Blick ins Buch

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Blick ins Buch
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Jōchō Yamamoto
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Zusammengestellt von
Tsuramoto Tashiro
Aus dem Japanischen übersetzt
und kommentiert von Max Seinsch
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Mit 15 farbigen Holzschnitten
von Kuniyoshi Utagawa
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Spätestens seit James Clavells Roman Shōgun (1975) und dessen Verfilmung mit Richard Chamberlain ist das Bild des stoischen, todesmutigen Samurai, der für seinen Lehnsherrn und seine Ehre von einer Sekunde zur nächsten in Gewalt auszubrechen und rückhaltlos
sein Leben aufzugeben vermag, fest in der westlichen Vorstellung
verankert. Typische Klischees kommen zum Beispiel in einem Feuilletonartikel zum Tragen, dem zufolge Samurai nach einem strengen
Ehrenkodex lebten, dem bushidō, dem »Weg des Kriegers«. Sieben
anzustrebende Tugenden schrieb der Bushidō einem Samurai vor:
»Entscheidungskraft, Mut, Nächstenliebe, Respekt, Aufrichtigkeit,
Ehre und Treue«. Treue sei die wichtigste, denn verlor ein Samurai
seinen Herrn – etwa durch dessen Tod –, wurde er zum Rōnin und
musste dann eigentlich nach den Regeln des Bushidō den rituellen
Suizid begehen.1
Aber auch in Japan selbst ist diese Idealvorstellung noch überaus
lebendig. Am 28. Mai 2007 beging zum Beispiel der vormalige Landwirtschaftsminister Matsuoka Toshikatsu Selbstmord, nachdem er
wegen des Verdachts der Veruntreuung öffentlicher Gelder in die
Kritik geraten war. Ishihara Shintarō, der für seinen nationalistischen
Einschlag berühmt-berüchtigte Gouverneur von Tōkyō, kommentierte Matsuokas Tat, er denke, auch Matsuoka sei ein Samurai gewesen, weil er durch seinen Tod Buße geleistet habe.
Sowohl im Westen als auch in Japan selbst beflügeln so die Samurai und ihr »Ehrenkodex« die Fantasie von Japanfreunden in einer
Weise, die eine kritische Beurteilung des Phänomens erschwert. Zusammen mit dem häufig angeführten Zen-Buddhismus ist die angeblich jahrhundertealte japanische Kriegerethik, wohlbekannt unter der Bezeichnung bushidō, ein gutes Beispiel für gewisse Themen
fernöstlicher Exotik, die allzu oft mit pseudo-esoterischen MethoEinführung 5
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den zur spirituellen Persönlichkeitsentwicklung in Verbindung gebracht werden, anstatt sie kritisch zu analysieren.
Obwohl sogar Basil Hall Chamberlain (1850–1935), ein namhafter Mitbegründer der Japanologie, die Signifikanz oder auch nur die
Existenz des Wortes bushidō vor 1900 bestreitet,2 war der japanische
»Weg des Kriegers« nach dem Zweiten Weltkrieg ein beliebtes Objekt westlicher Studien, um sowohl die rapide Modernisierung und
Industrialisierung Japans nach der Meiji-Restauration (1867–68) als
auch seine militärischen Triumphe über China 1895 und Russland
1905 oder auch den japanischen Militarismus vor und das japanische
Wirtschaftswunder nach 1945 zu erklären.
Unter Wissenschaftlern, die sich mit der Wirtschaftsentwicklung Japans beschäftigten, ist es ein Allgemeinplatz, dass Japans Erfolge in diesem Bereich durch seine besonderen sozialen und kulturellen Wurzeln aus vorindustriellen Zeiten zu erklären seien. Die
Samurai-Klasse und Bushidō wurden dabei als Instrumente in der
Formierung einer modernen Industrie während der Meiji-Periode
(1868–1912) und der Formulierung einer modernen japanischen Geschäftsethik verstanden, vergleichbar etwa mit der »protestantischen
Ethik«, wie sie Max Weber als den »Geist des Kapitalismus« aufgezeigt hat (1904/05) 3 – obwohl wirtschaftliche Aktivitäten seitens des
japanischen Kriegeradels vor 1868 als etwas Schändliches und unter
der Würde eines Samurai stehend bewertet wurden.
Neben solchen wirtschaftswissenschaftlichen Analysen wurde
die Verbreitung von Bushidō-Werten unter der breiten Bevölkerung
von 1868 bis 1945 auch für die Direktheit verantwortlich gemacht,
mit der das japanische Militär die politische Macht in den 1930er Jahren ergreifen konnte. So wird argumentiert, dass die Meiji-Regierung
nach 1868 für den schnellstmöglichen Aufbau einer »reichen Nation
und einer starken Armee« ( fukoku kyōhei) wissenschaftliche Methoden und Technologie aus dem Westen einführte, während sie zur
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selben Zeit die feudale Ideologie des Bushidō restaurierte und sie mit
der »primitiven Stammesreligion der Kaiserverehrung« kombinierte,
um auf diese Weise ihre relative Unterlegenheit an materiellen Kräften zu kompensieren. Diese Kombination konstituierte dann angeblich das militärische Ethos der kaiserlichen Armee, die dann selbst
über das Erziehungssystem die allgemeine Bevölkerung indoktrinierte.4
Der Begriff bushidō wurde außerhalb Japans hauptsächlich durch
Nitobe Inazōs Buch Bushidō: The Soul of Japan aus dem Jahre 1900
bekannt gemacht, ein bis heute gern gelesenes und oft zitiertes Standardwerk zur japanischen Kriegerethik. Ursprünglich auf Englisch
geschrieben, sollte es der westlichen Welt die Grundlagen japanischer Moral und Ethik vorstellen, stellte aber gleichzeitig auch eine
Verteidigung japanischer Kultur gegen Ansprüche der westlichen Zivilisation auf kulturelle Überlegenheit dar.5 Tatsächlich griff Nitobe
in seinen Anstrengungen, die japanische Moralität zu verteidigen, allerdings wie viele andere Ideologen seiner Epoche auch einen angeblich traditionellen Begriff auf und füllte diesen mit modernen Ideen
und Konzepten.6
Neben Nitobes Buch werden das Budō Shoshinshū von Daidōji
Yūzan (1639–1730) und das Hagakure von Yamamoto Jōchō (1659–
1719) oft im gleichen Atemzug erwähnt, obwohl sie zeitlich und auch
inhaltlich gesehen kaum mit Nitobe in Verbindung gebracht werden
können. Der Grund dafür, dass diese Bücher zum Fundament des
westlichen Verständnisses über Bushidō werden konnten, mag wohl
darin liegen, dass sie zu den wenigen Bushidō-Texten gehören, die
in europäischen Sprachen erhältlich sind.
Das Hagakure nimmt eine ganz besondere Stellung im Bushidō-Diskurs ein, weil es sowohl in Japan als auch in westlichen Ländern als »eine der unmittelbarsten Reflektionen des Samurai-Selbstverständnisses«7 verklärt wird. Als beliebte Lektüre japanischer OffiEinführung 7
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ziere vor und während des Zweiten Weltkrieges erhielt es in den
1970er Jahren im Westen weite Aufmerksamkeit durch das Hagakure Nyūmon, einen Kommentar des berühmt-berüchtigten Nachkriegsautors und Rechtsextremisten Mishima Yukio (1925–1970) aus
dem Jahre 1967.
Obwohl dem Hagakure normalerweise zentrale Bedeutung bei
der Formulierung einer Samurai-Ethik in vormoderner Zeit eingeräumt wird, wird die tatsächliche Rolle und sein Wert als ein repräsentatives Beispiel für eine solche Ethik in der Regel stark überbewertet. Es enthält zum Beispiel im Gegensatz zu den Werken
Daidōji Yūzans (1639–1730) und dessen Lehrers Yamaga Sokō (1622–
1685) keine wohldurchdachte Philosophie, sondern zeigt im Gegenteil durchweg eine antiintellektuelle Einstellung. Seine Verbreitung
blieb bis zur Meiji-Periode auf die südjapanische Nabeshima-Domäne beschränkt, wo es kompiliert und dann einzeln von Hand kopiert
wurde. Eine gekürzte Fassung kam zum ersten Mal 1906 in den
Druck, während die erste vollständige Druckversion erst 1916 erschien. Größere Bekanntheit erreichte das Hagakure aber erst, als es
1940 mit den revidierten und kommentierten Fassungen von Kurihara Kōya (Daten unbekannt) sowie Watsuji Tetsurō (1889–1960)
und Furukawa Tetsushi (geb. 1912) allgemein erhältlich wurde. Es
ist daher nicht übertrieben zu behaupten, dass das Hagakure im
20. Jahrhundert einen sehr viel größeren Einfluss auf das moderne
Japan als im 18. und 19. Jahrhundert auf das feudale Japan ausüben
konnte.
Was viele Leser und Kommentatoren daher in ihrer Begeisterung
für das »vormoderne Heldentum« der japanischen Krieger zu vergessen scheinen, ist, dass ein solcher Text nicht leer im Raum steht,
sondern auf gewissen historischen, sozialen und kulturellen Voraussetzungen basiert. Zwar werden der Bushidō im Allgemeinen und
das Hagakure im Besonderen gerne als universell gültige Philoso8 Einführung
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phien mit Anwendungsmöglichkeiten im modernen Alltag sowie
im Geschäftsleben verstanden, aber dabei wird allzu schnell übersehen, dass eine angemessene, ausgewogene Interpretation ohne genauere Kenntnis der historischen, gesellschaftlichen und ideengeschichtlichen Hintergründe des Zustandekommens eines solchen
Werkes letzten Endes auf reine Spekulation hinauslaufen muss.
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Das Hagakure: Inhalt, Struktur und Titel
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Obwohl es des Öfteren als die wichtigste Bushidō-Schrift überhaupt
bezeichnet wird,8 stehen im Hagakure nicht etwa die militärischen
Künste der Samurai im Mittelpunkt, sondern die Frage, wie ein Samurai auf rechte Art und Weise seine Pflicht im Lehnsdienst (hōkō)
erfüllen kann. Und auch das Ideal des »Sterbens« im wohl berühmtesten Satz des Hagakure: »Der Lebensweg eines Kriegers bedeutet,
zu begreifen, dass man sterben wird und sterben muss« 9, bedeute
laut Inoue Toshiyuki nicht etwa, wirklich sein Leben zu verlieren,
sondern sei ein Ausdruck für die absolute »Entschlossenheit« gegenüber allem, was man sich im Leben vornehme. Darum sei es auch ein
Werk, das zu Problemen des menschlichen Lebens in der modernen
Gesellschaft konkrete Lösungsvorschläge zu bieten habe.10
Vor allem aber auch wegen dieses berühmten Satzes und der Forderung des Autors nach selbstaufopferndem Dienst und unbedingtem Gehorsam dem Lehnsfürsten gegenüber fand das Hagakure vor
dem und während des Zweiten Weltkriegs großen Anklang beim
japanischen Militär und galt laut Mishima während des Kriegs praktisch als Pflichtlektüre.11 Darum wurde es auch im Zuge der Entmilitarisierung Japans nach dem Krieg durch die amerikanischen Besatzungstruppen als militaristisch-fanatische Propaganda auf den Index gesetzt, bis Watsuji Tetsurō, der einflussreiche Philosoph und
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Lehrsätze Band 1
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Plauderei in den Schatten des Abends
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Als Gefolgsmann des Hauses Nabeshima muss man der Landeskunde, d. h. der Geschichte des Hauses Nabeshima, seinen Traditionen
und Gebräuchen, großes Interesse entgegenbringen. Aber in letzter
Zeit wird der Landeskunde immer weniger Beachtung geschenkt.
Warum sollte man überhaupt Interesse daran haben? Man sollte dies
tun, um von der ursprünglichen Entstehung des Klans Kenntnis zu
erlangen und zu begreifen, wie durch die Mühen und die Gnade unserer hochverehrten Ahnen der ehrenwerte Klan über viele Jahre gedieh. Durch die große Barmherzigkeit und die Kühnheit von Fürst
Tsunatada, durch die Wohltätigkeit und Frömmigkeit von Fürst
Risō, sowie durch die Kraft von Fürst Takanobu und Fürst Nippō,4
die deren Nachfolge antraten, dauert das ehrenwerte Haus Nabeshima bereits über viele Jahre hinweg bis in die heutige Zeit als namhafter Klan ohne seinesgleichen unter dem Himmel an. Die Männer des
Klans haben in letzter Zeit selbst diese Umstände schon längst vergessen und vergöttern die Seelen Verstorbener fremder Orte. Aber
das ist etwas, was mir unbegreiflich erscheint. Weder Buddha Shakyamuni noch Konfuzius, weder Kusunoki noch Shingen5 dienten
je unserem Haus Nabeshima, und sie passen überhaupt nicht zur
Eigenart unseres ehrenwerten Klans.
Sei es zu Friedenszeiten oder während eines Krieges: Solange
man die ehrwürdigen Ahnen hochachtet und anbetet, ihre Weisungen in sich aufnimmt und ihnen treu bleibt, reicht das vollkommen
aus, unabhängig davon, ob man eine hohe oder niedrige Stellung hat.
Was die verschiedenen Wege6 angeht, gehört es sich, dem Gründer
des jeweiligen Hauses Respekt zu zollen, aber als Gefolgsmann des
Hauses Nabeshima besteht keine Notwendigkeit, die AngelegenheiBand 1 81
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ten fremder Orte zu studieren. Nur wenn man die Landeskunde des
eigenen Hoheitsgebiets begriffen hat, mag es angehen, zum Vergnügen auch andere Dinge zu studieren. Kennt und versteht man die
Tradition des Hauses Nabeshima wirklich gut, gibt es nichts, was in
irgendeiner Weise unzugänglich wäre. Würde man nun von Männern anderer Häuser nach der Herkunft der Häuser Ryūzōji und Nabeshima gefragt werden, oder nach der Ursache für den Übergang
des Herrschaftsgebiets der Ryūzōji auf die Nabeshima; oder sollte
man gefragt werden: »Ich habe sagen hören, die Ryūzōji und die Nabeshima seien die kriegerischsten Klans Kyūshūs, aber was für militärische Verdienste und Leistungen haben sie denn aufzuweisen?«,
wird man auf diese Fragen nicht einmal mit einem einzigen Wort
antworten können, wenn man die eigene Landeskunde nicht kennt.
Nun, darüber hinaus ist es nur nötig, dass ein jeder seine Energie
in die Erfüllung seiner Dienstpflicht steckt, alles andere ist völlig unwichtig. Viele Männer erliegen dem Irrtum, dass ihnen ihre Dienstposition nicht gefällt und sie neidisch auf einen anderen Posten sind,
und dadurch verbuchen sie fürchterliche Misserfolge. Gute Beispiele
für Redlichkeit der eigenen Arbeit gegenüber finden sich in den ehrenwerten Fürsten Nippō und Taisei’in 7. Auch die Gefolgsleute jener
Zeit erfüllten ihre Pflicht erschöpfend. Die Fürsten machten Männer
ausfindig, die ihnen zu Diensten sein konnten, während die Gefolgsleute alles versuchten, um ihrerseits von Nutzen zu sein. So befand
sich der Wille von Hoch und Tief im Einklang, und der Klan floss
von Lebenskraft über.
Die Mühen des ehrwürdigen Fürsten Nippō lassen sich in Worten gar nicht ausdrücken. In erbitterten Kämpfen behauptete er, blutverschmiert und schweißbefleckt, sich und sein Haus mit großem
Kriegsglück, obwohl er unter den widrigsten Umständen schon oft
den Entschluss gefasst haben soll, seppuku 8 zu begehen. Auch Fürst
Taisei’in konnte erst zum Landesfürsten aufsteigen, nachdem er nur
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knapp der Mühsal entgangen war, seppuku begehen zu müssen. Darüber hinaus bemühte er sich, abgesehen von seiner Arbeit im Krieg,
außerordentlich um die Herrschaft über den Klan, den Schutz des
Klan-Gebiets und die Politik des Landes und war dabei immer von
einer derart tiefen Ehrfurcht vor seinen Ahnen ergriffen, dass er
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»Wer das Haus, das der ehrenwerte Fürst Nippō ins Leben rief,
nicht würdigt, wird vom Himmel bestraft werden. Um jeden
Preis muss man dafür sorgen, dass das Haus bis zu unseren Kindern und Kindeskindern in Frieden und Wohlstand gedeiht. In
Friedenszeiten wird es in der Welt nach und nach immer prächtiger und die Menschen leben immer extravaganter, während sie
die Umstände zu Kriegszeiten völlig vergessen. Dadurch steigen
die Ausgaben, und Hoch und Niedrig stürzen in Armut und fallen im In- und Ausland in Schmach und Schande, bis schließlich
der Klan zugrunde geht. Die alten Veteranen des Klans sterben
langsam aus, während die jungen Männer nur noch die Moden
und Strömungen ihrer eigenen Zeit im Auge haben. Wenn man
wenigstens die alten Sitten und Gebräuche in einem Buch zusammenfasste, damit sie auch späteren Generationen überliefert
würden; und wenn man den jungen Männern bei der Übergabe
des Hauses dieses Buch überreichte, würden sie es hoffentlich
durchsehen und sich die alten Zeiten in Erinnerung rufen.«
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So beliebte er sich auszudrücken, umgab sich in seinen letzten Lebensjahren mit Büchern und brachte seine Gedanken so zu Papier.
Die geheimen Überlieferungen des Hauses sind mir unbekannt,
aber nach einer Erzählung alter Veteranen geruhte unser ehrenwerter
Fürst hochselbst zur Zeit der Titelübergabe an seinen Nachfolger
eine Militärstrategie des sicheren Triumphs namens Kachikuchi 9
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in mündlicher Form zu übermitteln. Weiterhin befinden sich solche
Werke wie das Shichōkaku chishō und Senkō san’iki10 unter den Büchern seines Besitzes, die er auch so gnädig war, bei der Übergabe des
Klan-Vorstands seinem Nachfolger zu überreichen.
Darüber hinaus hielt er die Strafregeln innerhalb des Klans, die
vielen verschiedenen Organisationsstrukturen innerhalb der Domäne, die Dienstpflichten gegenüber dem bakufu 11 sowie die politischen Angelegenheiten des Klans vollständig im Tori-no-ko Gochō 12
fest und führte detailliert die Statuten für die einzelnen Ämter in
Denkschriften aus. Diesen Mühen ist es zu verdanken, dass der Klan
über viele Jahre hinweg gedieh, was im höchsten Maße zu beglückwünschen ist.
Wenn es mir auch nicht zusteht, das zu sagen, so möchte ich
unserem gegenwärtigen Fürsten doch sehr ans Herz legen, über die
Mühseligkeiten seiner ehrenwerten Vorfahren Nippō und Taisei’in
nachzudenken und zumindest die ihm anvertrauten Bücher sorgfältig zu studieren und sie fest in seinem Herzen13 zu bewahren. Weil
ihn die Gefolgsleute des Klans seit seiner Geburt als »junger Fürst,
junger Fürst« verhätschelten, musste er sich nie Mühe geben, kennt
sich mit der Landeskunde nicht aus, ist ausgesprochen eigensinnig
und macht nur das, was er will. Darunter beliebt seine Arbeit als Landesfürst zu leiden, und weil es in den letzten Jahren auch viele neuzeitliche Exzentrizitäten gibt, hat auch die Klan-Politik angefangen,
an Kraft zu verlieren.14
Zu solchen Zeiten treten pfiffige Leutchen in Erscheinung, die
von dem tiefgründigen Sinn der Welt keine Ahnung haben, aber
trotzdem mit ihrem seichten Wissen angeben, Männer, die sich immer neue Sachen ausdenken und dadurch beim Fürsten Anklang
finden, die sich wichtig machen und tun und lassen, was sie wollen,
und dadurch alles ins Chaos stürzen. Um ein paar Beispiele anzuführen: Die Zwietracht unter den drei Zweigfamilien, die das Fürsten84 Band 1
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haus unterstützen; die Einführung des neuen Rangs chakuza in der
Klan-Hierarchie; die Indienststellung von »Ausländern«, d. h. Männern aus anderen Domänen; die Ernennung des Rangs der teakiyari
zu monogashira, also zu Truppführern von Fußsoldaten, und die
daraus folgende Störung und Unordnung der Hierarchie sowie der
militärischen Struktur; der Umzug in ein neues fürstliches Anwesen; die Einsetzung eines karō, eines Klan-Ältesten, aus den Rängen
der shinrui dōkaku;15 der Abbruch des konfuzianischen Tempels
Kōyōken; die Revision der Klan-Statuten; die Rangeinteilung der
buddhistischen Tempel; die Errichtung der westlichen Fürstenvilla
und ihr späterer Abbruch; die Umstrukturierung der ashigaru-Truppen16 ; die Veräußerung des fürstlichen Hausrats; usw., usw. Dabei
handelt es sich bei allem um Fehler, die man zur Übergabe des Fürstentitels beging, nur weil man etwas Neumodisches verfolgte. Nur
deshalb, weil die Verfahren und Prozeduren der fürstlichen Vorfahren solide und zuverlässig sind, kommt die Basis der Domäne kein
bisschen in Aufruhr, so dass es, auch dann, wenn die Politik ein wenig fehlgeleitet ist, im Klan zu keinen Störungen und alles zuverlässig zur Ruhe kommt, solange Hoch und Niedrig nur den Weisungen
der ehrenwerten Fürsten Nippō und Taisei’in folgen.
Davon einmal abgesehen: Die Tatsache, dass es unter den Generationen unserer ehrenwerten Fürsten keinen Herrn gab, von dem
gesagt wird, dass er gewalttätig oder töricht war, und dass es auch
nicht einen gab, der selbst im Vergleich zu allen Fürsten Japans weiter als an zweiter oder dritter Stelle hintanstehen würde, zeigt, dass
es sich um ein wirklich vortreffliches Haus handelt. Und das ist ohne
Zweifel der tiefen Frömmigkeit der ehrenwerten fürstlichen Vorfahren zu verdanken. Auch kommt es nicht vor, dass Bewohner dieses Landes in andere Herrschaftsgebiete vertrieben werden,17 und es
kommt nur selten vor, dass Leute aus anderen Domänen in Dienst
gestellt werden. Und sowohl den Kriegern, denen der Befehl gegeBand 1 85
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ben wurde, ihren Dienst zu quittieren und rōnin zu werden, als sogar
auch den Kindern und Kindeskindern der Krieger, denen befohlen
wurde, seppuku zu begehen, ist es gnädigerweise gestattet, in unserer Domäne wohnen zu bleiben. Und gerade eben dieses glückliche
Schicksal, das uns so unverhofft in einem solch gnädigen Haus von
derart tiefem Treuebündnis hat zur Welt kommen lassen, und das
Ausmaß, wie tief wir alle, von den Gefolgsleuten bis zu den Bauern
und Bürgern, über viele Generationen hinweg für all die fürstlichen
Segnungen und Wohltaten in dessen Schuld stehen, lässt sich nur
schwer in Worte fassen.
Über diese Umstände gut nachzudenken und seinen Entschluss
zu festigen, diese Gnade unbedingt zu vergelten; und, wenn man in
unmittelbarem Dienst zum Fürsten steht, sich natürlich vollkommen uneigennützig seinem Dienst zu widmen; oder, wenn man den
Befehl erhalten hat, rōnin zu werden bzw. seppuku zu begehen, das
auch als einen Dienst am Fürsten zu betrachten; wenn man versteckt
irgendwo tief in den Bergen wohnt, oder selbst, nachdem man schon
gestorben ist, fortwährend den Wunsch nach dem Frieden des Hauses im Herzen zu bewahren: gerade das ist das ursprüngliche Anliegen eines Nabeshima-Samurai und das Mark seiner Knochen.
Mir, Jōchō, als buddhistischem Mönch mag es nicht anstehen,
das zu sagen, aber ich hatte nie das Verlangen, als Buddha in den ewigen Frieden einzugehen, sondern habe mir in die Tiefen meines Herzens die Entschlossenheit eingraviert, bis zu sieben Mal als Nabeshima-Samurai wiedergeboren zu werden und dem Land Frieden zu
bringen.
Man braucht weder Genie noch Talent. Um es in einem Wort
auszudrücken, reicht die feste Entschlossenheit völlig aus, das Haus
ganz allein auf dem Rücken tragen zu wollen. Wer sollte einem
schon überlegen und wem sollte man unterlegen sein, solange es
sich nur um einen Menschen handelt?
86 Band 1
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Im Grunde genommen kann man die persönliche Schulung zu
einem ausgereiften Menschen auch nicht ohne große Anmaßung
und Arroganz durchführen. Solange man nicht lauthals mit der Absicht antritt, den Klan ganz allein in Bewegung zu bringen, wird man
es auch nicht zuwege bringen. Das ist dann allerdings wie ein Wasserkessel, der schnell heiß wird, aber sich genauso schnell wieder abkühlt. Aber da gibt es eine Methode, nicht abzukühlen, nämlich ein
Gelübde nach eigenem Stil.
1. Was Bushidō, den Weg des Kriegers, angeht, niemandem nachzustehen.
2. Dem Lehnsfürsten zu Diensten zu stehen.
3. Den Eltern gehorsam zu sein.
4. Ein Herz von großer Barmherzigkeit und Anteilnahme zu fassen
und zum Wohle der Menschen zu wirken.
Wenn man diese vier Gelübde jeden Morgen vor den Göttern
und Buddhas intoniert, verdoppelt sich die eigene Kraft und Entschlossenheit und geht nicht mehr zurück. Mit der Geschwindigkeit
einer Spannerraupe wird das schrittweise, langsam aber sicher ins
Herz eindringen. Auch den Göttern und den Buddhas gegenüber bedarf es erst einmal eines solchen Gelöbnisses.
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Inhalt
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Einführung 5
Holzschnitte aus dem Taiheiki Eiyūden von Kuniyoshi 57
Zu den Abbildungen 73
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Hagakure
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Lehrsätze Band 1
Plauderei in den Schatten des Abends 81
Notizen Nr. i 88
Lehrsätze Band 2
Notizen Nr. ii 189
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Anhang
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Anmerkungen 279
Glossar 301
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Gesamtgestaltung: Cornelia Feyll und Friedrich Forssman
Satz und Druck: Reclam, Ditzingen
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Printed in Germany 2009
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isbn 978-3-15-010694-5