Opernfreund Nehm immer wieder feine Spitzen Richtung Berlin, etwa die, dass es auch im richtigen Leben immer wieder „machtversessene Frauen“ gebe, die „schwächliche Verehrer und Subalterne zu bösem Tun verleiten“. Wen er damit besonders gemeint haben könnte, wurde deutlich, als er sich zwar bei zahllosen Weggefährten namentlich bedankte, Zypries, ihre Amtsvorgängerin Herta Däubler-Gmelin und den ehemaligen Justizstaatssekretär Hansjörg Geiger aber unerwähnt ließ, unter Verweis auf „zu widersprüchliche“ Signale und „genüsslich publizierte Nörgeleien“ aus seinem „vorgesetzten Ministerium“. Trotz – oder gerade wegen – der harschen Worte bekam Nehm minutenlang stehenden Applaus. s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6 185 Hohlspiegel Rückspiegel Aus der „Hockenheimer Tageszeitung“: „Die Frau soll im Zustand erheblich verminderter Schuldunfähigkeit gehandelt haben.“ Zitate Aus einem Prospekt der Firma Sziols Aus einer Konzertkritik im „Bergsträßer Anzeiger“: „Wichtig ist allein, dass man sich entspannt, die Ohren auf Durchzug stellt und ihn genießt, den warmen Sound der ,Members Only Group‘.“ Aus der „Leipziger Volkszeitung“ Aus der „Bild“: „Als die Richterin seine widerlichen Sex-Botschaften verlas, stöhnten die Zuschauer in Saal 223 des Rostocker Amtsgerichts.“ Aus einer Anzeige im „SaarSpiegel“ Aus einer Anzeige von „KarstadtQuelle Versicherungen“ im „rtv-Magazin“: „Wenn ich schon in Deutschland lebe, dann will ich wenigstens sterben wie Gott in Frankreich.“ Aus der „Kreiszeitung Wesermarsch“ Aus der „Hannoverschen Allgemeinen Zeitung“: „Eine hohe Dichte von Geflügel sei erst bei mehr als 20 000 Tieren pro Quadratmeter erreicht.“ 186 Der „Tagesspiegel“ zum SPIEGELGespräch mit Irans Präsident Mahmud Ahmadinedschad „‚Wir sind entschlossen‘“ über den Holocaust, die Zukunft des Staates Israel und Teherans Anspruch auf Nuklearenergie (Nr. 22/2006): Irans Präsident Mahmud Ahmadinedschad im O-Ton zu lesen, ist immer aufschlussreich. Egal, ob er einen 18-Seiten-Brief an George W. Bush schreibt oder dem SPIEGEL ein sechsseitiges Interview gibt. Dort verdreht er munter die Fakten seines Atomprogramms, zweifelt wie stets den Holocaust an, sieht den Westen von einer zionistischen Meinungsmafia beherrscht und will den Deutschen ihren Schuldkomplex austreiben. Es ist kein Wunder, dass unsere Neonazis Ahmadinedschad zur WM willkommen heißen. Mit seinen Thesen ist er problemlos anschlussfähig an die hiesige Szene. Die israelische Tageszeitung „Maariv“ über die SPIEGEL-Edition der besten Romane und Sachbücher: Das Buch „Liebesleben“ von Zeruya Shalev ist vom deutschen Magazin DER SPIEGEL als einer der besten 20 Romane der Weltliteratur der letzten vier Jahrzehnte ausgezeichnet worden. Shalev ist die einzige Israelin und eine der wenigen weiblichen Schriftsteller auf der Liste. An ihrer Seite befinden sich hochgeschätzte Schriftsteller und Werke, darunter Gewinner des Literaturnobelpreises wie Günter Grass mit „Das Treffen in Telgte“, „Herzog“ von Saul Bellow, „Schande“ von J. M. Coetzee und „Der menschliche Makel“ von Philip Roth. Die Kulturredaktion des Blattes wählte sie aus den SPIEGEL-BestsellerListen aus. Im Laufe des Jahres werden die 20 ausgesuchten Romane in einer SPIEGEL-Sonderedition herausgegeben. Die „Neue Zürcher Zeitung“ zum SPIEGEL-Gespräch mit der brasilianischen Fußballlegende Sócrates über weltweite Geschäfte mit Talenten (Nr. 18/2006): Kostproben seines stupenden Könnens hat der Weltmeister Brasilien immer wieder aufblitzen lassen. Am meisten beeindruckte seine Fähigkeit, das Schwierige leicht und beschwingt aussehen zu lassen … Im Heimatland des Weltmeisters machen sich allerdings kritische Beobachter zu diesem Thema – was die Zukunft betrifft – einige Gedanken. So sagte kürzlich Sócrates, ein Mitglied der legendären Seleção von 1982, in einem Interview im SPIEGEL spöttisch, die brasilianischen Spieler würden heute praktisch für den europäischen Markt „geboren“. Kaum einer, der noch wirklich „brasilianisch“ spiele. d e r s p i e g e l 2 3 / 2 0 0 6