Wenn Dinge sich verändern
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Wenn Dinge sich verändern
Mitarbeiterhilfe 3.2010 Wenn Dinge sich verändern Ihr gedachtet es böse zu machen … >>> Wie im richtigen Leben! >>> Brüche inklusive >>> Eine Frage der Ver-Bindung >>> Zum Scheitern programmiert? >>> Mitarbeiterhilfe Inhalt 1 Brief der Schriftleiterin >>> biblisch 2 Norbert Held Ihr gedachtet es böse zu machen … 1.Mose 37–50 6 Dr. Harald Jung Das Weizenkorn, das in die Erde fällt … Johannes 12,20–26 12 Doris Reichmann Wie im richtigen Leben! Lukas 15,11–32 >>> grundsätzlich 16 Holger und Nicolas Noack Brüche inklusive 21 Florian Karcher Eine Frage der Ver-Bindung“ >>> informativ 24 Dr. Jürgen Schott Die fünf Säulen der Identität 29 Cornelia Götz-Kühne Zum Scheitern programmiert? 34 Wiebke Buff und Martin Drogat Vom Umgang mit Brüchen und Abschieden CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010 >>> praktisch 38 Maren Schob Erwachsen werden im Glauben 42 Dr. Beate M. Weingardt Mit Brüchen leben – über Brüche reden 45 Jan-Paul Herr Wie halten wir die Spannung aus? 49 Gabriele Hunold Wenn Dinge sich gewaltsam verändern Vo r w o r t >>> Liebe Mitarbeiterinnen und liebe Mitarbeiter, zu viel der Krisen, zu viele Brüche! Diese Ausgabe ist übervoll geworden – statt eines Vorwortes, ein Segenswort: In die Lichtblicke deiner Hoffnung und in die Schatten deiner Angst, in die Enttäuschungen deines Lebens und in das Geschenk deines Zutrauens lege ich meine Zusage: ICH bin da. In das Dunkel deiner Vergangenheit und in das Ungewisse deiner Zukunft, in den Segen deines Wohlwollens und in das Elend deiner Ohnmacht lege ich meine Zusage: Ich bin da. In die Enge deines Alltags und in die Weite deiner Träume und in die Kräfte deines Herzens lege ich meine Zusage: Ich bin da. In das Glück deiner Begegnungen und in die Wunden deiner Sehnsucht, in das Wunder deiner Zuneigung und in das Leid deiner Ablehnung, lege ich meine Zusage: Ich bin da! Mit freundlicher Genehmigung In die Fülle deiner Aufgaben und in deine leere Geschäftigkeit, in die Vielzahl deiner Fähigkeiten und in die Grenzen deiner Begabung lege ich meine Zusage: Ich bin da. © Paul Weismantel, Domvikar, Bistum Würzburg Mit herzlichen Segenswünschen – auch im Namen des Redaktionskreises Ihre / Eure Gudrun Meißner Redakteurin der Mitarbeiterhilfe [email protected] >>>>>>> CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010 In das Spiel deiner Gefühle und in den Ernst deiner Gedanken, in den Reichtum deines Schweigens und in die Armut deiner Sprache lege ich meine Zusage: Ich bin da. 1 biblisch Ihr gedachtet es böse zu machen ... Die Josefsgeschichte: 1. Mose 37–50 Der Satz „Gott lässt dich nicht fallen“ löst bei den Menschen sehr unterschiedliche Reaktionen aus. Je nach den Erfahrungen, die ein Mensch gemacht hat, fällt das Echo aus: von „na und“ über „hoffentlich“, „wirklich?“ bis zu „bestimmt“ sind die verschiedensten Kommentare denkbar. Offensichtlich verläuft das Leben in der Gegenwart Gottes nicht gradlinig. Auch nicht bei Josef. CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010 >>>>>> 2 Leben auf dem Boden der Verheißung – aber: Wo ist Gott? Die Geschichte des Josef beginnt in einem „christlichen Elternhaus“. Er wächst auf als Sohn Jakobs und seiner Mutter Rahel, die dann aber schon bald bei der Geburt Benjamins stirbt. Jakob ist einer der „Großen“ Israels. Sein Name wird immer mit genannt, wenn von Gott gesprochen wird: „Es ist der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs.“ Jakob ist einer, an den Gott sich bindet, mit dem zusammen er genannt wird, mit dem er Geschichte macht. Jakob kämpft mit Gott um einen besonderen Segen (1.Mose 32) und erhält von Gott als Zeichen dieses Segens einen neuen Namen: Israel. Dieser, sein neuer Name, wird dann später sogar der Name des ganzen Volkes. Die Segenslinie geht offensichtlich auf Josef über. Er hat im Herzen von Jakob und dann auch im alltäglichen Umgang eine besondere Stellung. Seine Träume deuten sein besonderes Selbstbewusstsein und seine Berufung an. Die Erwartung, dass der Segen Gottes auch in seinem Leben sichtbar wird – in Glück und Wohlstand – ist mit Händen zu greifen. biblisch Aber in seinem Leben ist nichts davon zu sehen. Was schief gehen kann, geht schief. Sein Leben und sein Verhalten erscheinen wie eine Horrorvorstellung für das „christliche Elternhaus“ und die Segenslinie Gottes. > Josef petzt die Bosheiten der Brüder bei Jakob (37,2) > Die besondere Liebe des Vaters zu Josef erzeugen Eifersucht und Hass der Brüder (37,4) > Josef wird von der Arbeit als Hirte verschont und bleibt zu Hause, während die Brüder auf dem Feld sind (37,12–13) > Die Brüder schmieden Mordpläne und verkaufen Josef schließlich als Sklaven an durchreisende Kaufleute (37,18.27) > Gegenüber dem Vater täuschen die Brüder einen Unfall vor und betrügen Jakob (37,31–33) Von einer Segensspur Gottes, seinem Handeln, ist in dieser Geschichte nichts zu sehen. Im Gegenteil: Gott spielt keine Rolle. Er kommt in dieser Geschichte nicht vor. Im ganzen Kapitel 37 wird Gott nicht erwähnt. Im Haus der Verheißung und trotz einer besonderen Berufung geht im Leben des Josef alles bergab – und Gott scheint abwesend und unbeteiligt. Leben auf der Achterbahn – aber Gott Die Geschichte geht so weiter, wie sie begonnen hat – allerdings mit einigen auffälligen „Aber“. Das erste „Aber“ geht schief. Ruben, als ältester Bruder plant er die heimliche Rettung aus der Hand der Brüder – aber sie kommen ihm zuvor (37,22). Ein zweites „Aber“ (37,36) deutet an: „Es hätte schlimmer kommen können.“ Joseph wird von den Kaufleuten in Ägypten an Potifar, den Kämmerer des Pharao verkauft. Bestimmt gab es deutlich unattraktivere Einsatzorte für hebräische Sklaven. Ab Kap. 39 spielt plötzlich auch Gott wieder eine Rolle. Er verbirgt sich hinter dem „Aber“. Gleich viermal taucht jetzt die Wendung „denn der Herr war mit Josef“ auf (2.3.21.23). Dennoch: Auch dieses „Aber“ bügelt das Leben des Josef nicht glatt. Die Achterbahnfahrt geht weiter. In Potifars Haus: Dass Gott mit Josef ist, hat spürbare Auswirkungen für ihn und seine Umgebung. Er bekommt eine Vertrauensstellung, steigt vom Sklaven zum Diener Potifars auf. Das Leben gelingt wieder; was er anpackt, glückt ihm. Aber die Frau Potifars ist gegen ihn. Auch wenn Gott mit ihm ist, gibt es für Josef jetzt kein sorgen- und versuchungsfreies Leben. Er muss Entscheidungen treffen und die Konsequenzen tragen. Gott nimmt ihm diese Last nicht ab. >>> CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010 Für den späteren Beobachter ist dies eine spannende Lebensgeschichte mit Happy End. Aber wie geht es Jakob und Josef mit Gott? Wie geht es Menschen in ähnlichen Situationen ohne das Überblickswissen bis zum Ende der Geschichte? Kann man an das Handeln Gottes glauben, wenn man von allen verraten und verkauft ist? 3 biblisch CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010 4 Im Gefängnis: Sogar über seinem Gefängnisaufenthalt steht, dass Gott mit ihm war. Und es wiederholt sich, was wir schon kennen: Die Nähe Gottes und die Probleme des Alltags schließen sich nicht aus. Fast scheint es, als schlössen sie Freundschaft miteinander. Josef erhält wieder eine Vertrauensstellung; er steigt vom Gefangenen zum Mitarbeiter mit Aufseherfunktionen. Er wird für zwei seiner Mitgefangenen zum Glücksfall. Aber „der oberste Schenk dachte nicht mehr an Josef“ (40,21). Für zwei weitere Jahre ist Josef vergessen und abgeschrieben. bei Potifars Frau (39,9) und im Gefängnis (40,8) – seine Entscheidungen mit der Gegenwart Gottes. Auch wenn seine bisherige Lebensgeschichte etwas ganz anderes auszusagen scheint: Josef rechnet auch jetzt noch mit der Wirklichkeit und Nähe Gottes. Beim Pharao Nach zwei Jahren in der Vergessenheit bringt Verzweiflung im Haus des Pharao plötzlich und unerwartet Licht in Josefs Zelle. Der Pharao hat geträumt und niemand kann ihm seine Träume deuten. Da erinnert sich der Schenk wieder an die Erfahrung mit Josef im Gefängnis. So wird er gerufen und dem Pharao als bewährter Traumdeuter präsentiert. Doch der zögert und rückt die Maßstäbe zurecht: „Das steht nicht bei mir; Gott wird jedoch dem Pharao Gutes verkündigen“ (41,16). Der Vergessene hat auch jetzt Gott nicht vergessen. Trotz der bisherigen Lebenserfahrungen begründet Josef erneut – wie schon Das Leben deuten – mit Gott Gott wird in der Tiefe erfahren. Er ist ein Alltags-Gott. Deshalb kommt auch der Sonntagsglaube schon mal ins Schwimmen. Viele wünschen sich mehr Tiefe und weniger Oberflächlichkeit im Leben. Aber: Mehr Tiefe gewinnt das Leben in der Tiefe. Der dänische Philosoph Sören Kierkegaard hat es einst so formuliert: „Das Leben muss nach vorn gelebt werden – aber man kann es nur im Rückblick verstehen.“ Alles Erleben unterliegt unserer Deutung. Was ist ein glückliches Leben? Was ist Fürsorge, Bewahrung? Wann bin ich gesund? Wann war ich erfolgreich? Es gibt keine allgemein und allzeit gültigen Maßstäbe für die Beantwortung dieser Fragen. Wir bewerten und deuten unser Leben. Wie aber deuten wir unser Leben? Josef deutet und erklärt sein Leben aus der Perspektive Gottes: Bei der Geburt seiner Söhne Josef nutzt die Namensgebung seiner beiden Söhne, um sein eigenes bisheriges Leben zu beschreiben. Seinem Erstgebornen gibt er den Namen Manasse; denn, so sagt er, „Gott hat mich vergessen lassen all mein Unglück“ (41,51). Dem zweiten Sohn gibt er den Namen Ephraim; und zwar mit der Begründung: „Gott hat mich wachsen lassen in dem Land meines Elends“ (41,52). Leben ohne Schatten · Text: Jürgen Werth · Melodie: Johannes Nitsch © 1988 SCM Hänssler, 71087 Holzgerlingen Die Versöhnung Noch ist die Unsicherheit bei den Brüdern nicht weg. Nach dem Tod ihres Vaters befürchten sie die Rache des jetzt mächtigen und berühmten Bruders. Noch einmal stellt Josef klar: „Ich bin unter Gott. Ihr gedachtet es böse zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen“ (50,20). biblisch Vor seinen Brüdern Als er sich vor seinen Brüdern zu erkennen gibt, deutet Josef sein bisheriges Leben nicht als eine Folge der Bosheit seiner Brüder, sondern als Ausdruck der Barmherzigkeit Gottes: „… um eures Lebens willen hat mich Gott vor euch hergesandt“ (45,5). Die Lebensgeschichte des Josef hilft, die Umwege und Irrwege des Lebens zu sehen. Sie müssen nicht verschwiegen oder verharmlost werden. Sie können benannt und ausgesprochen werden („ihr gedachtet es böse zu machen“). Aber Josef gelingt es, diese Wege im Licht Gottes als Wege seiner Führung anzunehmen. Die Verheißung Gottes über seinem Leben hatte Bestand, ohne dass dadurch jedoch sein Leben sanft und glatt wurde. Brüche, Irrwege und Umwege sind Teil dieses Lebens. Eigene und fremde Schuld bleiben nicht ohne Folgen, aber stellen das Ziel und die Gegenwart Gottes nicht in Frage. • Norbert Held 56 Jahre, verheiratet, fünf Kinder, seit August 2009 Inspektor des Evangelischen Gemeinschaftsverbandes Hessen-Nassau; vorher Bildungsreferent und Generalsekretär im CVJM-Landesverband Sachsen-Anhalt CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010 Seine Träume Bei der ersten Begegnung mit den Brüdern in Ägypten erinnert sich Josef doch noch einmal an seine Träume (42,9). Überrascht stellt Josef fest, dass Gott die Träume doch noch verwirklicht – selbst nachdem das Leben jahrelang in eine ganz andere Richtung gelaufen ist und Josef keine Chance hatte, bei der Verwirklichung der Träume nachzuhelfen. 5 biblisch Das Weizenkorn, das in die Erde fällt ... Vom Umgang mit Krisen · Johannes 12,20–26 CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010 1. Die Herrschaft Gottes – zum Greifen nah? 6 Gott wird sein Reich neu aufrichten, in Jerusalem! Das große Ziel ist unmittelbar vor Augen – es liegt zum Greifen nah. – Die Texte der Evangelien sind uns schon lange so vertraut, wir kennen längst den weiteren Verlauf der Ereignisse, sodass wir leicht in der Gefahr stehen, den Blick zu verlieren für die außergewöhnliche Dramatik der Geschehnisse. Wie anders muss der atemberaubende Gang der Ereignisse sich im unmittelbaren Erleben der Menschen dargestellt haben, die mit ihrem eigenen Leben mitten im aktuellen Geschehen standen. Versuchen wir für einen Augenblick, uns etwa die Perspektive des Philippus zu vergegenwärtigen. >>>>>> Er war ein Mann der ersten Stunde, einer der ersten Freunde des Mannes, der zur Hoffnung Israels geworden war. Seine erste Begegnung mit Jesus liegt dabei noch gar nicht sehr lange zurück. Durch den „Täufer“ Johannes, die charismatische Prophetengestalt, dem er in die Wüstengegend am Jordan gefolgt war, war er auf Jesus aufmerksam geworden. Es war um die Zeit, als Johannes verhaftet wurde. Was hatten sie seitdem gemeinsam erlebt! Sie hatten den gefunden, „von dem Mose und die Propheten“ geredet hatten, so hatte er seinem Freund Nathanael berichtet. Sie hatten Skepsis und Unglauben erlebt – und Wunder und Zeichen. Nach bescheidenen Anfängen im entlegenen Galiläa war eine große Bewegung gewachsen! Die Mächtigen in Jerusalem waren Krisen – das sind schmerzhafte Prozesse. Projekte scheitern, Träume – sterben. Das sind keine Kleinigkeiten. Ganz sicher nicht dann, wenn wir durch sie hindurchgehen; nicht für den, der sie durchlebt. Sicher haben wir die Erfahrung gemacht, dass sich manches im Rückblick anders darstellt. Wir sind gewachsen an Krisen, sind gereift. Wir sind durch schmerzhafte Erfahrungen hindurch, durch Verluste und Abschiede stärker geworden. Wir haben tiefere, wertvolle Verständnisse gewonnen, können dankbar sein für Erfahrungen, die wir uns vorab sicher nicht gewünscht hätten. Ja, wir wären wohl ohne diese, >>> Wir sind vielleicht ohne gerade diese schwie- gewachsen rigen Abschnitte in unserem bisan Krisen, herigen Leben, wären auch ohne sind gereift. die schweren Aspekte, die uns bis tief in unsere Persönlichkeit treffen, uns in unserem Innersten erreichen und berühren, nicht die geworden, die wir sind. Waren sie nötig für unser Werden? Jedenfalls sind sie Teil geworden unserer Geschichte und unserer Identität. Sind Krisen also das: schmerzhafte aber notwendige, letztlich wertvolle Durchgangsstationen unseres Lebens hin zu Größerem, Reiferem, Bleibendem? Müssen wir uns von Altem, von Vergangenem oder doch Vergehendem trennen – auch schweren Herzens vielleicht, aber doch entschlossen – um zu Neuem aufbrechen zu können? Gilt es, hinter uns zu lassen, wo möglich auch in Dankbarkeit, aber doch mit mutigem Blick nach vorn, was seine Zeit hatte, um uns öffnen zu können für das, was werden soll und was uns aufgegeben ist? >>> biblisch 2. Krisen und Chancen CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010 aufmerksam geworden, die religiösen Autoritäten der „Priester-Aristokratie“ am Tempel, der „König“ Herodes und sein Hof. Aber auch ihre Feindschaft hatte ihnen nicht geschadet, ihre Mordkomplotte würden Jesus (und sie mit ihm) nicht aufhalten können. Sie hatten Tote auferstehen sehen, und nun war Jesus unter dem Jubel der Volksmenge in der geheiligten Hauptstadt eingezogen – als den König Israels hatten sie ihn gefeiert, den, den Gott selbst eingesetzt hatte! Eine neue Epoche brach an – und sie waren mittendrin! Gott würde sein Reich aufrichten in diesen Tagen – eine „Große Zeit“! Und jetzt war der Ruhm des Mannes aus der galiläischen Provinz hinausgedrungen in die Weite der zivilisierten – hellenistischen – Welt. „Griechen“, interessierte Nicht-Juden, von irgendwo aus dieser Welt zwischen Marseille und dem fernen Indus, waren nach Jerusalem gepilgert – und sie wollten diesen Jesus sehen! Sie wenden sich an Philippus. Hierher hatte sie ihr Freund Jesus geführt, in den Mittelpunkt des Weltinteresses! Nun würde es losgehen, Jesus würde seine Herrschaft antreten als der Erwählte und Gesalbte Gottes – und sie waren mitten im Geschehen. Die Zeit ist reif! „Völker der Welt – schaut auf diese Stadt ...“ Es wird nicht ganz deutlich, ob Philippus die „Griechen“ zu Jesus bringt, wie damals (vor vielleicht zwei oder drei Jahren) Nathanel, ob es zu der Begegnung kommt oder ob das, was folgt, Jesus nur an seine Jünger richtet. Jedenfalls ist es nicht der Sieg seines neuen Friedensreichs, das in diesen Tagen von Jerusalem aus anbricht, von dem Jesus nun redet – sondern er spricht: vom Sterben! „Wir aber hofften, er sei es, der Israel ...“ (Lk 24) – verwirrende Wendung. Ja, die Zeit ist reif! Reif, wie das Weizenkorn, das nun in die Erde fallen soll, „begraben“ werden wird und sterben, damit es seiner Bestimmung folgend Leben hervorbringt – neues Leben. 7 Krisen und Stufen nach E. H. Erikson biblisch Stufe 1: Oralsensorische Phase; Urvertrauen vs. Urmisstrauen (1. Lebensjahr) Stufe 2: Muskuläranale Phase; Autonomie vs. Scham und Zweifel (2. bis 3. Lebensjahr) Stufe 3: Lokomotorisch-genitale Phase (Nach Freud: Phallische Phase); Initiative vs. Schuldgefühl (3. bis 6. Lebensjahr) Stufe 4: Latenzphase; Werksinn vs. Minderwertigkeitsgefühl (6. Lebensjahr bis Pubertät) Stufe 5: Pubertät und Adoleszenz; Identität vs. Identitätsdiffusion (Jugendalter) Stufe 6: Intimität vs. Isolierung (Frühes Erwachsenenalter) Stufe 7: Generativität vs. Stagnation (Mittleres Erwachsenenalter) Stufe 8: Ich-Integrität vs. Verzweiflung (Hohes Erwachsenenalter/Reife) CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010 Vielleicht auch das. Ja, darin ist wohl einiges Wahre, meine ich: Unser Wachstum geht durch Krisenprozesse hindurch, Entwicklungsphasen beinhalten schmerzliche Abschiedsprozesse, nicht immer leicht, aber notwendig und wertvoll. Psychologische Entwick>>> Unser Wachstum lungstheorien haben den geht durch Krisenganzen lebensgeschichtprozesse hindurch. lichen Reifungsweg unseres individuellen menschlichen Lebens als ein immer neues Hindurchgehen und Überwinden von Krisen nachgezeichnet. Erik Erikson etwa beschreibt das Leben als eine Abfolge zu durchlaufender Entwicklungskrisen auf dem Weg zur stufenweisen Ausbildung unserer Identität von der frühen Kindheit bis ins Alter, zwischen Urvertrauen und -misstrauen, Autonomie und Zweifel, Initiative und Schuld usw. 8 Altes müssen wir lernen, zurückzulassen, damit Neues wachsen kann – nur so können wir leben und nicht erstarren und ersticken. Wer sein Leben – so wie es ist und wie er es kennt, so, wie es bisher war – zu sehr liebt, wer es festhalten will und zu sehr daran hängt, um es loszulassen – der wird es verlieren. Im dauernden Blick zurück – wird das Leben zum Museum, erstarrt zur „Konserve“, die es gerade nicht bewahrt. Das ist, so wahr und nötig es ist, wenn wir es durchleben, und oft auch, wenn wir uns wirklich daran erinnern, keine Kleinigkeit! Wer es bagatellisiert – vielleicht weiß er nicht wirklich, wovon er redet, oder er hat es sich vielleicht selbst im eigenen Leben so verharmlost, um seiner besser Herr zu werden. Und doch ist das Teil unseres Lebens. An vielen Stellen begegnen wir dem „Echo“ dieses Phaenomens. Unser Wirtschaftsleben geht durch Krisen „schöpferischer Zerstörung“ (Schumpeter), die „Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“ (Th. S. Kuhn) geht durch die Krisen überkommener, lange erfolgreicher Paradigmen hin zu ganz neuen Modellen des Verstehens. Pädagogen, Sozialpsychologen und Ökonomen wissen davon, Unternehmensberater begleiten das „Change Management“ in Abteilungen und Konzernen. Es gilt: Krisen als Chancen begreifen! Und, wenn wir es philosophischer mögen, findet nicht schon der „gelernte Theologe“ G. W. Hegel auf dem Höhepunkt des Philosophischen Idealismus, eben diese Dialektik wieder auf dem Grund allen Lebens und Seins, als ein Grundgesetz des Werdens und des Geistes. Und das Weizenkorn? Wenn es reif ist, wird es in die Erde gelegt und begraben – damit eine neue Pflanze aus ihm keimt und wächst. Sie bringt eine Ähre voller neuer Weizenkörner hervor, reift – und stirbt – erneut. Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, Der uns beschützt und der uns hilft zu leben. Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten, An keinem wie an einer Heimat hängen, Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen, Er will uns Stuf’ um Stufe heben, weiten. Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen, Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise, Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen. Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde Uns neuen Räumen jung entgegensenden, Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden ... Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde! Hermann Hesse (1942) aus: Hermann Hesse, sämtliche Werke, Bd. 10: Gedichte © Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main 2002. Mit freundlicher Genehmigung. „Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe – bereit zu Abschied sein und Neubeginne“, schreibt Hermann Hesse in einem seiner bekanntesten Gedichte. Leicht ist das sicher nicht. Es ist ein ernster Schmerz, der die Hoffnung des Lebens begleitet. Und doch wohnt, schreibt er tröstend, jedem Anfang auch „ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft zu leben“. „Wohlan denn Herz, nimm Abschied – und gesunde.“ 3. „Krankheit zum Tode“ „Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe – bereit zum Abschied sein und Neubeginne, um sich in Tapferkeit und ohne Trauern - in andre, neue Bindungen zu geben. Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, Der uns beschützt und der uns hilft zu leben.“ Wirklich? biblisch Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe Bereit zum Abschied sein und Neubeginne, Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern in andre, neue Bindungen zu geben. Ist das denn wahr? Ist wirklich jeder Abschied auch ein Neubeginn, birgt jedes Sterben, jeder Tod wirklich schon aus sich heraus den Keim zu neuem, tiefrem Leben in sich? Ich selbst bin da nicht ganz so sicher. Es ist schon wahr, dass es zum Leben gehört, in Krisen zu reifen und zu wachsen. Es ist wahr, dass es in manchem Abschied, in mancher Krise gilt, den Blick nicht zu verlieren für die Chancen, die darin liegen – mutig den Augenblick zu ergreifen für Neues. Und auch das ist richtig, dass wir nicht selten in Gefahr stehen, festhalten zu wollen, was sich nicht festhalten lässt. Dass wir manches Mal – schmerzlich aber auch heilsam – werden lernen müssen, etwas aus der Hand zu geben, um frei zu sein für Neues. Und auch umgekehrt, manche Freiheit, manche Ungebundenheit in der Vielfalt der Optionen, einer Welt voller Möglichkeiten, aufzugeben, eine konkrete Möglichkeit zu ergreifen und damit all die andern zu verwerfen, hinter sich zu lassen, damit eine wirklich Wirklichkeit wird. Und auch das kann schmerzvoll sein, voller Ungerechtigkeit gegen die ausgeschlagene >>> Es gibt die Erfahrung, Möglichkeit. Eine dass wir durch den Verlust Erfahrung von Verhindurch müssen, um zu lust und – ja – von gewinnen. „Sterben“. Und doch unvermeidlich, um des Lebens willen. Es gibt die Erfahrung, dass wir durch den Verlust hindurch müssen, um zu gewinnen, dass wir das Leben durch das „Sterben“ hindurch erlangen müssen – und es ist nicht irgendeine, zufällige Erfahrung, es birgt eine tiefe Wahrheit. Und es kann einen richtigen Trost bieten und einen wichtigen, hilfreichen Hinweis: Übersieh nicht das Neue! >>> CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010 Wie jede Blüte welkt und jede Jugend Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe, Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern. 9 biblisch Aber ist das die ganze Geschichte – holt das schon all den Verlust, all das „Sterben“ ein, dass wir erleben? Gibt es nicht auch das andere in unserem Leben? Den schrecklichen, sinnlosen Verlust, in dem kein neues Leben liegt. Was ist mit der schweren Krankheit eines hoffnungsvollen kleinen Kindes, die wie aus dem Nichts hereinbricht, und durch Lebensgefahr hindurch schwere Behinderung als Belastung des jungen Lebens zurücklässt? Was ist mit einem geliebten Menschen, den wir viel zu früh durch einen grotesken Unfall verlieren? Ist jeder unwiderrufliche Abschied, jede zerbrochene Familie und auch jedes Unrecht wirklich „vor allem Chance“? Ist es tatsächlich so vergleichsweise „harmlos“ mit unserem Sterben und Scheitern, mit Schuld, Verlust und Tod – alles nur ein „Wachsen“? CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010 4. „Ich habe den Tod überwunden“ 10 Manches haben Menschen „überlebt“. Da wird ein naher Mensch in einem absurden Amoklauf von einem anderen mit in den Tod gerissen. Da verunglückt erst der Mann in jungen Jahren – und dann, nach den ersten Narben die gemeinsame Tochter. Ein anderer erfährt, wie sein Partner in einer tückischen Demenzerkrankung versinkt, sich mehr und mehr verliert. Es gibt viele Verlusterfahrungen, die Menschen – vielleicht – tragen und ertragen können, aber eine Verletzung bleibt, eine offene Frage. Da geht es nicht darum, den Verlust „als Chance zu begreifen“, sich zu öffnen für neues Leben, das darin keimt. Es gibt jedenfalls, meine ich, begründete Zweifel daran, ob wirklich jeder Abschied auch zugleich umstrahlt wird vom „Zauber eines neuen Anfangs“, ob wirklich schon im Sterben selbst die Kraft verborgen liegt zu neuem Leben. Der Tod selbst ist, glaube ich, nicht schon die Quelle und das Geheimnis des Lebens. Und wie ist es mit dem Weizenkorn, von dem Jesus spricht? Sagt er uns das nicht zu, dass, wer sein Leben festzuhalten versucht, es verlieren wird, dass aber der, der es verliert und aufgibt, dass der es wirklich gewinnt, neu und unzerstörbar? (V. 25) Ja, das sagt er uns zu. – ER. Nicht der Tod ist die Quelle des Lebens, nicht unser Verlust verbürgt den Gewinn von Neuem. Und auch der Tod des Weizenkorns – er ist nicht immer fruchtbar. Jesus gebraucht auch dieses Bild ja öfter. Und wenn wir an den Sämann denken (Mt 13,1 ff.; Mk 4, 1 ff.; Lk 8, 4 ff.) – manches kann auch unter die Dornen fallen, oder auf felsiges Land – und Weizenkörner können auch zermahlen und gegessen werden. Aber in allem Sterben und in allem Verlust ist ER uns vorausgegangen. Sein Sterben war nicht „unfruchtbar“. Der so unerwartete, für Philippus und die anderen Jünger so schockierende Tod ihres Freundes Jesus Christus hat nicht das letzte Wort behalten – und auch in unserem Leben darf und wird er es nicht. Auch da nicht, wo es uns so scheint. Nicht, weil es das Geheimnis allen Sterbens wäre, dass wir mutig hindurchmüssen zum Leben. Auch, wenn uns das durchaus begegnet! Auch da, wo es uns diese Antwort verschlägt, ist auch unser Verlust von IHM getragen – in einer Weise, die wir noch nicht wirklich verstehen – die wir vielleicht nur ahnen können, und manchmal auch das überhaupt nicht. Was Jesus uns hier sagt, in der „Krise“ seines Lebens in Jerusalem, das ist mehr als ein Dialektisches Prinzip allen Lebens. Das ist selbst Noch ein paar Fragen für die eigene Bearbeitung: > Erinnern Sie sich, wo sie den Tag des Falls der Mauer erlebt haben? Können Sie sich erinnern, wie Sie das damals wahrgenommen haben? Können Sie sich vorstellen, wie Sie es erlebt hätten, wenn die Ereignisse plötzlich eine erschreckende Wendung genommen hätten, etwa wie wenige Monate vorher in China? > Wo und wie haben Sie die Nachricht vom Anschlag in New York am 11. September 2001 erfahren? > Können Sie sich vorstellen, dass große, wichtige neue Aufbrüche, von denen Sie vielleicht wissen – und die Sie vielleicht beeindruckt oder bewundernd vor Augen haben – als erschreckende Krisen und schlimme Verlusterfahrungen begonnen haben? > Kennen Sie Verluste, vor deren Anblick Sie lieber schweigen würden, wo Ihre Deutungen und Lösungen nicht zu etwas Gutem und Fruchtbaren führen? biblisch der Anfang neuen Lebens! Wir sehen es nicht immer. Manchmal bleibt es tief verborgen – auch in unserem Leiden, im Verlust, in Abschied und Sterben. Wir können dankbar sein, wo wir >>> Gott sagt uns zu, es sehen. Wir müssen dass wir vieles sehen werden, was uns noch nichts verbiegen, wo uns das nicht gelingt. verborgen ist. Gott sagt uns zu, dass wir vieles sehen werden, was uns noch verborgen ist, dass auch dort neues Leben sein wird, wo wir nichts davon verstehen. Sein Leben trägt und umgreift uns auch da, wo wir das Leben verloren haben. Diese große Krise steht allem, was ist, noch bevor. > Können Sie sich – ohne darüber reden zu müssen – Situationen vorstellen, in denen Sie eigene Schuld erfahren (haben), die sich nicht korrigieren lässt – die Sie sich nur vergeben lassen können im Blick auf eine Heilung, die jenseits Ihrer Möglichkeiten liegt und die Sie nicht sehen können? Stufen, aus: Hermann Hesse, sämtliche Werke, Bd. 10: Gedichte, © Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main, 2002. Mit freundlicher Genehmigung. • Dr. Harald Jung Ökonom und Theologe, promovierte an der Univ. Neuchâtel (Schweiz). Ab 2002 war er Assistent am Lehrstuhl für Systematische Theologie und Ethik in Jena und arbeitet heute als Dozent in Bad Liebenzell und in der Personalentwicklung > Gibt es vielleicht auch solche Situationen, die Sie gar nicht als das wahrgenommen haben? Könnten Sie von daher ein anderes Licht gewinnen? CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010 > Erinnern Sie sich, dass Ihnen Krisen begegnet sind, in denen für Sie wichtige neue Aufbrüche, Anfänge, Chancen verborgen waren, sodass sich die Krise im Rückblick v. a. als ein wichtiger Gewinn darstellt – bei Ihnen selbst, oder im Leben anderer? 11 biblisch Wie im richtigen Leben! Das Gleichnis vom verlorenen, älteren Sohn Lukas 15,11–32 CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010 >>>>>> 12 Das kommt mir bekannt vor! Im Fokus diesmal: der ältere Sohn. Ansprüche stellen und Beziehungsbruch, schuldig werden und Versöhnung, vergleichen und über andere urteilen, Leistung und Einsatz, weiße Weste und Selbstgerechtigkeit, eingeladen werden und sich ausschließen … Die Liste ließe sich fortsetzen. Der Text nimmt uns in eine Geschichte hinein, die von zwei Menschen in Krisen berichtet. Jesus erzählte das Gleichnis „Vom verlorenen Sohn“ in der Hoffnung, dass die Hörer sich selbst in der einen oder anderen Szene entdecken. Ob es damals gelang? Ob es heute gelingt? Zu dieser „Geschichte vom barmherzigen Vater“, wie ich sie lieber nenne, gibt es im Neuen Testament mehrere Parallelen, z. B. das Gastmahl, zu dem Levi in seinem Haus einlädt in Mk 2,15–17 oder in Lk 18,9–14 das Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner, die zum Beten in den Tempel gehen. In allen drei Texten geht es um die Liebe Jesu zu den Sündern und die Gefahr, für seine eigene Bedürftigkeit und Schuld blind zu sein. So sind die eigentlichen Adressaten die „älteren Söhne“, die „Rechtgläubigen“, die Pharisäer und Schriftgelehrten, die sich schwer tun mit der Botschaft Jesu. Hat der Ältere nicht allen Grund, auf den jüngeren Bruder und auf den Vater sauer zu sein? Wie konnte der Vater nur so schnell „alles gut sein lassen“? War die Reue des Bruders denn echt? Wollte er sich wirklich ändern? Sollte er das nicht erst einmal zeigen? Und dann das Fest. Das hatte der Jüngere nicht verdient. Der Vater schien vergessen zu haben, dass er auch noch einen älteren Sohn hatte. Solche und ähnliche Gedanken mögen dem Älteren durch den Kopf gegangen sein. Der Neid des Älteren ist so gut zu verstehen. Er ist so menschlich. Hätte der Vater ihn nur mal vor dem Fest aufgesucht und gefragt! Was möchte der ältere Sohn dem Vater sagen? Der Vater setzt sich in die Mitte des Kreises. Er hört still zu, was die TN (als älterer Sohn) ihm sagen. Für den Älteren „ist nicht alles gut“. Er wird zornig und greift den Vater an. Seine Worte sind voller Selbstgerechtigkeit. Im Gespräch mit dem Vater nennt er seinen Bruder „dein Sohn“. Damit bringt er zum Ausdruck, dass er sich nicht nur von seinem Bruder, sondern auch vom Vater distanziert. Er stellt sich selbst außerhalb der Familie hin. Die Vorwürfe treffen den Vater. Der Schuldige ist gefunden. >>> CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010 Um die Geschichte in ihrer Tiefe zu verstehen, brauchen die TN Zeit, sich die Gefühle des älteren Bruders zu vergegenwärtigen. Frage: Welche Sätze über den Bruder gehen dem älteren Sohn vermutlich durch den Kopf? Danach die Gefühle zu den Sätzen suchen. Sätze und Gefühle sichtbar aufschreiben. Möglich: Je zwei Personen „modellieren“ aus einer dritten Person ein Standbild zu einem Satz/einem Gefühl. Oder: In der Mitte des Kreises steht ein leerer Stuhl. Die TN sagen, was sie über den jüngeren Sohn denken. biblisch Schauen wir den älteren Sohn in der Geschichte an. Er war dabei, als der Jüngere seine Ansprüche stellte und der Vater ihn auszahlte. Er blieb zu Hause. Er arbeitete fleißig, war pflichtbewusst und gehorsam, er machte lauter Dinge, die gut und richtig waren. Mit seiner Arbeit wollte er dem Vater dienen. Er setzte sich ein und das kostete seine Zeit und Kraft. Wenn er sich mit dem Jüngeren verglich, spürte er, dass er besser dastand. Die Schuld des Jüngeren lag auf der Hand: Es war ungehörig, so mit dem Vater umzugehen, dazu verschwendete er das Geld, seine Zeit und sein Leben. Dieses Fehlverhalten hatte etwas Eindeutiges für ihn. 13 biblisch Was steckt hinter der Anschuldigung und dem Zorn? Ein Vater mit zwei verlorenen Söhnen! Sieger Köder hat die Geschichte unter dem Titel „Der verlorene Sohn“ gemalt. Das Bild eignet sich gut für eine Bildbetrachtung. Der jüngere Sohn liegt in den Armen des Vaters. Der Vater hält ihn und er hält sich am Vater. Der Ältere steht etwas abseits und schaut auf die Szene. Seine Hände sind verschlossen; es sieht aus, als würden sie die Verschlossenheit gegenüber dem Bruder und das Ringen in ihm selbst spiegeln. Auf dem Bild von Sieger Köder tragen die Söhne das gleiche blaue Gewand. Der Jüngere hat erkannt, dass er dem Vater nichts mehr zu bieten hat als seine gescheiterte Existenz. Und er spürt nun, dass er es nicht verdient hat, „Sohn im Hause des Vaters“ zu sein. Der Ältere steht in seiner Selbstgerechtigkeit noch im Abseits. Ob sich hinter dem Zorn der Neid auf den jüngeren Bruder verbirgt? Solches Ansehen durch den Vater zu erleben, das hätte ihm zugestanden, doch nicht dem jüngeren, gescheiterten Sohn. Die Freude des Vaters über die Heimkehr des Sohnes findet bei ihm keine Resonanz. Sein selbstgerechtes, stolzes und herzloses Wesen bricht aus ihm heraus. Die Krise konfrontiert ihn mit einer Seite in ihm, die ihm vielleicht bisher noch nicht bewusst war. CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010 Kennen wir ähnliche Gedanken, deren wir uns schämen? In Krisenzeiten können wir uns mit Seiten in uns konfrontiert sehen, die wir bisher noch nicht kannten. Je nach TN Zeit zur Besinnung geben, evtl. leise Musik spielen lassen. Zettel und Stifte bereithalten, wenn jemand etwas für sich aufschreiben möchte. 14 Ob hinter dem Neid auch eine verborgene Sehnsucht liegt? Er versucht ja alles zu tun, um seinen Stand und Status als Sohn zu rechtfertigen. Er weiß, wie ein Sohn sich zu verhalten hat und was er zu tun hat. „Seinen Dienst“ tut er mit aller seiner Kraft. Er präsentiert sein Leben vor dem Vater und hofft, dass seine Leistung vom Vater anerkannt wird. Dem Jüngeren ist der Vater entgegengelaufen, als er auf dem Weg nach Hause war. Auch dem Älteren kommt der Vater entgegen. „Da ging der Vater heraus zu ihm und bat ihn“ (hereinzukommen). In diesen Worten steckt die ganze Liebe des Vaters. Er gibt dem Älteren die Chance zum Aufbruch aus seiner Verschlossenheit. Er gibt ihm Gelegenheit zum Reden und hört sich die Anschuldigungen an. Zorn und Neid kommen ans Licht. Auch der bisher nicht genannte Wunsch nach Feiern und Fülle wird ausgesprochen. Keinem der Söhne macht der Vater Vorhaltungen – so ist der Vater. In Liebe lädt er den Älteren ein, das Fest und die Freude mit dem Jüngeren zu teilen. Erst in der Krise wird das Herz des Älteren offenbar. Es wird sichtbar, dass ihm die Liebe zum Bruder fehlt und er ihm keine Barmherzigkeit gönnt. Sein Urteilen, Verurteilen, sein Richten und „gerechter sein wollen als der Vater“ zeigt sein hart gewordenes Herz. Sein Nicht-teilnehmen-wollen am Fest macht sichtbar, dass er eigentlich außerhalb steht. So wird seine Wirklichkeit sichtbar. Die TN können während der BA ganz in der Geschichte bleiben. So ist es leichter, seine eigenen Anteile zu finden und sich ihnen zu stellen. Auch Jesus hat seinen Hörern diese Chance der Identifikation über die Beispielgeschichte gegeben. Zum Abschluss bietet sich eine Blitzlichtrunde an: Was ist mir aufgefallen/ was ist mir wichtig geworden? Jede/r kann mit einem Satz antworten. Dabei ist es möglich, in der Geschichte oder bei sich selbst zu sein. biblisch Bisher hat der Ältere sich nichts schenken lassen. Er war gefangen in seinem Streben nach Tadellosigkeit und Leistung („So viele Jahre diene ich dir; noch nie habe ich ein Gebot übertreten …“). Er wollte sich seinen Stand verdienen. Er gehörte zur Familie und lebte doch neben dem Vater her. Er kannte das Herz des Vaters nicht wirklich. So lebte er auch an der Fülle, die im Vaterhaus Gottes ist, vorbei. Der Vater lädt ihn ein, sich beschenken zu lassen („Alles was mein ist, das ist dein.“). Literatur: Artikel von Alex Lefrank SJ, Zwei Weisen der Schuld aus Korrespondenz zur Spiritualität der ExerzitienHeft 43/44, 1979 Nenri J. M. Nouwen: Nimm sein Bild in dein Herz, Freiburg im Breisgau 1991, 17. Auflage • Doris Reichmann 54 Jahre, Ausbildung Gemeindepädagogin, tätig als CVJM-Kreissekretärin in Lippe Beide Söhne brauchen die Liebe des Vaters. Der ältere wie der jüngere leben aus der Barmherzigkeit des Vaters, der sie Sohn sein lässt. Für beide ist es wesentlich, dass sie eine neue Identität finden: Ein Leben aus Gnade und Erbarmen. Ob die Krise im Leben des Älteren zur Wende wird? Manche schweren Umstände, manche mit menschlichem Maßstab wahrgenommene Ungerechtigkeit enthüllen die geheimen Regungen (positive wie negative Gefühle) unseres Herzens. Krisen, in denen wir uns selbst erkennen, werden so zu Chancen. Die Wüstenväter wussten: Ohne Selbsterkenntnis ist keine Gotteserkenntnis möglich. CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010 Ein TN setzt sich als älterer Sohn in die Mitte und die TN gehen in die Rolle des Vaters. Was will der Vater dem Älteren sagen? 15 grundsätzlich Brüche inklusive CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010 Ein Plädoyer für ein nur fast perfektes Leben 16 „perfekt“ – ein Modewort: ein perfektes Lächeln, ein perfekter Körper, ein perfekter Tag. Wünsche klammern sich daran fest, Hoffnungen, Erwartungen. Ein Wort, wie für die Werbung geschaffen: anziehend, unbemerkt manipulierend, wertsetzend. „perfekt“ – ein bedrohliches Wort: Es legt fest. Schränkt ein. Verhindert Entwicklung. Es verführt dazu, nur zu bewahren, was man erreicht hat. Vorsicht! Das Streben nach Perfektion kann das Leben beschädigen, gerade weil das Wort so fesselnd und die Gefühle so anziehend sind. Das Dunkle im Leben wird als Abwesenheit von Sinn gedeutet, das Unvollkommene als Makel empfunden – und Brüche als Beschädigung des Lebens überspielt. Was perfekt ist, kann, ja darf sich nicht weiterentwickeln – was sich entwickelt, kann nicht perfekt sein. Doch das Leben ist nicht eine Linie, wie mit dem Lineal gezogen, sondern ist durchsetzt von Brüchen, von denen manche gut verheilen und nur als kleine, markante Bruchlinien erkennbar sind, während andere sichtbar und manchmal auch schmerzhaft bleiben. >>>>>> Die Brüche im Leben zu überspielen, führt dazu, das Unbequeme >>> Die Brüche im zu verdrängen und die Leben zu überspielen, Entwicklungsmöglichführt dazu, das Unbekeiten darin zu überqueme zu verdrängen sehen. Manche Brüche und die Entwicklungssind dabei unvermeidmöglichkeiten darin lich, weil sie zum menschlichen Entzu übersehen. 1. Um-bruch: Leben ist Entwicklung 1.1 Entwicklung ist unvermeidlich – Brüche sind es auch Entwicklung findet immer statt. Sie ist kein Prozess mit Anfang und Ende, sondern ein Teil unseres gesamten Lebens.1 Trotzdem stellt sie sich in den verschiedenen Phasen unseres Lebens immer wieder anders dar. Sie besitzt Schwerpunkte, wie in der Pubertät, an dem sie das Leben komplett auf den Kopf stellt – und Phasen, in denen Entwicklung gar nicht wahrgenommen wird, obwohl sie stattfinden. >>> Brüche schaffen Veränderungen und sind damit eine wichtige Möglichkeit zum persönlichen Wachstum. Dabei stellen sich die Situationen mit den meisten Veränderungen/ den meisten Brüchen als die für die Entwicklung einflussreichsten heraus: Nur dort, wo sich etwas verändert – etwas Altes endet und etwas Neues beginnt – kann es zu einer Entwicklung kommen. Entwicklung setzt voraus, dass sich etwas geändert hat – Brüche schaffen diese Veränderungen und sind damit eine wichtige Möglichkeit zum persönlichen Wachstum. Man muss nur diese Möglichkeiten nutzen: Wer sich eingesteht, dass es eine Diskrepanz gibt zwischen früher und jetzt (zwischen den 1.2 Drei Schritte Zuerst: die Realität erkennen Der erste, vielleicht wichtigste Schritt ist, den Bruch als solchen zu erkennen und sich mit ihm auseinanderzusetzen. Denn nur wer den Bruch annimmt und sich um eine Lösung der Situation bemüht, hat die Chance, die sich bietenden Möglichkeiten zu nutzen. Wer den Bruch ignoriert, hat nicht nur mit den Folgen (Stillstand, Resignation oder Unzufriedenheit) zu kämpfen, sondern bleibt unter seinen Möglichkeiten. grundsätzlich Auf alle diese Brüche reagieren wir unterschiedlich, und doch wieder typisch: Wir versuchen die Brüche zu bewältigen, indem wir sie verdrängen oder in unser Leben integrieren. An drei Bruch-Typen sollen die unterschiedlichen Brucherfahrungen und unsere typischen Reaktionen dargestellt werden – wobei sich die Reaktionen oft in Ritualen verdichten, mit denen wir die Brüche verarbeiten. vertrauten und den neuen Lebenserfahrungen, zwischen den bisherigen und den jetzt möglichen Lebenskräften) kann sich bewegen und diesen Lebensbruch als einen Schritt auf den Weg ins Leben gehen. Jeder Entwicklungsbruch im Leben hat einen Einfluss auf uns, aber dennoch ist unser Verhalten in diesen Bruch-Erfahrungen ein entscheidendes Kriterium dafür, wie wir diesen Um-bruch bewältigen. Dann: die Notwendigkeit akzeptieren Der zweite Schritt: Diese Brüche sind notwendige Ereignisse in diesem Lebensabschnitt. Die erste eigene Wohnung z. B. schafft neue Freiräume, bringt aber auch neue Pflichten mit sich. Um ein unabhängiges Leben zu führen, sollte dieser Bruch als entscheidende Erfahrung nicht ausbleiben. Wir brauchen diesen Bruch, der uns zwingt, Selbstständigkeit zu lernen. Schließlich: die Angst bewältigen Doch trotz dieser Einsichten werden Brüche immer auch Angst machen: die Angst vor dem Neuen, die Angst, etwas zu verlieren, die Angst vor dem Übergang. Diese Angst zu überwinden, sich vom Status Quo zu lösen, ist der nächste, wichtige Schritt. Wer akzeptiert, dass es nicht so bleiben wird, wie es jetzt ist, sondern anders wird, hat die Möglichkeit, das Neue zu gestalten und für sich selbst zu nutzen. >>> 1 Die neuere Entwicklungspsychologie sieht das ganze Leben als Abfolge von Entwicklungsschritten, während die frühere Entwicklungspsychologie sich vor allem auf die Zeit bis zum „Erwachsenwerden“ konzentrierte. CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010 wicklungsprozess gehören. Andere Brüche sind nicht vorhersehbar, sondern brechen als Probleme oder gar als Katastrophen in unser Leben ein. Und es gibt Brüche, die durch uns selbst entstehen – sie gehen von uns aus und fallen, gleichsam von außen, wieder auf uns zurück. 17 grundsätzlich CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010 18 1.3 Übergänge sind hilfreich und gefährlich Jeder Bruch bietet neue Möglichkeiten, die sich – wie auch die Angst – aus dem Fehlen von Regeln und Erfahrungen in dieser Situation ergeben. Jeder Bruch ist anders und muss auf andere Weise gelöst werden. Diese Freiheit schafft Kreativität, die neue Wege aufzeigen kann und neue Verhaltensweisen fördert. Genau das macht aber Entwicklung aus: Etwas nicht so machen zu müssen wie immer! Nicht mit altbewährten, angepassten Methoden den immer gleichen Weg zu gehen – sondern sich auf neue, überraschende Wege zu wagen. Dabei kann man an sich neue Fähigkeiten entdecken und sich >>> Jeder Bruch ist entwickeln. anders und muss auf andere Weise gelöst werden. Dabei bietet ein neuer Weg nicht immer die Aussicht auf Erfolg. Er kann zum Umweg oder sogar zum Irrweg werden. Der erhoffte Fortschritt entpuppt sich dann als Rückschritt. Auch das wird durch die Freiheit der Situation gefördert. Deshalb ist es umso wichtiger, diese Möglichkeit zu akzeptieren und mit einzukalkulieren. Auch das bereitet Angst, aber es sollte uns nicht entmutigen. Wir erleben Brüche, um zu lernen2. Wir lassen Altes hinter uns, um Neues zu erhalten. Das macht Entwicklung aus. 1.4 Übergangsriten: Übergänge erleben An den Um-brüchen unseres Lebens feiern wir Rituale, die uns helfen, diese Um-brüche bewusst zu erleben und sie zugleich als Teil unseres Lebens zu integrieren. Diese Übergangsriten (rites des passage) bestehen aus drei Phasen: der Ablösungsphase, in der wir uns deutlich von dem Alten, Vertrauten trennen; der Zwischenphase, in der wir sozusagen „in der Schwebe“ sind und in der die Verunsicherung der Veränderung aufgefangen wird; und schließlich die Integrationsphase, in der das Neue angenommen und die neue Identität zugeeignet wird. Charakteristische Übergangsriten sind z. B. Konfirmation, Ehe, Taufe, Verabschiedungen oder Aufnahmen in Gruppen. 2 Im Film „Batman begins“ fasst der Butler Alfred Bruce Wayne (Batman) gegenüber diese Haltung pointiert zusammen: „Wir fallen, damit wir lernen, wieder aufzustehen“ Die Dreiteilung ist dabei der Schlüssel, denn durch sie wird der Um-bruch markiert und zugleich relativiert: Er wird zu einem erlebnisintensiven, aber auch in sich abgeschlossenen Teil des Lebens. 2. Ein-bruch: kleine Dramen und große Katastrophen. 2.1 Die kleinen „Dramen“ Der Streit unter Freunden, durch den die Freundschaft zerbricht. Der komplette Datenverlust durch einen Virus. Der Verlust des Arbeitsplatzes durch die Wirtschaftskrise. Manche Brüche – auch wenn sie unterschiedlich schwerwiegend sind – widerfahren uns gleichsam „von außen“. Wir haben sie nicht direkt verursacht, aber werden von ihnen bestimmt und oft auch verletzt. Solche Brüche gehören zu unserem Leben. Jeder erlebt sie. Sie belasten uns, unabhängig davon, ob sie sich angekündigt und wir uns darauf eingestellt haben, oder ob sie völlig unerwartet über uns hereinbrechen. Trotzdem sind wir oft in der Lage, den Blick wieder nach vorn zu richten. 2.2 Die größeren „Katastrophen“ Doch nicht alle Brucherfahrungen, die wir machen, sind gleich Schritte auf dem Weg unserer Entwicklung. Es gibt Brüche, für die es keine Notwendigkeit, keinen Grund und keine Lösung gibt. Solche Ein-brüche in unser Leben zeigen uns unsere Grenzen auf: eine Krebsdiagnose, ein Verkehrsunfall, eine Naturkatastrophe. In unserem Leben werden wir mit solchen Schicksalsschlägen konfrontiert. Sie hinterlassen Narben, aber sie geben uns auch einen Einblick in uns selbst. In einer Situation der Grenzenlosigkeit zeigen sich unsere eigenen Grenzen. Aber bis wir diesen Punkt erreicht haben, zeigen sie vor allem unsere Fähigkeiten und Möglichkeiten, die durch unsere bisherige vertraute, aber auch begrenzte Wahrnehmung unseres Lebens verdeckt waren. Der Anker kann sein Leben – und das der anderen – retten, weil der „Held“ nicht den bequemen, direkten Weg des „Schurken“ wählt, sondern bereit ist, für das, was ihn hält und was in der Krisensituation herausbricht, einzutreten, ja sogar dafür auch sein Leben einzusetzen. Die Brüche, die der Film in Bilder und Geschichten umsetzt, bewegen den Helden zu seinen Taten – und schließlich auch den Zuschauer, sich mit dieser Situation zu identifizieren. 3. Ab-bruch: Schuld und Vergebung grundsätzlich Dabei verlässt sich der Held oft auf einen Anker: Werte und Moralvorstellungen, an die er sich immer gehalten hat und die ihm geholfen haben. Wie der Kriegsheld, der Menschlichkeit und Kameradschaft über sein eigenes Wohl stellt. Und wenn ich schuld bin? Wenn der Bruch in meinem Leben nicht ein Um-bruch ist, der durch die Lebensentwicklung ausgelöst wurde? Und auch kein Ein-bruch äußerer Umstände und Einflüsse? Was ist, wenn durch mein Verhalten der Kontakt zu den anderen ab-bricht, ich mich >>> Die Möglichkeit, von ihnen isoliere, sie schuldig zu werden, verletze – an ihnen ist der Preis der schuldig werde? >>> 2.3 Als Beispiel: der Held in Filmen In Filmen werden solche „Katastrophen“ oft als Ausgangspunkt der Entwicklung gezeigt: In diesen Situationen, in denen das Leben „auf der Kippe steht“ entscheidet sich, wer ein Held wird und wer nur Opfer ist. Denn es ist der „Held“, der mit der Brucherfahrung am besten umgehen kann. Oft macht er selbst gerade einen Bruch in seinem Leben durch oder führt ein von Schicksalsschlägen gebeuteltes Leben. Es ist daher ein „Bruch-Experte“, der solche Situationen kennt und sich anpassen kann. Er ist damit vertraut, dass plötzliche, tragische Ereignisse in der Lage sind, das ganze Wertesystem zu kippen: Sie schaffen Chaos ohne Regeln und Ordnung; die typische Bruchsituation. CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010 Gemeinschaft. 19 grundsätzlich 3.1 Wir können schuldig werden Die Möglichkeit, schuldig zu werden, ist der Preis der Gemeinschaft. Was wir tun – oder auch unterlassen – wirkt sich auf andere aus, beeinflusst ihr Leben, beschränkt auch ihre Lebensmöglichkeiten. Gerade weil Gemeinschaft bedeutet, zu geben und zu empfangen, wirke ich nicht immer nur hilfreich auf andere ein, sondern auch schädigend und bedrängend. Eine Gemeinschaft, die bestehen will, muss, in welcher Form auch immer, die Problematik der Schuld und die Möglichkeit der Vergebung thematisieren. Schuld bedeutet immer auch, dass ich, wenn ich andere verletze, selbst verletzt werde, wenn ich andere schädige, nicht selbst unbeschadet weiterleben kann, wenn ich die Beziehung abbreche, selbst isoliert werde. Jeder Bruch mit dem ande>>> Jeder Bruch mit ren wird zu einem Bruch dem anderen wird in meinem Leben. zu einem Bruch in meinem Leben. CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010 3.2 Rituale der Vergebung Deshalb gibt es in allen Kulturen Rituale der Vergebung. Gottesdienste, in denen die Schuld zwischen den Menschen auf Gott hin geöffnet wird und von ihm aus Vergebung zugesprochen wird, die dann wieder die Gemeinschaft erneuert. 20 Diese Rituale haben meist einen reinigenden (kathartischen) oder ausstoßenden (elimina-torischen) Charakter3, d. h. die Schuld wird symbolisch „weggewaschen“ (durch Wasser oder auch durch Blut), bzw. symbolisch aus der Mitte der Gemeinschaft entfernt (durch einen wie auch immer dargestellten Träger, wie den Sündenbock). Schuld muss bewältigt werden, damit die Gemeinschaft erhalten bleibt. Unvergebene Schuld lässt die Gemeinschaft – und letztlich auch den Einzelnen – zerbrechen. 3 Im AT sind diese beiden Grundrichtungen sehr gut im Ritual des großen Versöhnungstages (3.Mose 16) zu erkennen. Das gesamte Ritual besteht aus zwei Teilen: Zuerst wird das Heiligtum „gereinigt“ und anschließend wird die Sünde des Volkes auf einen (Sünden-)Bock übertragen und anschließend mit ihm in die Wüste ausgestoßen. 4. Fazit: Auf-bruch – Leben reift durch Brüche Unser Leben ist auch von Brüchen bestimmt. In ihnen bricht unser Leben auf – im doppelten Sinne: die vertraute, bergende Form unseres Erlebens bekommt Risse, die Geradlinigkeit, die wir uns so gerne vorstellen, zerbricht. Manches lässt sich wieder integrieren, anderes bleibt bruchstückhaft und fragmentarisch. Zugleich aber bricht unser Leben auch auf, indem es sich weiterentwickelt, Neues sieht und annimmt, Weite gewinnt und Perspektive – und manchmal auch Tiefe. • Nicolas Noack Nicolas Noack, 20 Jahre, studiert Psychologie in Köln, mag Filme und Filmmusik • Holger Noack 52 Jahre, verheiratet, drei Kinder, nach dem Theologiestudium Gemeindepfarrer, seit 1994 Bundesekretär für Mitarbeiterbildung beim CVJM-Westbund grundsätzlich Eine Frage der „Ver-Bindung” Brüche in der Biografie Jugendlicher aus sozialwissenschaftlicher Sicht Ein Bruch im Leben Julia ist 15 Jahre und lebt jetzt in Frankfurt. Ihr Vater hat dort eine neue Arbeit bekommen und die Familie ist umgezogen. Die Freunde, die vertrauten Orte, die Klassenkameraden musste sie mehrere hundert Kilometer zurücklassen und steht jetzt ganz allein da. >>>>> Die Jugendlichen mussten Brüche in ihrem Leben erfahren. Solche und andere Situationen verändern das Leben schlagartig. Was machen solche Brüche mit Jugendlichen? Wie wirken sie sich auf ihre Entwicklung aus und wie können sie damit umgehen? Auch für Ben (17 Jahre) ist jetzt alles anders. Er ist mal gerne zur Schule gegangen und war ein guter Schüler. Dann ist er ein Opfer von Mobbing geworden und von Klassenkameraden seelisch gequält worden. Nun hat er zwar die Schule gewechselt, aber jeden Morgen ist wieder die Angst da und für gute Noten muss er jetzt richtig kämpfen. Modernes Leben fordert Flexibilität – gerade auch von jungen Menschen. Sie müssen Veränderungen aushalten und bereit sein, Gewohntes aufzugeben. Dies gilt nicht nur für den Bereich von Ausbildung und Beruf, sondern auch für soziale Bezüge und emotionales Erleben. Zum einen sind es Wohnort- und Schulwechsel, Veränderung der familiären Situationen oder instabile Freundschaften und Beziehungen, die Jugendliche aushalten müssen. Zum anderen machen sie Erfahrungen, die den eigenen Selbstwert in Frage stellen und so eine emotionale Krise auslösen. Dies kann sowohl die Erfahrung von körperlicher oder seelischer Gewalt sein, aber auch das Versagen in Schule und Beruf. >>> CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010 Flexibilität ist gefordert Eine Veränderung musste auch der 13-jährige Pascal erleben. Seit sich seine Eltern getrennt haben, ist alles anders. Früher hat er seine Mutter und seine Schwester täglich gesehen, jetzt muss er zu Besuchen an das andere Ende der Stadt fahren. 21 CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010 grundsätzlich Diese „Brüche“ in der Biografie junger Menschen gehören zum Leben dazu. Der Bruch ist Teil der „Normalbiografie“ Jugendlicher. Flexibilität heißt in >>> Brüche in der diesem Zusammenhang, Biografie junger die Fähigkeit mit Brüchen Menschen gehören umzugehen und sich mögzum Leben dazu. lichst schnell auf die veränderte Situation einzustellen. 22 Brüche verändern die Normalität Veränderungen sind von jeher typisch für die Jugendphase und Pubertät. Körper, Denken, Umfeld und die eigene Persönlichkeit verändern sich in dieser Zeit. Was jedoch unterscheidet einen Bruch in der Biografie von normalen Veränderungen? Der Bruch zeichnet sich dadurch aus, dass er in die Normalität eines Menschen einbricht und sie unwiderruflich verändert. Er ist dabei eine einschneidende Veränderung der emotionalen und sozialen Bindungen. Er ist in der Regel nicht gewollt, wird als von außen plötzlich auf das Leben einwirkend empfunden und stellt eine seelische Belastung dar, die verarbeitet werden muss. Jugendliche erleben Brüche in der Regel zunächst als eine tiefe Krise, der sie hilflos gegenüberstehen. Sie befinden sich in einer Phase, wo sie selbst schon für sich und das eigene Leben verantwortlich sein wollen und >>> Jugendliche erleben teilweise auch sollen, Brüche in der Regel es aber noch nicht zunächst als eine tiefe können. Daher führt Krise, der sie hilflos der Bruch insbesondere gegenüberstehen. Jugendliche die eigene Hilflosigkeit vor Augen, was die emotionale Belastung in einer solchen Situation verstärkt. Die subjektive Wahrnehmung der einschneidenden Veränderung ist daher in der Regel deutlich bedrohlicher, als eine Betrachtung der Sache von außen. Sätze wie „Das haben andere Kinder in deinem Alter auch geschafft“, kommen daher nicht an und sind wenig hilfreich. Der Bruch ist in der Wahrnehmung der Jugendlichen eine Katastrophe. Chance und Gefahr Er erzeugt daher auch eine Situation von Labilität und Instabilität der Persönlichkeit. Die Flut oft widerstrebender Gefühle, das Erleben von Hilflosigkeit, der Verlust von Sicherheit und die Anforderung die neue Situation zu beherrschen, erzeugen eine Anfälligkeit und Verletzlichkeit bei jungen Menschen. Der Bruch ist >>> Entscheidend daher zum einen eine ist, wie Jugendliche Chance, gestärkt aus der den Bruch in ihrer Situation hervorzugehen, Biografie verarbeisich weiter zu entwickeln ten können. und ein gereiftes Selbstbewusstsein zu bilden. Er kann aber auch eine negative Entwicklung hin zu mehr oder weniger schwerwiegenden Problemen (z. B. Selbstbewusstseinsprobleme, psychische Störungen, Aggressivität u. a.) nehmen. Entscheidend dafür ist, wie Jugendliche den Bruch in ihrer Biografie verarbeiten können. Bindung im Jugendalter Ein wichtiger Faktor bei der Verarbeitung eines Bruches, der vor allem den Verlust von Sicherheit bedeutet, ist die Bindung. Unter Bindung versteht man eine dauerhafte und stabile Verbindung zu ganz bestimmten Personen (insbesondere zu den Eltern), die nicht ohne weiteres auswechselbar sind und deren Nähe und Unterstützung gesucht werden, wenn z. B. Furcht, Trauer, Verunsicherung und Krankheit erlebt werden. Die Bindungstheorie (nach deren Begründer John Bowlby) geht davon aus, dass eine stabile Bindung ausschlaggebend für eine gesunde psychosoziale Entwicklung des Menschen ist. Obwohl Bindung vor allem im (frühen) Kindesalter entsteht, ist sie auch für die Jugendphase ein wichtiger Faktor. Neuere Forschungen dazu zeigen z. B. auf, dass in der Phase der frühen und mittleren Pubertät Veränderungen des Bindungssystems junger Menschen stattfinden können. Es kann also davon ausgegangen werden, dass die Bindungserfahrung eines jungen Menschen (die Bindungstheorie unterscheidet hier grob zwischen sicher und unsicher gebundenen Jugendlichen) entscheidend für den Umgang In Zeiten, in denen – vermutlich unwiderruflich – Brüche zur „Normalbiografie“ von jungen Menschen gehören, brauchen Kinder und Jugendliche stabile Beziehungen mehr denn je. Nur solche Verbindungen ermöglichen eine sichere Bindung und befriedigen ihr Grundbedürfnis nach Sicherheit, Annahme und Stabilität. An erster Stelle sind hier sicherlich die Eltern oder andere Erziehungspersonen zu sehen. Aber auch die Jugendarbeit im CVJM und der Kirche können helfen, dass Jugendliche für Krisenzeiten gefestigt sind: 1. Jugendarbeit braucht feste Bezugspersonen Jugendarbeit vor Ort ist in erster Line Beziehungsarbeit. Jugendliche fühlen sich hier u. a. deshalb wohl, weil sie hier in Beziehung zu anderen stehen. Oftmals ist es auch der oder die Hauptamtliche oder ein/e Gruppenleiter/in, die eine wichtige Bezugsperson für Jugendliche ist. Bei diesen Bezugspersonen ist es wichtig, den Jugendlichen eine Kontinuität und Konstanz zu bieten. Sie brauchen feste Ansprechpartner und Bezugspersonen, die ihnen das Gefühl von Sicherheit und Annahme vermitteln können. 2. Jugendarbeit hilft bei der Ver-Bindung zu Jesus Christus Im Glauben bietet Gott den Menschen eine einmalige Chance zu einer lebenslangen, stabilen und verlässlichen Beziehung, die junge Menschen für das Leben stark macht. Die Erfahrung vieler Christen ist, dass gerade in Zeiten von Krisen und Brüchen diese 3. Jugendarbeit fördert Beziehungsfähigkeit Viele junge Menschen erleben heute gescheiterte Beziehungen. Darunter leidet oftmals die eigene Beziehungsfähigkeit. Jugendarbeit ist darum bemüht, Jugendlichen zu zeigen, was echte Beziehungen sind und übt diese mit ihnen ein. Auf Freizeiten, in Gruppen, in der Seelsorge oder im alltäglichen Miteinander können sie erfahren, worauf es in Beziehungen ankommt: Vertrauen, Verbindlichkeit, Ehrlichkeit u. v. m. Für diese Werte steht Jugendarbeit ein und lebt sie vor. In der Begegnung mit der Bibel kann hier von Gottes Ideen für gelingende Beziehungen profitiert werden. grundsätzlich Jugendliche brauchen stabile Beziehungen Ver-Bindung sich als besonders tragfähig erweist. Jugendarbeit im CVJM und der Kirche hilft jungen Menschen, diese Beziehung zu erleben, sie aufzubauen und zu gestalten. Brüche gehören zum Leben Jugendlicher dazu. Sie dürfen deshalb nicht unterschätzt werden. Aus Sicht der Jugendlichen selbst ist jeder Bruch eine ernste Lebenskrise. Durch stabile Bindungen und Beziehungen werden Jugendliche stark, Brüche auszuhalten und verarbeiten zu können. Verwendete Literatur: Krüger/Marotzski: Handbuch erziehungswissenschaftliche Biografieforschung, Wiesbaden 2006 Seiffge-Krenke/Lohaus: Stress und Stressbewältigung im Kindes- und Jugendalter, Göttingen 2007 • Florian Karcher 28 Jahre, verheiratet, Dipl. Sozial- und Religionspädagoge, promoviert zurzeit im Fach Erziehungswissenschaften, Jugendreferent beim CVJM Gütersloh CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010 mit Brüchen ist. Die grundsätzliche Erfahrung von Sicherheit und Annahme eines sicher gebundenen Jugendlichen wird ihm in der Phase der Unsicherheit und des Umbruchs helfen können, den Bruch in seiner Biografie zu verarbeiten. Bei Jugendlichen, die Defizite im Bereich dieser grundlegenden Erfahrungen haben, können (es darf an dieser Stelle nicht verabsolutiert werden) diese dazu führen, dass der Bruch eine problematische Entwicklung nimmt. 23 informativ Die fünf Säulen der Identität CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010 >>>>>> 24 Je älter ich werde, umso wohler fühle ich mich in alten, manchmal etwas ausgefahrenen, aber berechenbaren Geleisen. Ich will wissen, was auf mich zukommt, will Sicherheit. Ich kann auf Lebensumbrüche verzichten, versuche mich sogar dagegen abzuschirmen durch Versicherungen, Kapitalplanungen, Vorsorgeuntersuchungen und dergleichen mehr. Ich mag keine einschneidenden Lebensumbrüche mehr. Und doch, sie lassen sich nicht ganz vermeiden. Die Erdbeben in Haiti und Chile haben uns das neu gelehrt. Irgendwo im Untergrund gibt es tektonische Verschiebungen und alles, was uns lieb und wert ist, wackelt, wird rissig, bricht zusammen und bedroht unser Leben. „Unsere Mutter Erde“, von Kindesbeinen an vertraut, auf die wir uns so selbstverständlich verlassen konnten, lässt uns plötzlich im Stich: Unser Urvertrauen wird erschüttert. Was ist noch sicher in diesem Leben? Zum Leben gehören Umbrüche, manchmal zerstörerische Umbrüche, und erst nach Jahren sehen wir, dass sie not-wendig waren, Voraussetzung für neue Entwicklungen. Es ist wichtig, dass wir für Krisen und Lebensumbrüche gewappnet sind. Dazu können „Sanierungsmaßnahmen“ an den „Fünf Säulen der Identität“ – vielleicht könnte man in diesem Zusammenhang auch von „Fünf Säulen der Stabilität1“ sprechen – hilfreich sein. Was versteht man unter den „Fünf Säulen der Identität“? Sie gehen auf Hilarion Petzold (Integrative Therapie, Gestalttherapie) zurück. Er führt fünf Bereiche auf, die für unser Wohlergehen wesentlich sind. Sie werden von verschiedenen Autoren etwas modifiziert dargestellt: > Körper und Leiblichkeit > Beziehungen, soziales Netz > Arbeit und Leistung > Heimat / materielle Sicherheit > Normen und Werte 1 (Stand)festigkeit, Beständigkeit passieren: dass mein Leib oder der des Partners zum Objekt meiner (oder meines Partners) Begierde wird und so in der Veräußerlichung landet. Krisen ergeben sich in Umbruchzeiten: Pubertät, Wechseljahre, Alter und besonders in schweren oder gar unheilbaren Krankheiten, wenn mein Leib „mich im Stich lässt“ ... „und ich davon muss.“2 2. Beziehung und soziales Netz Auf Martin Buber geht die Formulierung: „Der Mensch wird am Du zum Ich“ zurück. Das ist einleuchtend. Von Geburt an sind wir von einem Gegenüber, von unserer Mutter abhängig. Ihr Wohlwollen signalisiert uns Lebensberechtigung, ihre Ablehnung macht uns manchmal lebenslang zu schaffen. Ihre Bejahung bildet das Fundament unseres Selbstwertgefühls: Das Ich wird am Du. Wir sind in eine Familie hineingeboren. Familiaritas (lat.) heißt „der vertraute Umgang“. Noch „im reifen Alter von 67 Jahren“ merke ich, wie der Familienclan mütterlicherseits mich mit seinen Werten, Vorstellungen geprägt hat und wie er mir bis heute eine gewisse Geborgenheit, ein Gefühl der Zugehörigkeit und Akzeptanz vermittelt. Und nun lebe ich in meiner Familie mit Frau, Kindern und Enkeln, eine Säule, die ich nicht missen möchte. Welche Beziehungen sind noch wichtig? Die Beziehung zu Frau oder Mann, zum anderen Geschlecht. Dreht man sich nach mir um, werde ich begehrt, geliebt oder verkümmere ich als „Mauerblümchen“? Begehrt werden tut gut und noch mehr geliebt werden. „Ich bin wer!“ Das stabilisiert mein Selbstwertgefühl. – Und was ist, wenn man sich nicht nach mir umdreht? Wer oder was tröstet mich dann? Freunde sind wesentlich. Freundschaft heißt: gemocht sein um seiner selbst willen. Sie ist eingebettet in Sympathie und Vertrauen. Lebe ich in einer Gemeinschaft? Ich war bis zu meinem Ruhestand in einer Gemeinschaftspraxis als Arzt tätig. Wir kannten uns aus unserer Zeit in der Studentenmission und bauten gemeinsam die Praxisgemeinschaft auf. >>> 2 Psalm 39,5 informativ Ich wähle statt Körper den Begriff Leib. Damit ist mehr gemeint als der „biologische Apparat“. Vielleicht drückt Johannes 1,14 am besten aus, was damit gemeint sein könnte: „Und das Wort ward Fleisch ...“ Ich bin leibhaftig da ... in meinem Körper. Im Begriff Leib ist ein Spannungsbogen enthalten: Ich bin Leib und ich habe einen Leib („Ich bin krank“ – „Mein Körper lässt mich im Stich“). Ist mein Leib eine stabile Säule, dann fühle ich mich in meiner Haut wohl. Folgende Fragen gehen mir in diesem Zusammenhang durch den Sinn: Was braucht mein Leib an Essen und Trinken, Bewegung, Ruhe und Entspannung, Sinnesreizen und Genuss? Was schadet ihm? Wo sollte ich Maß halten, ihm nicht zu viel zumuten? Höre ich auf Signale meines Leibes wie Ermüdung, Erschöpfung, Schmerz etc. und respektiere sie? Mein Leib ist mein Freund, nicht mein Feind. (Bei Magersüchtigen z. B. wird er zum Feind). Bin ich mit meinem Aussehen zufrieden? Wünschte ich mir „mehr Muckies“, eine ansprechendere Figur, eine idealere Nase? Ich denke an eine Frau mit einer – ihrer Meinung nach – zu kleinen Brust. Dieses Problem beschäftigte sie eine Zeit lang Tag und Nacht, es quälte sie. Sie empfand sich „unansehnlich“. Besondere Schwierigkeiten bereiten uns Körperbehinderungen. Und doch kann ich nur in meinem Leib zu Hause sein, wenn ich seine Mankos akzeptiere. Ein oberflächliches Ja, „weil sich das für einen Christen so gehört“, hilft da wenig. Oft ist – wie bei anderen Verlusten – ein langer Weg unumgänglich: Auf anfängliche Verleugnung folgen Auflehnung, Resignation und Depression und schließlich Akzeptanz. Auf diesem dornenreichen Weg kann ein geduldiger Begleiter Balsam sein. Zum Sich-in-seiner-Haut-Wohlfühlen gehört eine erfüllte Sexualität, die Freude an einer leibhaftigen Begegnung mit einem Gegenüber, aus der, womöglich, neues Leben entspringt. Ein lustvoller und konfliktbeladener Bereich: Wie lebe ich meine Sexualität als „Single“, als Homosexueller oder wenn mein(e) Partner(in) nicht so will wie ich? (Ich habe da keine Patentantworten.) Eines allerdings sollte nicht CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010 1. Leib 25 CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010 informativ Ich fühlte mich da – trotz Unterschiedlichkeit unserer Charaktere, trotz Auseinandersetzungen – zu Hause, akzeptiert. Das gab Sicherheit, Rückenwind in mancher beruflichen Auseinandersetzung. Brüche, Krisen sind auch in unseren Beziehungen nicht zu vermeiden. Schulz von Thun formulierte: „Menschen, die zusammen schaffen, machen einander zu schaffen!“ In Krisen wird deutlich, ob „ein Ich am Du geworden ist“, ob ich alleine leben kann oder nur in symbiotischer Abhängigkeit, quasi als Parasit, ob ich am andern hänge wie eine Klette. Besonders im Alter und bei schweren, unheilbaren Krankheiten kommt es zu Beziehungsabbrüchen. Jakob Levy Moreno formulierte: „Im Alter stirbt man von außen.“ 26 3. Arbeit Arbeit und Leistung sind ein wesentlicher Pfeiler der eigenen Stabilität. Wer längere Zeit arbeitslos war, erlebt das am eigenen Leib: Arbeitslosigkeit ist dann oft gleichbedeutend mit wertlos sein, nichts vorweisen können, anderen und sich selbst gegenüber. Man will wirken, werken oder zumindest „werkeln“. Selbst in meinem Ruhestand stehe ich vor der von mir gestrichenen Hauswand und betrachte sie mit Zufriedenheit, wenn das Streichen einigermaßen erfolgreich war. Unser Status (Stand) ist – zumindest in Deutschland – eng an unsere berufliche Tätigkeit gekoppelt. Frauen stehen im Blick auf Arbeit häufig einer Doppelbelastung gegenüber. Häusliche Arbeit wird kaum honoriert, also bleibt nur die Doppelbelastung mit Kindern, Haushalt und Beruf, ein Spagat. Den kann man nur durchstehen, wenn der Mann der Frau bei der Hausarbeit unter die Arme greift. Arbeit haben heißt für die meisten materielle3 Sicherheit, meinen Lebensunterhalt verdienen: ohne Arbeit kein Geld. Bei der MASLOWschen Bedürfnispyramide bilden physiologische Bedürfnisse (s. Leib) und Sicherheit (ein festes Einkommen, ein Dach über dem Kopf, Recht und Ordnung) die Basis, auf die soziale Bedürfnisse, individuelle Bedürfnisse, Selbstverwirklichung aufbauen. Materiell nicht abgesichert sein heißt, 3 Materiell kommt von mater(lat.) – Mutter mir fehlt die Lebensgrundlage. Das ist eine Qual, die mit einem leicht dahergesagten Spruch wie: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein!“ nicht hinreichend gelindert wird. Und doch hat dieser Satz seine Berechtigung. Bei Albert Camus, „Der Mythos von Sisyphos“, heißt es: „Aufstehen, Straßenbahn, Büro, Essen, Arbeit, Essen, Schlafen, Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag, immer derselbe Rhythmus – das ist sehr lange ein bequemer Weg. Eines Tages aber steht das Warum da, und mit diesem Überdruss, in den sich Erstaunen mischt, fängt alles an.” Was fängt da an? Fragen kommen hoch: Kann ich mich mit meiner Arbeit identifizieren, hat sie mit mir zu tun oder bin ich nur Sklave? Kann ich da etwas gestalten, fließt in sie etwas von mir hinein oder vergewaltigt und verformt sie mich (Déformation professionelle)? Im Englischen bringt eine Redewendung das Problem auf den Punkt: „Love it, change it or leave it.“ 4. Heimat Als vierte Säule habe ich mich für „Heimat“ entschieden. Diesen Bereich lernte ich als vierte Säule im Rahmen der Fortbildung des Arbeitskreises „Kommunikation und Klärungshilfe” (Schulz von Thun) kennen (Alternativ kommt „Materielle Sicherheit“ in Betracht. Heimat wird dann als „milieu-ökologischer Bezug“ dort eingeordnet). Heimat, das ist neben meiner Ursprungs-Familie der Bereich, in dem ich verwurzelt, zu Hause bin. Ich bin Schwabe. Ich spreche und denke schwäbisch. Es heimelt mich an, wenn ich Sebastian Blau schwäbische Gedichte aufsagen höre und dort Grundeinstellungen und Eigentümlichkeiten begegne, die ich als zu mir gehörig empfinde. In ähnlicher Weise sind andere Menschen mit den Regionen verbunden, aus denen sie stammen. Die Begegnungen mit ihnen erweitern meinen Horizont und bereichern mich. Als Schwabe bin ich „selbstverständlich“ Deutscher. Menschen, die ihre Heimat zwangsweise verlassen mussten (Flucht, Vertreibung), leiden darunter und haben doch Heimat, Sitten und Gebräuche in sich auf- und mitgenommen. Wie bedeutend Heimat und Sprache für unsere Identität sind, 5. Werte Was meint Werte? Wert ist nach Kröner, Philosophisches Wörterbuch, „ein von den Menschen gefühlsmäßig als übergeordnet Anerkanntes, zu dem man sich anschauend, anerkennend, verehrend, strebend verhalten kann“. Was soll für mich als Grundlage meines Sinnens und Trachtens, meines Verhaltens und Handelns gelten? Was gibt mir da Orientierung. Und wer vermittelt mir das, was mir Wert-voll ist? Ist es die Familie, die Gemeinschaft, die Auf der oberen Ebene stehen positive Werte in einem Spannungs- und Ergänzungsverhältnis. Wird dieses Spannungsverhältnis aufgegeben, landet man in den senkrecht darunter stehenden entwertenden Übertreibungen. Krisen in unserer „Wertesäule“ gibt es, wenn unsere Wertvorstellungen bröckeln, wenn wir sie als lebensuntauglich über Bord werfen, wenn Werte missbraucht wurden, um uns für Machtinteressen gefügig zu machen, so beispielsweise in der Zeit vor den beiden Weltkriegen. Das sollen einige Anregungen zu den „Fünf Säulen der Identität“ sein. >>> informativ Bibel, eine innere Stimme, mein Gewissen, der Heilige Geist? Werte können sein: Ehrlichkeit, Liebe, Treue, Geborgenheit und Harmonie, Dankbarkeit, Hilfsbereitschaft, Toleranz, Recht und Ordnung, Freiheit, Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit oder auch Geld, Macht, Ehre und Ansehen, Fleiß, Eigenständigkeit etc. Sind meine Werte stabil oder fragil? Welche Werte passen zu meinem Menschenbild? Von Schulz von Thun stammt die Äußerung: „Im Wertehimmel der Psychologie gibt es nur Paarlinge, Gegensatzpaare von Werten, die einander brauchen und bedingen.“ Er greift das Wertequadrat von Helwig (1967) auf. Ein Wert degeneriert zur entwertenden Übertreibung, wenn er sich nicht in „ausgehaltener Spannung“ zu einem positiven Gegenwert, einer „Schwestertugend“ befindet. Ein Beispiel: CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010 wird in Begriffen wie „Muttersprache“ und „Vaterland“ deutlich. Wenn jedoch jeder „deutsch sein muss“, wenn ich meine Heimat für alle verbindlich mache und verabsolutiere, wird es bedrohlich. Dahinter steckt die Angst, die Heimat zu verlieren, das heißt: Ich habe „eine unsichere, bedrohte Heimat“. Heimat können auch Landschaft und „Natur“ sein, soweit ich mich in ihnen zu Hause fühle. In einem Gedicht von Leonore Gauland („Lobgesang der Bäume“) kommt dies anschaulich zum Ausdruck: „Freunde sind uns oft die Bäume, breiten uns die Zweige weit, steh’n in Leid und Glück bereit, schenken uns Geborgenheit, rauschen sanft in uns’re Träume – Freunde sind uns oft die Bäume ...“ Andererseits kann Natur, eh ich mich versehe, bedrohlich, feindlich und damit fremd für mich werden. Ein Stück Heimat bedeuten die sozialen Netze, in denen ich zu Hause bin: meine Familie, meine Clique, meine Jugendgruppe, mein Bläser-Verein, meine Kirchengemeinde, meine Religionszugehörigkeit. Krisen treten auf beim Verlust von Heimat oder wenn meine Vorstellungen von Heimat sich ändern, wenn sie mir „zu eng“ wird, zu engstirnig, wenn die Einbindung in „Heimat“ meine Freiheit und Individualität bedrohen, wenn sie mir zum Gefängnis wird. 27 informativ Es bleiben einige Fragen: Müssen alle Säulen gleich stabil sein? (Das wird bei keinem der Fall sein.) Wie „repariere“ ich Risse in den Säulen? Kann man bei „brüchigen“ Säulen die Stabilität durch Stärkung anderer Säulen erreichen? Während der Vorbereitungszeit zu diesem Artikel wurde mir klar, dass die fünf Säulen allein hinsichtlich meiner Stabilität „unzureichend“ sind. Ich kann mit Erschütterungen und Rissen in den Säulen besser umgehen, wenn ich ein stabiles Fundament habe. Mit Fundament meine ich Selbstvertrauen, Urvertrauen. Dieses Urvertrauen basiert wesentlich auf meinen „Urerfahrungen“ am Ursprung meines Lebens: Schwangerschaft, frühe Kindheit etc. Positive Erfahrungen mit Mutter und Vater sind die Grundlage für Selbstannahme: „Ich mag mich!“ Möglicherweise, und das glaube ich, reichen aber meine Urerfahrungen noch weiter zurück, sie gründen in der Gottesebenbildlichkeit „Und Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie einen Mann und ein Weib“4. CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010 4 1.Mose 1, 27 5 Friedrich Weinreb, Das Markus-Evangelium, Bd 2, S.634, Weiler, 1999. 6 Psalm 139,5 28 Friedrich Weinreb schreibt: „Hebräisch „dam“, „Blut“, ist vom Stamm „gleichen“, Gott gleichen. Adam kann man auch übersetzen mit „ich gleiche“,...“5 Der „Hauch Gottes in mir“ schafft eine Grundlage jenseits meines Machens, Könnens, „Alles-in-den Griff-kriegenMüssens“. Und dann gibt es auch noch den Heiligen Geist. Von allen Seiten bin ich von Gott umgeben: „Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir.“6 Das Bild unten soll das veranschaulichen. Schließen will ich mit einer Strophe aus einem Gedicht von Hanns Dieter Hüsch, das seit mehr als einem Jahr auf meinem Schreibtisch steht: „Was macht, dass ich so furchtlos bin an vielen dunklen Tagen? Es kommt ein Geist in meinen Sinn, will mich durchs Leben tragen.“ • Dr. Jürgen Schott 67 Jahre, verheiratet, sechs erwachsene Kinder, Arzt für Neurologie, Psychiatrie, Psychotherapie, tätig in einer christlichen Praxisgemeinschaft in Uelzen, jetzt im Ruhestand, Mitarbeiterschule des Missionsseminars in Hermannsburg informativ Zum Scheitern programmiert? Resilienz bei Jugendlichen – Gedeihen trotz widriger Lebensbedingungen und Erfüllung im Leben finden Arnold Schwarzenegger hatte es als Kind schwer: Sein Vater, ein Tyrann, prügelte ihn regelmäßig, versuchte seinen Willen zu brechen. Bill Clintons Stiefvater war Alkoholiker und Spieler, das Familienleben ein Drama. Ray Charles wuchs ohne Vater in größter Armut auf und erblindete früh. Doch trotz der schlechten Startbedingungen haben sich alle drei zu erfolgreichen und belastbaren Persönlichkeiten entwickelt, während andere mit ähnlichen Voraussetzungen im Leben scheitern (SWR.Beitrag zu Resilienz v. 22.10.09). Es beschreibt, wie Menschen oder Systeme erfolgreich mit belastenden Situationen z. B. einem Unglück, einer Notsituation, Misserfolg, Risikosituationen oder traumatischen Erfahrungen umgehen können bzw. umgehen lernen können. >>>>>> In ihrer 1955 auf der Insel Kauai (Hawaii) gestarteten Langzeitstudie beobachtete Emmy E. Werner während der letzten 40 Jahre die Entwicklung von 700 Kindern. Dabei konzentrierte sie sich auf das Drittel der Kinder, denen es trotz gehäufter Risikofaktoren (z. B. chronische Armut, kranke Eltern, dauerhafte Disharmonie) gelang, sich zu lebenstüchtigen Erwachsenen zu entwickeln. Hierbei stellte sich die Frage nach Eigenschaften, die den Kindern geholfen haben, Resilienz zu entwickeln und ihr Leben zu meistern. >>> CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010 Resilienz – ein Begriff, der ursprünglich aus der Physik stammt, beschreibt die Eigenschaft bestimmter Materialien, nach einer Belastung wieder in den Ursprungszustand zurückzukehren. Aber auch die Psyche des Menschen kann resilient sein. Dieses Thema ist in den in den letzten Jahren ein spannendes Forschungsgebiet. 29 informativ CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010 30 Bei den Beobachtungen wurde deutlich, dass die Kinder schützende Faktoren in sich selbst trugen, aber auch die der Familie oder des erweiterten Umfelds spielten eine wesentliche Rolle. Diese Kinder waren zum Beispiel aktiv in der Suche nach Lösungen, hatten ein gewinnendes Temperament und konnten so auch Erwachsene außerhalb ihrer Familie als wichtige Bezugspersonen gewinnen. S. M. Rutter (1955) betont, dass es um die individuelle Art und Weise geht, in der Menschen auf Risiken reagieren – ob sie beispielsweise eine Erfahrung als Herausforderung oder Bedrohung erleben und die Reaktion darauf als Bewältigung von Problemen betrachtet wird oder in einer Resignation endet. In der neueren Forschung geht man davon aus, dass Resilienz kein angeborenes Persönlichkeitsmerkmal eines Kindes bezeichnet, sondern dass es sich um eine Kapazität handelt, die im Verlauf der Entwicklung im Kontext der Kind-UmweltInteraktion erworben wird, also eine Mischung aus Veranlagung und Umwelteinflüssen. Allerdings kann Resilienz in einem spezifischen Lebensbereich nicht automatisch auf alle anderen Lebens- oder Kompetenzbereiche übertragen werden. So können Kinder, die chronischen elterlichen Konflikten ausgesetzt sind z. B. hinsichtlich ihrer schulischen Leistungsfähigkeit resilient, hinsichtlich ihrer sozialen Kontakte und Beziehungen dagegen nicht resilient sein. Aus diesem Grund wird heute nicht mehr von einer universellen allgemeingültigen, sondern von einer situations- und lebensspezifischen Resilienz ausgegangen. Resilienzforschung ist für alle Bereiche der sozialen Arbeit deshalb von so großer Bedeutung, weil sie einen wichtigen Gegenpol zu der langjährig pessimistischen oder kritischen Einschätzung der Zukunft von sozial benachteiligten Menschen herausarbeitet. Das Konzept der Resilienz ist nicht defizitorientiert, sondern richtet sich auf die Fähigkeiten, Potenziale und Ressourcen jeder einzelnen Person, ohne dabei Probleme zu ignorieren oder zu unterschätzen. Diese Betrachtungsweise kann uns allen helfen, das langjährig defizit-orientierte Förderverständnis zu überwinden und stattdessen eher nach individuellen kreativen Lösungsmöglichkeiten zu suchen. Wenn wir davon ausgehen, dass jeder Mensch, auch wenn er unter schwierigen Umweltbedingungen lebt, über schützende Qualitäten und Ressourcen verfügt, können Erziehungs- oder Hilfsmaßnahmen wesentlich mehr als bisher auf positive und individuelle Stärkung von Menschen ausgerichtet sein, insbesondere auch dann, wenn selbstregulative Potenziale mit berücksichtigt werden. Dieser Perspektivenwechsel trägt wesentlich dazu bei, pädagogische Herausforderungen mit einer optimistischen Grundeinstellung unter dem Motto „Das Schwere leichter machen“ einzugehen. Trotzdem ist natürlich klar, dass gerade Kinder sich nicht selbst dauerhaft „resilient“ machen können, sondern hierzu auch Hilfe und Unterstützung durch andere brauchen, vor allem deshalb, weil sie mehr von ihrer Umwelt abhängig sind als Erwachsene. Zur Verdeutlichung sollen an dieser Stelle Schutzfakoren oder protektive Faktoren vorgestellt werden, die für eine erfolgreiche Bewältigung von Lebensbelastungen förderlich sind und zur Entwicklung von Resilienz beitragen: Günstige Schutzfaktoren von Kindern und Jugendlichen: > Positive Temperamenteigenschaften (flexibel, aktiv, offen), die aktive soziale Unterstützung und Aufmerksamkeit bei den Betreuungspersonen hervorrufen > Intellektuelle Fähigkeiten > Erstgeborenes Kind > Problemlösefähigkeiten > Selbstwirksamkeitsüberzeugungen, positives Selbstkonzept/Selbstvertrauen/hohes Selbstwertgefühl > Fähigkeit zur Selbstregulation > Hohes Bildungsniveau der Eltern > Hohe Sozialkompetenz: Empathie/Kooperations- und Kontaktfähigkeit (verbunden mit guten Sprachfertigkeiten)/Verantwortungsübernahme/Humor > Harmonische Paarbeziehung der Eltern > Aktives und flexibles Bewältigungsverhalten (z. B. die Fähigkeit, soziale Unterstützung zu mobilisieren, Entspannungsfähigkeiten) > Hoher sozioökonomischer Status > Sicheres Bindungsverhalten > Klare, transparente und konsistente Regeln und > Unterstützendes familiäres Netzwerk (Verwandtschaft, Freunde, Nachbarn) In den Bildungsinstitutionen Strukturen > Lernbegeisterung/schulisches Engagement > Wertschätzendes Klima (Wärme, Respekt und Akzeptanz gegenüber dem Kind) > Angemessener Leistungsstandard > Religion/Glaube/Spiritualität > Talente, Interessen und Hobbys > Zielorientierung > Positive Verstärkung der Leistungen und Anstrengungsbereitschaft des Kindes informativ > Optimistische, zuversichtliche Lebenseinstellung > Positive Peerkontakte/positive Freundschaftsbeziehungen > Körperliche Gesundheitsressourcen > Förderung von Basiskompetenzen (Resilienzfaktoren) Günstige Schutzfaktoren innerhalb der Familie: > Zusammenarbeit mit dem Elternhaus und anderen sozialen Institutionen > Mindestens eine stabile Bezugsperson, die Vertrauen und Autonomie fördert Im weiteren sozialen Umfeld sind natürlich kompetente und fürsorgliche Erwachsene, die Vertrauen fördern, Sicherheit vermitteln und die positive Rollenmodelle vermitteln können wie z. B. ErzieherInnen, LehrerInnen, SozialpädagoInnen, aber auch Ehrenamtliche, Nachbarn und Freunde von extrem großer Bedeutung; insbesondere in Zeiten der Pubertät oder der Adoleszenz, in denen eine altersgemäße Ablösung von der Familie stattfindet. >>> > Demokratischer Erziehungsstil (emotional positives, unterstützendes und strukturierendes Erziehungsverhalten, Feinfühligkeit und Einfühlsamkeit > Zusammenhalt, Stabilität und konstruktive Kommunikation in der Familie > Enge Geschwisterbindungen > Altersangemessene Verpflichtungen des Kindes im Haushalt CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010 > Kreativität 31 Hierbei ist es mir wirklich wichtig zu unterstreichen, dass jede und jeder Erziehende mit seinem Handeln im alltäglichen Umfeld dazu beitragen kann, dass Menschen Vertrauen in die eigene Kraft und die eigenen Fähigkeiten gewinnen, dass sie sich selbst als wertvoll erleben und durch ihre eigenen Handlungen Veränderungen bewirken können. CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010 informativ An dieser Stelle ist es hilfreich, sich selbst folgende Fragen zu stellen: „An welchen Punkten kann ich zukünftig in meiner eigenen pädagogischen Praxis Kinder und junge Menschen bei der Entwicklung 32 dieser wichtigen Lebenskompetenzen unterstützen? Wie trage ich mit meinem eigenen Verhalten dazu bei, dass diejenigen, mit denen ich arbeite, Verantwortung für sich und ihr Handeln übernehmen und Problemlösungsmöglichkeiten entwickeln können? Belegt wurde auch, dass Menschen an Widerständen wachsen, solange sie damit nicht völlig überfordert werden. Nicht nur positive, sondern auch negative Erfahrungen, die bewältigt werden konnten, stärken die Kräfte und ermuntern, sich widrigen Situationen positiv zu stellen. Hierzu einige Beispiele wie durch resiliente Verhaltensweisen Fähigkeiten gefördert werden können: Resiliente Verhaltensweisen können gefördert werden, indem man ... Gefördert wird: das Kind ermutigt, seine Gefühle zu benennen und auszudrücken Gefühlsregulation/Impulskontrolle das Kind konstruktiv lobt und kritisiert positive Selbsteinschätzung/Selbstwertgefühl dem Kind keine vorgefertigten Lösungen anbietet (vorschnelle Hilfeleistungen vermeidet) Problemfähigkeit/Verantwortung, Selbstwirksamkeit das Kind bedingungslos wertschätzt und akzeptiert Selbstwertgefühl/Geborgenheit dem Kind Aufmerksamkeit schenkt (aktives Interesse zeigt, sich Zeit nimmt) Selbstwertgefühl/Selbstsicherheit dem Kind Verantwortung überträgt Selbstwirksamkeit/Selbstvertrauen/ Selbstmanagement das Kind ermutigt, positiv und konstruktiv zu denken Optimismus/Zuversicht dem Kind zu Erfolgserlebnissen verhilft Selbstwirksamkeit/Selbstvertrauen/ Kontrollüberzeugung dem Kind hilft, eigene Schwächen und Stärken zu erkennen positive Selbsteinschätzung/Selbstvertrauen Sozialkompetenz/Kooperations- u. Kontaktfähigkeit dem Kind hilft, sich erreichbare Ziele zu setzen Kontrollüberzeugung/Zielorientierung/ Durchhaltevermögen dem Kind Zukunftsglauben vermittelt Optimismus/Zuversicht das Kind in Entscheidungsprozesse mit einbezieht Kontrollüberzeugung/Selbstwirksamkeit Routine in den Lebensalltag des Kindes bringt Selbstmanagement/Selbstsicherheit das Kind nicht vor Anforderungssituationen bewahrt Problemlösungsfähigkeit/Mobilisierung sozialer Unterstützung dem Kind hilft, Interessen und Hobbys zu entwickeln Selbstwertgefühl ein „resilientes“ Vorbild ist und dabei authentisch bleibt Effektive Bewältigungsstrategien Erziehungsmaxime zur Förderung von Resilienz in der Erzieher-Kind-Interaktion In: C. Wustmann, Resilienz, Weinheim und Basel 2004. Die o. a. Auflistung, die in erster Linie die pädagogische Arbeit mit Kindern betrifft, ist auch gut auf andere Bereiche übertragbar. Auch Erwachsene können Resilienz erwerben. Literatur: Ergänzend hierzu soll noch eine Empfehlung der American Psychological Association von 2009 mit zehn Möglichkeiten zum Aufbau von Resilienz vorgestellt werden: Conen, M.-L. (2004): Wo keine Hoffnung ist, muss man sie erfinden. Carl Auer (2. Aufl.) Soziale Beziehungen pflegen, Krisen nicht als unüberwindbar ansehen, Veränderungen als Teil des Lebens akzeptieren, eigene Ziele anstreben, aktiv werden, Belastungen als Gelegenheit zum Wachstum ansehen, ein positives Selbstbild pflegen, eine breite Perspektive behalten, optimistisch und hoffnungsvoll bleiben und für sich sorgen. Insbesondere der letzte Aspekt sollte bei allem Engagement nicht vergessen werden. Wustmann, C. (2004):Resilienz: Widerstandsfähigkeit von Kindern in Tageseinrichtungen fördern. Belz, informativ dem Kind hilft, soziale Beziehungen aufzubauen Antonovsky, A. (1979): Helth, Stress and Coping: New perspectives on mental and physical will-being. San Fransico Welter-Enderlin, R. (2008): Resilienz- Gedeihen trotz widriger Umstände. Carl Auer (2. Aufl.) Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin in Melsungen, Schwerpunkt Traumatherapie und Essstörungen. Systemische Paar- und Familientherapeutin, Lehrtherapeutin (SG) am Kasseler Institut für Systemische Therapie und Beratung, Traumatherapeutin für Kinder- und Jugendliche (DeGPT) CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010 • Cornelia Götz-Kühne 33 informativ Vom Umgang mit Brüchen >>>>>> und Abschieden Wer bin ich eigentlich? CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010 Das ist unter der Überschrift „Umgang mit Brüchen und Abschieden” vielleicht eine unerwartete Frage. Aber Keine Sorge – wir haben uns nicht im Thema vertan. Im Gegenteil: Die Frage nach meiner Identität stellt sich, verborgen vielleicht, immer wieder: in Trauer und Verlust, in Abschied und Übergang, an jeder Bruchstelle meines Lebens. Wer bin ich? Wer war ich – vor dem Verlust? Wer werde ich sein? Vielleicht nie wieder ganz der, der ich war ... 34 William James, einer der Gründerväter der „modernen” Psychologie, weist bereits vor 120 Jahren den Weg: ... Ich bin keine Monade (Einzelwesen). Ich bin nicht an sich und nur aus mir heraus. Ich bin nur denkbar in meinen Lebensbezügen. Meine Beziehungen machen mein Leben aus. Mein Beruf und meine Fähigkeiten gehören zu meiner Identität ebenso wie meine Geschichte. Der Psychiater Jakob Moreno prägte den Begriff des „sozialen Atoms”. Er meint damit das unteilbare Netzwerk wichtiger, prägender Beziehungen. Dieses Netz erstreckt sich nicht nur um mich herum – es reicht in mich hinein. Das Netz meiner Beziehungen und äußeren Bezüge trage ich als innere Landkarte mit mir herum, es macht meine Identität mit aus. „Ich” bin nur denkbar im Netzwerk meiner Beziehungen. „Der Mensch wird am Du zum Ich” formuliert der Religionsphilosoph Martin Buber1 diese identitätsstiftende Kraft von Beziehungen. Er meint damit nicht zuletzt auch die Gottesbeziehung, an der der Mensch sich selbst erkennen und finden kann. Ein schwarzes Loch Zerbricht nun eines dieser Elemente, die zu meinem Selbstbild gehören, verliere ich gar einen Menschen aus meinem „sozialen Atom”, dem Kern meines Beziehungsnetzwerkes, dann verliere ich nicht nur „etwas” oder „jemanden”. Es geht viel tiefer. Der äußere (Ab-)Bruch kann etwas in meinem Selbst zerbrechen. Der äußere Verlust hinterlässt ein schwarzes Loch in meinem Inneren, ein Vakuum, das sich Phasen und Aufgaben Trauer ist keine Krankheit und keine Störung, sondern ein gesunder und wichtiger Bewältigungsprozess. Auch wenn ein trauernder Mensch sich zurückzieht, manche Aufgaben nicht mehr bewältigt, sich manchmal „unangemessen” zu verhalten scheint, auch wenn seine Gefühle an eine depressive Episode erinnern: Trauer ist Bewältigung. Trauer ist ein Heilungsprozess. Trauer ist die beschwerliche Reise zu einem Neubeginn. Die Trauerarbeit, wie Sigmund Freud sie nannte, muss geleistet werden. Wer die Trauer abkürzen oder verleugnen will, muss mit psychosomatischen Folgen rechnen, die oft erst viel später auftreten. Der Prozess der Trauer wird heute oft in Phasen beschrieben. Das bekannteste Modell stammt von der Schweizer Psychoanalytikerin Verena Kast2 und umfasst vier Phasen, auf die wir gleich zu sprechen kommen. Die Phasen werden keineswegs nur linear durchlaufen – es sind durchaus „Schritte zurück” zu beobachten, die notwendig sind, wenn in einer scheinbar zurückliegenden Phase ein Teilaspekt noch nicht bewältigt ist. Die Phasen machen sehr schön den Prozesscharakter von Trauer deutlich – Trauer braucht Zeit, umfasst ganz unterschiedliche Gefühle und Zustände. Gleichzeitig ist das Phasenmodell missverständlich. Es könnte nahelegen, dass die Trauerphasen einfach „über mich kommen”, dass es genügt, gleich1 Martin Buber: Ich und Du. 1923 2 Verena Kast: Zeit der Trauer. Phasen und Chancen des psychschen Prozesses. Freiburg (4) 2009 Erste Phase: Nicht-Wahrhaben-Wollen. Erste Aufgabe: Die Realität des Verlustes akzeptieren. „Das kann nicht wahr sein!” Im ersten Schock wird der Verlust oft geleugnet. „Das ist bestimmt ein Missverständnis. Er kommt sicher zurück! Das ist nur ein Alptraum!” Trauernde fühlen sich erstarrt, empfindungslos, können nicht weinen. Oft „funktionieren” sie gleichzeitig erstaunlich gut, wirken geschäftig, tapfer, organisiert. Der Verlust wird zunächst abgespalten. Dies ist ein wichtiger Schutzmechanismus: Den vollen Umfang des Verlustes kann die Seele noch nicht verkraften. Die Aufgabe der ersten Phase ist es, den Verlust nicht auf Dauer zu verleugnen, sondern sich ihm Schritt für Schritt zu stellen. Verleugnung geschieht zum Beispiel, wenn das Zimmer eines Verstorbenen über Jahre unberührt und unverändert bleibt. Die Bedeutung des Verlustes wird aber auch verleugnet, wenn alles, was an den Verstorbenen erinnert, sofort „entsorgt” wird. Zweite Phase: Aufbrechende Emotionen. Zweite Aufgabe: Den Trauerschmerz erfahren. Trauer, Wut, Angst, Zorn, Aufregung, oft Schlaflosigkeit und Schuldgefühle: Zur zweiten Phase gehört Gefühlschaos. Oft werden andere beschuldigt, noch häufiger lähmt eigenes Schuldgefühl: Die Endgültigkeit des Verlustes macht die Endgültigkeit von Versäumnissen bewusst. „Hätte ich doch nur noch ...” Oft kommt auch Wut hoch. Menschen, die den Trauerschmerz verdrängen oder verleugnen, haben es schwer, wirklich die nächste Phase zu erreichen. >>> 3 William Worden: Beratung und Therapie in Trauerfällen: Ein Handbuch. Bern (3)2006 informativ Trauerarbeit sam in einem Sessel sitzen zu bleiben, „bis es vorbei ist”. Trauer hat aber auch ganz aktive Komponenten, beinhaltet eigene Auseinandersetzung mit dem Verlust, den auftretenden Gefühlen, der notwendigen Neuorientierung. Darum wird heute oft das vierphasige Modell der Entwicklungsaufgaben der Trauer nach William Worden3 in das Trauerphasen-Modell integriert. CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010 nicht ohne weiteres durch einen „Ersatz” füllen lässt. Ob ich nun einen geliebten Menschen verliere durch Tod oder Trennung oder vielleicht eine berufliche Rolle, die mir sehr viel bedeutet hat: Ich habe eine Lücke zu füllen. Ich muss mich neu (er-)finden. Ich habe Trauerarbeit zu leisten. Daher beschränken wir uns im Folgenden auf Phasen und Entwicklungsaufgaben der Trauer; was für den Abschied von einem geliebten Menschen gilt, hat in angepasster Form auch für andere Brüche und Abschiede im Leben Gültigkeit. 35 CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010 informativ In einer Gesellschaft, in der negative Emotionen oft nur kurzzeitig toleriert werden, ist es schwer, die Entwicklungs-aufgaben dieser Phase zu bewältigen. Der Trauernde braucht Menschen, die dieses Gefühlschaos aushalten und wertschätzen. Er braucht Zeit und Raum, Gefühle auszudrücken. Begleiter sollten darauf achten, dass ein behutsamer Weg aus den Schuldgefühlen gefunden wird. 36 Dritte Phase: Suchen, finden und sich trennen. Dritte Aufgabe: Sich anpassen an eine Welt, in der der Verstorbene fehlt. Bewusst oder unbewusst wird der Verstorbene/ das Verlorengegangene, gesucht: an gemeinsam oft besuchten oder an „besonderen” Orten, auf Fotos, in Musikstücken, auf dem Friedhof ... Der Trauernde setzt sich der Erinnerung und den Gefühlen aus, um jedes Mal, wenn der Ort verlassen oder das Fotoalbum zugeklappt wird, einen kleinen Abschied zu erleben. Der Verstorbene findet langsam einen neuen Platz in der Seele des Trauernden, in seiner Erinnerung. Diese wird zu einem inneren Begleiter, mit dem sich der Trauernde nun neu den Herausforderungen der Welt stellen und Dinge dazulernen kann. Gelingt diese Phase nicht, zieht sich der Trauernde in eine Parallelwelt mit dem Verstorbenen zurück und entfremdet sich von den Lebenden, chronifiziert Trauer und Hilflosigkeit. Vierte Phase: Neuer Selbst- und Weltbezug. Vierte Aufgabe: Emotionale Energie abziehen, in andere Beziehungen investieren. Räume finden, in denen die Erinnerung ihren guten Platz hat. Der verlorene Mensch wird zu einer „inneren Figur”, der Trauernde wendet sich wieder dem Leben zu und kann sich vielleicht auf eine neue Beziehung einlassen. Es fällt oft schwer, dies miteinander zu vereinen: Menschen befürchten, den Verstorbenen zu entwürdigen oder die vergangene Beziehung herabzusetzen, wenn sie sich auf Neues einlassen und nicht mehr ständig um den Verlust kreisen. Manche Trauer hört nie völlig auf und kann dennoch gut bewältigt sein. Für gelungene Trauerarbeit kommt es nicht darauf an, zu vergessen und keine Gefühle mehr zu haben. Vielmehr geht es darum, den Schmerz zu durchleben, das ver- gangene Gute zu integrieren und sich dann wieder dem Leben zuzuwenden. Rituale Freunde und Verwandte zu einer großen Beerdigungsfeier einladen, ein Jahr schwarz tragen, den Friedhof besuchen, Kerzen anzünden ... Alte Trauerrituale wirken auf viele Menschen heute belastend und unzeitgemäß. Aber die Erfahrung und Forschungsergebnisse zeigen: Trauer braucht Rituale. Erinnerung braucht Orte, Gegenstände und Handlungen. Hinterbliebene brauchen oft die Sicherheit des Vorgegebenen, um Gefühle und Erinnerungen ausdrücken zu können. Wer alte Rituale nicht mag, sollte sie dennoch nicht vorschnell abschaffen, sondern vielleicht behutsam ersetzen – durch Handlungen und Symbole, die den Gefühlen, der Zuwendung, der Zusammengehörigkeit und der Erinnerung einen neuen Raum geben. Systemische Perspektiven Noch einmal: Trauer ist keine Krankheit. Dennoch arbeiten wir als systemische Familientherapeuten auch mit Menschen, die Verlusterfahrungen gemacht haben, und begleiten in Phasen der Trauer und des Abschieds. Ein oft genutzter methodischer Zugang ist die Externalisierung, in der innere Anteile eines Menschen nach außen projiziert und „zum Gespräch eingeladen” werden. Wir verdeutlichen dieses Vorgehen am Beispiel einer jungen Klientin, die eine Bruch- und Verlust-Erfahrung mit Hilfe von „Gefühlstieren” dargestellt hat. Lena (Name wurde geändert), die 16-jährige Mutter einer 2-jährigen Tochter, wird gerade von dem Kindsvater Konrad (Name wurde geändert) betrogen. Trennung steht im Raum, darf aber nicht thematisiert werden „... sonst wird es wahr!“ Um Ordnung in und wieder mehr Kontrolle über das Gefühlschaos zu bekommen, wird für jede Emotion ein Tier gewählt. So bekommt die Angst die Gestalt eines Igels, die Verzweiflung ist ein riesiger Elefant, die Gleichgültigkeit eine Maus, Schluss Trauer ist Arbeit. Trauer braucht Mut. Trauer braucht Begleitung – durch mutige Menschen, die die Arbeit nicht scheuen, sich schmerzhaften Gefühlen auszusetzen. Trauer braucht Zeit. Dass ein Trauerprozess nach einem Jahr abgeschlossen sein muss, ist eine Legende. Trauer, Abschied, Brüche, Verlust gehören zum Leben. Christliche Gemeinschaft, in der Leben geteilt wird, hat daher auch Trauer und Verlust einzubeziehen. Schneller frommer Trost erweist sich in diesem Kontext als Unwille oder Unfähigkeit, sich dem Gefühl der Trauer zu stellen. informativ Neben den „Gefühlstieren” gibt es viele weitere Methoden der Externalisierung. Zum Beispiel darf die Trauer in Gedanken einmal nach außen treten und auf einem Stuhl Platz nehmen. Wenn die Traurigkeit eine Gestalt hätte, wie sähe diese dann aus? Welche Farbe hat sie, was hat sie an? Wie will sie/er/es angesprochen werden, gibt es einen Namen? Säße diese Gestalt gewordene Traurigkeit auf diesem Stuhl – wie weit müsste dieser weg stehen, damit man sich wieder wohl fühlen kann? Was tut die Traurigkeit? Was sagt sie dir vielleicht? Wie steht sie zu dir? Wie nah steht sie jetzt? Wofür ist sie wichtig? Was möchtest du ihr sagen? Wo wird sie in einem Monat stehen? Wo in einem Jahr? Welche anderen Gefühle sind ebenfalls gerade wichtig? Wo nehmen sie Platz? Schau dir dein Bild an: Gibt es etwas, das du verändern möchtest? Welche Gefühle dürfen jetzt schon weiter in den Hintergrund, welche brauchst du noch in deiner Nähe? Und wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit; und wenn ein Glied geehrt wird, so freuen sich alle Glieder mit. 1.Korinther 12,26 Freuet euch mit den Fröhlichen und weinet mit den Weinenden! Römer 12,15 • Wiebke Buff • Martin Drogat Erziehungswissenschaftler, arbeiten als Familientherapeuten und Dozenten in der Liehrnhof-Akademie in Homberg/Ohm. www.liehrnhof-akademie.de CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010 die Wut ein Löwe, die Geborgenheit ein Känguru usw. Schon beim Auswählen erlebt Lena die erste Erleichterung, dass jedes „Gefühlstier“ auch ein „Ressourcentier“ darstellt, das ja eigentlich vieles von dem vermag, was jetzt gerade schwierig scheint. Als Tiere lassen sich die Gefühle leichter anschauen und ertragen, die Frage der Therapeutin ist gar nicht mehr so schwer: Wie nahe oder fern ist dir welches Gefühl gerade jetzt? Nach kurzer Zeit entsteht ein Bild, eine Skulptur, die die innere Wirklichkeit in die Dreidimensionalität erhebt und damit bearbeitbar macht. Wie müssten die Gefühle zu dir und zueinander stehen, damit sich Wohlbefinden einstellt? Ein neues Bild entsteht. Welches Gefühl ist am nützlichsten, um diese Veränderung zu erreichen? Erste Schritte in Richtung Heilung werden möglich. 37 praktisch Erwachsen werden im Glauben Zum Bruchstückhaften, Fragmentarischen stehen Erwachsen werden bedeutet, da gab es mal eine Kindheit und eine Teenagerzeit. Ich möchte bei der Betrachtung des Erwachsenwerdens im Glauben diese vorhergehenden Phasen in Blick nehmen. Ein Abend für Mitarbeitende oder (junge) Erwachsene lässt sich anknüpfend an die Entwicklungsphasen Kindheit, Teenager- und Erwachsenenalter gestalten. Diese Phasen können durch das 1. Kapitel des Johannesevangeliums biblisch untersetzt und vertieft werden. Hierzu müsste überlegt werden, worauf der Schwerpunkt des Abends gelegt werden soll, sei es mehr auf die theologische Entfaltung oder mehr auf den Austausch über persönliche Glaubenserfahrungen. >>>>>> CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010 1. Vertrauen wie ein Kind 38 Kinder haben ein „Urvertrauen“. Bezeichnend ist, dass das Kind sich seiner Zugehörigkeit von Vater und Mutter gewiss ist, sich geborgen fühlt und weiß, dass es versorgt wird. Es findet Raum, um sich entwickeln und entfalten zu können und es erfährt Grenzen, um Schutz und Bewahrung zu erfahren. Übertragen auf das Glaubensleben, beschreibt diese Phase das unerschütterliche Gottesverhältnis, die Zugehörigkeit des Geschöpfes zu seinem Schöpfer wie wir sie in dem Schöpfungsbericht (1.Mose 1,1–2,4) finden. Die Verbundenheit von Gott und Mensch ist unumstößlich. Daraus resultiert ein klares und konkretes Bekenntnis. Das biblische Wort ist wahr, vermag unmittelbar in die persönliche Lebenssituation hineinzusprechen und beschreibt klare ethische Maßstäbe. Das Leben als überzeugter, frisch bekehrter Christ ist verheißungsvoll und trägt einen schillernden Glanz in sich. Ebenso beschreibt der Evangelist Johannes die Erschaffung der Welt sehr monumental (Joh 1,1–4). 3. Aus Fragmenten entsteht etwas Neues – Erwachsen werden im Glauben Lassen wir die Bilder der Widersprüchlichkeiten des Teenageralters vor unserem inneren Auge vorüberziehen. Die Frage der Welterschaffung, die ungelösten Beziehungsfragen und die unerfüllte Sexualität, die Frage der eigenen Herkunft und Identität oder das Erleben von eigenen Unzulänglichkeiten und Grenzen im seelischen, körperlichen und geistigen Bereich. Sie gehören mehr oder weniger zu jedem Leben. Wie kann ein Umgang mit ihnen gelingen, ohne sie einfach zu verdrängen oder paranoid zu werden, sondern daran zu wachsen, erwachsen zu werden im Glauben? Christus selbst wird darin zum Vorbild. Das Evangelium selbst ist die Geschichte eines massiven Bruches mit dem Gottesbild des Judentums. Jegliche Vorstellung über die königliche Herrschaft des Messias wird mit Jesus, dem König der Juden durch die Passionsgeschichte, komplett zerschlagen. Manch eigener Lebensbruch, manche Zeit des Verlassenwerdens und der Einsamkeit, der Schmerzen und Trauer bekommt eine neue Bedeutung, wenn wir uns das Leben und Sterben Jesu vor Augen führen. Es verleiht uns eine tiefere Erkenntnis über Jesu „Gnade und Wahrheit“ für unser Leben, gerade indem wir es sehr intensiv oder zumindest annähernd selbst durchlebt haben. Johannes beschreibt diese Menschwerdung Gottes in Joh 1,14.17. Methodische Gestaltung der drei Phasen: 1. Vertrauen wie ein Kind praktisch Ein Teenager fängt an, eigene Wege zu gehen und sich kritisch zu distanzieren von seinen Eltern. Er ist hin- und hergerissen zwischen den Lebenswelten der Gleichaltrigen und den Meinungen Erwachsener. Das kindliche Urvertrauen wird erschüttert und die klaren Glaubensaussagen geraten ins Wanken. Es schleichen sich Zweifel ein, wie Gott die Welt doch erschaffen haben kann, wenn die meisten Menschen sich die Entstehung der Welt mittels Evolution ganz ohne Gott begründen. Oder wie kann Gott im Bild eines Vaters verstanden werden, wenn der eigene leibliche Vater im Alltag gar nicht erlebbar ist oder viel schlimmer, jeder Gedanke an ihn mit Ekel und Scham verbunden ist. So manche Glaubensaussage ist mit der persönlichen Erfahrungswelt nicht mehr unter einen Hut zu bekommen. Das Johannesevangelium berichtet von der Ablehnung und Zugehörigkeit zu Gott (Joh 1,10–12). Jesus selbst lehrt es uns, der eigenen Schwachheit und Ohnmacht, der persönlichen Unzulänglichkeit ins Gesicht zu schauen, Entwürdigungen nicht auszuweichen, sondern auszuhalten, Spott zu ertragen und seinen Schuldnern zu vergeben, statt sie zu richten. In der Passion Jesu wird das von ihm verwendete Bild des Weizenkorns, welches in die Erde fällt und stirbt, damit vielfältiges Leben aus ihm hervorgeht, verstehbar. Die Gruppe sitzt in einem Kreis, die Mitte ist gefüllt mit formschönen Vasen und Gefäßen und starken Glaubenszitaten, welche gut leserlich auf Blättern geschrieben sind. Die Gefäße stellen die Resultate eines Künstlers dar – im übertragenen Sinne, den Menschen, welcher von Gott erschaffen ist. Die Zitate beschreiben Glaubensbekenntnisse eines „Kindes“ bzw. eines „Frischbekehrten“. Zitate und Assoziationen können beliebig von allen ergänzt werden. >>> CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010 2. Zwischen „Himmel hoch jauchzend“ und „zu Tode betrübt“ wie ein Teenager 39 2. Zwischen den Welten wie ein Teenager Die Gegenstände in der Mitte werden ausgetauscht durch Vasen und Gefäße, welche deutlich sichtbare Macken haben, hinzu kommen einige Scherben. Noch anschaulicher und eindrücklicher ist es, wenn die Gegenstände aus der 1. Phase – sofern sie dafür geeignet sind – durch Gewalteinwirkung (Hammer o. ä.) gemeinsam kaputt gemacht werden. Zu sehen sind Gefäße mit Sprung, Macken und einzelne Scherben. Exemplarisch werden markante Lebensbrüche benannt und mit Schlagwörtern oder Symbolen schriftlich festgehalten. CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010 praktisch 3. Aus den Fragmenten entsteht etwas Neues – ein Kreuz 40 Alle sind eingeladen, aus den einzelnen Scherben ein Kreuz zu gestalten. Dazu werden die Scherben so aneinander gelegt, dass sie die Form eines Kreuzes ergeben. Hierzu kann ein gesamter Abend gestaltet werden, indem ein gemeinsames „Kunstwerk“ entsteht (Exkurs s. u.). Aus den zunächst kaputten Gegenständen und unnützlichen Scherben entsteht ein neues Bild, welches für Versöhnung und Heil steht. Das Symbol des Kreuzes wird weiter entfaltet: > Im Kreuz findet jede Scherbe ihren Platz, keine ist zu unbedeutend oder zu klein, zu schrill oder zu kaputt. > Das Kreuz drückt die Verbundenheit in Christus aus. Individuelle Formen und Farben ergänzen sich. In der Gemeinschaft sind wir aufeinander angewiesen und ergänzen einander. Insbesondere in schwierigen Zeiten erfahren wir, wie wichtig wir einander sein können, andere auf unsere Hilfe angewiesen sind und wir von der Unterstützung anderer leben. > Das Kreuz ist eine neue Form. Formen von einzelnen Teilen, die zu eigenwillig sind, passen teilweise gar nicht in das Gesamtbild, sie müssen weiter „geschliffen“ und „zerbrochen“ werden, um Teil des Ganzen und Neuen zu sein. Gerade die Lebensbrüche sind solche Erfahrungen, die uns schleifen und zu einem „interessanteren und vollkommeneren“ Bild formen. > Die Gestaltung eines Kreuzes braucht Zeit. Es gleicht einem Puzzle, bei dem die passenden Teile erst gefunden werden müssen und erst nach einer gewissen Zeit das Gesamtbild zu erkennen ist. Auch im Glaubensleben braucht es Zeit, um mit Schicksalsschlägen, persönlichen Unzulänglichkeiten, schwierigen Beziehungen etc. umgehen zu können. > Das Kreuz ist mehr als zwei sich kreuzende Linien. Es symbolisiert die Heilsgeschichte des christlichen Glaubens schlechthin. Christus stirbt stellvertretend für die Menschheit. Dieser Stellvertreter-Tod ist genug für jede persönlich erlebte Bruchlandung. Sie lädt uns ein, Gnade, Vergebung und Heilung zu empfangen und befreit von allen selbsterlösenden Taten. Der Praxisentwurf orientiert sich an zentralen Kernpunkten des christlichen Glaubens wie Schöpfung, Sündenfall und Kreuz. Erwachsen werden im Glauben heißt, den Glauben für sich neu zu formulieren und dabei auf Althergebrachtes zurückzugreifen und daran anzudocken. Dazu gibt es gute Erfahrungen mit Glaubenskursen für Erwachsene, die in einem solchen Prozess sehr hilfreich sein können. Informationen und Materialien sind zu finden unter: http://www.a-m-d.de/glaubenskurse/erwachsen_glauben/ Exkurs: Anleitung zur Gestaltung eines „Scherbenkreuzes“ Material: verschiedene „alte“ Tontöpfe, buntes Porzellan, Geschirr etc.; Klebstoff für Porzellan/Fliesen (Baumarkt-Pistole), Holzplatte als Untergrund Gestaltung: Auf einer Arbeitsfläche werden gemeinsam die Scherben in eine Kreuzform in gewünschter Größe gelegt. Dieses Bild muss nun auf einen eigenständigen Untergrund (Holzplatte o. ä.) übertragen werden. Dazu wird der Fliesenklebstoff stückweise in gewünschter Breite aufgetragen. Auf die mit Klebmasse präparierte Fläche wird nach und nach das vorbereitete Bild übertragen. Es entsteht ein (gemeinsames) neues Bild. An dieser Arbeit können sich mehrere Personen gemeinsam beteiligen. Die freie Fläche um das Kreuz herum kann mit einer Lasur/Farbe bemalt werden. Dies sollte eher dezent sein, damit die Scherben als Bild zum Ausdruck kommen. • Maren Schob 39 Jahre, verheiratet, Ausbildung am CVJM-Kolleg, Sozialpädagogin, im CVJM Landesverband Sachsen zuständig für Offene Arbeit und TEN SING praktisch Ein weiterführendes Referat dazu: Herbst, Dr. Michael: „Erwachsen glauben“ – Theologische Weggabelungen im Missionsland Deutschland. Mission – Bildung – Gemeindeentwicklung. Zukunftswerkstatt Kassel 2009 CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010 Das Bild und die Bedeutung des Kreuzes mit den genannten Aspekten dazu, wollen einen Weg aufweisen, wie Bruchstückhaftes und Fragmentarisches seinen Platz im Glaubensleben finden kann. Gerade dadurch gewinnt der Glaube an Qualität und Tiefe. Ich möchte dazu einladen, insbesondere die dritte Phase, die Gestaltung eines Scherbenkreuzes, auszuprobieren. Diese Methode kann hilfreich sein, um auch persönliches Erleben einander mitzuteilen. In diesem Rahmen kann darüber nachgedacht werden, wer mir in meinem (Glaubens) Leben hilft, meinen „Scherben“, meinen zerschlagenen Träumen und unerfüllten Gebeten ins Gesicht zu schauen und trotz und mit diesen Dingen hoffnungsvoll in die Zukunft zu blicken. Dazu ist es gut, wenn ausreichend Zeit vorhanden ist. Alternativ kann an den Glaubensaussagen gearbeitet werden. Sie können ergänzt und neu formuliert werden. 41 praktisch Mit Brüchen leben – über Brüche reden Da standen sie, die Menschen in New York, und schauten entsetzt und wie gelähmt hinauf zu den brennenden Twin Towers, in die gerade zwei Flugzeuge gerast waren. Nichts war zu hören außer Schluchzen und „Oh my god!“-Ausrufe. Wer erinnert sich nicht an diese Bilder und an die Tausende, die angesichts des Schrecklichen einfach kein Wort herausbrachten. CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010 >>>>>> 42 Auch wenn die Situation damals einmalig war – jeder kennt sie, diese Sekunden oder Minuten, manchmal auch Stunden oder Tage im Leben, wo man von einem Schicksalsschlag, einem Ereignis so getroffen ist, dass man nur noch still und ratlos dasitzt und vor sich hinbrütet – oder dass man einfach nur noch weint. Man ist sprachlos vor Entsetzen oder Schmerz, auch als nicht unmittelbar Betroffener: „Ich fühlte mich so furchtbar hilflos, mir fiel nichts ein, was ich sagen konnte!“ Natürlich verschlagen einem auch erfreuliche Überraschungen die Sprache, z. B. wenn man plötzlich an völlig ungewohntem Ort geliebten Menschen gegenübersteht. Das ist positiver Stress, der uns nur noch jauchzen oder staunen lässt. Es gibt aber auch negativen Stress – Belastungen, die wir uns niemals freiwillig gewünscht hätten. Je unverhoffter sie kommen, desto stressiger sind sie, denn wir haben keine Zeit, uns innerlich auf sie vorzubereiten oder einzustellen. Oder wir haben keine Erfahrung mit dem, was auf uns einstürzt. Also fehlt uns auch das „Programm“, wie wir damit umgehen können oder sollten. Die erste Erkenntnis lautet deshalb: Erwarte nicht, dass du in einer akuten Belastungssituation sofort wohldurchdachte und angemessene Worte findest. Gehe davon aus, dass dir auf Anhieb nur Banalitäten einfallen, weshalb es in der Regel taktvoller und klüger ist, erst einmal gar nichts zu sagen bzw. zu sagen: „Ich weiß nicht, was ich im Moment sagen soll. Ich bin einfach sprachlos!“ Dann ist wenigstens dies klar signalisiert und man muss nicht vor lauter Hilflosigkeit und Überforderung das Weite suchen. Das gilt übrigens nicht nur für das Leid, das anderen widerfährt, es gilt auch für die überraschenden Angriffe in unserem eigenen Leben, z. B. eine unerwartete Kritik. Brüche in unserem Leben sind alle Ereignisse, die a) unverhofft kommen und b) etwas bisher Unversehrtes verletzen oder gar zerstören. Die schlimmsten Brüche sind die, die mit massiven Verlusterfahrungen verbunden sind: Todesfälle, Verletzungen, schwere Krankheitsdiagnosen, Verlust des Arbeitsplatzes oder anderer uns wertvoller Güter, unerwartetes Verlassenwerden von Menschen, die uns viel bedeuten und vieles andere. Solche Brüche machen erst einmal stumm. Dies gilt übrigens für Männer meist noch mehr als für Frauen. Frauen gelingt es in der Regel eher als Männern, ihre Gefühle nach einer ersten Phase des Schreckens oder der Ratlosigkeit in Worte zu fassen – für die meisten Männer ist dies hingegen eine extrem schwere Übung.1 Und weil sie so schwer ist, weichen Männer ihr gerne aus, sprich: Sie hüllen sich bei Brüchen in ihrem Leben oder im Leben anderer Menschen in beharrliches Schweigen. Es ist kein Schweigen aus Gleichgültigkeit oder mangelnder Anteilnahme – es ist ein Schweigen aus Hilflosigkeit. Doch irgendwann sollte Mann oder auch Frau dieses Schweigen beenden, denn auch die liebevollsten Blicke, die mitfühlendste Umarmung, das freundlichste Schulterklopfen sind kein Ersatz für Worte, für das MiteinanderSprechen. 1 Näheres dazu in meinem Buch „Ein Mann – (k)ein Wort. Warum Männer nicht über Gefühle reden und Frauen sich nicht damit abfinden“ SCM-Brockhaus Verlag 2009. praktisch Für Brüche braucht es mehr als Sprüche CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010 Merke: Stress entsteht immer dann, wenn wir uns von einer Situation oder Anforderung überfordert fühlen. Dies ist vor allem bei unvorhergesehenen Ereignissen der Fall. In dieser Situation wird ein „Notsignal“ vom Gehirn gesendet, das die seit der Steinzeit unveränderte sogenannte „Stressreaktion“ im Körper auslöst. Sie soll uns zu schnellem Reagieren befähigen nach dem Motto: „Nicht denken, sondern handeln! Raus aus der bedrohlichen Situation – und zwar durch Kampf oder Flucht!“ Im Handumdrehen wird der Körper sofort optimal auf Kampf oder Flucht vorbereitet: Das Herz schlägt schneller und arbeitet viel mehr, die Verdauung wird auf Eis gelegt, die Muskulatur wird besser durchblutet und spannt sich an, Stresshormone werden ausgeschüttet … Doch zu dieser hochkomplexen Reaktion gehört auch, dass die höheren Denkregionen kurzfristig „abgeschaltet“ werden, damit das blitzschnelle Reagieren nicht unnötig verzögert wird. Leider ist das Sprechen eine der Leistungen, die in diesen höheren Denkregionen ihren Sitz haben. Die Folge: Unter Stress verschlägt es uns die Sprache, wir sind in unserem klaren und analytischen Denken blockiert. Es fällt uns deshalb meist nichts wirklich Intelligentes ein. Abgerufen werden können in dieser Stresssituation allenfalls noch alte „Drehbücher“ und x-mal geäußerte Kommentare wie: „Wer hätte das gedacht!?“ oder: „Das ist ja megakrass!“ oder: „Da kann man nichts machen.“ Leider haben solche Äußerungen den Nachteil, dass man ihnen sofort anhört, wie abgedroschen sie sind. Dem von einem Schicksalsschlag Betroffenen kommen sie deshalb ziemlich hohl vor. Nichts gegen solche Floskeln, die ja in der Regel gut gemeint sind. Aber meist sind sie halt nur Ausdruck von Ratlosigkeit. Mit solchen „coolen Sprüchen“ versucht man, sich irgendwie über den Abgrund der eigenen Sprachlosigkeit drüberzuhangeln! 43 praktisch Erkenntnis Nummer zwei lautet deshalb: Schweigen darf nicht die Endstation in unserem Umgang mit kritischen Lebensereignissen sein. Weder bei uns noch bei anderen! Ein afrikanisches Sprichwort sagt: „Das Wort, das dir hilft, kannst du dir nicht selber sagen!“ Deshalb sind alle leidgeprüften oder krisengebeutelten Menschen auf Mitmenschen angewiesen, die sich nicht ins Schweigen zurückziehen, sondern um angemessene Worte ringen. Ja, ringen, denn es ist nicht einfach, Gefühle in Worte zu fassen – genauer gesagt: Es ist harte Arbeit. Und hier gibt es kein fertiges Rezept, denn jeder Bruch ist anders und jeder angeknackste oder gebrochene Mensch reagiert anders. Es gibt ja nicht nur die vielen, die still werden, sich zurückziehen – manche Menschen machen genau das Gegenteil, sie reden nach einem schweren Schicksalsschlag wie ein Wasserfall. Es scheint, als ob sich in ihrem Inneren entweder ungeheuer viel angestaut hätte, was jetzt wie nach einem Dammbruch ins Freie drängt. Doch auch das andere ist möglich: Dass Menschen durch unaufhörliches Reden den Schmerz ihrer Seele betäuben (oder ihre Hilflosigkeit kaschieren), so wie andere sich durch Sport oder pausenlose Arbeit ablenken. Hier sollte man geduldig eine Weile zuhören, aber irgendwann auch deutlich machen, dass alles seine Zeit hat – das Reden ebenso wie das Schweigen. CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010 Erkenntnis Nummer drei: Die Seele hat ihr eigenes Tempo, um Schweres zu verarbeiten. 44 Und dieses Tempo lässt sich mit pausenlosem Gequassel nicht beschleunigen. Doch was ist an Worten angebracht, ohne dass es unecht und einstudiert klingt? Drei Gesprächs-„achsen“ halte ich für hilfreich: > Teile deinem Gegenüber mit, was du selbst empfindest, wie du das Ereignis erlebst. Jesus sagte im Garten Getsemane ganz direkt zu seinen Jüngern: „Meine Seele ist todtraurig.“ Er schwieg nicht, und er spielte nicht den starken Mann! Eine solche „Selbstmitteilung“ durchbricht die Mauer des Schweigens. > Bitte den anderen, über sein eigenes Empfinden, vielleicht auch seine Gedanken und Erinnerungen, seine Fragen und Zweifel, seine Hoffnungen und Erkenntnisse zu sprechen – und bewerte oder korrigiere nicht, was er sagt, sondern respektiere es. Halte auch die Tränen bei dir und dem/den anderen aus! > Schau mit deinem Gegenüber zusammen auch die Gegenwart an: Was können wir jetzt und heute zusammen tun, was tut uns evtl. gut? Was können in den nächsten Tagen oder Wochen gemeinsam anpacken oder anpeilen, um nicht nur im Schmerz über Verlorenes zu versinken, sondern auch in der Gegenwart zu leben? Alle drei Perspektiven lassen sich sowohl im Zweiergespräch als auch in einer größeren Gemeinschaft einbringen und umsetzen, wobei die größere Gemeinschaft den Vorteil hat, dass sich die Lasten auf mehrere Schultern verteilen. Alle Beteiligten sollten jedoch erkennen, dass gerade in diesem Miteinander-Sprechen, das ja im Grunde ein Miteinander-Teilen von Gefühlen und Gedanken ist, eine große Chance liegt. Eine Chance zu gemeinsamen Wachstum, zu mehr Tiefe auch in den Beziehungen, eine Chance, die eigene Sprachfähigkeit zu trainieren, wenn es um Gefühle geht. Und nicht zuletzt eine Chance, füreinander nicht nur in guten, sondern auch schlechten Zeiten da zu sein. Eine Chance, sich gegenseitig Kraft und Mut zu geben, die Dinge auch mal von einer anderen Warte aus zu sehen. Denn: Letzte Erkenntnis: Nur wer Brüche anschaut und anspricht, kann helfen, dass Wunden heilen. Wer wegschaut und schweigt, ändert gar nichts. • Dr. Beate Weingardt 49 Jahre, verheiratet, evangelische Theologin und Psychologin, arbeitet als Autorin, Referentin in der Erwachsenenbildung und psychologische Beraterin Gründe suchen – Vergeblichkeit der schnellen Antworten und leichten Lösungen praktisch Wie halten wir die Spannung aus? Streit in der Familie, verletzende Worte in Freundschaften oder in der Partnerschaft, unausgesprochene Wünsche, unerklärliche Fragen an Gott. Unser Leben ist voll mit Spannungen, die in unserem Alltag zwangsläufig Platz haben. Ein ablehnender Blick trifft zwischenmenschlich meistens tiefer, als wir es uns zunächst eingestehen können. Nachgeben, Fehler eingestehen, Einsicht zeigen, Fehlanzeige. Unser Stolz verhindert zu oft klärende Worte. Jeder hat ein anderes Rezept, mit einer solchen Spannung umzugehen. Manche haben sich ein dickes Fell angelegt, andere verzweifeln daran, wieder andere versuchen spannungsgeladene Situationen zu vermeiden. >>>>>> Hiob stand wie kein anderer in der Bibel in einer Spannung zwischen Leben und Tod, Freundschaft und Ignoranz, Gott und Teufel. Er hat am eigenen Leib erfahren, was es heißt, geliebte Menschen zu verlieren und keine befriedigende Antwort darauf zu finden. In seinem Leiden wird er mit Anfechtungen seiner Freunde konfrontiert – schnell dahin gesagte Antworten und verurteilende Vorwürfe treffen ihn. Ist er etwa auch noch selbst schuld an seinen Problemen? >>> CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010 Hiob und die Suche nach den Bruchursachen 45 Hat er selbst sein Glück in der Hand? Hängt Gottes Wohlgefallen vom menschlichen Gehorsam ab? Muss er seinen Schmerz unterdrücken? Wieso sagt Gott nichts? praktisch Viele unserer zwischenmenschlichen Konflikte zeigen sich auch in der persönlichen Gottesbeziehung. Wieso fällt es so schwer, Gott das eigene Leid zu klagen oder Antworten auf zermürbende Fragen zu fordern? Wir klagen unser Leid, stellen Fragen, doch verschließen uns vor den Antworten. Im Selbstmitleid kreisen wir um uns selbst. „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“, schreit Jesus am Kreuz. Haben wir Angst vor unbequemen Antworten oder Angst, wirklich alleine gelassen zu werden? Ungewisse Fragen und ungeklärte Umstände erzeugen eine Spannung. Wie gehen wir damit um? Wie halten wir diese Spannung aus? In vier Schritten, die Bausteine für einen Mitarbeiterkreis sein können, soll in die Thematik eingeführt werden und einen Einstieg in diese wichtige Frage für Leben und Glauben bilden. Das Ziel der Stunde ist es, Hiobs Weg durch Treue und Selbstzweifel einmal schonungslos zu betrachten, seine Auseinandersetzung auch kritisch zu bewerten und sich selbst in der Geschichte wiederzufinden. In ihr steckt Kraft und Trost, auch oder gerade weil keine Lösung erkennbar ist. Gott begleitet, auch wenn wir uns Lichtjahre entfernt und verlassen fühlen. Gott hilft mit Spannung umzugehen und stellt sich in den Dialog mit uns. CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010 Elemente für den Mitarbeiterkreis 46 Schritt 1: Textmeditation – zwischen Verlust und Dankbarkeit (ca. 10–15 min.) Hiob ist ein reicher Mann, dem es an nichts fehlt. Als der Teufel Einfluss auf sein Leben nimmt, werden ihm wertvolle Dinge und Menschen im Leben genommen. Grundpfeiler seines Lebens werden innerhalb eines Augenblicks eingerissen: Familie, Besitz, wirtschaftliche Absicherung. Hiob bewährt sich trotz der Rückschläge: „Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen; der Name des Herrn sei gelobt“ (Vers 21). Er zweifelt Gott nicht an, er ist dankbar für alles, was er bekommen hat. Als Einstieg dient eine Textmeditation über Hiob 1,10–22. In der gesamten Gruppe wird dazu der Text laut vorgelesen. Leitfragen sind: Was sind in meinem Leben Grundpfeiler? Wofür bin ich Gott dankbar? Durch kurze unkommentierte Schlagworte der Teilnehmer, die in die Gruppe gegeben werden, wird auf die Unfassbarkeit dieser Situation aufmerksam gemacht und sensibilisiert. Schritt 2: Quadrat-Methode – Zustimmung und Empörung (ca. 15–20 min.) Um eine geordnete Auseinandersetzung mit diesem emotionalen Thema zu schaffen, wird die Gruppe in Vierergrüppchen geteilt. Die Teilnehmenden werden bei dieser Methode besonders dazu ermutigt, sich eine Meinung zu bilden und diese auch zu vertreten. Im Austausch mit anderen können bisherige Sichtweisen überdacht werden und es hilft, eigene Erfahrungen einzuordnen. Diese Anfänge beinhalten entweder Zustimmung oder Ablehnung für die These, jeweils mit Einschränkung oder Begründung. Die Teilnehmenden überlegen sich im Stillen, welche Haltung sie zu der These einnehmen wollen und schreiben ihre Argumente auf einen leeren Zettel und legen diesen verdeckt an die entsprechende Seite des großen quadratischen. Das Aufschreiben hilft dem Klar-werden des Gedankens. Daraufhin decken die Teilnehmer ihre Zettel gemeinsam auf und es beginnt der gemeinsame Austausch über die Argumente. Spannend wird es, wenn die Diskussion von vielen unterschiedlichen Ansichten lebt. Anschließend können die Gruppengespräche evtl. noch in der großen Gruppe reflektiert werden, wie es den einzelnen Teilnehmern ging und welche Gedankengänge vielleicht neu waren. Schritt 3: Klagen – wenn die Solidarität fehlt (ca. 15 min.) Menschliche Rede ist nicht im Stande, Schmerz ausreichend zu pflegen. Gerade wie und was andere Menschen zu uns sagen, da steckt oft viel Wertung und zusätzliche Verletzung drin. Hiob wird schwer krank (Kapitel 2), trotzdem hält Spannung und Schmerz lassen sich nicht einfach wegdiskutieren. Sie aufzulösen, erfordert viel Geduld und Einfühlungsvermögen der Menschen, die uns begleiten. Wie oft verlieren wir uns in Ungeduld oder vergreifen uns im Ton. Für Hiob verläuft diese Diskussion schmerzhaft. Die Besserwisserei macht ihm sichtlich zu schaffen: „Ihr seid alle unnütze Ärzte“ (Hiob 13,4)! >>> praktisch Als nächsten Schritt erhält jede Gruppe einen weiteren quadratischen Zettel, an dessen vier Seiten jeweils ein Satzanfang für mögliche Stellungnahmen zu der These steht: > „Ja, weil …“ > „Ja, aber …“ > „Nein, weil …“ > „Nein, aber …“ er weiterhin an Gott fest, seine Frau zeigt Unverständnis. Als dann seine drei Freunde Elifas, Bildad und Zofar zu Besuch kommen, haben diese zunächst Mitleid mit ihm. In einer Diskussion kommt es allerdings zum Bruch. Nachdem Hiob sein Leid geklagt hat (Kapitel 3), werfen sie ihm mangelndes Gottvertrauen vor. Vor Gott ist jeder Mensch schuldig und hätte eigentlich eine solche Strafe verdient. Die Furcht vor Gott ist der einzige Trost, den ein Mensch hat. Nüchtern betrachtet gehen sie sehr unsensibel mit Hiob um, der eigentlich mehr Trost als noch mehr Last bräuchte. Er versteht die Einwände seiner Freunde, aber der Schmerz erschlägt ihn einfach. Hiob ist gefangen in den ungelösten Fragen. Die pauschalen Antworten können ihm nicht helfen. „Denn die Pfeile des Allmächtigen stecken in mir; mein Geist muss ihr Gift trinken, und die Schrecknisse Gottes sind auf mich gerichtet“ (Hiob 6, 4). CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010 Jede Gruppe erhält auf einem quadratischen Zettel eine bestimmte Stellungnahme, die eher provokant und spannungsgeladen formuliert ist. Vorlagen: > Hiob geht leichtfertig mit seinem Verlust um. Er müsste wütender sein! > Gott ist gnädig, weil er Hiobs Leben verschont. > Hiob lebt rechtschaffen und gottesfürchtig (Vers 8) und trotzdem hilft ihm das nichts. Das ist unfair! 47 Wie gut tut es, Leid und Schmerz einfach einmal unkommentiert aussprechen zu können! Ohne befürchten zu müssen, dafür verurteilt zu werden. Ein Freund, der geduldig die Aufregung und den Frust abwartet, ist Gold wert. Der beste Weg aus der Spannung ist, sie in Worte zu fassen. Hiob tut das in Form einer Klage in Kapitel 3. Unverblümt, frei und ehrlich. Er nimmt kein Blatt vor den Mund, er lässt seinen Frust raus. CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010 Literatur praktisch Jeder Teilnehmer kann selbst eine solche Klage verfassen. In einer stillen Phase (ca. 15 min.) ist Zeit, Unverständnis und Frust niederzuschreiben. Was in meinem Leben verstehe ich nicht? Warum hilft Gott mir nicht weiter? Diese Klage kann auch als ein Brief an Gott geschrieben werden. Anschließend können diese Zettel in der großen Gruppe vernichtet werden. Bei Bedarf und persönlicher Atmosphäre kann auch noch ein Gespräch darüber stattfinden. 48 Schritt 4: Abschließender Impuls – Treue im Unerklärlichen (ca. 10 min.) Hiob zerbricht nicht an der Diskussion mit seinen Freunden. Das Buch endet in einem Gespräch mit Gott. Gott hat nicht auf Hiobs gestellte Fragen geantwortet und sich nicht auf ein Ursachengespräch eingelassen. Gott antwortet auf die Verzweiflung Hiobs mit Treue und Segen. Hiobs Freunde versuchten Antworten zu finden, das Unerklärliche zu erklären. Doch erst Gottes Wort bringt befriedigende Aufklärung. Gott hält die Spannung mit uns aus. Hiob starb „alt und lebenssatt“ (Kapitel 42,17). Unauflösliche Spannung gehört unweigerlich zum Leben dazu. Ein Leben ohne Spannung gibt es nicht. Verzweiflung und leidvolle Fragen machen oft wütend und ängstlich. Und Gott? Er schenkt keine schnellen Antworten, er präsentiert keine leichten Lösungen, Gott antwortet auf seine Weise. Wir sollen klagen und jammern, wie Hiob es tat. Das befreit und macht den Frust leichter. Es läuft nicht alles glatt, unsere Träume und Vorstellungen werden immer wieder Rückschläge und Widerstand erfahren. Doch Gott geht diesen Weg mit uns, treu und ehrlich hält er mit uns die Spannung aus. Deshalb sollen wir loben und uns wie Hiob in schwierigen Zeiten geborgen wissen. Liedvorschlag „Von guten Mächten wunderbar geborgen erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist bei uns am Abend und am Morgen, und ganz gewiss an jedem neuen Tag.“ Dietrich Bonhoeffer Literatur-Anregungen: Anneliese Hecht – Kreative Bibelarbeit, Stuttgart, 2008 Verena Kast – Abschied von der Opferrolle, Herder, 2003 • Jan-Paul Herr Jahrgang 1986, Student an der CVJM-Hochschule Kassel, 2. Semester praktisch Wenn Dinge sich gewaltsam verändern Oft bin ich traurig, mutlos, allein. Sorgen sind Riesen, doch ich bin ganz klein. Wer kann mich lieben, trösten, verstehn? Wer will mich hören? Zu wem kann ich gehn? Sei nicht mehr traurig, fasse doch Mut! Einer ist bei dir, und das ist so gut: Gott will dich lieben, trösten, verstehn. Er will dich hören, zu ihm kannst du gehen. >>>>>> Dieses Lied schrieb ich in den 80er Jahren in Anlehnung an Psalm 69, als ich für eine Bibelarbeit für Jungscharler zum Theme Trauer/Leid kein geeignetes Lied fand. Damals war ich Lehramtsstudentin und engagierte mich ehrenamtlich im CVJM in der Jungschararbeit. Dass ich die Aussagen des Liedes schon bald ganz intensiv in meinem eigenen Leben würde nachbeten, ahnte ich damals noch nicht. >>> CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010 Wasser umgibt mich, lässt mich nicht los. Ich kann nicht schwimmen, die Angst wird zu groß. Lass mich nicht fallen, hilf mir, mein Gott! Schenke mir Leben und wende die Not! 49 CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010 praktisch Die Psalmen als „Liederbuch der Bibel“ waren mir schon von klein auf vertraut, da ich in einem christlichen Elternhaus aufgewachsen bin. Waren es anfangs mehr die Lob- und Dankpsalmen, die wir in verschiedenen Versionen im Kinder- und Jugendchor sangen, kam später im Studium auch die Beschäftigung mit den Klagepsalmen hinzu. Ich lernte die Bildsprache der Psalmen schätzen und lieben und versuchte, sie auch Kindern zugänglich zu machen. So entstand eine Unterrichtseinheit zum Thema „Psalmen“ sowie das oben genannte Lied. 50 Inzwischen hatte ich mein Studium samt Referendariat erfolgreich beendet, wohnte wieder in meinem Elternhaus und bereitete mich auf einen Auslandseinsatz als Lehrerin für Missionarskinder vor. Da traf uns im Januar 1989 ganz plötzlich die Nachricht von der fortgeschrittenen Krebserkrankung unserer Mutter. Nur etwa zwei Wochen später starb sie im Alter von 53 Jahren, meine beiden jüngsten Schwestern waren gerade 17 Jahre alt und gingen noch zur Schule. Was sollte ich jetzt machen – trotzdem in Richtung Afrika aufbrechen und meine Schwestern im letzten Schuljahr vor dem Abitur allein lassen mit unserem 70-jährigen Vater, dem Haushalt und ihrer Trauer? Die Entscheidung war schnell getroffen: Ich ließ „meine“ Missionarsfamilie im Sommer erst einmal allein nach Tansania ausreisen und blieb noch ein Jahr in Deutschland, wurde in unserem CVJM-Kreisverband mit 1/2 Stelle angestellt und hatte noch genügend Zeit, mich um den Haushalt zu kümmern und meinen Schwestern und meinem Vater zur Seite zu stehen. In dieser Zeit habe ich zum ersten Mal ganz deutlich gespürt, was es heißt „getragen“ zu sein. Es gab oft Phasen, in denen ich glaubte, die Kraft nicht mehr zu haben – und dann kam unerwartet Hilfe von außen. Ich erinnere mich, dass ich eines Nachmittags vor einem Berg Flickwäsche saß und nicht wusste, wie ich ihn bewältigen konnte. Da kam eine ältere Kusine, selbst Mutter von sechs Kindern, und griff mir unter die Arme. Sie schnappte sich einige Wäschestücke und flickte sie und zu anderen machte sie nur die Bemerkung: „Das zieht ihr noch ein- bis zweimal an und dann wirfst du es weg – flicken lohnt sich hier wirklich nicht! Und Bettwäsche und Geschirrtücher muss man auch nicht unbedingt bügeln, wenn dafür die Zeit nicht ausreicht.“ Welch eine Last war von meinen Schultern genommen – ich musste nicht alles „perfekt“ machen! Woher wusste die Kusine, dass ich sie gerade an diesem Nachmittag nötig brauchte? Ich bin mir sicher, dass es unser himmlischer Vater war, der sie vorbeigeschickt hatte. Ein anderes Mal waren es Hilfe im Garten oder beim Einkochen, eine liebevoll geschriebene Karte oder ein Blumenstrauß. Aber auch die vielen Gebete, deren positive Wirkung ich immer wieder spürte, dürfen hier nicht unerwähnt bleiben, ohne die wir alle sicher verzweifelt wären. Es gab aber auch Reaktionen von Mitmenschen, die nicht wirklich hilfreich waren. So bekamen wir von einem „Bruder im Herrn“ zu hören: „Eure Mutter ist nur deshalb gestorben, weil ihr nicht genug gebetet habt.“ Wie gut, dass Gottes Kraft auch durch solche Situationen hindurchtrug! Diese erste Zeit nach dem Tod meines Mannes erlebte ich wie in einem Film – nur dass ich darin ungewollt die Hauptrolle hatte und auch nicht einfach sagen konnte „So, das war’s, jetzt geht es wieder zurück ins richtige Leben.“ Das war jetzt mein Leben – als 36-jährige Frau, Mutter von zwei leiblichen und zwei Stiefkindern, Witwe. Wie dankbar war ich in jenen Tagen, dass unsere Freunde aus dem Hauskreis in der Nähe waren! Sie waren immer da, wenn ich sie brauchte: Luden zum Essen ein, passten auf die Kinder auf, standen mit Rat und Tat zur Seite. Aber auch die Familien halfen, wo sie konnten. Allerdings waren sie weiter weg und konnten so nicht immer zur Stelle sein. >>> praktisch Dann geschah wieder etwas, was meine Pläne völlig veränderte: Ich lernte den „Mann meiner Träume“ kennen, einen Witwer mit zwei Kindern im Alter von 7 und 10 Jahren. Im Mai 1994 heirateten wir. Nun war die Entscheidung gefallen: Die Frauenschule in Tansania musste ohne mich auskommen! Dafür hatte ich jetzt neben meinem Beruf und der Gemeindearbeit auch noch eine Familie, die mich brauchte. Die beiden Kinder hatten durch die lange Krankheitszeit und den Tod ihrer Mutter schon vieles entbehren müssen und waren froh über gemeinsame Unternehmungen, Zeit, Anregungen, Hilfe bei den Hausaufgaben und beim Musizieren. Schon bald wurde das Haus, in dem wir wohnten, zu klein – nach dem ersten gemeinsamen Kind kündigte sich das zweite an. Wir beschlossen zu bauen und schafften es, noch vor der Geburt des Kindes in unserem neuen Haus zu sein. Wir wohnten jetzt im gleichen Ort mit zwei weiteren Familien aus unserem Hauskreis, sodass wir uns recht schnell heimisch fühlten. Die Tage waren ausgefüllt mit der Sorge für die großen und kleinen Kinder, dem Fertigstellen des Hauses, der Gestaltung der Außenanlagen und den vielen 1000 Dingen, die in einer Familie anfallen. Da traf im August 1998 die Nachricht ein wie ein Hammer: Mein Mann hatte an seiner Arbeitsstelle einen Herzanfall erlitten und war verstorben, im Alter von 40 Jahren. CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010 Im Sommer 1990 saß ich dann im Flieger nach Tansania. Es folgten zwei Jahre als Lehrerin für eine deutsche Schülerin und Mithilfe in einer kleinen amerikanischen Schule für Missionarskinder. Bald tat sich ein weiteres Tätigkeitsfeld auf: Englischunterricht für afrikanische Frauen, deren Männer am Theologischen College studierten. Darüber hinaus half ich mit bei der Erstellung eines Lehrplans für eine Schule für Studentenfrauen, die sich gerade im Aufbau befand. Sollte das mein neuer Arbeitsplatz sein – Lehrerin an einer Schule für afrikanische Frauen? Vorstellen konnte ich es mir und auch die verantwortliche Missionarin bat um meine Mithilfe. Ich wollte aber nach den geplanten zwei Jahren erst einmal Berufserfahrung in Deutschland sammeln, um später auch eine Rückkehrmöglichkeit in meinen „eigentlichen“ Beruf offen zu halten. Doch wo sollte ich mich bewerben? In der Zwischenzeit hatte sich in Deutschland einiges getan: Die Mauer war weg, in den „neuen“ Bundesländern wurde das Fach „Religion“ eingeführt. Das war die Chance: Beim Aufbau des Faches „Evangelische Religion“ mitzuhelfen. Ich bekam eine Stelle an einer Regelschule (Haupt- und Realschule) in Thüringen und zog im Februar 1993 nach Leinefelde. Da ich ledig und ungebunden war und weder Telefon noch Fernseher besaß, konnte ich mich voll auf meinen Unterricht konzentrieren. Es sollte ja nur für ein paar Jahre sein! In der ev. Kirchengemeinde fand ich meine Heimat und lernte die Gemeindestrukturen im „Osten“ kennen, die weniger auf Laien aufgebaut war, da es immer sehr viele Hauptamtliche gegeben hatte. Doch inzwischen waren auch diese anderweitig verplant und ich konnte dabei mitwirken, die Laienarbeit zu fördern. Ich startete einen Kirchenchor und wurde die 1. Vorsitzende des neu gegründeten CVJM. Dabei stellte ich fest, dass Missionsarbeit in einer säkularisierten Gesellschaft viel schwerer ist als im fernen Tansania! Und das, obwohl das Eichsfeld mit seiner stark katholischen Prägung schon immer eine Ausnahme bildete im atheistischen Staat. Sollte ich vielleicht doch lieber in Thüringen bleiben? Sollte das mein neuer „Platz“ sein? 51 praktisch CVJM-Mitarbeiterhilfe · 3.2010 52 Es gab Zeiten, in denen ich keine Kraft mehr zum Beten hatte, nicht mehr selbst formulieren konnte, was ich tief in mir drinnen spürte. In dieser Situation spürte ich wieder, wie wahr die Erfahrungen der Psalmbeter sind: Gott ist da, im „finsteren Tal“, wenn ich das Gefühl habe, dass ich „in tiefem Schlamm versinke“. Er tröstet – häufig durch andere Menschen, die wahrscheinlich gar nicht merken, dass sie in diesem Moment ein „Engel“ (Bote Gottes) sind. Ich erinnere mich an einen Morgen, an dem ich keine Kraft für den Alltag hatte. Alles schien so schwer, jeder kleine Handgriff war ein großes Problem. Da brachte mir der Briefträger zwei Briefe, die jeweils um die halbe Welt gereist waren: Einer kam aus Tansania, der andere aus den USA. Sie waren viele Tage unterwegs gewesen, doch trafen beide genau an dem Tag ein, als ich den Zuspruch am nötigsten brauchte. Tief in meinem Inneren wusste ich: Das war Gottes Timing. Er ließ mich in meiner Trauer nicht allein. Seit dieser Zeit sind zwölf Jahre vergangen. Jahre, in denen es immer wieder Tiefen gab, in denen ich aber auch immer wieder neu die Erfahrung machte: „Gott will mich hören, zu ihm kann ich gehn.“ Ich habe eine andere Sicht bekommen auf das Leid. Gott hat uns nicht verheißen, dass wir ein Leben ohne Leid führen, aber er hat versprochen, dass er dann da ist, wenn wir ganz tief unten sind. So muss Leid keine Katastrophe sein, sondern eine Chance, sich ganz in Gottes Hände fallen zu lassen. Hätte ich dann, wenn mein Mann noch lebte, so viel mit Gott über meine Kinder geredet? Hätten so viele Menschen für sie gebetet? Ich habe aber auch gelernt, dass jeder seine persönliche Situation selbst deuten muss. Ich kann einem anderen von meinen Erfahrungen erzählen, ich kann aber nicht sagen: Du leidest, weil ... Noch viel könnte ich von dem erzählen, wie Gott mir im Leid geholfen hat. Eines ist mir am Schluss noch wichtig: Ich bin froh, dass ich in meinen „guten Jahren“ lernen durfte, mit der Hilfe Gottes zu rechnen, denn so konnte ich im Leid an diese Erfahrungen anknüpfen. So möchte ich Mitarbeiter im CVJM und anderen christlichen Organisationen ermutigen, jungen Menschen von der Liebe Gottes zu erzählen, damit diese, wenn in ihrem Leben die dunklen Zeiten kommen, wissen, dass sie mit Gottes Hilfe rechnen können. • Gabriele Hunold 47 Jahre, verwitwet, Lehrerin für ev. Religion, Musik und Englisch an einer Grund-, Hauptund Realschule, ehrenamtlich tätig in der Ev. Kirchengemeinde Arenshausen (Thüringen) und bei übergemeindlichen Projekten >>> Vorschau 4.2010 Thema: Gott wird Mensch biblisch: Lobgesang des Zacharias, Simeon und Maria grundsätzlich: Die Sendung Jesu – seine Titel informativ: Warten auf den Gekommenen praktisch: Vom Sinn der unbekannten Weihnachtsbräuche >>> Die Nummer 5.2010 hat das Thema: Unterschiede Impressum Mitarbeiterhilfe der Christlichen Vereine junger Menschen – erscheint fünfmal im Jahr – 65. Jahrgang Herausgeber und Verleger: CVJM-Gesamtverband in Deutschland e. V. durch Dr. Wolfgang Neuser Redaktion: Gudrun Meißner (Schriftleiterin), Frankfurt; Dr. Wilhelm Eppler, Kassel; Norbert Held, Neukirchen; Holger Noack, Wuppertal; Doris Reichmann, Detmold; Daniel Rempe, Kassel; Alma Ulmer, Stuttgart; René Wälty, Känerkinden Redaktionsanschrift: CVJM-Gesamtverband in Deutschland e. V. – Mitarbeiterhilfe – Im Druseltal 8, 34131 Kassel oder Postfach 41 01 54, 34063 Kassel-Wilhelmshöhe; Telefon (05 61) 30 87-222, Fax (05 61) 30 87-202; E-Mail: [email protected] Heftpreis: 3,– EUR plus Versandkosten; Jahresbezugspreis 14,00 EUR plus Versandkosten; Abbestellung bis vier Wochen vor Jahresende Bildnachweis: Titel, 16 Bildcollagen; S. 1–8, 19–21, 29, 38 Archiv; S. 9, 24 Bildmontage; S. 12–14, 37 40, 45–50 privat; S. 42 Internet; S. 51 G. Hunold Gestaltung: Dipl. Designer Bernd Drescher, Lüdenscheid Druck: Design & Druck C. G. Roßberg, 09669 Frankenberg 3.2010