Camille Claudel – ein Künstlerleben zwischen Wahn und

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Camille Claudel – ein Künstlerleben zwischen Wahn und
Camille Claudel – ein Künstlerleben zwischen Wahn und Leidenschaft
Leben zwischen Wahn und Leidenschaft – Camille Claudel, eine
schizophrene Künstlerin um die Jahrhundertwende
Camille Claudel zählt unbestritten zu den wenigen großen Bildhauerinnen
unserer Zeit, dennoch blieb ihr Leben eher ein Rätsel. war sie als Person und
als Künstlerin eher unbekannt. Sie war eine sehr eigenwillige Künstlerin, sie
war die Geliebte Auguste Rodins. Ihr Leben endete in Armut. Sie starb nach
30-jährigem Aufenthalt in einer Heilanstalt.
Wie kam es zu diesem tragischen Schicksal, wo doch alles so verheißungsvoll
begann?
In meinem Vortrag möchte ich nicht die Biographie von Camille Claudel
beleuchten, sondern mich eher auf jene Aspekte ihres Lebens konzentrieren,
welche die psychische Erkrankung von Camille Claudel betreffen. Das Bild
der beeindruckenden Frau und Künstlerin wird dadurch keineswegs
beeinträchtigt – im Gegenteil. Camille Claudels Persönlichkeit, ihre
paranoiden Wahnvorstellungen und ihr künstlerisches Genie sind letztlich
untrennbar miteinander verflochten.
Überblickt man die Entwicklung von Camille Claudel unter dem Aspekt der
Erkrankung würde man unter heutigen Bedingungen die Diagnose einer
paranoiden Psychose bzw. einer paranoiden Schizophrenie stellen. Ein
derartiges Krankheitsbild lässt sich heute sehr gut behandeln, jedoch immer
vorausgesetzt, dass der Patient auch kooperativ, d. h. krankheits- und
behandlungseinsichtig ist. Und nicht nur das – auch die sozialen
Begleitumstände müssen unter heutigen Umständen ideal sein, d. h. die
Familie muss in die Behandlung integriert werden und auch lernen, mit der
Erkrankung umzugehen. Wenn möglich, sollte noch Einbindung in ein
soziales Netz bestehen. Auch unter unseren heutigen idealen Umständen ist
es bei diesem Krankheitsbild immer wieder möglich, dass sich die Patienten
auf Grund ihres Wahns zurückziehen und letztlich nicht behandeln lassen.
Allerdings bestehen doch viele Möglichkeiten und Chancen für eine bessere
Behandlung, als dies zu Zeiten Camille Claudels der Fall war. Damals erfolgte
im Endeffekt nur eine langjährige Aufbewahrung der Patienten, ohne dass
sich therapeutische Konsequenzen daraus ergeben konnten.
Versetzen wir uns also in die Zeit von Camille Claudel und nehmen wir den
Zeitraum der 1. Störungen, als sie etwa 25 Jahre alt war bis zu ihrer
Aufnahme in die Nervenheilanstalt im Alter von 49 Jahren. Wäre es möglich
gewesen, sie zu überreden auf Grund der ersten Symptome einen Arzt zu
konsultieren? Als sie 34 Jahre alt war, musste der Kreis ihrer engsten, am
meisten begeisterten und vermutlich bedingungslosesten Anhänger
ohnmächtig zusehen, wie sie scheiterte. Den Rat, sich behandeln zu lassen,
nahm sie weder von ihren Verwandten noch von ihren Freunden an. Schon
früh hat sie mit ihrer Familie gebrochen, geriet sie in Konflikt mit ihrem
beruflichen Umfeld und bald war sie abgeschnitten von jeglicher Beziehung,
die sich hätte wohltuend auswirken können. Darin unterscheidet sich ihr
Krankheitsverlauf keineswegs von einem Krankheitsverlauf zur heutigen Zeit.
Camilles gesamtes Leben war geprägt von affektiven Verhaltensweisen und
Ereignissen, die der Entwicklung einer harmonischen und der damaligen
Gesellschaft angepassten Persön-lichkeit unbestreitbar abträglich waren. Dies
begann bereits mit ihrer Geburt. Nachdem Camille Claudels Mutter 16
Monate vor deren Geburt den kleinen Sohn Charles-Henry verloren hatte und
überhaupt lieber einen Jungen zur Welt gebracht hätte, musste sich die
Mutter von Camille Claudel mit ihrer Geburt erst abfinden. Camille wurde
zum Spielball im elterlichen Konflikt. Ihr Vater protegierte, privilegierte und
vergötterte sie. In gleichem Maße verwarf die Mutter Camille. Die später
geborene Schwester Louise wurde zum Lieblingskind der Mutter und daraus
erwuchs eine unvermeidliche affektive Rivalität zwischen den Schwestern.
Die Kinder wurden in die elterlichen Konflikte, die in Geschrei und
Beschimpfungen ausuferten, mit einbezogen.
Daher rückte Camille zwangsläufig mehr mit ihrem Bruder Paul zusammen.
Damals schon spielte Camille Paul gegenüber ihre magische Anziehungskraft
aus. Sie versuchte ihn zu beherrschen, doch dahinter stand die Sehnsucht,
all seine Liebe auf sich zu konzentrieren. Man hat darüber gegrübelt, welche
Rolle Paul Claudel in dem Drama seiner Schwester spielte. Sie erscheint
begründet – zwiespältig.
Sehr früh, wie manche später berühmte Künstler, hat Camille Claudel ihre
Begabung für das Modellieren entdeckt. Ganz ähnlich mit dem Genie des
Modellierens jener Zeit – Auguste Rodin – teilte Camille diese frühe Neigung
zum Bilden der weichen Masse des Tons, einer psychisch tief verankerten
Manie im Umgang mit der lehmigen Urmaterie – tiefenpsychologisch öfter als
die Aneignung der Welt durch den Tastsinn beschrieben. Allein diese
Parallelität sollte bewirken, dass die beiden, Camille und Rodin, schicksalhaft
zusammengebracht wurden.
1881 richtet Camilles Vater der Familie zur besseren Unterrichtung der
Kinder und auf Wunsch Camilles eine Wohnung am Boulevard Mont Parnasse
in Paris ein.
Als noch nicht 17-jährige tritt Camille 1881 in die Akademie Cola Rossi ein
und findet bald einen Kreis von jungen Bildhauerinnen, die sich ein Atelier in
der Rue Notre Dame des Champs mieten, wo sie gemeinsam arbeiten und
sich allwöchentlich einmal von Alfred Boucher belehren und korrigieren
lassen. Aus den Jahren 1881 und 1882 sind die ersten Arbeiten ihrer Hand
erhalten – 2 Büsten: Die Bronzebüste des 13-jährigen Bruders als Römer und
die „alte Helene“.
Alfred Boucher ging 1883 nach Rom. Als seinen Vertreter verpflichtete er
Auguste Rodin. Auf diese Weise trafen sich die beiden im losen LehrerSchüler-Verhältnis. Es entwickelte sich eine 15 Jahre währende
Liebesbeziehung zwischen beiden, in deren Spannungsfeld großartige Kunst
entstand.
Zu dieser Zeit lebte Rodin mit Rose Beuret – seiner langjährigen
Lebensgefährtin – zusammen, welche jedoch von dieser Affäre nichts ahnte.
In dieser Zeit einer sehr intensiven Liebesbeziehung entstehen Werke, wie z.
B. „das ewige Idol“, dessen Modell – wie es heißt – Camille gewesen sein
soll.
Das Gesicht der Geliebten fesselte ihn ebenso wie ihr Körper, was man
wunderbar im Werk „der Gedanke“ sieht.
Verblüffend ist die außerordentliche Reife der jungen Künstlerin, deren
Lehrzeit eigentlich schon mit dem Eintritt in das Atelier Rodins abgeschlossen
war. Bekannt war, dass Rodin seit 1864/65 mit Rose Beuret liiert war. Die
aus der Ostchampagne stammende, hübsche Medinette hielt treu zu ihm,
auch in der ärgsten Notzeit. Sie verdiente durch Nähen zum gemeinsamen
Lebensunterhalt dazu, diente ihm in jungen Jahren als Modell, versorgte den
kleinen Atelierhaushalt und gebar Rodins 1. Sohn Auguste Beuret, der zum
Leidwesen des Vaters wenig taugte.
Rose wusste, dass so ein dynamischer Künstler, wie Rodin, dessen
Hauptthemen weibliche Motive waren, wozu er Modelle und Inspirationen
benötigte, nicht im bürgerlichen Sinne treu sein konnte. Sie hat, wenn auch
immer wieder murrend und später gelegentlich aufbegehrend ertragen, dass
er die Frage einer eventuellen Heirat gar nicht erst aufkommen ließ.
(Allerdings heirateten sie in beider Todesjahr 1917.) Man wusste in Pariser
Intellektuellenkreisen um das Verhältnis Rodins zu Rose Beuret. Es dürfte
auch Camille Claudel spätestens seit sie Ende 1885 mit ihrer englischen
Freundin Jessie Lipscomp als Gehilfinnen des Meisters in seinem
Atelierbetrieb aufgenommen worden waren, bekannt geworden sein.
Vielleicht glaubte sie anfangs und gelegentlich auch später noch, dass Rose
Beuret als alternde Frau, sie war nur 4 Jahre jünger als Rodin, also 1885
bereits 41 Jahre alt, gemessen an ihrer Jugend bei einem Altersunterschied
von 20 Jahren keine echte Konkurrentin sein könnte. Auch hielt sie die sehr
zurückgezogene Rose mehr für eine Art Wirtschafterin. Tatsächlich hatte
Rose keine wirklichen geistlichen oder künstlerischen Interessen. Eine
Unterhaltung auf dem Niveau ästhetisch argumentierender Freunde, aus
Künstlerakademie und gar Universitätskreisen konnte sie gar nicht führen.
Sie stand in dieser Beziehung außerhalb des beruflich kritisch diskutierenden
Zirkels
um
Rodin
mit
seinen
literarischen
Neigungen
und
lebensphilosophischen Ambitionen.
Das gab Camille Claudel vermutlich Hoffnung auf eine weitere Ausgrenzung
von Rose aus dem sich immer enger ziehenden Verhältnis zwischen ihr und
Rodin. In den folgenden Jahren muss es für beide Partner, Camille Claudel
und Auguste Rodin, stürmische und enthusiasmierende Phasen sowohl der
künstlerischen Zusammenarbeit als auch des erotischen Erlebens und der
Erfahrungen gegeben haben.
Das Jahr 1886 dürfte einen ersten Höhepunkt markieren, zugleich aber auch
frühe Schatten auf die sich mehr oder weniger heimlich Liebenden geworfen
haben.
Im Jahr 1886 schuf Rodin sein 3. Bildnis der Camille Claudel, den später in
Marmor ausgeführten Büstenblock der unter dem Namen „La Pense (Der
Gedanke)“ berühmt wurde und zu seinen poetischsten, symbolistischsten
Darstellungen junger Frauen zählt.
Dieses Werk markiert die Zwiespältigkeit in den Empfindungen Rodins
gegenüber Camille Claudel, deren Charakter ihm bis zuletzt Rätsel
aufgegeben hat. Es könnte erwogen werden, dass diese Skulptur nach der
Flucht Camilles nach England im Sommer 1886 aus der Stimmung Rodins
heraus entstand, welche ihn zeitweilig lähmte. Beide Partner dürften über
ihre erotische Existenz nachgegrübelt haben und wir wissen nicht, auf welche
Zeit sich die Andeutung im schriftlichen Nachlass der Freundin Jessie
Lipscomp bezieht, in denen von 2 unehelichen Kindern als Frucht der
Liebesbeziehung zwischen Camille und Auguste Rodin die Rede ist.
Auch die materiellen und gesellschaftlichen Umstände für ein zügelloses
Ausleben ihrer langjährigen Leidenschaft waren für Rodin denkbar ungünstig.
Camille lebte teilweise noch bei ihren Eltern und führte diese hinters Licht.
Dass ein junges Mädchen aus bürgerlichem Hause die offizielle Mätresse
eines Mannes wurde, der über 40 und zudem in festen Händen war, galt
damals als unvorstellbar. Das war der Inbegriff der Liederlichkeit und wie aus
den späten Briefen von Madame Claudel an die geistig umnachtete Tochter
hervorgeht, hat Camille diese Liederlichkeit lange Zeit mit wohlorganisierter
Scheinheiligkeit übertüncht.
Es stimmt allerdings, dass Rodin Camille in die angesehensten Kreise
einführte und sich unter all diesen Freigeistern kein einziger über das
Verhältnis der beiden Illusionen machte. Jeder billigte es sogar.
Zwischen Rodin und Camille hatte sich, was das schöpferische Tun
anbelangte, eine Art universelle Gütergemeinschaft herausgebildet, was im
Augenblick der Trennung dann heftige Streitfragen aufwarf. Welche
Tragweite dies hatte, begannen beide erst zu ermessen, als es zu
Spannungen kam. Es ist eindeutig, dass zahlreiche Werke Rodins durch
Camilles Hände gegangen sind. So entstanden auch hier Überschneidungen,
die in den großen Malerateliers früherer Zeiten gang und gäbe waren und
den Kunsthistorikern immer schon Rätsel aufgaben, so z. B. angesichts des
„Höllentors“.
Hier identifiziert der Camille Claudel-Spezialist etliche Details, wie ein Bein,
ein Arm oder einen Torso, welcher mit Sicherheit von Camille Claudel
bearbeitet wurde. Waren doch beide Künstler etliche Jahre lang aufs engste
stilverwandt, so auch in den Werken: „Mädchen mit Garbe“ von Camille
Claudel sowie „Gallatea“ von Rodin.
Das Mädchen mit Garbe ist die Zwillingsschwester von Rodins Gallatea – ein
Meisterwerk, das etliche Metamorphosen durchgemacht hat. Was könnte
deutlicher für Camille Claudel sprechen, als diese fast naturalistische Anmut
des Mädchens, in dem nicht einer der für Rodin typischen Spannungsbögen
zu finden ist. Außerdem weiß man, dass Rodin selbst nicht in Marmor
meißelte, eine Kunst, die Camille meisterlich beherrschte. Wer also hat die
Gallatea inspiriert und ausgeführt, wenn nicht Camille.
Was hier latent als Tragik spürbar wird, ist eine Geistesgemeinschaft, die
logischerweise zu einer Lebensgemeinschaft hätte führen müssen, welche
indes auf Grund zweier so gegensätzlicher Temperamente unmöglich war, da
sie beider Kreativität lahmgelegt hätte. Darin liegt das Paradoxe ihrer
Beziehung. Camille musste mit der Zeit jedoch begreifen, dass Rodin sich
nicht für immer von Rose Beuret trennen würde. Camille wollte erreichen,
dass der Meister seine arme alte Rose, die die Gefährtin seiner frühen Jahre
war und die Armut mit ihm geteilt hatte, verstoßen sollte. Das konnte er
nicht übers Herz bringen, obwohl er Camille als Mann und Künstler
leidenschaftlich liebte. Camille war jedoch nicht willens, diese Haltung
hinzunehmen. Immer wieder kam es zu Gerüchten über Zusammenstöße und
sogar tätliche Auseinandersetzungen zwischen Camille und Rose.
Das gespannte Dreiecksverhältnis zerrte an den Nerven aller Beteiligten. Je
höher Rodins Stern gerade in den 90er Jahren stieg, um so schwieriger
wurde die Situation und Camille ließ sich apathisch fallen, begann ihn zu
meiden und zog sich zurück, ohne völlig mit ihm zu brechen.
Wieder geht sie zu ihm. 1892 verlässt sie aber doch das gemeinsame Atelier.
Wer immer Rodin in der endlosen Zeit des Auseinandergehens begegnete,
berichtet von einem zutiefst und unheilbar verletzten Mann, der die
Wundmale, die ihn bis zu seinem Tode quälten sollten, nicht verhehlte.
Ahnte Rodin bei bestimmten Verhaltensweisen oder Worten Camilles, dass
sie auf die totale Katastrophe zusteuerte, wogegen ihn der in jedem
Menschen schlummernde Selbsterhaltungstrieb abschottete?
Rodin hatte sich immer für Camille verwendet, so bei der nationalen
Gesellschaft der bildenden Künste. Er überschüttete die Zeitungen mit
Empfehlungsschreiben und hat insgesamt gesehen viel für Camille Claudel
getan. Wäre sie in ihrem Ehrgeiz weniger verworren gewesen, hätte sie mit
seiner Hilfe in Paris Fuß fassen können. Diese Dinge waren jedoch für Camille
Claudel nebensächlich geworden. Sie erstrebte eine engere Bindung zu Rodin
– eine Ehe. Dass aus der Ehe nichts wurde, musste Camille Claudel sehr
treffen. Sie war in ihrem Gefühlsleben gescheitert. Doch dies bedeutete
zeitgleich für Camille auch ein Scheitern in ihrer künstlerischen Entwicklung.
Und so machte sich in ihr allmählich das Gefühl von Nutzlosigkeit und
Ohnmacht breit.
Von 1893 an trennt Camille Beruf und Alltag ganz von Rodin. Nun wohnt und
arbeitet sie ständig im Haus 113 am Boulevard d’Italie.
1895 beglückwünscht sie ihn noch brieflich zu seinem Balzac doch dann ist
Schluss.
In diesen Zeitraum schiebt sich eine Episode, welche die Gemüter immer
wieder bewegt hat, das Zusammentreffen zweier sich ergänzender Genies.
Die Liebe eines großen Tonsetzers zu einer großen Formbildnerin. Jung und
schön - der eine wie die andere, welch ideale Konstellation für Biographen.
Es geht um die Liaison Claude Debussy und Camille Claudel.
Es war ein eher kurzfristiges Abenteuer, welches zwar Debussy aus dem
Gleichgewicht brachte, aber Camille – noch zu sehr in den
Auseinandersetzungen mit Rodin befangen – innerlich nicht wirklich berührte.
Die Begegnung zwischen Camille Claudel und Debussy fand um 1888/89
statt, noch vor dem Bruch mit dem alten Faun Rodin.
Bereits 1891 jedoch sahen Camille Claudel und Claude Debussy einander
nicht mehr. Die Musik ist in den Themen des bildnerischen Werkes von
Camille Claudel durchaus vertreten, z. B. in „Der Walzer“, „Die
Flötenspielerin“, „Der Geiger“.
Ebenso setzte sich Camille Claudel für Mussorgski ein – ein Indiz, dass für
ihre Musikalität spricht.
In der Folgezeit verschanzt sich Camille Claudel in ihrem Atelier am
Boulevard d’Italie – in einer Unordnung, die auf ihre Besucher abschreckend
wirkt. Für die im späteren als Schizophrenie zu bezeichnende Erkrankung
sind dies bereits typische Symptome.
Camille ist knapp 30 Jahre alt – jung genug, um ein, wie sie es von nun an
plant, absolut eigenständiges Werk zu beginnen. Doch jetzt zieht sich Camille
immer stärker von allem zurück. Nun meidet sie die Gesellschaft mehr und
mehr, selbst Freunde werden selten.
Camille Claudel verbrachte die letzten Jahre ihres Lebens vor
Krankenhausaufnahme fast im Elend. In ihren Briefen wimmelt es von
Hilferufen, von Bitten um Vorschuss.
Der Bildhauerberuf verschlang Unsummen. Zu Ateliermiete und
Materialkosten kamen Steinhauer und Gießerhonorare hinzu. Sie macht
Schulden, wird angezeigt und vors Arbeitsgericht zitiert. Gesichert ist, dass
Vater und Bruder sie regelmäßig unterstützen, was den beiden Louisen
(Mutter und Tochter) verheimlicht wurde. Es ist auch nicht auszuschließen,
dass sie, um überleben zu können, nach Auftrag Modelle für
Gebrauchsgegenstände, wie Lampen und Aschenbecher lieferte, wodurch ihre
Tätigkeit materiell gesehen in den Jugendstil hineinreichen würde.
Es wäre falsch zu behaupten, sie wäre unbekannt geblieben, ihr Ansehen
wuchs sogar. Fast Jahr für Jahr stellte sie aus, nicht nur in Paris, auch im
Ausland. Selbst auf der Weltausstellung war sie vertreten.
1898 verlässt Camille Claudel den Boulevard d’Italie und lässt sich für 1 Jahr
in der Rue de Turenne 63 nieder. 1899 übersiedelt sie an den Quai Bourbon
19, wo sie bis 1913 in einer düsteren, ebenso unordentlichen, vollgestopften
Zwei-Zimmer-Wohnung – Abbild ihrer Wahnvorstellungen – hauste.
Aus der noch jugendlich wirkenden, schönen und schlanken Frau war 1899
eine aufgedunsene und viel viel älter wirkende Frau geworden. Für ihre
Umwelt schien sie schlagartig um 10 Jahre gealtert.
Das Fehlen biographischer Daten für den Zeitraum 1899 – 1904 machte es
unmöglich, die schleichenden Veränderungen von Camilles Denkabläufen
nachzuvollziehen und die allerersten Anzeichen, aus denen sich ablesen ließ,
wie ihr Verstand allmählich zum Wahn hin abglitt, punktuell zu erfassen.
Hinzu kamen noch die Probleme und Qualen mit der hasserfüllten familiären
Atmosphäre. Sie war inzwischen im Familienkreis zu einer Persona nongrata
geworden. Ihre Mutter, die allmählich zu ahnen begann, was sie mit ihrer
freudlosen
Erziehungsmethode
angerichtet
hatte,
fand
nurmehr
niederschmetternde und verurteilende Worte. Der einzige Mensch, der ihr
nahe stand, der sie verstanden, geliebt und nie beneidet hat, da er um ihre
Begabung wusste, war ihr Bruder Paul. Doch dieser befand sich zwischen
1895 und 1909 - von 2 kurzen Urlaubsaufenthalten in der Heimat abgesehen
– fast permanent weit weg von Europa.
Dieser Trennung vom Bruder während der schmerzlichsten Lebensphase
Camilles kommt entscheidende Bedeutung zu. In dem Augenblick, da sie - in
Ermangelung von Liebe – Zärtlichkeit am nötigsten gebraucht hätte, fehlte
ihr gerade dieser Mensch, bei dem sie neue Lebenskraft hätte finden können.
Nur der alte Louis Prosper – ihr Vater – wacht über sie und schickt ihr
heimlich etwas Geld.
Und nun in den Zustand peinlicher Abhängigkeit geraten, entdeckt Camille
Claudel das „Rodin-Komplott“. Camille fühlt sich von Rodin verfolgt,
bezichtigte ihn des Plagiats. Der Verfolgungswahn, der sich langsam und
grausam in sie hineinfraß und sie von innen her aushöhlte, nahm
beängstigende Ausmaße an. Von 1905 an zertrümmerte Camille jeden
Sommer systematisch mit gezielten Hammerschlägen alles, was sie im Laufe
des Jahres geschaffen hatte.
Ihre beiden Atelierräume boten einen beklagenswerten Anblick, nichts als
Trümmer und Verwüstung. Die Mieter des alten Hauses am Quai Bourbon
beschwerten sich. Was war das für eine Wohnung im Erdgeschoss, deren
Fensterläden ständig geschlossen blieben und drinnen waren – wie man sagt
– Unordnung und Schmutz unbeschreiblich. Als Paul Claudel sie bei einem
seiner Heimaturlaube in ihrem kleinen Atelier besuchte, fand er schreckliche
Zustände vor. In seinem Tagebuch notiert er: „In Paris. Camille verrückt, die
Tapeten in langen Streifen von den Wänden gerissen, ein einziger und
kaputter Sessel, furchtbarer Schmutz. Sie selbst ist fett und schmutzig und
redet ununterbrochen mit monotoner und metallischer Stimme.“
Camille fühlte sich inzwischen nicht nur von Rodin verfolgt, sondern von ihrer
gesamten Umgebung, speziell von ihrer Mutter und ihrer Schwester. Ihrem
Cousin berichtet sie über ihren Zustand, sie habe ihre Rechnung bekommen,
sie sei von dem Gift, was sie in ihrem Blut habe, andauernd krank. Ihr
Körper sei verbrannt. Das sei der Hugenotte Rodin, der ihr die Dosis verpasst
habe, weil er ihr Atelier mit Hilfe seiner guten Freundin, Madame de Massary
– das war der Familienname ihrer Schwester – erben wollte. Sie schrieb auch
an ihre Mutter und die Schwester ähnlich verworrene Briefe voll bitterer
Vorwürfe und unverständlicher Anklagen, und ihr Zustand verschlimmerte
sich immer mehr.
Ihre Atelierwohnung baute sie immer mehr zu einer Festung aus. Sie
verschloss die Türen mit Ketten und Sicherheitsschlössern, die Fensterläden
wurden nicht mehr geöffnet. Dadurch, dass sie die Außenwelt von sich
abschloss, wurde sie zugleich Gefangene ihres Wahns, denn sie traute sich
kaum noch aus ihrer eigenen Festung heraus.
Camille Claudel bot 1913 das Vollbild einer paranoid-halluzinatorischen
Psychose. Auch zu heutigen Zeiten hätte es in diesem Stadium der
Erkrankung nur eine Alternative gegeben: Eine Klinikbehand-lung. Und auch
heute noch muss diese oft gegen den Willen des Patienten in Form einer
sogenannten Zwangseinweisung stattfinden, welche immer dann angebracht
ist, wenn sich der Patient selbst oder andere akut gefährdet.
Bei Camille Claudel war dieses Stadium erreicht. Sie ernährte sich, da sie
auch einen Vergiftungswahn hatte, nicht mehr ausreichend und war in einem
depressiven Zustand mit Suizidgefährdung. Heutzutage wäre nach 6 Wochen
Behandlung bereits eine Entlassung möglich gewesen. Bei Camille Claudel
dauerte der Krankenhausaufenthalt 30 Jahre bis zu ihrem Tode 1943.
Bezeichnend ist, dass die Zwangseinweisung in die psychiatrische Klinik erst
erfolgte, nachdem der Vater von Camille Claudel verstorben war. Am 2. März
1913 stirbt er, am 4. März findet die Beisetzung des Vaters statt, zu welcher
Camille nicht verständigt wurde. Sie fehlt. Am 5. März des Jahres 1913 trifft
sich Paul Claudel mit Dr. Mischaux, dessen Praxis sich am Quai Bourbon Nr.
19 befindet. Dieser stellt ihm ein ärztliches Attest aus, das entsprechend dem
Gesetz von 1838 zur Einweisung in eine Anstalt befugt.
Am Montag, dem 10. März 1913, wird Camille interniert. 2 kräftige
Krankenwärter dringen gewaltsam in das Atelier Quai Bourbon ein und
bemächtigen sich ihrer Person.
Auch heutzutage gestalten sich Einweisungen meist spektakulär.
Die gewaltsame Einlieferung von Camille Claudel in die Klinik geriet auch
1913 schon in die Kritik. Im Nachhinein muss jedoch gesagt werden, dass
zum damaligen Zeitpunkt eigentlich keine andere Möglichkeit bestand, als
Camille Claudel in die Klinik einzuliefern, auch wenn die Vorgehensweise
damals – wie es auch heute sein würde – brutal erscheint.
Camille Claudel war 48 Jahre alt, als sie für immer hinter Anstaltsmauern
verschwand. Sie wurde letztlich unter Wahrung der gesetzlichen Bestimmungen in die Anstalt eingeliefert. Auch dort – dies war schon damals der
Fall – musste nochmals untersucht werden, ob die Aufnahme medizinisch
auch wirklich begründet war. Dieses Attest wurde am 10. März 1913 von Dr.
Truelle, dem für das Heim Ville Evrard zuständigen Arzt, ausgestellt. Er
konstatierte dieselben mentalen Störungen, die Dr. Mischaux aufgeführt
hatte.
Es folgten weitere offizielle Gutachten, die stets den Verfolgungswahn
hervorhoben und unabhängig von der medizinischen Begutachtung, die in
der im Heimarchiv unter Verschluss gehaltenen Krankenakte abgeheftet ist.
Wer Einblick in diese Akte nimmt, kann sich überzeugen, dass sie 32 Jahre
lang gewissenhaft geführt wurde, was normal ist und auch für die Ärzte
spricht.
Im September 1914 wurde Camille nach Montdeverque – unweit von Avignon
– verlegt auf Grund der Kriegsereignisse. Auf Grund dieser Übernahme
musste auch der dort zuständige Arzt die neue Insassin aufnehmen und er
hatte auch die Pflicht, die Berechtigung der Anstaltswahrung erneut
festzustellen, daher das vom 22. September 1914 datierte Gutachten, in
welchem Dr. Broquère attestierte, dass Camille unter systematischem
Verfolgungswahn, basierend in erster Linie auf falschen Deutungen und
Einbildungen, leide.
16 Jahre war es her, dass Camille Rodin zum letzten Mal gesehen hatte.
Trotz des Schutzes, den das Heim gewährte, fürchtete sie eines ganz
besonders: Von Rodins Bande vergiftet zu werden. Sie beschuldigte die
Pflegerinnen, Komplizinnen zu sein. Sie verlangte, ihre Mahlzeiten selbst zu
bereiten. Die dauernde Bedrohung durch Vergiftung ist der eindeutige Beweis
für Verfolgungswahn, sofern eine solche Möglichkeit in ihrer konkreten
Realisierung strikt undenkbar ist. Schon gleich nach ihrer Einlieferung
begreift Camille, dass Rodins Bande sie nicht mehr direkt anzugreifen
vermag. Daher fügt sie in ihren Wahn folgerichtig das Motiv der Nahrung ein,
er könnte sie ja vergiften, um sie zu beseitigen. Die Unterbringung in einer
staatlichen Anstalt, die damit verbundene Anwesenheit von Ärzten und
Pflegepersonal, das Vorhandensein einer Kantine und die hausinterne
Essensausgabe – all diese weit weg von Rodin und seinen Gehilfen – hätten
ja eigentlich Schutz suggerieren müssen. Camille verweigert jedoch eine
Erste-Klasse-Behandlung, die man ihr zukommen lassen möchte. Sie will ihre
Nahrung selbst zubereiten, verlangt ausschließlich rohe Eier und ungeschälte
Kartoffeln. Sie überträgt ihren Wahn auf das neue Krankenhauspersonal.
Ihr Leben ist umso tragischer, als sie sich den lieben langen Tag mit rein gar
nichts beschäftigt. Allerdings beginnt sie den Wunsch zu äußern, ihre Familie
wiederzusehen. Ihr körperliches Befinden ist nach wie vor gut. Wenn sie auch
manchmal aufbraust, gewöhnt sie sich doch langsam an das Leben in der
Abgeschiedenheit.
1920 ebbt der Wahn leicht ab. Camille ist eher ruhig, frei von Aggressivität.
Die behandelnden Ärzte ziehen sogar eine Entlassung der Patn. in Erwägung.
Die Familie lehnt jedoch dieses Ansinnen ab. Camille altert. Sie wird bald 65,
ihre Mutter ist inzwischen gestorben. Ihr Zustand, der schon seit langem als
chronisch gewertet wird, bleibt unverändert. Der auf falschen Deutungen
basierende Inhalt des Verfolgungswahns ist eine Achse, die auch die Zeit
nicht verbiegt.
Dass Rodin seit Jahren tot ist und das ärztliche und pflegerische Personal
bereits mehrfach gewechselt hat, ist ohne Einfluss geblieben. Camille wird –
wie immer – von denselben Personen oder nachfolgenden Generationen oder
von anderen oder ihrer neuen Umgebung verfolgt.
1942 dann rückt der Tod näher. Ihr körperliches Befinden verschlechtert
sich.
In den ersten Monaten des Jahres 1943 verfallen ihre geistigen Kräfte immer
mehr. Am 19. Oktober 1943 stirbt Camille Claudel als armselige alte Frau,
die von Amtswegen in einem Anstaltsgrab beerdigt wurde. Das Grab wurde
schon wenige Jahre später eingeebnet und war nach dem Krieg nicht mehr
ausfindig zu machen. Ein Stern, der strahlend aufgegangen war, war leise
untergegangen.
Es sollte 3 Jahrzehnte dauern, bis eine Generation heranwuchs, die sich für
weibliche Vorbilder aus der Vergangenheit interessierte. Diese Frauen und
Männer entdeckten Camille Claudels Werk neu für sich und bemühten sich,
das Leben der außergewöhnlichen Künstlerin zu rekonstruieren.
Ein Theaterstück, ein Roman und danach ein Film, der internationales
Interesse auf sich zog sorgen für die Verbreitung ihres Namens. Darauf erst
folgten eine große Ausstellung Camille Claudels, die erfolgreich in
verschiedenen Hauptstädten der Welt gezeigt wurde und zahlreiche
kunsthistorische Würdigungen ihrer Plastiken. Dies alles sorgte endlich – viel
zu spät – für jenen Ruhm, den die Künstlerin sich zu Lebzeiten so sehr
gewünscht hatte und weckte erneut das Interesse für das Leben dieser
erstaunlichen Künstlerin.
Quellen
Reine-Marie Paris:
„Camille Claudel“, S. Fischer Verlag 1989; 8. Auflage 1999; 1984
französiche Originalausgabe; Verlag Gallimard
Barbara Leisner:
„Ich mache keine Kompromisse“ – Camille Claudel -; List Taschenbuch
2001 (Ullstein)
J. A. Schmoll:
„Auguste Rodin und Camille Claudell“; Prestel Verlag München (Pegasus)
1994; 2000
Anne Delbèe