Der Spiegel 44/1998 - Literaturhaus München

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Der Spiegel 44/1998 - Literaturhaus München
Kultur
AU T O R E N
Der Fluch der Väter
Ihre Romane handeln von Themen, die in ihrer Heimat Finnland
zumeist verschwiegen werden: Arbeitslager, Alkoholismus,
Gewalt. Nun erscheinen Leena Landers Bücher auf deutsch.
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ULANDER / ACTION PRESS
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er Winter beginnt jedes Jahr in der schwarzen Schmetterlinge“ spielt Anfang
zweiten Septemberwoche. Nicht, der sechziger Jahre in einem Heim für kridaß es dann wirklich kalt wäre in minell gewordene Jungen. So ein Heim leiFinnland, aber die feuchte Abendluft kün- tete Landers Vater einige Jahre lang, mit
digt den Frost schon an. Das Tageslicht hat seiner eigenen Hart-aber-gerecht-Methoseinen Rückzug begonnen, und die Näch- de. Heute ist das Ziegelhaus umzingelt von
te sind wieder blauschwarz und nicht Schnellstraßen nach Turku, aber damals
lag es weitab von allem und jedem in einer
mehr, wie im Sommer, grau.
In der zweiten Septemberwoche tritt Hügel- und Waldlandschaft. Nichts gab es
Leena Lander ihre Isolationshaft an, wie dort außer dem Heim und einem Friedhof.
sie es nennt. Morgens um
neun Uhr, nach dem Frühstück mit ihrem Mann und
den drei Söhnen, geht sie
ins Arbeitszimmer. Von
ihrem Tisch aus könnte sie
den großen Baum, den
weißen Gartenzaun sehen
und die benachbarten
Holzhäuser. Aber dahin
schaut sie nicht. Bis nachmittags um vier Uhr, wenn
die Jungen aus der Schule
kommen, flüstert sie vor
sich hin, spricht Dialoge,
probiert Formulierungen
und tippt. In der ersten
Maiwoche wird ihr Roman
fertig sein. Dann beginnt
der Sommer.
Neun Bücher hat Leena
Lander, 42, geschrieben,
vier davon standen auf der
finnischen Bestsellerliste.
Insgesamt wurden sie in
13 Sprachen übersetzt; im
vergangenen Jahr erschien
erstmals einer ihrer Romane auf deutsch und stieß
bei der Kritik auf verblüffte Zustimmung. Vor kurzem ist schon der dritte auf
den Markt gekommen:
„Die Insel der schwarzen
Schmetterlinge“ wurde in Schriftstellerin Lander: Kindheit zwischen Heim und Friedhof
Finnland schon 1991 veröfLeena führte ein Tagebuch; was sie dort
fentlicht und bedeutete für Lander den
Durchbruch zur international anerkann- hineinschrieb, war bunter und dramatischer als das, was wirklich passiert war.
ten Schriftstellerin*.
„Vielleicht schreibt man die besten Meistens ging sie nur mit ihrer Schwester
Bücher über das, was einem ganz dicht am zu einem der Grabsteine und erfand die
Herzen liegt“, sagt Lander, und das ist in Lebensgeschichte des Toten, möglichst dradiesem Fall ihre Kindheit. „Die Insel der matisch, möglichst traurig.
Drei Jahrzehnte später las sie ihre Notizen
wieder und fing an, sich allmählich an
* Leena Lander: „Die Insel der schwarzen Schmetterdas Heim zu erinnern – und daran, wie die
linge“. Aus dem Finnischen von Angela Plöger. Btb bei
unterdrückte Gewalt hervorbrach. Am
Goldmann, München; 288 Seiten; 36,90 Mark.
Kultur
Samstagabend sahen die Jungen immer
sehr hübsch aus mit ordentlichen Hemden
und mit Pomade gekämmten Haaren, und
sie waren nett zu den zwei Töchtern des
Heimleiters. Aber dann stahlen sie Leenas
Puppe und schlitzten sie zwischen den Beinen auf. „Ich verstand das nicht und konnte auch niemanden fragen“, sagt Lander.
„Das war meine erste Vorstellung von Sex:
geheim und gewalttätig.“
Ein anderes Mal beobachtete sie zufällig, wie die Jungen einen Neuankömmling mit einem heißen Eisen quälten. Verstört notierte sie die Szene in ihrem Tagebuch.
Solche Ereignisse hat sie in ihren Roman eingearbeitet. Die Rahmenhandlung
aber ist fiktiv: Juhani Johansson ist neun
Jahre alt, als das Jugendamt ihn in ein Erziehungsheim schickt. Seine Eltern sind
nicht tot, sondern Alkoholiker und mit sich
selbst überfordert. Der Vater prügelt. Die
Mutter hat versucht, Juhanis kleinen Bruder zu ertränken. Die Pflegefamilie, bei
der Juhani zunächst war, erträgt seinen
Jähzorn nicht.
Das Jugendheim liegt in den finnischen
Schären. Der Herr der Insel ist Olavi Harjula. „Ich bin hier Gott und Herr Zebaoth“, sagt er zu Juhani, „und ich kann
ein sehr unangenehmer Herr Zebaoth
sein.“ Wer flucht, wird zu schweren
Zementarbeiten am Viehstall eingeteilt.
Den heimlichen Anführer der Jungen läßt
er auspeitschen, weil dieser Juhani ge-
nicht allein ihren Vater (der die Bücher seiner Tochter grundsätzlich nicht liest). Diese Beschränkung aufs Private wäre ihr
zuwenig.
Harjula und seine Insel stehen für Urho
Kaleva Kekkonen und sein Land. Von 1956
bis 1981 war er Finnlands charismatischer
Staatspräsident. Er steuerte das Land in die
Die Zucht von Seidenraupen
scheitert im kalten Norden
wie der Kampf um die Zöglinge
8 (9) Diana Gabaldon Der Ruf der
Trommel Blanvalet; 49,90 Mark
quält hat. Brutalität bestraft Harjula mit
Brutalität.
Harjula ist kein Sadist, sondern ein fehlgeleiteter Idealist, der einen alttestamentarischen Begriff davon hat, wie man Recht
schafft und andere auf den rechten Weg
zwingt. Er scheitert, denn die Aggression
läßt sich nicht zähmen, obwohl es jahrelang
so aussieht. Und auch sein anderes Projekt, das genauso wirklichkeitsfern ist, geht
schief: der Versuch, Seidenraupen auf der
kalten, nassen Schäreninsel zu züchten.
Lander erzählt die Geschichte im Präsens, ganz nah an dem verwirrten und in
Angst und Zorn verfangenen Juhani, der
mehr trotz als wegen Harjulas Methoden
zu sich selbst findet. Sie versucht zu verstehen, was in seinem Kinderkopf vorgeht
und welche brutale Dynamik eine solche
Gruppe von ausgesonderten Jungen treibt,
und die Suche eines Verlorenen nach seiner
Zukunft hat sie sensibel und doch kraftvoll
aufgeschrieben.
Mit der Beschreibung des Heimdirektors hat sie nicht nur ihre Kindheit aufgearbeitet: „Ich habe einen riesigen Vaterkomplex“, sagt Leena Lander – wie alle
ihre Landsleute. So meint sie mit Harjula
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Bestseller
Belletristik
1 (2) Ingrid Noll Röslein rot
Diogenes; 39 Mark
2 (3) Marianne Fredriksson Simon
W. Krüger; 39,80 Mark
3 (1) Donna Leon Sanft entschlafen
Diogenes; 39 Mark
4 (5) Martin Walser Ein springender
Brunnen Suhrkamp; 49,80 Mark
5 (4) Marianne Fredriksson
Hannas Töchter W. Krüger; 39,80 Mark
6 (6) Arthur Golden Die Geisha
C. Bertelsmann; 46,90 Mark
7 (7) John Grisham Der Partner
Hoffmann und Campe; 48 Mark
9 (8) Ken Follett Der dritte Zwilling
Lübbe; 46 Mark
10 (10) Stephen King Sara
Heyne; 49,80 Mark
11 (11) Catherine Clément Theos Reise
Hanser; 39,80 Mark
12 (12) Henning Mankell Die fünfte
Frau Zsolnay; 39,80 Mark
13 (13) Christian Jacq Ramses –
Im Schatten der Akazie
Wunderlich; 42 Mark
14 (14) Richard Preston Cobra
Droemer; 39,90 Mark
15 (–) Peter Härtling
Große, kleine Schwester
Kiepenheuer & Witsch;
39,80 Mark
Der verschlungene
Lebensroman von Lea
und Ruth, zweier
Schwestern aus Brünn
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sichere Neutralität zwischen Ost und West
und setzte idealistisch einen Sozialstaat
durch, den das Anfang der neunziger Jahre wirtschaftlich stark angeschlagene Land
inzwischen nicht mehr finanzieren kann.
„Von außen sah unter Kekkonen alles gut
aus, alle arbeiteten hart und machten Geld,
bauten sich Häuser“, sagt Lander, „aber
Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich
ermittelt vom Fachmagazin „Buchreport“
Sachbücher
1 (1) Jon Krakauer In eisige Höhen
Malik; 39,80 Mark
2 (4) Monty Roberts Der mit den
Pferden spricht Lübbe; 44 Mark
3 (2) Stéphane Courtois und andere
Das Schwarzbuch des Kommunismus
Piper; 68 Mark
4 (3) Dale Carnegie Sorge dich
nicht, lebe! Scherz; 46 Mark
5 (5) Harriet Rubin Machiavelli für
Frauen W. Krüger; 34 Mark
6 (9) Alice Schwarzer Romy Schneider
Kiepenheuer & Witsch; 36 Mark
7 (6) Jürgen Grässlin
Jürgen E. Schrempp Droemer; 39,90 Mark
8 (7) Peter Kelder Die Fünf „Tibeter“
Integral; 22 Mark
9 (8) Ute Ehrhardt Gute Mädchen
kommen in den Himmel, böse überall hin
W. Krüger; 32 Mark
10 (10) Isabel Allende Aphrodite
Suhrkamp; 49,80 Mark
11 (12) Krämer/Trenkler Das neue
Lexikon der populären Irrtümer
Eichborn; 44 Mark
12 (–) Guido Knopp Hitlers Krieger
C. Bertelsmann; 46,90 Mark
13 (11) Günter Ogger Absahnen und
abhauen Droemer; 39,90 Mark
14 (13) Maxeiner/Miersch Lexikon der
Öko-Irrtümer Eichborn; 44 Mark
15 (–) Fauziya
Kassindja Niemand
sieht dich,
wenn du weinst
Blessing; 44,90 Mark
Ein autobiographisches
Plädoyer gegen
die Beschneidung von
Mädchen in Afrika
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dabei wurde einfach übersehen, daß die
Zahl der Selbstmorde stieg und der Alkoholkonsum sich fast verdoppelte.“
Auch in ihren anderen Büchern macht
Lander Finnlands Vergangenheit zum Thema: In „Mag der Sturm kommen“ geht es
um die Unruhen, die Ende der zwanziger
Jahre begannen, als die halbfaschistische
Lapua-Bewegung die Kommunisten bekämpfte. Lander erzählt die wahre Geschichte eines nie gesühnten Mordes an einem Bergarbeiter, in den auch die Polizei
verwickelt war. Gerade hat sie in ihrer Heimat ein Buch veröffentlicht, in dem sie
über die finnischen Arbeitslager der dreißiger Jahre schreibt.
Lander nimmt sich die verleugnete Geschichte vor. Sie recherchiert in Archiven
nach und bei den letzten Alten, die sich
Ihre Familie hat eine Geschichte
der Gewalt – „typisch
finnisch“, behauptet Lander
noch erinnern. Denn jenen, die sie als Nestbeschmutzerin beschimpfen, will sie antworten können, daß alle Fakten stimmen.
Auf einer politischen Mission ist sie dennoch nicht, eher will sie sich mit ernsthaften und heiklen Themen so weit wie möglich von ihren ersten Romanen entfernen.
Das waren Liebesschnulzen, geschrieben
von einer phantasievollen Literaturstudentin, kommerziell erfolgreich zwar, aber
ansonsten gräßlich.
Nach und nach sind Landers Bücher realer geworden, aber auch brutaler. In jedem
Roman wird nun gemordet, zum einen,
weil das gut für die Spannung ist, zum anderen, weil Landers Familie eine Geschichte der Gewalt hat – „typisch finnisch“, behauptet sie.
Ihr Großvater wurde von russischen Soldaten erschossen, ihr Onkel versehentlich
beim Spielen von einem Nachbarsjungen
getötet, ihr Cousin, ein Drogendealer, kam
unter ungeklärten Umständen im Gefängnis zu Tode, und in der Mittsommernacht
vergangenen Jahres wurde ihr Schwager
im Park von einem Betrunkenen erschlagen. Auch die Gewaltkriminalität, sagt Lander, würde in Finnland am liebsten verschwiegen.
Als Leena Lander 1991 den Roman über
Juhani und das Erziehungsheim veröffentlichte, dachte sie, sie hätte ein Buch
über die sechziger Jahre geschrieben. Aber
dann las sie 1994 in der Zeitung über den
Skandal um das finnische Jugenddorf Kuttula, in das auch Hamburgs Crashkid Dennis zur Besserung geschickt worden war.
Ein ehemaliger Polizeichef versuchte dort
– wie Harjula oder wie ihr Vater –, mit einer Mixtur aus Härte und Freundlichkeit
die Jungen zu resozialisieren. Seitdem grübelt Leena Lander darüber nach, ob sie
vielleicht doch eine Chronistin der Gegenwart ist.
Marianne Wellershoff
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