Harry und die Halacha

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Harry und die Halacha
HARRY POTTER
Harry und die Halacha
Jüdisch? Was Rabbiner und andere Gelehrte über die Abenteuer
des Zauberlehrlings denken
25.10.2007 - von Detlef David Kauschke
von Detlef David Kauschke
Ist Harry Potter Jude? Amy O. Miller meint: „Vielleicht ja, vielleicht aber auch nicht. Auf jeden
Fall hat er eine jüdische Neschama.“ Die 54-jährige Kantorin aus Pittsfield/Massachusetts ist fest
davon überzeugt, dass der Zauberlehrling jüdischen Idealen folgt. „Sein wichtigster Charakterzug
ist, dass er sich immer für andere einsetzt. Das ist ,Pikuach Nefesch‘, eine jüdische Eigenschaft.“
Miller hat – und das weit über Pittsfield hinaus – den Ruf, eine jüdische Potter-Expertin zu sein.
„Na ja“, sagt sie bescheiden, „ich habe mich wirklich intensiv mit dem Thema beschäftigt.“ Vor
vier Jahren wurde sie zum ersten Mal zu einem internationalen Potter-Symposium in Florida
eingeladen. Seitdem hat sie immer wieder Vorträge über die populäre Fantasy-Reihe gehalten,
meist in den USA und in Kanada. Im Juli 2005, bei einer Konferenz an der britischen
Reading-Universität, sprach die Kantorin vor gut 200 Teilnehmern aus 22 Ländern über das
Thema: „Ist Harry Potter immer noch ein netter jüdischer Junge?“
Sie hat alle sieben Bücher gelesen, mehrmals, wie sie betont. Damit ist Amy O. Miller den meisten
deutschen Potter-Fans voraus. Denn hier erscheint die deutsche Übersetzung des siebten und –
wie Autorin Joanne Kathleen Rowling versicherte – letzten Potter-Bandes Harry Potter und die
Heiligtümer des Todes erst an diesem Samstag. Um 00.01 Uhr beginnt der Verkauf. Startauflage:
drei Millionen. Rowlings Bücher wurden bislang in 65 Sprachen übersetzt und sind in einer
Gesamtauflage von über 325 Millionen Exemplaren erschienen. Wohl nur die Bibel hat eine noch
höhere Auflage.
Ursprünglich für Kinder geschrieben, sind die Romane auch für viele Erwachsene zur
Lieblingslektüre geworden. Erstaunlich, wie viel Aufmerksamkeit gerade auch in jüdischen
Kreisen den Bestseller-Romanen geschenkt wird. Wer in der Internet-Suchmaschine Google die
Wortkombination „Jewish“ und „Potter“ eingibt, stößt auf 2,08 Millionen Einträge. Darunter die
von Rabbinern, die sich ganz offen dazu bekennen, die Geschichten über Hexer und
Zauberschulen verschlungen zu haben – und sich darüber hinaus auch intensiv damit zu
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beschäftigen. In einem Blog ist zu lesen, es scheine so, als seien bereits nach den ersten fünf
Potter-Bänden fast mehr rabbinische Kommentare dazu erschienen als zu den fünf Büchern Moses.
Im Internet ist zum Beispiel die Schiur eines Rabbi Moskowitz zu finden, der sich mit der Frage
beschäftigt, was die Leser an den Abenteuern des jungen Zauberers so fasziniert. Seine Antwort
lautet: „Harry Potter befriedigt kindlichen Glauben und Fantasie.“ Wer die teils frustrierende
Realität verlässt, erläutert Moskowitz, der begibt sich in die Welt der Fantasie, in der Träume und
Wünsche wahr werden. Es ist eine Welt voller Magie, in der ein Leser selbst den Eindruck
gewinnt, im Kampf des Guten gegen das Böse siegen zu können – so wie der Romanheld.
Ähnliches schreibt Emuna Braverman, Psychologin aus Los Angeles, auf der Webseite von Aish
HaTorah: „Harry Potter steht für Freundschaft, Loyalität und Liebe. Und für die Möglichkeit, für
das, woran wir glauben, zu kämpfen – und zu siegen. Das ist inspirierend und gibt Kraft. Und es
ist jüdisch.“
Jüdisch ist ebenfalls das Prinzip der Teschuwa, der Umkehr. Auch dazu finden die jüdischen
Anhänger des Zauberlehrlings einen Bezug: „Harry Potter and the Power of Teshuvah“ ist zum
Beispiel der Titel eines Blog-Aufsatzes.
Und in seinen Gedanken zum Monat Elul verweist Stefan Misrachi, Leiter der Bildungsabteilung
der Hineni-Jugendbewegung in Sydney, auf eine Passage aus dem kurz vor den Hohen Feiertagen
in englischer Originalausgabe erschienenen letzten Band, in dem Harry Potter seinem
Widersacher Voldemort – sinngemäß übersetzt – sagt: „Denke darüber nach, was Du getan hast
... und versuche, Reue zu zeigen.“ Das sei fast wortwörtlich die jüdische Definition von Teschuwa,
meint Misrachi. „Ich kann nicht umhin festzustellen, wie eng einige Themen im Roman mit
verschiedenen Konzepten des Judentums verbunden sind“, schreibt Misrachi.
Auch Rabbi Natan Slifkin, Autor des Buches Sacred Monsters, vermag einiges in den
Potter-Geschichten zu entdecken, das ihm aus Talmud und Tora vertraut ist. In der in New York
erscheinenden Jewish Press schrieb er: „Viele der fremden Biester, denen Harry sich stellen muss,
einschließlich Nixen, Riesen, Zentauren und Drachen, wurden schon in den Heiligen Büchern des
Judentums beschrieben, lange bevor J. K. Rowling überhaupt ihren Stift in die Hand nahm.“
Hier nur drei Beispiele: Professor Dumbledore, Harrys Mentor, besitzt einen unsterblichen Vogel,
der im Feuer immer wieder neu geboren wird. Das Phänomen Phönix taucht bereits im Talmud
auf. Zur Hogwarts-Welt gehört ein Wald, der von Zentauren bewohnt wird. Der Midrasch
erläutert, dass sich Nachfahren von Enosch in Zentauren verwandelten. In Harry Potter und der
Gefangene von Askaban (Band 3) entzündet Hagrid, der Wildhüter von Hogwarts, ein Lagerfeuer,
aus dem Salamander hervorkommen, die in der Glut überleben. Schon in der Gemara ist zu
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lesen, dass Salamander aus dem Feuer stammen.
Auch Elemente der jüdischen Mystik glauben einige Leser in Rowlings Büchern zu finden. Cia
Sautter, Dozentin für Weltreligionen aus Minnesota, meint, dass Harry Potter den „kabbalistischen
Pfaden der spirituellen Entwicklung“ folgt. Der Zauberlehrling stehe für Chessed und Gewurah,
also für Güte und Strenge.
Den Zusammenhang zwischen Hogwarts (Potters Zauberinternat) und der Halacha erläutert der
israelische Computerspezialist Bruce Krulwich, der als Dov Krulwich das Buch Harry Potter and
the Torah veröffentlicht hat. Er, der wie Millionen anderer Eltern durch seine Kinder auf die
Fantasy-Geschichten gestoßen ist, stellt dabei Vergleiche zwischen den Ideen des Romans mit
denen der Tora an. Dabei mahnt er, nicht zu vergessen, dass das eine Fiktion und das andere
religiöser Glaube ist. „Aber beides miteinander zu vergleichen, kann uns helfen, beides zu
verstehen.“
Aber es gibt nicht nur derart wohlwollende Betrachtungen aus jüdischer Sicht. In Kreisen der
Orthodoxie sind die Bücher verpönt. Schließlich steht im Mittelpunkt der Romane die Magie, die
samt Wahrsagerei und Beschwörung von der Tora verboten ist: „Denn ein Gräuel des Ewigen ist
jeglicher, der dies tut“ (5. Buch Moses 18,12).
Trotzdem nehmen viele Vertreter der modernen Orthodoxie die Bücher als das wahr, was sie
sind: Fiktion und Fantasie. Darüber hinaus bezeichnet Rabbi Jacki Abramowitz die
Potter-Geschichten als „perfekte Metapher“ dessen, was viele jüdische Jugendliche in ihrer
religiösen Entwicklung erleben. Er vergleicht Hogwarts mit einer Jeschiwa: „Auch wenn wir
einiges von Harry, Ron und Hermine lernen können, können wir doch so viel mehr von
Abraham, Itzchak und Jaakow lernen“, schreibt der Direktor beim NCSY, National Conference of
Synagogue Youth, New York. Abramowitz ist übrigens fest davon überzeugt, dass der Held in
Rowlings Bestsellern kein Jude ist. „Aber ich denke, das Thema der Harry-Potter-Reihe ist
ziemlich jüdisch.“
Gibt es also keine Juden in Hogwarts? Vielleicht doch. Im fünften Band, Harry Potter und der
Orden des Phoenix, lernen die Leser einen Anthony Goldstein kennen. Er ist Ravenclaw-Schüler,
also einer der brillantesten Köpfe in Hogwarts. Ein Elternteil von ihm soll laut Autorin Rowling
„muggelstämmig“ sein (Muggel: „nichtmagische“ Menschen). Sein Nachname, so mutmaßen
Potter-Experten im Internet, dürfte kaum Zweifel an seiner wahren Herkunft lassen.
Und allen, die nach dem „jüdischen Harry Potter“ suchen, sei die Kinoverfilmung empfohlen. Die
Hauptrolle spielt dort Daniel Jacob Radcliffe. Der 18-jährige Schauspieler ist Sohn eines
nordirischen Protestanten – und einer in Essex aufgewachsenen jüdischen Mutter. Halachisch
einwandfrei. Radcliffe ist nicht sehr religiös, gleichwohl „sehr stolz, Jude zu sein“. Und seine
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Großmutter, Patricia Jacobson, verriet dem Londoner Jewish Chronicle unlängst, wie stolz sie auf
ihren Daniel sei. Dieses Gefühl werden viele jüdische Harry-Potter-Fans mit ihr teilen.
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